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Jilliane Hoffman

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Beschreibung

«FYI. pink steht dir gut (Smiley)» Die dreizehnjährige Lainey kann es kaum fassen. Zach, der gutaussehende Sonnyboy aus dem Chatroom, steht offensichtlich auf sie. Und er will sie treffen. Als sie von der Schule nicht nach Hause kommt, nehmen alle an, dass Lainey weggelaufen ist. So wie ihre ältere Schwester Denise vor ein paar Jahren. Routinemäßig wird FBI-Agent Robert Dees in die Untersuchung miteinbezogen. Bobby ist Spezialist für verschwundene Kinder – nicht nur beruflich, sondern auch privat. Seine eigene Tochter Katy verschwand vor fast einem Jahr, und niemand hat seitdem wieder etwas von ihr gehört. Lainey ist nicht weggelaufen, da ist sich Bobby sicher. Doch zunächst führen alle Spuren ins Nichts. Bis ihm ein schreckliches Gemälde zugespielt wird – es zeigt eine gefesselte junge Frau. Anhand des Gemäldes findet Bobby heraus, wo das Mädchen gefangen gehalten wird – doch sie kommen zu spät. Das Mädchen ist tot. Es ist nicht Lainey, doch im Bild finden sich Hinweise auf sie. Bobby kommt der Verdacht, dass sie es mit einem Serienmörder zu tun haben, der es auf junge Mädchen abgesehen hat, von denen alle denken, sie seien weggelaufen. So wie Katy …

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Seitenzahl: 526

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Jilliane Hoffman

Mädchenfänger

Thriller

 

 

Übersetzt von Sophie Zeitz

 

Über dieses Buch

«FYI. pink steht dir gut 😊»

 

Die dreizehnjährige Lainey kann es kaum fassen. Zach, der gutaussehende Sonnyboy aus dem Chatroom, steht offensichtlich auf sie. Und er will sie treffen. Als sie von der Schule nicht nach Hause kommt, nehmen alle an, dass Lainey weggelaufen ist. So wie ihre ältere Schwester Denise vor ein paar Jahren. Routinemäßig wird FB Robert Dees in die Untersuchung miteinbezogen. Bobby ist Spezialist für verschwundene Kinder – nicht nur beruflich, sondern auch privat. Seine eigene Tochter Katy verschwand vor fast einem Jahr, und niemand hat seitdem wieder etwas von ihr gehört.

Lainey ist nicht weggelaufen, da ist sich Bobby sicher. Doch zunächst führen alle Spuren ins Nichts. Bis ihm ein schreckliches Gemälde zugespielt wird – es zeigt eine gefesselte junge Frau. Anhand des Gemäldes findet Bobby heraus, wo das Mädchen gefangen gehalten wird – doch sie kommen zu spät. Das Mädchen ist tot. Es ist nicht Lainey, doch im Bild finden sich Hinweise auf sie. Bobby kommt der Verdacht, dass sie es mit einem Serienmörder zu tun haben, der es auf junge Mädchen abgesehen hat, von denen alle denken, sie seien weggelaufen. So wie Katy …

Vita

Jilliane Hoffman war Staatsanwältin in Florida und unterrichtete jahrelang im Auftrag des Bundesstaates die Spezialeinheiten der Polizei – von Drogenfahndern bis zur Abteilung für Organisiertes Verbrechen – in allen juristischen Belangen. Mit ihren Romanen «Cupido», «Morpheus» und «Vater unser» gelang ihr auf Anhieb der Durchbruch an die Spitze der internationalen Bestsellerlisten.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel «Pretty Little Things» bei HarperCollins, London.

Die Liedzeilen im Kapitel 8 stammen aus «Thriller» von Michael Jackson. Text und Musik von Rod Temperton

© 1982 RODSONG S

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, August 2010

Copyright © 2010 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«Pretty Little Things» Copyright © 2010 by Jilliane Hoffman

Redaktion Mirjam Madlung

Covergestaltung Hafen Werbeagentur, Hamburg

Coverabbildung Umschlagabbildungen: © Siede Preis/Getty Images; © Ivankov/shutterstock.com

ISBN 978-3-644-20451-5

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Für Rich. Den Fels in der Brandung

Und für meine (nicht mehr ganz so kleinen) Lämmchen Manda-Panda und Monster, die mich immer wieder inspirieren und überraschen.

Prolog

Der kleine stämmige Mann im weißen Anzug, mit dunkelrotem Hemd und Lacklederslippern, lief auf der Bühne hin und her, das Mikrophon in der Hand, und beugte sich immer wieder vor, um wahllos einige der verschwitzten Hände zu berühren, die sich ihm in der Unity Tree of Everlasting Evangelical Life-Kirche zu Hunderten entgegenstreckten. Eine breite Strähne seines pomadigen grauen Haars fiel ihm über die Stirn und vor die Augen. Er strich sie zurück. Dank der brillanten Kamera war im feisten Gesicht des Fernsehpredigers jede feine Linie zu erkennen, jeder Schweißtropfen, der ihm über die geröteten Wangen und in die Speckfalten seines Nackens rann.

«Als Moses nun nach dem Sieg über die Midianiter vor die Israeliten trat», donnerte der Prediger, während er die Bühne von einem zum anderen Ende abschritt, «waren alle Fürsten bei ihm und auch der Priester Eleasar. Und was sieht Moses da? Was sieht er, das ihn so unglaublich erzürnt, wie uns die Bibel berichtet? Er sieht Frauen!» Die Menge, überwiegend Frauen, brach in laute Buhrufe aus.

Der Mann im abgewetzten Kippsessel vor seinem Fernseher nickte der Kirchengemeinde beifällig zu, während er das Geschehen auf dem Bildschirm verfolgte. Als hätte er das Video nicht schon hundertmal gesehen.

«Die Israeliten haben die Frauen gerettet!», dröhnte der Prediger weiter. «Und Moses – nun, er sagt: ‹Ihr habt die Frauen verschont? Warum? Warum, wenn sie es doch waren, die die Plage über das Volk Gottes gebracht haben!› Warum haben die Israeliten sie verschont?»

Eine Frau aus dem Publikum rief: «Weil es Männer waren!»

Der Prediger lachte. «Ja! Sie waren Männer. Und weil sie Männer waren, waren sie zu schwach für das Wesen der Frauen! Dafür, wie eine Frau riecht, wie sie schmeckt, wie sie sich anfühlt!»

Der Mann wischte sich die verschwitzten Handflächen an den Armlehnen ab und nickte enthusiastisch zu den Worten des Predigers.

«Sie waren schwach!», fuhr der Prediger fort. «Und so haben die schwachen Männer das Leben der verderbten Frauen verschont, die das Elend über ihren Stamm gebracht haben. Doch Moses ist nicht einfach erzürnt, o nein. Er sagt nicht bloß: ‹Das war dumm!›, und belässt es dabei. Nein. Moses weiß, was passieren wird, nun, da die verderbten Frauen gerettet worden sind. Sie werden mit ihrem köstlichen Geruch und ihrer warmen Haut und ihren weichen Kurven ihre Eroberer bald betören. Das Böse hat viele Gesichter, Leute. Das Böse hat viele Gesichter.»

Der Prediger zeigte auf eine junge Frau im Publikum und rief sie aufs Podium. Sie war höchstens siebzehn oder achtzehn. «Komm, mein Kind, komm herauf zu mir.» Von ihren Eltern und der klatschenden Menge ermutigt, kletterte das Mädchen schüchtern auf die Bühne. «Seht euch an, wie schön sie ist», rief der Prediger, während er um die schmächtige Gestalt herumlief, mit ausgebreiteten Armen wie ein Zirkusdompteur, der dem Publikum ein Tier vorführt. Er schnüffelte theatralisch und lächelte. «Sie riecht gut. Sie sieht gut aus. Es ist ihr nichts Böses anzumerken. Welcher Mann geriete da nicht in Versuchung?» Dann wandte er sich wieder an die Menge. «So wie die meisten von uns es jeden Tag tun müssen, muss Moses eine schwere Entscheidung treffen. Eine schreckliche Entscheidung. Eine Entscheidung, die viele von euch anstößig finden, doch Moses – nun, Moses weiß, dass sie notwendig ist. Es ist eine schwere Wahl, aber notwendig.»

Gespannte Stille legte sich über die Menge. «Was sagt er zu den Israeliten?», fragte der Prediger seine Herde, indem er direkt ins Auge der Kamera sah und zu den Tausenden verlorenen Schafen vor den Bildschirmen im ganzen Land sprach, die an seinen Lippen hingen. «Was sagt er zu ihnen? Er sagt zu ihnen – genau so steht es in der Heiligen Schrift, Leute –, er sagt zu ihnen: ‹Nun tötet alle Knaben und ebenso alle Frauen, die bereits mit einem Mann verkehrt haben. Alle Mädchen aber und die Frauen, die noch nicht mit einem Mann verkehrt haben, lasset leben für euch selbst.› Was heißt das im Klartext, Leute? ‹Nur die Mädchen, die noch Jungfrau sind, dürfen leben›, sagt Moses. ‹Nur die Jungfrauen in eurem Volk dürfen leben. Nur die Jungfrauen, die rein in Wort und Tat sind, können gerettet werden.› Warum? Weil sie rein sind. Weil sie noch nicht verdorben sind.» Er sah das Mädchen auf der Bühne an und donnerte: «Sag uns, mein Kind, bist du Jungfrau? Bist du rein in Wort und Tat? Gott sieht dich! Denk daran! Wir sehen dich! Bist du rein in Wort und Tat?»

Das Mädchen nickte, Tränen rannen ihm über die Wangen. Sie lächelte erst den Prediger, dann ihre Eltern im Publikum an. «Ja», antwortete sie. «Ich bin rein.»

Die Menge brach in tosenden Applaus aus.

Wieder wischte sich der Mann die Handflächen an den Armlehnen ab. Der Prediger war wirklich charismatisch. Die Menge fraß ihm aus der Hand. Wäre die Jungfrau nicht so rein gewesen, es wäre dem Prediger bestimmt leichtgefallen, die Leute dazu zu bringen, das Mädchen zu steinigen, wenn er das gewollt hätte.

Sehr inspirierend.

Der Mann drückte auf die Rückspultaste, und während das Band im Videorekorder ratterte, faltete er den braunen Leinenbeutel auf seinem Schoß auseinander. Mit den Fingern strich er über die weichen Pinselspitzen, dann entschied er sich für einen flachen Bürstenpinsel und das stumpfe Malmesser. Er nahm seine Palette vom Beistelltisch und begann langsam und sorgfältig, Farben auszuwählen. Der stechende Geruch der Ölfarben war berauschend. Das Video begann von vorn. Der Prediger betrat die Bühne und wurde von der Menge begrüßt wie ein Feldherr, der aus der Schlacht zurückkehrte. Wie ein Messias.

Während der Mann seinem jüngsten Werk den letzten Schliff gab, lauschte er ein letztes Mal der Predigt, denn die ungebremste Energie in den Worten des Geistlichen war für ihn so entspannend und stimulierend wie klassische Musik für den Chirurgen im Operationssaal.

So wie die meisten von uns es jeden Tag tun müssen, muss Moses eine schwere Entscheidung treffen. Eine schreckliche Entscheidung. Eine Entscheidung, die viele von euch anstößig finden, doch Moses – nun, Moses weiß, dass sie notwendig ist. Es ist eine schwere Wahl, aber notwendig. Was sagt er zu den Israeliten?

Als der Mann fertig war, wandte er sich von seinem Werk ab und stellte den Pinsel zum Einweichen in Terpentinersatz. Neben dem Fernseher stand sein Computer. Der Mann erhob sich aus dem Fernsehsessel und setzte sich auf den Drehstuhl am Schreibtisch. Seine Hände zitterten ein wenig, als er sich über die Bartstoppeln strich, und an seinen Fingern klebte noch feuchte Farbe. Vor ihm auf dem Computerbildschirm saß das hübsche Mädchen auf einem rosa Bett in einem rosa Zimmer, umgeben von Postern von Filmstars und Vampiren, und telefonierte, während es versuchte, sich die Zehennägel zu lackieren.

Er sagt zu ihnen: «Nun tötet alle Knaben und ebenso alle Frauen, die bereits mit einem Mann verkehrt haben.»

Er leckte sich die Lippen und schluckte. Für den Bruchteil einer Sekunde empfand er Scham und fragte sich, warum er solche Gedanken hatte. Doch für ein schlechtes Gewissen war es zu spät. Weder seine Gedanken noch seine Taten waren rein. Seine Seele war längst verdammt.

Alle Mädchen aber und die Frauen, die noch nicht mit einem Mann verkehrt haben, lasset leben für euch selbst.

Er tippte etwas in den Computer und klickte auf «Senden», dann sah er zu, wie das hübsche Mädchen vom Bett aufsprang und mit einem Lächeln im Gesicht zu dem Computer lief, der auf dem Schreibtisch stand.

Es war eine einfache Frage, aber sie wirkte.

Sie wirkte immer.

bist du online?

1

Lainey Emerson nagte an einem eingerissenen Acrylfingernagel, der noch auf ihrem Daumen klebte, und starrte auf den Computer. Mit der freien Hand auf der Maus lenkte sie den Pfeil über den Bildschirm. Ihre Handflächen waren klitschnass, und ihr Herz pochte so laut und so schnell, dass sie dachte, ihr Brustkorb würde platzen. Tausende von Schmetterlingen, gefangen in ihrer Magengrube, flatterten hektisch, als sich der Pfeil dem Feld «Senden» näherte. Sie musste es nur anklicken. Das Feld anklicken und ihre dumme kleine, aus zwei Sätzen bestehende Nachricht abschicken, für die sie buchstäblich – sie sah auf die Uhr in der unteren Bildschirmecke und zog eine Grimasse – Stunden gebraucht hatte. Trotzdem zögerte sie noch und rollte die Maus mit schwitzigen Fingern hin und her.

Stelle nie eine Auskunft über dich oder ein Bild von dir ins Internet, das du nicht auf dem Titelblatt des Miami Herald sehen wollen würdest, Elaine.

Lainey hörte die unheilvollen Worte so klar und deutlich, dass sie beinahe den Zigarettengestank im Atem ihrer Mutter riechen konnte. Sie stieß sich vom Schreibtisch ab, versuchte, die unangenehme elterliche Warnung von wegen «Mach nicht die gleichen Fehler wie wir» abzuschütteln, und sah sich in ihrem fast dunklen Zimmer um. Die Gesichter auf den Dutzenden von Filmplakaten, mit denen sie ihre Wände tapeziert hatte, lagen im Schatten. Von der Spätnachmittagssonne, die eben in den Everglades versank, waren nichts als ein paar blassorange Strahlen übrig.

18:12 Uhr? War es wirklich schon so spät? Plötzlich wurde ihr bewusst, wie still es war. Der Lärm und das Gegröle des Rollhockeyspiels war verstummt, das den ganzen Nachmittag auf der Straße stattgefunden hatte – Spieler und Fans waren längst zu Hause, wo Abendessen und Hausaufgaben auf sie warteten. Zwei Dinge, mit denen Lainey noch nicht mal angefangen hatte. Und Bradley? Von ihrem kleinen Bruder hatte sie schon eine Weile nichts gehört. Eine ziemlich lange Weile, eigentlich. Sie biss sich auf die Innenseite der Lippe. Normalerweise wäre sie froh gewesen, aber nicht jetzt, wo ihre Mutter bald nach Hause kam …

Die Haustür ging auf, und Lainey betete, es möge nicht ihre Mutter sein. Donnernd fiel die Tür wieder zu. Dreißig Sekunden später ratterte Gewehrfeuer aus dem Wohnzimmer. Brad spielte dieses blöde Videospiel, Grand Theft Auto, und knallte Polizisten ab, und zwar mit voller Lautstärke, nur um Lainey zu ärgern. Wut verdrängte ihre Erleichterung, und sie bereute, ein Gebet auf das Wohlergehen ihres nervtötenden Bruders verschwendet zu haben. Immerhin, er war zu Hause, sie hatte ihn nicht verloren. Sie drehte ihre Good-Charlotte-CD auf, um das Geschrei und Geknalle zu übertönen, und konzentrierte sich wieder auf den Computer. Wenn sie sich ständig ablenken ließ, würde es nie was werden.

Das Foto auf dem Bildschirm leuchtete ins dunkle Zimmer und wartete ungeduldig darauf, hinaus in den Cyberspace geschossen zu werden. Ein hübsches Mädchen, das sie kaum wiedererkannte, mit glattem braunem Haar und dunkel geschminkten Augen lächelte ihr herausfordernd entgegen. Ein hübsches Mädchen, das ihr kein bisschen ähnlich sah, wie Lainey immer noch verlegen dachte. Die enge Jeans und das bauchfreie T-Shirt betonten ihre schmale und doch weibliche Figur. Die vollen, glänzenden Lippen passten zu den glänzenden langen roten Fingernägeln. Ihre Hände stützte sie wie eine Kandidatin von America’s Next Top Model selbstbewusst in die Hüften – eine Idee ihrer Freundin Molly. Normalerweise gefiel sich Lainey auf Fotos nicht, aber normalerweise sah sie auf Fotos auch nicht annähernd so aus wie auf diesem Foto. Normalerweise trug sie ihr langes, schwer zu bändigendes kastanienbraunes Haar als Pferdeschwanz oder mit einem Haarreif, und ihre langweiligen braunen Augen waren hinter einer Brille mit Drahtgestell versteckt. Normalerweise trug sie kein Make-up und keinen Schmuck, keine hochhackigen Schuhe und keine langen roten Fingernägel. Nicht etwa, weil sie nicht wollte, sondern weil sie nicht durfte.

Doch obwohl sie darauf älter aussah, als sie war – und irgendwie, na ja, sexy –, argumentierte Lainey im Stillen, war das Foto nicht sooo schlimm, dass sie es auf keinen Fall in der Zeitung sehen wollen würde. Auf MySpace gab es jede Menge Fotos, die viel, viel schlimmer waren. Sie war ja nicht nackt, und sie tat auch nichts Pornographisches oder so. Das Einzige, was man außer dem Bauch und dem falschen Bauchnabelring noch erkennen konnte, war der Umriss des ausgestopften pinken BHs unter dem knappen weißen T-Shirt, den sie ihrer Schwester Liza geklaut hatte, genau wie das T-Shirt. Vielleicht saß die Jeans ein bisschen zu tief, und das T-Shirt war ein bisschen zu eng, aber …

Lainey schüttelte den leise nagenden Zweifel ab. Das Foto war gemacht. Die Regel war bereits übertreten. Und ehrlich gesagt, sie sah ziemlich heiß aus, wenn sie das mal so sagen durfte. Ihre eigentliche Sorge zu diesem Zeitpunkt war: Was würde Zach davon halten?

Zach. ElCapitan. Allein bei dem Gedanken an ihn bekam Lainey feuchte Hände. Sie betrachtete das Foto am Rahmen ihres Bildschirms. Blondes Haar, hellblaue Augen, ein süßes, cooles Lächeln und ein niedlicher Schatten von blonden Bartstoppeln im Gesicht. Und diese Muskeln … wow! Die Muskeln zeichneten sich sogar durch das Hollister-T-Shirt ab. Niemand, den sie aus der siebten Klasse kannte, hatte auch nur den Ansatz von Muskeln oder Haaren am Körper. Seit sie ihn vor ein paar Wochen in einem Yahoo-Chatroom zum neuen Zombieland-Film kennengelernt hatte, hatte sie sich vorgestellt, wie Zach wohl aussah. Ein cooler, witziger Typ, der auf die gleichen Filme stand wie sie – sogar auf die richtig schlechten –, der die gleiche Musik hörte, die gleichen Fächer hasste, die gleichen Angeber doof fand wie sie und der mit seinen Eltern die gleichen Probleme hatte wie sie mit ihren. Sie konnte wohl unmöglich mehr erhoffen als einen Streber mit schlimmer Akne und noch schlimmerer Frisur, der nur in der Football-Mannschaft war, weil sein Onkel ihn reingehievt hatte. Aber dann hatte Zach ihr vergangenen Freitag endlich ein Foto geschickt, und ihr erster Gedanke war: «O mein Gott, dieser Typ könnte Model sein bei Abercrombie & Fitch!» Er sah phantastisch aus. Und noch toller war, dieser coole Kapitän der Football-Mannschaft sah nicht nur wahnsinnig gut aus – er schien auch sie zu mögen. Ihr war klar, dass sie ihm nicht einfach einen Schnappschuss von ihrem langweiligen Schulmädchen-Selbst zurückschicken konnte, erst recht nicht, weil dem Schulmädchen drei Jahre zu den sechzehn fehlten, die sie ihm vorgeschwindelt hatte. Ein kleines Detail, das aber einem Oberschüler, um den sich nächstes Jahr die Colleges reißen würden, bestimmt nicht egal war. Sie wusste, er wäre total abgeturnt und ihre Beziehung – oder wie immer man das nennen sollte, was zwischen ihnen lief – wäre vorbei, bevor sie auch nur auf das Antwort-Feld seiner Lass-uns-Freunde-bleiben-Mail klickte. Falls er sich die Mühe überhaupt machte.

Sie kaute das letzte Stück des Acrylnagels ab und spuckte es Richtung Papierkorb. Am Samstag hatten sie und Molly Stunden gebraucht, um ihr die Nägel für das «Foto-Shooting» anzukleben, und ein paar kurze Sekunden im Schulsport heute Morgen hatten gereicht, um sie alle wieder zu zerstören. Dabei hatten sie so toll ausgesehen. Lang und spitz und oh, so rot. Mehr als die hohen Schuhe und das Make-up und Lizas Klamotten waren es die Fingernägel, die Lainey das Gefühl gaben, so … aufregend zu sein. So erwachsen. Sie fühlte sich toll, wenn sie mit den Nägeln gegen ein Glas klickte oder ungeduldig auf den Tisch trommelte. Sie hatte das ganze Wochenende gebraucht, um rauszukriegen, wie man ein Blatt Papier aufhob! Doch jetzt waren die Nägel, wie Cinderellas Ballkleid und die Kürbiskutsche, nichts als eine Erinnerung. Cinderella hatte wenigstens einen gläsernen Schuh als Andenken behalten dürfen. Lainey blieb nur ein Stück angeknabbertes Acryl.

Und das Foto, natürlich.

Sie starrte sich auf dem Bildschirm an. So. Wenn sie noch länger zögerte, würde sie es nie abschicken. Sie schloss die Augen, betete und drückte die Maustaste. Ein kleiner Brief sauste über den Monitor.

Deine Nachricht wird gesendet.

Im gleichen Moment surrte das Handy in ihrer hinteren Hosentasche, und Gwen Stefani röhrte The Sweet Escape. Molly. Langsam holte sie Luft. «Hallo, M.!»

«Hast du’s abgeschickt?», fragte eine aufgeregte Stimme.

Lainey seufzte und ließ sich rücklings aufs Bett fallen. «Endlich, ja.»

«Und?»

«Noch nichts gehört. Ich hab’s eben erst geschickt, vor zwei Sekunden.»

Molly Brosnan war Laineys beste Freundin seit dem Kindergarten, und alle – Lehrer, Trainer, Freunde, Eltern – sagten, wenn sie einander nur ein kleines bisschen ähnlicher sähen, wären sie wie eineiige Zwillinge. So eng waren sie. Früher zumindest. Es war also kein Zufall, dass Molly genau in dem Moment anrief, als Lainey «Senden» geklickt hatte. So was passierte andauernd – Molly dachte, was Lainey dachte, und umgekehrt. Deswegen war dieses Jahr ja auch so besonders schlimm. Egal was ihre Mutter sagte, eine andere Schule bedeutete eben ein anderes Leben. Lainey zupfte die Fussel von ihrem marsmännchengrünen Flokati-Kissen. «Ich bin so nervös, M.»

«Warum hast du so lange gebraucht?»

«Ich bin ein Angsthase.»

«Wenn er sich meldet, musst du mir sofort Bescheid sagen, Lainey.»

«Mach ich, klar. Was meinst du, wie er es findet?»

«Ich hab’s dir doch gesagt. Du siehst echt heiß aus. Ganz im Ernst. Er wird total drauf abfahren.»

«Findest du nicht, ich sehe dick aus?»

«Bitte!»

«Albern?»

«Ich wünschte, ich würde so albern aussehen.»

Lainey setzte sich auf und starrte den Computer auf dem Schreibtisch an. «Ich dreh durch, wenn ich nicht bald von ihm höre, M.! Das Warten macht mich fertig.»

Plötzlich rüttelte jemand an ihrer Türklinke. «Lainey!»

«Hau ab, Brad! Ich meine es ernst», rief Lainey. «Geh weg von meiner Tür!»

«Du darfst die Tür nicht abschließen! Das hat Mom gesagt!»

«Dann renn doch zu ihr, du Petze! Wird dir viel bringen, weil sie nämlich NICHT DA ist! Und ich erzähl ihr dann, dass du den ganzen Tag das Videospiel gespielt hast, das du erst nach den Hausaufgaben spielen darfst!», schickte sie noch hinterher und ließ sich wieder aufs Bett fallen.

«War’s das Balg?», fragte Molly. «Was macht der in deinem Zimmer?»

«Er ist nicht drinnen. Aber vor der Tür. Ich höre ihn durch den Spalt atmen. Ich wünschte, ich hätte Insektenspray.» Lainey kniff die Augen zusammen. «Manchmal hasse ich ihn, M. Ich schwör’s.» Molly hatte auch einen kleinen Bruder, doch der war lieb. Meistens jedenfalls.

«Was hat er jetzt wieder gemacht?»

«Er ist an meine Bücher gegangen. Hat Schnurrbärte in meine Betty-und-Veronica-Comics gemalt. Sie sind total ruiniert. So ein Arschloch.»

«Hast du es deiner Mutter gesagt?»

«Träum weiter. Als würde das was bringen. Wahrscheinlich hat sie ihm meine Comics und den Filzstift gegeben, weil dem armen Baby langweilig war.» Sie öffnete den Nagellack und begann, sich die Zehennägel zu lackieren.

«Du musst es ihr sagen.» Molly schniefte. «Er darf nicht an deine Sachen gehen.»

«Sie ist nicht da. Arbeitet.»

«Und Todd?»

Todd war Laineys Stiefvater und ein völlig anderes Kapitel. Ihre Mutter behandelte Bradley wie ein Baby, aber Todd bevorzugte ihn eindeutig, was klar war, denn Brad war schließlich sein Kind, und Lainey war nicht sein Kind, und so war das Leben. «Der ist auch noch nicht da, Gott sei Dank. Ich bin die Babysitterin.» Lainey warf einen finsteren Blick zur Tür. «Denk nicht, dass er auf mich hört.»

«Babysitterin? Oho. Das heißt, du bist im Moment die Verantwortliche. Meine Mutter hat zu Sean gesagt, dass körperliche Strafe in Florida erlaubt ist, was bedeutet, sie kann ihm mit ihrer Haarbürste den Hintern versohlen, und du kannst Bradley mit deinem Gürtel eins überziehen.» Sie lachten beide.

«Gute Idee. Aber wenn das Balg auch nur einen einzigen blauen Fleck auf seinem milchweißen Popöchen hat, kriege ich Hausarrest bis zur Highschool. Ich IGNORIERE ihn einfach, während er wie ein PSYCHOPATH unter meiner TÜR ATMET!!!»

Aus dem Computer ertönte ein melodisches Klingeln. Jemand hatte ihr eine Nachricht geschickt.

Lainey warf einen Blick auf den Computer, und ihr Herz klopfte plötzlich wieder wie wild. Sie wusste sofort, wer es war.

ElCapitan: bist du online?

«O Gott, M.!», flüsterte sie ins Telefon. «Er chattet mich an. Was soll ich machen?»

Molly lachte. «Sag hallo!»

«Ja, aber das heißt garantiert, dass er meine E-Mail bekommen hat.»

«Nein, heißt es nicht. Vielleicht schreibt er von seinem Blackberry aus.»

«Er hat kein Blackberry», entgegnete Lainey, doch nach einer Sekunde sagte sie: «Glaube ich jedenfalls, dass er keins hat.»

«Ist doch egal. Ich meine, es kann sein, dass er das Foto noch nicht gesehen hat.»

Lainey stand auf und fing an, im Zimmer auf und ab zu gehen. «Er will wissen, ob ich da bin.»

«Sag einfach hallo, du Idiot. Mach schon. Jetzt gleich.»

«Jaja, ich mach ja schon …» Nie in ihrem Leben hatte es sie so viel Kraft gekostet, ein paar Buchstaben in den Computer zu tippen. Es fühlte sich an, als hätte ihr jemand Blei in ihre zitternden Fingerspitzen gegossen.

LainBrain: hi

Tief Luft holen. Ruhig bleiben. «Okay, M. Ich hab’s getan.»

Wieder klingelte der Computer.

ElCapitan: bin grade nach hause gekommen. training hat länger gedauert. der trainer ist immer noch sauer wegen dem spiel von letzter woche.

«Was? Was schreibt er?», bettelte Molly. «Jetzt sag schon!»

«Nichts. Nur dass er eben vom Football-Training nach Hause gekommen ist. Vielleicht hast du recht. Vielleicht hat er es noch nicht gesehen.» Sie wartete einen Moment. «Oder vielleicht hat er es gesehen und findet es grauenhaft! M.!»

ElCapitan: hab deine mail bekommen

Lainey hielt die Luft an.

«Und? Lainey!»

ElCapitan: schönes foto 😊

Lainey atmete hörbar aus, als hätte jemand mit einer Nadel in ihre voll aufgepumpten Lungen gepikt. «Er hat gesagt, schönes Foto, M.! Ist das gut?» Doch schon beim Fragen musste sie grinsen.

«Du bist so doof. Ich hab dir doch gesagt, dass du heiß aussiehst. Pass bloß auf, dass deine Mutter das Foto nicht sieht. Die rastet aus. Apropos ausrastende Mütter, meine ist unten und kriegt gerade einen Anfall. Ich muss zum Essen. Grüß Brad das Balg von mir.» Sie lachte. «War nur ein Witz. Grüß ihn bloß nicht.»

«Ich ruf dich später an.» Lainey legte auf und starrte die Worte auf dem Bildschirm an. In ihrem ganzen Leben hatte sie sich noch nie so gut gefühlt. Sie wollte schreien. Dann erschien mit einem Klingeln noch ein Satz.

ElCapitan: noch besser, als ich mir vorgestellt hab, und ich hab viel phantasie …

 

ElCapitan: würde gerne mehr von dir sehen

Mit glühenden Wangen sah sich Lainey in ihrem Zimmer um. Natürlich war niemand da, aber sie war dennoch seltsam verlegen. Was sollte sie antworten? Was würde Liza sagen? Meinte er das so, wie sie dachte, dass er das meinte?

Laut quietschend ging die Tür zur Garage auf. «Brad? Elaine? Hallo? Wo seid ihr alle? Warum ist das Videospiel an?» Die gereizte Stimme ihrer Mutter hallte durchs Haus, begleitet vom Klicken ihrer Absätze auf den Keramikfliesen. Lainey hörte, wie Bradley den Flur hinunterrannte und in seinem Zimmer verschwand. Feigling. Sie wusste genau, was als Nächstes kam, und formte das Wort mit den Lippen.

«Elaine!»

«Bin in meinem Zimmer!»

«Mach den Computer aus. Hast du überhaupt mit dem Abendessen angefangen?»

Und schon war der Spuk vorbei, und Cinderella war wieder zu Hause. In der Realität.

LainBrain: muss los. E112.

E112 war Chat-Slang für «Elternalarm/Eltern im Anmarsch».

ElCapitan: wer?

 

LainBrain: mom

 

ElCapitan: verdammt! dabei waren wir grade bei meinem lieblingsthema …

Das seltsame, unangenehme Gefühl war wieder da, doch sie schob es beiseite. Warum stellte sie sich an wie ein Baby? Sie musste sich zusammenreißen.

ElCapitan: dachte, sie arbeitet montags spät

 

ElCapitan: oder war’s freitag?

 

LainBrain: freitags und jeden zweiten montag. tut mir leid mit deinem trainer

«Elaine? Hast du mich gehört? Schalt sofort die verdammte Kiste aus!»

LainBrain: 😊LTL. sie ist sauer.

«LTL» war Chatslang für «let’s talk later», wir sprechen uns später. Lainey schlug das Sozialkundebuch auf, damit es so aussah, als hätte sie Hausaufgaben gemacht, und zerknüllte ein paar Seiten aus ihrem Ringbuch, um den Eindruck zu verstärken, falls ihre Mutter ins Zimmer kam. Jetzt musste sie erst mal Würstchen heiß machen und sich zwanzig Minuten lang eine Predigt anhören, dass es unverantwortlich von ihr gewesen sei, den kleinen hauseigenen Psychopathen zwei Stunden lang Bullen abknallen und Autos klauen zu lassen, in einem Videospiel, das sein Vater ihm zu Weihnachten geschenkt hatte. «Übung für den Ernstfall», würde Lainey am liebsten sagen, wenn es losging. «Mal ehrlich, Mom, Brads Karrierechancen sind begrenzt.» Aber die Bemerkung würde ihr auch noch eine Ohrfeige einbringen.

Gerade als sie die Tür aufmachte, klingelte ihr Computer wieder. Sie rannte zurück an den Schreibtisch und starrte die Worte auf dem Bildschirm an.

ElCapitan: FYI. pink steht dir gut 😊

2

«Ich weiß nicht, ob ihr nur Halloween im Kopf habt, aber das sind nicht die Noten, die ich von euch erwartet habe», sagte Mrs. McKenzie, während sie durch die Bankreihen ging und die Klassenarbeiten zurückgab. Sie klang erschöpft vom Alter und von den ständigen Enttäuschungen. Als sie an Laineys Tisch kam, blieb sie stehen. Kein gutes Zeichen. «Miss Emerson, ich habe mehr von dir erwartet», meckerte sie, ohne auch nur zu versuchen, die Stimme zu senken. Dann ließ sie die Arbeit wie angeekelt auf Laineys Tisch fallen, als wäre sie voll von Hundekot. Eine große rote 4+ landete sichtbar vor ihr.

Wieder eine Vier. Mist … Lainey spürte, wie ihre Wangen rot wurden. Soweit sie sich erinnern konnte, waren die Einser, die sie früher bekommen hatte, nie so groß gewesen. Oder so rot. Hastig schob sie die Arbeit in ihre Schultasche und wich dem Blick ihrer dreiundzwanzig höhnisch glotzenden neuen Mitschüler aus.

«Nächste Woche werden die Zeugnisse verschickt, Kinder», warnte Mrs. McKenzie und schüttelte ihren aufgeblasenen, margarinefarbenen Kopf, als es klingelte und die Menge der Schüler an ihr vorbei auf den Flur stürzte. «Ich weiß, dass ein paar von euch nicht sehr erfreut sein werden, wenn der Postbote kommt!»

Jede Wette, dass sie mich meint, dachte Lainey und spürte, wie die Säure in ihrem Magen brodelte, während sie langsam durch die lärmenden Massen zur Cafeteria trottete. Ihre Mutter würde an die Decke gehen, wenn sie den Umschlag aufmachte – Mathe war wahrscheinlich nicht das einzige Fach, in dem sie eine Vier bekam. Geschah ihr recht, dachte Lainey verbittert; es war nicht Laineys Idee gewesen, die Schule zu wechseln. Alle ihre Freundinnen gingen zur Ramblewood Middle School, während sie an der bescheuerten Sawgrass komplett verloren und vollkommen allein war. Ohne eine Menschenseele, die sie kannte. Null. Zero. Niemand, mit dem sie lernen konnte. Niemand, mit dem sie zur Schule ging. Niemand, mit dem sie zu Mittag aß, dachte sie unglücklich, als sie an den Tischen mit den Cheerleadern und Strebern und Sportlern vorbei zu einem leeren Platz ganz hinten in der Cafeteria durchging. Sie verstand immer noch nicht, warum sie unbedingt hatten umziehen müssen. Das alte Haus war doch schön, oder nicht? Sie waren nur anderthalb Kilometer weiter gezogen, und das «neue» war viel kleiner und hatte nicht mal einen Pool. Aber wie gewöhnlich hielt man es nicht für nötig, Lainey nach ihrer Meinung zu fragen, bevor man ihr Leben auf den Kopf stellte. Der Einzige, um den sich ihre Mutter und Todd Sorgen machten, war Bradley. Lainey und Liza waren ihnen nicht mal einen Gedanken wert. Was Liza nichts ausmachte. Sie war eh nie zu Hause, und da sie nicht die Schule wechseln musste und da all ihre Freunde Auto fuhren, gab es für sie auch das Problem nicht, dass sie ihre Freunde nicht mehr sah. Außerdem war Liza fast siebzehn – in ein paar Jahren würde sie sowieso ausziehen. Lainey aber steckte fest.

«Hallo», sagte eine leise Stimme, als Lainey ihr zerdrücktes Erdnussbutter-Marmeladen-Sandwich aus dem Rucksack nahm. Schlimm genug, dass sie sich das Mittagessen von zu Hause mitbringen musste, aber dieses Sandwich war einfach widerlich. Es sah aus wie ein durchgeblutetes Pflaster. Ein Mädchen, das ihr vage bekannt vorkam, stand mit einem Essenstablett neben ihr. «Du bist auch in Mathe bei der McKenzie, oder?», fragte sie.

Na toll. Wahrscheinlich wusste längst die ganze bescheuerte Schule, dass sie in Mathe durchfiel. «Ja, bin ich. Anscheinend bin ich so was wie der Schulidiot», sagte Lainey mit einem kleinen, nervösen Lachen, das mehr wie ein Prusten klang.

«Ich habe auch eine miese Note bekommen», sagte das Mädchen ungerührt. Sie sah sich um. «Sitzt du allein hier?»

Lainey zuckte die Achseln. War das nicht offensichtlich? Herrje, sie kam sich vor wie die letzte Versagerin. «Ja», sagte sie und rutschte auf ihrem Stuhl. «Ganz allein.»

«Kann ich mich dazusetzen? Meine Freistunde hat sich geändert, und ich kenne sonst keinen, der jetzt Mittagspause hat.»

Lainey schob den Bücherstapel zur Seite, den sie vor sich abgelegt hatte, um beschäftigt zu wirken. «Klar.»

«Ich heiße Carrie», stellte sich das Mädchen vor und steckte einen Strohhalm in den Saftkarton. «Bist du neu hier?»

«Ja. Ich war auf der Ramblewood, aber wir sind umgezogen, und anscheinend hat sich unser Bezirk geändert.»

«Du heißt Elaine, oder?»

«Alle nennen mich Lainey.»

«Ich bin auch neu. Mein Vater wurde im August hierher versetzt. Wir sind aus Columbus, Ohio, hergezogen.»

«Ohio … Mannomann. Gefällt dir Florida?»

Carrie zuckte die Achseln. «Wir hatten noch nie einen Pool, das finde ich schon cool. Meine Freundinnen zu Hause sind total neidisch. Sie haben gesagt, wenn es oben im Norden kalt wird, kommen sie mich alle besuchen. Schwimmen im Januar. Das wird lustig.»

Lainey spürte einen Stich im Herzen. Freundschaften über die Entfernung zu halten ist nicht so einfach, wie es klingt, wollte sie Carrie sagen. Ihre Freundinnen wohnten weniger als zwei Kilometer weg, und sie sah sie überhaupt nicht mehr. «Meine beste Freundin geht noch auf die Ramblewood», sagte sie leise und biss in ihr Sandwich. «Eigentlich alle meine Freundinnen.»

«Ramblewood, ist das eine gute Schule?»

Letztes Jahr hätte sie wahrscheinlich «beschissen» gesagt, weil Schule nie Spaß machte. Doch sie spülte ihr Sandwich mit einem Schluck widerlich warmer Milch hinunter, bevor sie antwortete: «Ramblewood ist eine tolle Schule. Die beste, die ich kenne.»

Gemeinsam lästerten sie über schlechte Lehrer, zu viele Hausaufgaben und den Schulbus. Die Neue war zwar nicht Molly, aber wenigstens konnte man mit ihr reden. «Schöner Rucksack», sagte Carrie, als sie nach dem Mittagessen zusammenpackten. «Ich glaube, ich habe Twilight mindestens fünfzigmal gesehen. Taylor Lautner ist so süß.»

Lainey lächelte. «Ich stehe mehr auf Robert Pattinson. Hättest du das erraten?» Auf der Klappe ihrer schwarzweißen Büchertasche war ein Bild von Edward Cullen, dem jungen Vampir, der in Laineys absolutem Lieblingsfilm von Robert Pattinson gespielt wurde. «EDWARD» stand in Siebdruck darunter. Ihre Mutter weigerte sich, schicke Schulranzen oder Lunchboxen zu kaufen, weil sie sagte, «die verdammten Stars haben schon genug Geld», und so hatte Lainey all ihr Geburtstagsgeld gespart und sich die Tasche selbst gekauft. Am Tag vor Schulanfang hatte sie bei Target gerade noch die allerletzte ergattert. Zuerst hatte sie Angst, dass die Tasche für die Mittelstufe vielleicht zu kindisch sein könnte, aber Melissa hatte sie auch, und Molly wollte eine, und schließlich hatte sich nicht mal Liza darüber lustig gemacht, was ein gutes Zeichen war.

«New Moon will ich unbedingt gleich am ersten Tag sehen, wenn er rauskommt. Das wär so cool. Hey, vielleicht können wir zusammen reingehen», schlug Carrie vor. «Wir wohnen drüben in Coral Hills.»

«Klar», sagte Lainey lächelnd. «Das wäre lustig. Neunzehnter November. Ich bin da.»

«Meinst du, deine Mutter würde vielleicht erlauben, dass wir in die Mitternachtsvorstellung gehen?»

Lainey zuckte die Achseln. «Weiß nicht …»

«Meine ist auch so.» Carrie verdrehte die Augen. «Sie behandelt mich manchmal wie ein Baby. Es ist doch nur ein Film.»

«Ich habe Twilight zum Geburtstag auf DVD bekommen. Ich habe ihn sicher schon hundertmal gesehen. Am besten finde ich die Stelle, wo Bella Edward fragt, wie alt er ist, und er sagt: ‹Siebzehn›, und dann fragt sie ihn: ‹Wie lange bist du schon siebzehn?›»

Carrie nickte. «Und er antwortet einfach: ‹Eine Weile.› Und wie er sie ansieht, als er sie mit hoch auf den Baum nimmt.» Sie biss sich auf die Lippe und seufzte. «Diese Augen …» Dann zeigte sie plötzlich auf das Ringbuch, das Lainey in der Hand hielt. «Hey! Wer ist das?»

Auf dem Einband des Ringbuchs klebte das Foto von Zach, das vorher an ihrem Computerbildschirm hing. Lainey schob sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. «Ach, das ist mein Freund», antwortete sie schnell, während ihr das Blut in die Wangen stieg und sie wahrscheinlich aufleuchtete wie ein Weihnachtsbaum. Sie schluckte den Kloß herunter, der plötzlich ihre Luftröhre blockierte.

Die Zeit blieb stehen. Lainey hörte das Blut in ihren glühenden Ohren rauschen.

«Oh», sagte Carrie nach kurzem Zögern mit einem unsicheren Lächeln. «Der ist ja süß.»

Glücklicherweise klingelte es, bevor Carrie weitere Fragen stellen konnte. Hastig steckte Lainey ihr Ringbuch ein, warf sich die Tasche über die Schulter und winkte Carrie zum Abschied zu, bevor sie in der Menge verschwand, die aus der Cafeteria stürmte.

Ihr Freund? Puh … wo war das denn hergekommen? Das Wort war ihr einfach so rausgerutscht. Sie hatte nicht geplant, ihn so zu bezeichnen. Sie hatte überhaupt nicht darüber nachgedacht. Sie hatte sich auch nie vorgemacht, dass es so wäre, nicht mal in der Abgeschiedenheit ihres Zimmers, wenn keiner zusah, wie sie es früher manchmal mit Filmstars getan hatte. Es war ihr ziemlich peinlich – als hätte jemand sie bei etwas Verbotenem erwischt –, und gleichzeitig hatte sie seltsame Hochgefühle. Als wäre sie endlich in das größte Geheimnis der Welt eingeweiht worden.

Sie hatte einen Freund.

Da war es wieder. Außerdem, genau genommen war Zach schließlich auch so was Ähnliches, oder? Während sie sich den Weg durch die Menge bahnte, verkniff sie sich ein Grinsen. Auf einmal fühlte sie sich nicht mehr so allein wie noch heute Morgen. Und auch nicht mehr wie ein Loser. Immerhin hatte sie einen Freund.

Je länger Lainey darüber nachdachte, desto vertrauter wurde der Klang in ihrem Kopf. Sie hatte noch nie einen Freund gehabt. Anders als Molly und Melissa hatte nie einer sie gefragt. Und doch war Zach mehr ihr Freund, als es Peter Edwards je für Molly gewesen war. Das Einzige, was die beiden getan hatten, als sie letztes Jahr «miteinander gingen», war nämlich, in den Pausen zu quatschen und ein paarmal zu telefonieren – wie lange? Ein paar Minuten? Na gut, sie hatten sich geküsst, aber auch nur, weil Peter Molly auf dem Flur die Zunge in den Mund gesteckt hatte, als seine Freunde vorbeikamen, nur damit sie jeder knutschen sah. Molly hätte ihm die Zunge fast abgebissen, so erschrocken war sie und angewidert. Sie hatte ihr erzählt, es hätte sich angefühlt wie ein Zungenkuss von Stubbs, der Bulldogge ihres Onkels. Lainey hatte gelacht, aber insgeheim war sie neidisch gewesen. Nicht weil sie den schrägen Peter Edwards gut fand oder mit ihm knutschen wollte oder so was, sondern weil, na ja, weil Molly es schon mal getan hatte. Und Lainey stand immer noch draußen am Zaun und sah hinüber, wie üblich. Wartete, dass ihre Brüste wuchsen. Wartete auf ihre Periode. Wartete darauf, einen Freund zu haben. Wartete, endlich aufzuholen mit dem, was alle anderen längst hatten und taten. Aber jetzt – heute, letztes Wochenende, die letzten Wochen – war alles anders. Im Gegensatz zu Molly und Peter sprachen Lainey und Zach jeden Abend. Sie hatte ihn zwar noch nie in echt gesehen oder seine Stimme gehört, aber sie hatten einander Fotos geschickt. Und Lainey wusste, dass er sie auf die Art gut fand. Als Freundin. Falls sie sich vorher noch nicht sicher war, seit dem Chat gestern war es klar. Er wollte mehr von ihr sehen. Er mochte pink. Er fand ihr Foto gut. Noch besser, als er es sich vorgestellt hatte. Was hieß, dass er sich vorstellte, wie sie aussah. Er dachte an sie. Und das war mehr, als Molly je von Peter hatte behaupten können.

Lainey folgte den letzten Nachzüglern in den Klassenraum von Ms. Finn, ihrer Englischlehrerin, die ungeduldig in der Tür stand, mit ihrem orthopädischen Schuh auf den Boden tappte und mahnend auf die Uhr sah, obwohl es noch nicht mal geklingelt hatte. Ms. Finn kannte keine Gnade mit Zuspätkommern. Beim zweiten Klingeln ging die Tür zu, und außer bei Feuer, einem Terroranschlag oder medizinischen Notfall – und darunter fiel nicht das Bedürfnis, aufs Klo zu gehen – blieb sie geschlossen, bis es zum Ende der Stunde klingelte. «HEUTE AUFSATZABGABE», stand quer über der Tafel.

Es war, als wäre ihr neuer Luftballon geplatzt. Lainey hatte den Aufsatz zu Sturmhöhe völlig vergessen. Und schon verschluckte das allzu vertraute Versagergefühl sie wieder. Es brauchte kein mathematisches Genie, um sich auszurechnen, mit welcher Note sie in Englisch rechnen musste – noch eine Vier, die der Postbote bringen würde. Ihre Mutter würde ausrasten.

Sie schlüpfte auf ihren Platz und rutschte möglichst tief, um Ms. Finns Maschinengewehrblick auszuweichen. Wahrscheinlich kam als Nächstes ein unangekündigter Test. Oh, Freude. Sie berührte Zachs lächelndes Gesicht auf dem Ringbuch. Halb so schlimm, redete sie sich ein. Alles halb so schlimm. Die konnten sie alle mal, die blöde Schule und die fiesen Lehrer, denen es Spaß machte, Arbeiten schreiben zu lassen und extra Hausaufgaben zu stellen. Es war nur eine blöde Note in einer blöden Klasse über ein blödes Buch, oder? Das alles war nichts im Vergleich zu den wichtigen Dingen des Lebens. Und was wirklich wichtig war, das sah ihr hier mit seinem süßen Grinsen entgegen, und sie wusste, ihm war es egal, wenn sie eine Vier bekam. Zach hatte ihr schon erzählt, dass er in Spanisch durchfiel. Alles war halb so schlimm, denn jetzt hatte sie einen Freund. Jemanden, dem sie wichtig war. Sie lächelte vor sich hin, als Ms. Finn die Tür schloss und die nächsten fünfzig Minuten der Hölle begannen.

Ab jetzt würde alles besser werden. Der Märchenprinz war endlich da.

Und sie konnte es kaum abwarten, sich an den Computer zu setzen und mit ihm zu chatten.

3

In Florida konnte das Wetter echt unheimlich sein, dachte Lainey, als sie zusah, wie über den Everglades und Coral Springs im Westen schwarze Wolkenklumpen aufzogen. Bis vor zwanzig Minuten war der Himmel noch strahlend blau gewesen. Sie rannte über das braune Stück Wiese auf die Doppelhaushälfte von Mrs. Ross zu, die nachmittags auf Bradley aufpasste. Nach der warmen Nachmittagsbrise war ein kühler, böiger Wind aufgefrischt, der an den Palmen zerrte. Irgendwo donnerte es bereits. Der Sturm kam näher. Sie fragte sich, wie das Wetter in Columbus, Ohio, war. Ob es dort auch manchmal nur auf einer Straßenseite regnete oder in Strömen goss, während die Sonne schien? Sie fragte sich, wie es war, im Schnee herumzutollen …

Vor der Fliegengittertür stand eine Gehhilfe auf der Treppe, mit zwei Tennisbällen unter den vorderen Füßen. An der Klingel klebte ein Zettel, auf dem in krakeliger Handschrift die Hausnummer1106 stand. Hoffentlich war Bradley abmarschbereit, dachte Lainey, als sie schellte und dabei auf ihr Handy sah. Wenn er kein Training hatte, war Zach um fünf zu Hause. «Hallo, Mrs. Ross», grüßte sie freundlich, als die Tür aufging. Eine Katze schoss zwischen den Beinen der alten Frau heraus und verschwand in den Büschen.

«Sindbad! Komm sofort zurück!», rief Mrs. Ross mit weichem, zittrigem Südstaatenakzent.

An der Grundschule hatte Bradley eineinhalb Stunden früher Schluss als Lainey, und Mrs. Ross diente als nachmittäglicher Boxenstopp, bevor Lainey ihren Bruder abholte und mit nach Hause nahm. Früher war Bradley einfach allein nach Hause gegangen, bis einer der neuen Nachbarn ihrer Mutter mit dem Jugendamt gedroht hatte, und seitdem passte Mrs. Ross auf ihn auf. Lainey fand, allein war er besser dran gewesen. Mrs. Ross sah aus wie hundert und konnte weder sehen noch hören, noch erinnerte sie sich an irgendwas. Außerdem roch es bei ihr immer nach Pipi und gekochten Eiern. «Hallo, Elaine», sagte sie. «Komm doch rein.»

«Soll ich ihn für Sie einfangen?», fragte Lainey.

«Wen?»

«Sindbad.»

Eine Pause entstand.

«Den Kater», erklärte Lainey.

Mrs. Ross sah sich um. Dann ging ihr ein Licht auf. «Ach so, nein, nein. Lass ihn ruhig. Der kommt schon wieder. Hier kriegt er sein Fresschen.»

In der Wohnzimmertür tauchte Bradley auf. Er war ganz blass. «Es gibt eine Sturmwarnung. Die sagen, es kann sogar Tornados geben.»

Oje. Ihr Bruder konnte sich, ohne mit der Wimper zu zucken, Texas Chainsaw Massacre und Saw IV ansehen, doch seit Hurrikan Wilma vor ein paar Jahren das Fenster in seinem Zimmer eingedrückt hatte, reichten fünf Sekunden Wettervorhersage, und Bradley machte sich in die Hose. Anscheinend hatte die Unwetterwarnung seinen Zeichentrickfilm unterbrochen.

«Vielleicht wäre es besser, wenn wir hier warten», sagte er mit vor Angst geweiteten Augen. Mrs. Ross presste die Lippen zusammen und sah von einem zum anderen. Offensichtlich machte sie sich keine Sorgen um Tornados. Sie wollte ihren Fernseher wiederhaben. Bald fing Oprah an.

«Reg dich ab. Es regnet ja noch nicht mal», antwortete Lainey gelassen.

«Aber … die sagen, dass ein Tornado wie ein Güterzug klingt.»

«Wir müssen gehen, Brad. Komm schon.» Sie sah Mrs. Ross an. «Wir können nicht bleiben.»

Mrs. Ross zuckte die Achseln.

«Aber …», murmelte er wieder.

«Hör zu, wir rennen nach Hause, bevor der Regen anfängt. Wir machen ein Wettrennen.»

Bradley sah an ihr vorbei. Wieder rollte ein Donner, und seine Lippe begann zu zittern.

Lainey seufzte. Zu sehen, wie ihr sonst so frecher Bruder zu einem Häufchen Elend zusammenschrumpfte, hätte sie eigentlich freuen sollen, doch der Anblick bewirkte das Gegenteil. Der Kleine tat ihr leid. Er war wirklich total verängstigt. «Komm an meine Hand, Brad», sagte sie leise und ging in die Knie, um ihm in die Augen zu sehen. «Es passiert nichts. Das verspreche ich dir. Aber wir müssen los, und zwar jetzt gleich.»

Gerade als sie Hand in Hand um die Ecke der 43rd Street auf die 114th Terrace rannten, drehte der liebe Gott die Schleusen auf. Und den Donner. Das ohrenbetäubende Dröhnen, das klang, als wäre es direkt über ihren Köpfen, löste drei Autoalarme aus. Als sie das Haus ein paar hundert Meter weiter erreichten, waren sie bis auf die Unterwäsche durchnässt, was den inzwischen völlig verstörten Bradley immerhin eine Viertelsekunde zum Grinsen brachte.

Sie wartete vor seiner Zimmertür, bis er trockene Kleider anhatte, dann brachte sie ihn ins Wohnzimmer, schloss die Fensterläden und legte Resident Evil in seine PlayStation ein. Ein Videospiel konnte nicht von Unwetterwarnungen unterbrochen werden, und die schreienden Opfer der Zombies übertönten den Donner. Lainey beobachtete ihn aus der Küche, bis der schlimmste Schauer vorübergezogen war und sie sicher sein konnte, dass Bradley mehr mit dem Kannibalen im Schrank beschäftigt war als mit dem Wirbelsturm, der womöglich sein Zuhause dem Erdboden gleichmachte. In zwanzig Minuten wäre der Sturm vorbei, Bradley wieder der Alte und sie ohne Mitleid mit ihm. Sie hatte nicht viel Zeit.

Während er in seinem Spiderman-Pyjama auf dem Sofa herumturnte und Zombies abballerte, zog sie sich leise zurück und ging in ihr Zimmer am anderen Ende des Flurs.

Dort schloss sie die Tür hinter sich ab und stellte den Computer an.

4

Noch bevor sich der Bildschirm richtig aufgebaut hatte, hörte sie schon das vertraute Klingeln. Eine Sofortnachricht. Während sie aus den nassen Kleidern schlüpfte, klickte sie auf das blinkende orange Feld.

ElCapitan: bist du online?

Es war, als wüsste er, dass sie da war. Als könnte er ihre Anwesenheit spüren. Das war so cool!

LainBrain: hi! wollte grade schreiben

 

ElCapitan: was läuft?

 

LainBrain: hatte ein wettrennen mit dem regen, hab verloren

 

LainBrain: stürme sind toll, aber es ist ziemlich eklig draußen

 

ElCapitan: heißt das, du bist klitschnass?

 

LainBrain: ziemlich

 

ElCapitan: oooh. gefällt mir

 

LainBrain: muss mir die haare föhnen

 

ElCapitan: wie war mathe?

 

LainBrain: frag nicht

 

ElCapitan: du bist nicht die erste, die in algebra durchfällt

 

LainBrain: nicht durchgefallen. 4

 

ElCapitan: (::[]::)

Lainey lächelte.

LainBrain: danke für das mitgefühl

 

ElCapitan: kenn ich. hab mathe GEHASST. hatte auch nur ne 3

 

LainBrain: mom skalpiert mich. wahrsch hausarrest für immer

 

ElCapitan: schade. finde deine haare schön

 

ElCapitan: und dein hübsches gesicht

Sie wurde rot und strich sich abwesend eine feuchte Strähne aus dem Gesicht, die unter dem Handtuchturban hervorgerutscht war. Es war so leicht, mit ihm zu chatten.

ElCapitan: muss dich treffen

Lainey starrte auf den Bildschirm. Damit hatte sie nicht gerechnet.

ElCapitan: freitagabend?

 

ElCapitan: wir holen uns was zu essen & gehen ins kino. lust auf zombieland?

O mein Gott. Er wollte sich mit ihr verabreden. Moment – war das ein Date? Sie sah sich um, als hoffte sie auf einen Zeugen, der bestätigen konnte, was sie gerade gelesen hatte, und ihr dabei half, die Bedeutung zu verstehen. Wo war Molly, wenn man sie brauchte? Natürlich war das ein Date … Kino bedeutete Date. Essen gehen bedeutete Date. Kino plus essen gehen bedeutete eindeutig Date. Ein echtes Date. Er bat sie um ein Rendezvous! Doch dann wurde die Vorfreude, die sie jauchzend durchs Zimmer tanzen ließ, von eisiger, realistischer Panik verdrängt. Was bildete sie sich ein? Es bestand überhaupt keine Chance, dass Mom ihr das erlaubte. Nicht die Spur einer Chance. Erst recht nicht, wenn sie erfuhr, dass Zach siebzehn war. Lainey nagte an ihrem Nagel. Scheiße. Sie wollte nicht nein sagen. Was, wenn er dann nie wieder fragte?

ElCapitan: hallo?

 

LainBrain: hmmm … will den film unbedingt sehen

 

ElCapitan: meinst du, deine mom lässt dich?

 

LainBrain: weiß nicht … vor allem nach heute

 

ElCapitan: dann erzähl’s ihr nicht

Lainey starrte den Computer an, als wäre er lebendig und beobachtete sie aufmerksam durch den blinkenden Cursor. In ihrem Magen rumorte es vor Aufregung und vor Unbehagen.

ElCapitan: was sie nicht weiß, macht sie nicht heiß

Sie sah sich in ihrem leeren Zimmer um. Sie hatte ein Kratzen in der Kehle, als hätte sie sich an irgendwas verschluckt und würde es nicht mehr los. Das ginge vielleicht. Sie könnte ihrer Mutter sagen, sie würde mit dieser neuen Klassenkameradin ins Kino gehen, mit Carrie. Ihre Mutter prüfte sowieso nie was nach. Liza war das Problemkind, nicht Elaine. Und außer «War’s schön?» würde sie auch später keine Fragen stellen, das wusste Lainey. Mom fragte nie.

LainBrain: ich kann aber nicht spät nach hause kommen

 

ElCapitan: ich bring dich vor 10 zurück. ich hab um 8 training

 

ElCapitan: 8 morgens!!

Lainey kaute auf ihrer Lippe. In ihrem Kopf ging es drunter und drüber. Was sollte sie tun?

ElCapitan: bist du noch da?

 

LainBrain: mmmh … denke nach.

 

ElCapitan: ich hol dich von der schule ab. haben schon mal gegen CS High gespielt. warte da auf mich, 17:30 parkplatz hinten beim baseballplatz. schwarzer bmw.

 

LainBrain: 17:30?

 

ElCapitan: krieg das auto erst, wenn mein alter nach hause kommt. und die CS ist nicht grade um die ecke

Er hatte recht. Zach wohnte in Jupiter, was laut Routenplaner ungefähr eine Stunde weit weg war. Er würde eine Stunde fahren, nur um mich zu sehen … Lainey holte tief Luft. Ihr Herz raste. Sie hatte noch nie was angestellt. Bis auf das Foto hatte sie nie gegen irgendeine Regel verstoßen. Aber ihre Mom würde es verbieten, nur um des Verbietens willen. Und weil es für sie diese bescheuerten, willkürlichen Regeln gab, wie alt man sein musste, um bestimmte Sachen zu dürfen. Zwölf für Lidschatten, dreizehn für Verabredungen in Gruppen, fünfzehn, um mit dem Auto abgeholt zu werden. Die Reaktion auf Lizas verkorkste Erziehung. Und wenn Lainey am Freitag nicht mitging, würde sie Zach dann je kennenlernen? Vielleicht am Sankt-Nimmerleins-Tag.

LainBrain: ok. klingt gut.

 

ElCapitan: cool. halt dicht. ich will nicht, dass deine mom oder dein stiefvater uns die tour versauen. such ein kino bei euch in der nähe aus

 

LainBrain: ok

 

ElCapitan: freu mich, dich endlich kennenzulernen

 

LainBrain: ich mich auch

Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. In ihrem Kopf drehte sich alles. Sie würde nicht nur einen Weg finden müssen, am Freitagnachmittag zur Coral Springs Highschool am anderen Ende der Stadt zu kommen – wo sie noch nie zuvor gewesen war –, außerdem musste sie es irgendwie schaffen, wie das Mädchen auszusehen, für das er sie hielt, wenn sie dort ankam. Plötzlich kam ihr ein schrecklicher Gedanke, und es lief ihr eiskalt über den Rücken.

Was, wenn es nicht funktionierte? Was, wenn er sie mit einem Blick durchschaute und wusste, dass sie dreizehn war? Was würde er dann tun?

Aus dem Computer klingelte es.

ElCapitan: keine sorge. bei mir bist du sicher

Sie lächelte. Es war, als könnte er ihre Gedanken lesen. Immer wieder.

ElCapitan: bin kein psycho 😊

5

Als es am Freitag zum Schulschluss läutete, explodierte die Sawgrass Middleschool wie ein Teig, der im Ofen aus der Form quoll. Tausende von Schülern strömten gleichzeitig aus allen Türen, rannten zum Bus oder zum Parkplatz, wo sie abgeholt wurden, schlossen ihre Räder auf oder versammelten sich, um mit Freunden zu Fuß nach Hause zu gehen. Drei lange Tage würden Hausaufgaben, Klassenarbeiten und Schulprojekte vergessen sein. Eine halbe Stunde lang herrschte auf dem Schulgelände ohrenbetäubendes Chaos.

Und dann war es vorbei.

Lainey stand auf Zehenspitzen auf dem Handtrockner im Mädchenklo und beobachtete durch das winzige Klappfenster, wie der letzte vollgepackte gelbe Schulbus aus dem Kreisel fuhr und wie mit ihm der aufgeregte Lärm von fünfzig oder mehr schreienden Kindern verebbte. Auf dem verlassenen Schulhof blieben zerknüllte Zettel und leere Pausenbrottüten zurück, die über den Parkplatz und das Footballfeld kollerten wie Steppenläufer. Freitags gab es in der Sawgrass keine Nachmittagsveranstaltungen, Club-Treffen oder Konferenzen – selbst die Lehrer nahmen mit dem letzten Klingeln Reißaus. Um diese Zeit war es im Gebäude genauso menschenleer wie draußen auf dem Parkplatz.

Lainey blies die Luft aus, die sie anscheinend den ganzen Tag angehalten hatte – die ganze Woche. Dann kletterte sie vom Handtrockner herunter und holte ihre Büchertasche aus der Kabine für Behinderte, in der sie sich beim Läuten versteckt hatte. Ihr Bus war weg, und sie war der Verwirklichung ihres Plans einen Schritt näher. Sie warf einen Blick auf ihr Handy – 16:10 Uhr. Sie hatte Zeit, aber nicht allzu viel, denn sie musste sich noch schminken und umziehen und um 17:10 Uhr den Bus in der Sample Road erwischen, der sie rüber zur Coral Springs High brachte. Dort musste sie dann den Baseballplatz und den hinteren Parkplatz finden. Nicht zu viel Zeit zu haben war gut, sagte sie sich, während es in ihrem Magen wieder rumorte. Bloß keinen Leerlauf, bloß nicht darüber nachdenken, was sie tat oder warum sie es tat, denn dann würde sie am Ende doch noch kneifen. Das war einer der Gründe, weshalb sie keiner Menschenseele erzählt hatte, dass sie sich heute mit Zach traf. Nicht mal Molly. Sie wollte einfach nicht, dass es ihr jemand ausredete. Der andere Grund war eine persönliche Schutzmaßnahme. Falls – Gott behüte – Zach nicht auftauchte – falls er sie sitzenließ –, na ja, dann musste niemand von ihrer Niederlage erfahren, und sie würde nicht für den Rest ihres Lebens vor ihren Freundinnen als totaler Loser dastehen. «Wisst ihr noch, Laineys erstes Date? Was für ein Griff ins Klo!»

Sie schüttelte den Kopf, um die Stimmen zu vertreiben. Jetzt war sie schon so weit gekommen, da würde sie nicht kneifen. Bald würde sie allen von dem Date mit ihrem Freund, dem Footballspieler, erzählen können. Dass er sie ins Kino ausgeführt hatte. Und zum Essen! Und dass er nicht irgendein Auto fuhr – er fuhr einen BMW! Mannomann! Irgendwie musste sie ihn dazu bringen, mit ihrem Handy ein Foto von ihr zu machen, auf dem auch das Auto zu sehen war, damit sie es den Leuten zeigen konnte, dachte sie, während sie in Lizas coole Jeans und das sexy Abercrombie-T-Shirt schlüpfte. Für die Busfahrt würde sie ihre Turnschuhe anbehalten und erst an der CS High Lizas hohe Stiefeletten anziehen. Sie warf die Plastiktüte mit dem Schminkzeug, das sie sich von Lizas Kommode zusammengeklaut hatte, neben sich ins Waschbecken. Ihre Schwester würde ausrasten, wenn sie wüsste, dass Lainey sowohl ihren Schrank als auch ihre Schubladen geplündert hatte. Deshalb musste bis Mitternacht alles wieder an seinem Platz sein, wenn Liza von ihrem Job auf der Bowlingbahn heimkam. Sie ging das Durcheinander von Pudern und Lippenstiften durch, bevor sie sich für eine Palette mit braunem und grünem Lidschatten entschied. Einen Moment zögerte sie und kreiste den Finger über den schimmernden Puder. Außer an Halloween hatte sich Lainey noch nie geschminkt. Gelegentlich nahm sie ein wenig Lipgloss. Hoffentlich erinnerte sie sich daran, was Molly ihr letztes Wochenende alles ins Gesicht gekleistert hatte, und in welcher Reihenfolge. Sie wollte nicht aussehen wie ein Clown.

Eine halbe Stunde später kam sie aus dem Mädchenklo und stolperte beinahe kopfüber in den riesigen gelben Putzeimer, den der Hausmeister vor sich herschob. Beide schnappten nach Luft. Dann sah sich der Hausmeister hektisch um, als hätte er Lainey von einem Fahndungsfoto wiedererkannt, und schrie etwas, was auch ohne Spanischkenntnisse zu verstehen war.

Höchste Zeit. So schnell es, ohne zu rennen, ging, hastete sie auf die Haupttür zu und betete, dass am Freitagnachmittag auch die Schulverwaltung früher Feierabend machte.

Gut, dass sie ihre Turnschuhe trug. Als sie die Sample Road erreichte, war sie schon völlig außer Atem und musste rennen, um den Bus noch zu erwischen. Sie setzte sich auf einen Sitz ganz vorn und wich dem starren Blick eines verwahrlosten Mannes aus, der auf der anderen Seite des Gangs saß, an einer Orange lutschte und sie nicht aus den Augen ließ. Sie wischte sich die Hände an der Jeans ab und bat den Fahrer leise, ihr an ihrer Haltestelle Bescheid zu sagen. Sie blickte aus dem Fenster und sah Läden, Banken und Restaurants vorbeigleiten. Orte, an denen sie Dutzende von Malen gegessen oder eingekauft hatte, doch heute, dachte sie und versuchte, sich das Grinsen zu verkneifen, das sich auf ihrem ganzen Gesicht ausbreiten wollte, heute war es, als sähe sie alles zum ersten Mal.

6

Von seinem Parkplatz vor dem zweistöckigen Allstate-Versicherungsgebäude aus beobachtete er, wie die schmale Gestalt mit dem langen kastanienbraunen Haar aus dem Bus stieg und sich umsah wie eine Touristin, die zum ersten Mal das Empire State Building aus der Nähe betrachtete – voller Ehrfurcht, Staunen und Aufregung.

Kein Zweifel. Sie war es eindeutig.

Hübsch sah sie aus, in ihrer engen Bluejeans und dem modischen engen T-Shirt, die Büchertasche unbeholfen über die Schulter geworfen. Und sie hatte eine hübsche Figur – nicht zu rundlich, nicht zu knochig. Den Hunger-Look von Kate Moss konnte er nicht ausstehen, aber üppige Monroe-Kurven machten ihn auch nicht an. So viele Mädchen strengten sich sehr an, wie etwas auszusehen, das sie nicht waren. Zuerst kamen ausgestopfte BHs und formgebende Unterhosen, dann Brustimplantate, Fettabsaugen, Nasen-OPs und Botox. Was man sah, war nicht mehr unbedingt, was man bekam. Es tat gut, jemanden zu sehen, der von dem Barbie-Bild, das in Modemagazinen und auf MTV propagiert wurde, noch nicht verdorben war. Jemand, dessen schöner Körper noch … rein war.

Aufgeregt beobachtete er, wie sie vor dem Haupteingang der Schule stehen blieb und sich zögernd umsah. Einen Augenblick befürchtete er, sie würde hineingehen. Er ging zwar davon aus, dass keiner mehr da war, doch er wollte nicht eines Besseren belehrt werden. Das würde alles kaputt machen. Er spürte, wie sein Herz schneller schlug. Dann, nach ein paar Sekunden, drehte sie sich um und ging über den verlassenen Parkplatz hinter die Schule in Richtung Baseballplatz.

Um auf ihn zu warten.

Sein Mund fühlte sich plötzlich an, als hätte er Watte verschluckt, und er rieb sich die Hände, damit sie nicht zitterten. Eine schlechte Angewohnheit – ein Tick, wie seine Mutter sagte. Immer wenn er zu aufgeregt wurde, zitterten seine Hände. Der Tick war so schlimm, dass er ihn behinderte, wenn er Leute kennenlernte. Vor allem hübsche Mädchen.

Er warf einen letzten Blick auf das Foto in seinem Schoß. Dann steckte er es ins Handschuhfach und ließ den Motor an. Die Sonne war eben hinter den Horizont getaucht, und es war offiziell Abend geworden. Er sah auf die Uhr. 17:29. Pünktlich.

Wie nett, dachte er, als er auf die Straße fuhr. Sehr, sehr nett.

Er mochte pünktliche Mädchen.

7

Der Bus fuhr weiter und ließ Lainey in einer giftigen Wolke Dieselabgase stehen. Auf der anderen Straßenseite stand die imposante Fassade der Coral Springs High, beschirmt von einem riesigen Feigenbaum. Sie sah auf ihr Handy. 17:23 Uhr.

Keine Zeit zum Nachdenken. Keine Zeit zum Trödeln. Kein Weg zurück.

Links war offensichtlich der Footballplatz, und so folgerte sie, dass der Baseballplatz hinter der Schule lag. Sie überquerte die Straße und den leeren Parkplatz. Auch hier war wohl freitagabends kein Mensch mehr da. Schatten schnitten durch die Bäume und den rissigen Asphalt. In ein paar Minuten wäre die Sonne weg. Lainey mochte den Herbst und Halloween und das Thanksgivingfest Ende November, aber dass die Tage kürzer wurden, gefiel ihr nicht. Im Dezember hatten sie nach der Schule nur noch – wie viel? – eine Stunde Tageslicht. Sie folgte dem Maschendrahtzaun hinter das Schulgebäude, und dort lag er. Der Baseballplatz. Auch hier stand kein einziger Wagen auf dem Parkplatz. Kein Sportler auf dem Feld. Alles war genauso verlassen wie Sawgrass. Gott sei Dank. Wären noch Schüler hier gewesen und hätten sie wie eine Hochstaplerin beäugt, ihr wären sicher die Nerven durchgegangen.

Sie setzte sich auf den Bordstein und zog Lizas Stiefeletten an. Die Turnschuhe tat sie in die Büchertasche. Verdammt! Jetzt kam die Panik. Warum hatte sie die blöde Twilight-Tasche dabei? Sie hatte doch Lizas alten silbernen Rucksack nehmen wollen. Mit der Hand verdeckte sie Robert Pattinsons hübsches Gesicht. Die Tasche könnte alles kaputt machen. Irgendwie musste sie den Aufdruck verstecken – es wäre zu peinlich, wenn Zach das sah. Dann wäre ihm sofort klar, dass sie jünger war als sechzehn. Vielleicht sollte sie sagen, ihre Tasche wäre heute Morgen kaputtgegangen und sie musste sich die ihrer kleinen Schwester leihen? Noch mehr Lügen, auch noch eine kleine Schwester, die sie gar nicht hatte. Plötzlich meldete sich ihr schlechtes Gewissen. Sie hatte in den letzten Tagen so oft gelogen. Es wurde immer schwerer, den Überblick zu behalten …

Sie stand auf und schlenderte über den Parkplatz, um den Kopf freizubekommen und sich an Lizas Absätze zu gewöhnen. Falls die Twilight-Tasche