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Teil 4 der Cupido-Reihe. Ein Blitz in einem Kreis, eingebrannt in die Haut der Toten: Als Staatsanwältin CJ Townsend das Branding auf der Schulter der Frauenleiche sieht, ist sie sicher: Das ist die Handschrift des Snuff-Clubs, der vor einigen Jahren ganz Florida in Atem hielt. Die Mitglieder bezahlen viel Geld, um per Live-Stream zu beobachten, wie Frauen brutal vergewaltigt und getötet werden. CJ weiß alles über die perverse Inszenierung der Morde, von den Teilnehmern "das Spiel" genannt. Und sie kennt die Namen der Mitglieder, zu reich und einflussreich, um jemals von der Justiz belangt zu werden. Wenn sie weitere Morde verhindert will, muss CJ das Gesetz in die eigenen Hände nehmen. Dann verschwindet erneut eine junge Frau…
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Seitenzahl: 612
Jilliane Hoffman
Thriller
Aus dem Englischen von Sophie Zeitz und Katharina Naumann
Willkommen im Spiel ohne Grenzen
Ein geheimes Forum im Internet. Dreizehn Männer, die viel Geld bezahlen, um live dabei zu sein, wenn junge Frauen sterben: die ahnungslosen Kandidatinnen im «Spiel ohne Grenzen». Als in Miami eine brutal zugerichtete Frauenleiche entdeckt wird, kommt Staatsanwältin C.J. Townsend dem perversen Spiel des Clubs auf die Spur. Sie tut alles, um die Macher aufzuhalten, doch dann verschwindet eine weitere junge Frau. Und noch ehe C.J. begriffen hat, dass die Regeln des Spiels sich geändert haben, verwandelt sich auch ihr eigenes Leben in einen Albtraum ...
«Gnadenlos gut. Jilliane Hoffmans Bestseller sind atmosphärisch gelungen und Nervenkitzel pur.» (Petra)
Jilliane Hoffman war Staatsanwältin in Florida und unterrichtete jahrelang im Auftrag des Bundesstaates die Spezialeinheiten der Polizei – von Drogenfahndern bis zur Abteilung für Organisiertes Verbrechen – in allen juristischen Belangen. Ihre Thriller «Cupido», «Morpheus», «Vater unser», «Mädchenfänger», «Argus», «Samariter» und «Insomnia» waren allesamt Bestseller.
Katharina Naumann ist Autorin, freie Lektorin und Übersetzerin und lebt in Hamburg. Sie hat unter anderem Werke von Jojo Moyes, Anna McPartlin und Jeanine Cummins übersetzt.
Sophie Zeitz lebt als Literaturübersetzerin in Berlin. Sie übersetzt unter anderem Werke von Joseph Conrad, John Green, Marina Lewycka und Lena Dunham und wurde dafür mehrfach ausgezeichnet.
Wie immer: für Rich, Amanda und Katarina
In Gedenken an meine Freunde und ehemaligen FDLE-Spezialagenten
Rose Pineda, Eddie Royal und Don McCrindle
Wir vermissen euch alle
Match mit Kal 22.02.18
Kal: Wie wär’s mit Drinks? Würd dich gern in echt sehen. Alles.
Lana: Wo?
Kal: Wo du willst. Bist du in echt so scharf wie auf den Fotos?
Lana: Erwischt. Ich bin ein Troll! Hab Fotos von ’ner Freundin gepostet!
Lana verdrehte die Augen und schob sich die Sonnenbrille auf die Nase. Sie langweilte sich. Das war ein schlechtes Zeichen. Sie angelte sich eine Marlboro aus dem Päckchen in der Strandtasche, legte schützend die Hand um das Zippo und zündete sich die Zigarette an. Es roch nach Sonnencreme und Meer. Und nach Marihuana. Ein paar Handtücher weiter flatterte ein Wimpel der University of Wisconsin. Anscheinend machte dort drüben ein Joint die Runde.
Kal: Kenne paar echt fiese Anmachsprüche …
Lana: Nur zu.
Sie zupfte am Träger ihres Bikinioberteils und spähte darunter. Selbst im gleißenden Licht sah sie, dass sie sich einen Sonnenbrand holte. Seufzend drehte sie sich auf den Bauch, warf noch einen Blick auf das Handy und verzog das Gesicht.
Kal: Hast du Fieber? Du bist so heiß …
Sie zog an der Zigarette und tippte mit einem langen roten Fingernagel ihre Antwort.
Lana:LOL. Ich lach mich tot. Jetzt ich.
Kal: Schieß los. Mach mich an BITTE.
Lana: Du bist so erotisch wie ein VERKEHRSUNFALL.
Dann tippte Lana auf das Flaggen-Icon und auf das rot unterlegte Kreuz. Auf Nimmerwiedersehen, Kal, 25-jähriger Kreativer mit Waschbrettbauch.
Fünf Minuten ihrer kostbaren Lebenszeit verschwendet. Das Letzte, was Lana im Urlaub brauchte, war ein Date mit einem Loser. Nicht dass sie sich der Illusion hingab, sie würde über Tinder ihren Traumprinzen finden, aber wenn sie sich mit einem Typen traf, dann sollte er wenigstens die Rechtschreibung beherrschen und keine billigen Anmachsprüche aus dem Internet zitieren. Der Waschbrettbauch war bestimmt auch nicht der von Kal – auf den beiden Profilbildern mit nacktem Oberkörper war sein Gesicht nicht zu sehen. Und «kreativ» war wahrscheinlich die freundliche Umschreibung von «arbeitslos». Der Typ hätte wohl nicht mal für das Abendessen bezahlt, bevor er ihr an die Wäsche wollte.
«Gehen wir?» Elisha richtete sich auf ihrem Handtuch auf und winkte in die Fünferrunde. Es war das erste Wort, das seit zwanzig Minuten gesprochen wurde. Deswegen hatte Lana sich mit dem Handy die Zeit vertrieben. Obwohl zwischen ihren Handtüchern nur ein paar Zentimeter Sand waren, hätte jede der fünf genauso gut auf ihrer eigenen Insel liegen können. Wie sich herausstellte, hatten sie nämlich überhaupt keine Gemeinsamkeiten. Das ist das Problem, wenn man eine Reise bucht, ohne dass man die Leute kennt, mit denen man in den Urlaub fährt. Aber jeder New Yorker sehnt sich im Winter nach Süden, und als im Flur von Lanas Wohnheim jemand gerufen hatte, sie suchten noch eine vierte Frau für Miami, hatte Lana spontan «Hier!» geschrien. Allerdings hatten sich kurz darauf Serene und Elisha, die zwei «Freundinnen» und Organisatorinnen der Reise, gestritten, und Sydney, die Dritte im Bunde, war nur dabei, um die Ferienwohnung voll zu kriegen, genau wie Lana. In letzter Minute wurde Patti als Fünfte angeheuert, für den Fall, dass jemand absprang. Schon nach dem zweistündigen Flug war klar, dass sie sich absolut nichts zu sagen hatten.
«Noch nicht. Ich brauche noch Sonne auf dem Rücken, sonst bin ich nur von einer Seite braun», sagte Lana. «Aber ihr könnt ruhig ein Uber nehmen und schon fahren.»
«Was machen wir heute Abend?», fragte Serene, die irgendwie billig wirkte.
«Bolero Room?», schlug Elisha vor. «Ich hab gehört, da ist es lustig.»
«Der Bolero Room ist in Wynwood, das ist eine total gefährliche Gegend», widersprach Serene. «Ich würde sagen, wir gehen ins Edition Hotel. Da gibt es eine Disco im Keller, mit Bowlingbahn. Außerdem ist Donnerstag Ladies’ Night. Unsere Drinks gehen aufs Haus.»
«Wie wär’s mit einem Club? Das LIV? Oder die Wall Lounge? Wir sind in Miami, Mädels», warf Patti ein. Lana tippte darauf, dass Patti bi war und dass sie ein Auge auf Sydney geworfen hatte.
«Ich stehe nicht so auf Clubs», erklärte Sydney, die trotz ihrer pink gefärbten Haare und den bunten Tattoos auf beiden Armen die Langweiligste von allen war. Oder ihr wildes Aussehen löste einfach nur falsche Erwartungen aus.
«Ich hab Durst», sagte Lana und schaute sich an dem überfüllten Strand um. «Vielleicht gibt es hier irgendwo eine Bar mit Pool, zur Ganzkörperhydrierung. Jemand dabei?»
«Jetzt?», fragte Sydney. Als hätte sie was Wichtigeres vor. Wenn es nach ihr ginge, wären sie jetzt alle auf einer Sumpftour durch die Everglades, würden Alligatoren jagen und den Monkey Jungle besuchen. Was für eine Trantüte.
«Im Clevelander gibt es einen Pool», sagte Elisha. «Das ist nicht weit.»
«Der Pool im Standard soll der Hammer sein. Darüber stand was in der New York Times», erklärte Patti, die Einzige, der Lana etwas abgewinnen konnte.
Patti schien sich genauso zu langweilen wie sie. «Die haben ein zehn Grad kaltes Tauchbecken. Wenn du da reinspringst, bleibt dir das Herz stehen. Und dann reanimiert dich der Barmann mit Sex-on-the-Beach.»
«Hat jemand Sex gesagt?», sagte Lana. «Ich bin dabei. Wo ist dieses Tauchbecken? Nichts wie hin!»
Elisha kicherte verlegen.
«Im Standard musst du hundert Dollar hinblättern, nur um überhaupt reinzukommen», protestierte Serene.
«Klingt doch interessant. Jedenfalls besser als das Strand-Publikum. Hier ist es wie bei einem College-Treffen», knurrte Lana. Die Gras rauchenden Studenten aus Wisconsin waren nicht die einzige Gruppe mit Uni-Wimpeln. Der ganze Strand war voll davon. Das Durchschnittsalter lag bei 22.
«Na und? Wir gehen auch aufs College, Lana. Was ist dein Problem?», fragte Serene. «Du bist so was von … eingebildet.»
«Im Clevelander ist es auch nicht besser», sagte Patti seufzend. «Die haben zwar einen Pool, aber da gehen bloß Touristen hin.»
«Hauptsache keine Loser», erklärte Lana und sah über die Schulter. «Vielleicht finde ich jemanden, der Mund-zu-Mund-Beatmung bei mir macht und mir den Sonnenbrand eincremt. Ganz ohne Verpflichtungen.»
«Du holst dir noch was, Lana», sagte die prüde Elisha, auch wenn sie immer noch verlegen grinste.
Lana verdrehte wieder die Augen. «Dafür gibt’s Antibiotika.»
«Ich habe aber keine hundert Dollar, Leute», jammerte Serene. «Ich muss jemanden finden, der mir die Drinks zahlt, egal wo wir hingehen. Ich bin so was von pleite.»
«Wer fliegt nach Miami, wenn er kein Geld hat, du Idiotin?», zischte Elisha ihre ehemalige beste Freundin an. «Echt jetzt, Serene. Wir übernachten schon bei den Mumien in North Beach.»
«Ja, weil die Wohnung meiner Großmutter nichts kostet, Elisha», fauchte Serene zurück. «Wir gehen aufs College – ich kann nicht fünfhundert Piepen die Nacht für ein verdammtes Hotelzimmer hinlegen und zwanzig für jeden Mojito. Ich bin vernünftig: Ich esse bei Taco Bell und tanke mich vor dem Ausgehen mit billigem Fusel voll.» Sie sah Sydney an, die lachend den Kopf schüttelte. «Du hast auch keine Kohle, Sydney, also tu nicht so, als wäre diese Art von Urlaub unter deiner Würde. Ich weiß genau, was du nicht auf dem Konto hast.»
Lana zündete sich noch eine Zigarette an und öffnete das letzte Mike’s Hard aus der hässlichen Styropor-Kühlbox, die Serene aus der Wohnung ihrer Großmutter mit an den Strand geschleppt hatte. Sie fragte nicht mal, ob eine der anderen das Bier gewollt hätte. Wahrscheinlich hätte es nur noch mehr Streit gegeben. Lana überlegte gerade, ob sie allein beim Clevelander vorbeischauen sollte, als ihr Handy piepte. Sie schaute auf das Display.
Eine Nachricht von Tinder.
Match!
Du und Reid habt euch gelikt.
Er gefiel ihr jetzt schon. Gut möglich, dass er ihr das Leben rettete, bevor sie an Langeweile starb.
Sie klickte auf das Profilbild. Reid, 30, Business-Manager. Er befand sich in einem Umkreis von einem Kilometer. Interessant. Sie scrollte durch die Fotos. Dichtes Haar, definierte Brustmuskeln. Machte Krafttraining. Ging gern clubben. Lieblingsdrink: Martini.
Auf einmal hüpfte ein Tennisball über ihren Bildschirm.
Der Ball liegt bei dir!
Lana: Süß!
Reid: ☺ ☺ ☺ … Hi!
Lana: Hi zurück! Ist dir gerade auch so langweilig?
Reid: Oje. Das klingt ernst. Ich langweile mich nie, und ich bin nie langweilig.
Lana: Gut zu wissen.
Reid: Aber ich gebe zu, dass du mich … abgelenkt hast. Hübsche Fotos.
Lana: Höre ich öfter …
Reid: Wie kann dir langweilig sein? Du bist in South Beach. So viele Möglichkeiten, sich zu amüsieren …
Lana: Aber nur, wenn man mit lustigen Leuten unterwegs ist …
Reid: Anscheinend sonnst du dich mit den falschen Freundinnen.
Lana sah sich am überfüllten Strand um.
Lana: Ich hab nicht gesagt, dass ich mit Leuten am Strand bin.
Reid: Na ja, ich tippe, du machst nicht allein Ferien. Und offenbar nicht mit deinem Freund.
Lana: Ich hab auch nicht gesagt, dass ich in Ferien bin.
Reid: Du bist aus New York. Es ist Februar, und du bist in South Beach.
Lana: Vielleicht geschäftlich.
Reid: Vielleicht.
Lana: Vielleicht bin ich allein.
Reid: Das wäre schade. Und unglaubwürdig, Instagram-Influencerin.
Lana: Wie ich sehe, hast du mein Profil gecheckt!
Reid: Ich schätze, du bist Model. Du siehst super aus.
Lana: Und ich schätze Business-Manager heißt Cop, weil du genau wie einer klingst.
Reid:LOL. Was dagegen?
Lana: Ich stehe auf Rollenspiele. Ich stehe auf Uniformen. Und ich stehe auf Männer mit ’ner dicken Knarre.
Reid: Ich kann sein, was du willst.
Lana: Hört sich gut an. Komm und rette mich, Mr. Police Officer!
Reid: Du klingst, als bräuchtest du ganz dringend Abwechslung.
Lana: Vorschlag?
Reid: Viele.
Lana: Ja? Zum Beispiel?
Reid: Ich bin heute Abend auf einer Party eingeladen.
Lana: Aha.
Reid:DIE Party in Miami heute Nacht. Auf die jeder will. Aber die Gästeliste ist sehr exklusiv, und die Tür ist streng. Du musst ein NDA unterschreiben, bevor du reindarfst.
Lana: Ein was?!
Reid:NDA. Verschwiegenheitserklärung.
Lana: Ach Quatsch.
Reid: Im Ernst.
Lana: Und warum erzählst du mir das?
Reid: Weil ich deinen Bikini echt scharf finde.
Lana: ??
Wieder sah sich Lana um. Sie hatte ein komisches Gefühl. Beobachtete er sie? Hier waren überall Leute. Ein paar der Kiffer aus Wisconsin starrten herüber. Sydney hatte ihre Handtuch-Insel verlassen und unterhielt sich mit ein paar Jungs, die Hackeysack spielten.
Reid: Dein Profil-Bild – hübscher Body.
Lana: Ich hab mehr zu bieten als heiße Kurven.
Reid: Das wette ich. Du hast ein tolles Gesicht.
Lana: Ich dachte, du wolltest mich mit zu einer Promi-Party nehmen, von der ich niemandem erzählen darf?
Reid: Spaß garantiert. Beste Party deines Lebens.
Lana: Und warum gehst du auf Tinder, wenn du ein Date brauchst?
Reid: Solche Partys brauchen schöne Gäste, die Lust auf Spaß haben. Außerdem wären da gute Kontakte für dich.
Lana: Wie bitte?
Reid: Du bist doch Model.
Lana: Das hab ich nicht gesagt.
Reid: Influencerin. Ich hab dich über Insta gefunden. Du bist sehr aktiv. Nachwuchsstar.
Lana: Also doch ein Cop.
Reid: Vielleicht bin ich einfach nur interessiert.
Lana: Mach weiter.
Reid: Vielleicht könnten die Leute auf der Party dir gute Jobs vermitteln. Richtige Jobs. Mit denen du dir einen Namen machst.
Lana: Wer zum Beispiel?
Reid: Nicht ohne NDA. Hausordnung.
Lana: Gemeinheit.
Reid: Nur deine langweiligen Freundinnen sind ein Problem, falls du die mitbringen willst. Ich weiß nicht, ob DIE Party das Richtige für sie ist. LOL.
Lana: Wie läuft das ab? Gibst du mir die Adresse?
Reid: Ich schicke dir einen Wagen.
Das komische Gefühl war wieder da.
Lana: Wirklich? Was für einen Wagen? Uber?
Reid:LOL. Mercedes-Benz Stretch-Limo.
Ich sitze drin, und dann lernen wir uns kennen.
Lana: Dann bin ich bloß Arm-Deko?
Reid: Im Gegenteil! Wir amüsieren uns, du und ich. Du langweilst dich bestimmt nicht.
Lana: Angeber.
Reid: Ich zitiere nur meine Fans. Aber ich werde dich nicht enttäuschen. Immerhin hat dir mein Foto gefallen, oder?
Lana: Stimmt.
Reid: Kannst du deine Freundinnen loswerden?
Lana: Klar. Ich brauche keine Konkurrenz. Außerdem glaub ich kaum, dass sie auf DER Party cooler sind, als sie jetzt schon nicht sind.
Reid:LOL.
Lana: Darf ich auf der Party mit den Leuten reden, über die ich danach nicht reden darf?
Reid: Ja, klar. Aber lass mich bloß nicht links liegen – das wäre ein Fehler. Wahrscheinlich stiehlst du heute Abend allen die Show.
Lana: Du bist wohl noch nie auf Tinder reingefallen.
Reid: Wie meinst du das?
Lana: Du kennst mich gar nicht, aber du hast volles Vertrauen, dass ich die bin, für die ich mich ausgebe. Dass meine Fotos nicht bloß einen guten Filter haben. LOL.
Reid: Ich weiß, dass es nicht so ist.
Lana: Woher willst du das wissen?
Reid: Ich habe einen guten Instinkt. Ich durchschaue alles.
Lana: Angeber.
Reid: Ich weiß, dass du die Kamera liebst. Und viel wichtiger: dass die Kamera dich liebt.
Zum dritten Mal sah sie sich unbehaglich um. Warum eigentlich? Wahrscheinlich nur, weil sie noch nie jemandem auf Tinder begegnet war, der in der Lage war, eine witzige Unterhaltung zu führen. Oder der sie mit auf eine Promi-Party nehmen wollte. Vielleicht war er selbst berühmt. Vielleicht hatte er vorher einen Background-Check gemacht, weil er Lana wichtigen Leuten vorstellen würde. Das wäre eine Erklärung. Falls er vorhatte, sie mit wichtigen Leuten bekannt zu machen, wäre es nur logisch, dass er sich vorher gründlich über sie informierte.
Lana: Sind deine Fotos echt? Bist du der, für den du dich ausgibst?
Reid: Ich werde dich nicht enttäuschen. Und ich werde dich nicht langweilen, das verspreche ich dir!
Lana: Dann ist heute wohl mein Glückstag. Was soll ich anziehen?
Reid: Zeig, was du hast. Mach dich schick. Das ist DIE Party. Zieh dich an, als wären überall Kameras …
«Willst du wirklich nicht mitkommen, Lana?», fragte Elisha.
«Ich habe ihr versprochen, dass ich mich mit ihr treffe», antwortete Lana, während sie sich die falschen Wimpern tuschte. «Ich habe sie seit der Highschool nicht gesehen. Und sie ist nur noch heute Abend in Miami. Tut mir leid, Mädels. Ihr müsst euch ohne mich amüsieren.» Viel Glück.
«Stoßt doch später zu uns!», schlug Patti fast verzweifelt vor. «Wir gehen erst mal ins Edition. Eine Runde Bowlen und ein paar Gratis-Drinks, um Serenes Geldbeutel zu schonen. Aber wir könnten uns später treffen, oder?»
«Mal sehen. Sie will mich erst zu irgendeiner Party mitnehmen, und dann gehen wir vielleicht noch in einen Club.»
«Falls ihr ins LIV oder in die Wall Lounge geht, will ich mit», sagte Patti. «Sims mir einfach, wo ihr seid, dann komme ich nach.»
«Okay», log Lana.
«Wie heißt deine Freundin denn?»
Lana zögerte eine Sekunde. «Reid», sagte sie dann.
Patti nickte und sah Lana im Spiegel an. «Cooler Name.»
«Na toll, Patti. Du planst jetzt schon, uns loszuwerden», maulte Serene.
Patti nahm ihre Tasche vom Bett. «Wir sind in Miami, Mädels! Ich bin zum Feiern hier, nicht zum Bowlen.»
Serene und Elisha verdrehten einträchtig die Augen – offenbar hatten sie sich auf ihre Freundschaft besonnen und gegen die lüsternen Partyhasen verbündet. Nur Sydney hielt sich raus. Sie war so langweilig, dass sie nicht einmal Partei ergriff.
«Mach dich nicht zum Affen, Patti», seufzte Elisha. «Du kannst ja gerne mit Lana und ihrer Freundin abziehen, aber es klingt, als wärst du nicht erwünscht.» Dann verließ sie mit Serene und Sydney das Schlafzimmer. Patti blieb noch einen Moment stehen und sah Lana neugierig, beinahe traurig an.
Lana wandte sich vom Spiegel ab. «Falls wir ins LIV gehen, ruf ich dich an, Patti. Versprochen.»
«Egal wie spät.»
Lana nickte.
Unerwartet nahm Patti sie in die Arme. «Pass auf dich auf», flüsterte sie ihr ins Ohr, bevor sie hinter den anderen herlief, die schon aus der Wohnungstür waren.
Das war seltsam.
Lana wartete noch ein paar Minuten, nachdem die anderen gegangen waren. Dann schlüpfte sie in das neue hautenge schwarze Kleid und das Paar schwindelerregend hoher roter Zanottis, die sie in einem angesagten Secondhandladen in South Beach gefunden hatte. Sie zog sich die Lippen nach und legte einen Hauch von Shalimar auf, das sie im Badezimmerschrank von Serenes Großmutter gefunden hatte. Ihr Look heute war Vintage-Glamour, bis hin zum Parfüm. Als sie das Haus verließ, pfiff der Wachmann leise durch die Zähne.
Lana stieg in das Uber, das draußen wartete, und ließ sich zum Delano Hotel bringen, wo sie mit ihrer neuen alten Freundin verabredet war.
Es war nicht ihr erstes Tinder-Date. Lana wusste, dass die Dating-App im Ruf stand, vor allem für flüchtige Sex-Bekanntschaften genutzt zu werden. Diesen Vorzug hatte sie selbst ein paarmal genossen. Was sie nicht zu einem schlechten Menschen machte. Aber auch wenn Reid, der Business-Manager/Cop, vielversprechender klang als der gewöhnliche Tinder-User, hatte sie nicht vor, ihn später mit zu sich zu nehmen, egal wie lang seine Stretch-Limo oder andere Teile von ihm waren. Was, wenn er sich als Stalker entpuppte? Oder als Psychopath? Oder wenn er nach einem lustigen unverbindlichen Abend plötzlich doch etwas Ernstes wollte? Darauf hatte Lana überhaupt keine Lust. Das beste Feature bei Tinder war, dass Nachnamen und andere persönliche Daten außen vor blieben. Man konnte sich hemmungslos amüsieren, ohne später etwas beenden zu müssen, das man nie wirklich anfangen wollte. Außerdem hatte Lana den Film Taken – 96 Hours gesehen. Ihr würde es bestimmt nicht passieren, dass sie versehentlich einen mafiösen Zuhälter auf der Suche nach Frischfleisch ins Apartment von Serenes Großmutter lockte.
Das Delano Hotel war elegant, exklusiv und sehr South Beach. Zwischen den meterdicken Säulen in der Halle blähten sich weiße Gaze-Vorhänge. Die exotischen dunklen Tropenholzböden passten zum minimalistischen Mobiliar. Es war der perfekte Ort, um sich von Reid abholen zu lassen.
Reid: Die Kutsche wartet.
Lana sah auf die Uhr – 22:30 Uhr. Er war auf die Minute pünktlich. Sollte sie ihn hereinkommen lassen, um ihn erst mal an der Bar kennenzulernen? Damit es wenigstens Zeugen gab, die ihn beschreiben könnten?
Lana: Ich sitze an der Bar und trinke noch aus – falls du dazukommen willst …
Reid: Ich hab ’ne volle Bar im Wagen. Die Party fängt um 23:00 Uhr an. Ich will nicht zu spät kommen.
Lana sah den Mann an, der ihr den Cosmo ausgegeben hatte, und lächelte. «Ich muss los. Tut mir leid. Mein Fahrer ist da.»
«Wohin so eilig, Cinderella?»
«Wie gesagt: Ich gehe auf eine Party, Dan.»
«Ich heiße Dave. Du hast nicht mal ausgetrunken. Und vorgestellt hast du dich auch nicht.»
«Nenn mich Cindy.» Lana griff nach dem Glas und trank den Cosmo in einem Zug aus. «Danke, Dave», sagte sie. «Nett hier. Vielleicht morgen zur selben Zeit?»
«Wer’s glaubt», schnaubte er. Das Lächeln in seinem Gesicht verschwand. «Seien wir ehrlich: Wir wissen beide, dass du nicht zurückkommst.»
Das war hart. Sie sah ihn an, aber er hatte sich weggedreht. Nur der Barmann lächelte ihr zu und hob zum Abschied das leere Martini-Glas, das er gerade abräumte.
Lana durchquerte die lebhafte Lobby des angesagten Hotels, die mit Fortschreiten der Nacht immer voller wurde. Reid war nicht zu sehen.
Was, wenn er doch nicht der Mann auf den Fotos war? Sondern ein kleinwüchsiger Troll mit großer Klappe und einer blühenden Phantasie? Sie trat durch den Haupteingang.
Neben dem Parkwächter in der Auffahrt stand eine schwarze Mercedes-Benz-Limousine. Die Tür öffnete sich, und ein attraktiver Mann stieg aus – er sah genauso aus wie auf seinen Tinder-Fotos: groß, stattlich, dunkelhaarig. Er trug ein teuer aussehendes Jackett und ein Versace-Hemd. Ihr Date war zwar kein Promi, aber Lana war angenehm überrascht.
«Lana? Wow! Freut mich sehr», begrüßte er sie mit einem strahlenden Lächeln. Er sah sogar noch besser aus als auf den Fotos. Und er roch nach Aventus von Creed. Diesen Duft hätte sie hundert Meter gegen den Wind erkannt. «Bist du bereit?»
Lana hatte sich vorgenommen, Reid zu erzählen, sie hätte den Parkwächter gebeten, auf sie aufzupassen und sich die Nummer der Stretch-Limo aufzuschreiben. Nur für den Fall, dass Reid doch ein Zuhälter war und kein netter Kerl. Aber nun waren alle Vorsätze dahin. «Ja», sagte sie nur. Verbrecher fuhren nicht mit Limos vor und sie trugen nicht Versace. Reid machte einen verdammt anständigen Eindruck auf sie.
«Hübsches Kleid», bemerkte er, als er ihr auf den Rücksitz half. Dann strahlte er sie wieder mit seinem berauschenden Lächeln an und stieg nach ihr ein.
Lana durchströmte ein Glücksgefühl, als wäre sie von Millionen von Mädchen die Auserwählte, die wirklich auf Tinder ihren Traumprinzen fand, und jetzt entführte er sie mit der Stretch-Limo auf einen Ball, wo sich alles von Rang und Namen um sie scharen würde. Er würde sie wichtigen Leuten aus der Branche vorstellen. Bisher hatte ihr zur Karriere nur das Vitamin B gefehlt. Ab jetzt müsste sie sich nicht mehr bei ätzenden Castings anstellen und beknackte Reklame für Gebrauchtwarenhändler machen. Einmal für Yeezy über den Laufsteg oder noch besser Dolce, Versace oder Stella McCartney oder sogar – Träumen war erlaubt – Victoria’s Secret, und ihre Karriere war gemacht. Lana hatte vor Aufregung Schmetterlinge im Bauch. Wenn dieser Typ so toll war, wie er zu sein schien, dann war DIE Party heute Abend der Place-to-be in Miami, und Lana ging hin. Das war der beste Abend ihres Lebens. «Gerne», sagte sie, als er ihr noch einen Cosmo anbot.
Aber sie kam nicht mehr dazu, den Drink zu kosten. Oder zu fragen, woher Reid wusste, dass sie an der Bar im Delano einen Cosmopolitan getrunken hatte.
Mit einem Mal war es stickig im Wagen. Alles drehte sich, und die Schmetterlinge in ihrem Bauch wurden bleischwer. Ihre Zunge klebte ihr am Gaumen wie ein Fliegenfänger, an dem die Worte und Gedanken hängen blieben. Reids Stimme verschwamm, genau wie sein strahlendes Lächeln. Er saß ihr gegenüber und nippte seelenruhig an seinem Martini. Lana klammerte sich an den Sitz, kämpfte gegen die Schwäche an, doch ihr Körper wurde schlaff.
In diesem Moment musste sie wieder an Cinderella denken, deren Kutsche bloß ein Kürbis war, die Pferde Mäuse und der Kutscher eine Ratte. Die magische Nacht war so gut wie vorbei, bevor sie richtig angefangen hatte. Und die arme Cinderella wurde am Straßenrand abgeladen, in ihren alten Lumpen und mutterseelenallein, während der scheinheilige Prinz auf dem Ball den Rest der Nacht tanzte …
Der Pfad der Gerechten ist zu beiden Seiten gesäumt mit den Freveleien der Selbstsüchtigen und der Tyrannei böser Männer. Gesegnet sei der, der im Namen der Barmherzigkeit und des guten Willens die Schwachen durch das Tal der Dunkelheit geleitet. Denn er ist der wahre Hüter seines Bruders und der Retter der verlorenen Kinder. (Hesekiel 25,17)
Pulp Fiction
«Anruf auf Leitung eins für Sie.»
Chief Assistant State Attorney C.J. Townsend von der Staatsanwaltschaft Miami-Dade blickte von dem Stapel der Verhaftungsprotokolle auf, den sie gerade durchging. Erwartungsvoll sah sie den Lautsprecher des Telefons an. Normalerweise folgten auf so eine Ansage die Information, wer anrief, und vielleicht die Frage: «Nehmen Sie den Anruf oder soll ich eine Nachricht aufnehmen?» Aber sie waren nicht in der freien Wirtschaft, sondern auf dem Amt. Aus dem Lautsprecher knisterte Stille.
«Wer ist es, Breanna?», fragte C.J. schließlich.
Nichts.
«Breanna? Wer ruft an?»
Immer noch nichts.
C.J. rollte den Stuhl zurück und warf einen Blick durch die halboffene Tür zum Sekretariat. Keine Spur von Breanna, der blutjungen Aushilfe, die man ihr als Schwangerschaftsvertretung für ihre Sekretärin geschickt hatte. Der Stuhl stand ordentlich am leeren Schreibtisch vor dem dunklen Bildschirm. Von Breannas oranger Handtasche und dem Trader-Joe’s-Beutel, den sie immer dabeihatte, fehlte jede Spur. C.J. sah auf die Uhr an der Wand: drei nach fünf. Das erklärte alles. Breanna McCrindle war bereits auf dem Heimweg, genau wie der Rest des Sekretariatspools. Offenbar hatte sie den Anruf entgegengenommen, bevor ihr auffiel, dass sie seit einer Minute Feierabend hatte, woraufhin sie fluchtartig ihre Sachen gepackt hatte und zum Fahrstuhl galoppiert war.
C.J. drückte die blinkende Taste. «Townsend, State Attorney’s Office.»
Am anderen Ende meldete sich ein Glucksen. «Und ich dachte, es wäre bloß ein Gerücht …»
C.J. legte das Formular auf den Tisch und starrte die zerschrammte graue Wand an. Am Boden lehnten ihre Bilder, Zeugnisse und gerahmten Motivationssprüche zum Thema Ehre, Erfolg und Integrität an den Pappkartons mit Gesetzestexten, Sekundärliteratur, Trophäen und Plaketten, die sie im Lauf der Jahre verliehen bekommen hatte. Das Regal war leer bis auf den Ich-einfach-unverbesserlich-Kaffeebecher und eine Plastikbox mit persönlichen Staubfängern – die Cowboystiefel-Schnapsgläser aus dem Geburtshaus von Billy the Kid in New Mexico. C.J. war seit zwei Monaten wieder beim SAO, der Staatsanwaltschaft Miami-Dade, und sie hatte noch keinen Nagel in die Wand geschlagen. Man musste kein Psychiater sein, um die Gründe dafür zu erahnen, auch wenn sie auf Nachfrage erklärte, die Gebäudeverwaltung habe versprochen, das Büro zu streichen, sobald das Geld genehmigt war, und es lohne sich nicht, sich vorher einzurichten. C.J. rollte den quietschenden Stuhl an den Schreibtisch zurück und blickte zur Decke. «Ich kenne die Stimme. Reden – oder lachen – Sie weiter. Ich komme schon noch drauf.»
Wieder ein heiseres Glucksen. «Hier spricht Ed Bowman, C.J. Wir haben mal zusammengearbeitet. Vor Ewigkeiten, als ich noch beim Miami-Dade Police Department war.»
«Vor Ewigkeiten – das klingt … alt. Was dann auch auf mich zuträfe, aber das kann nicht sein.»
«Na ja, ich bin kein Frischling mehr, das gebe ich zu.» Ed lachte wieder, gefolgt von einem üblen Hustenanfall. «Ich war mit Dom Falconetti bei der Cupido-Taskforce», sagte er, als er wieder Luft bekam.
«Ach ja, natürlich.» Das Karussell der Gesichter in ihrem Kopf hielt abrupt an. Eddie Bowman vom Morddezernat des Miami-Dade PD. Untersetzter Raucher Mitte vierzig mit buschigen Augenbrauen und Halbglatze. Eddie war ein alter Griesgram mit dauergerunzelter Stirn gewesen. Die untypische gute Laune am Telefon hatte sie in die Irre geführt – in den zwei Jahren ihrer Zusammenarbeit hatte C.J. Eddie Bowman nicht einmal lachen gehört. Aber er war hart im Nehmen, und er konnte sich wehren, wenn die anderen Detectives der Cupido-Taskforce sich über ihn lustig machten – die ihn Wuffi genannt und wegen seines schütteren Haars aufgezogen hatten. «Eddie! Jetzt erkenne ich Ihre Stimme. Ist lange her, auch wenn das nicht heißt, dass wir alt sind.»
An zwei Deckenfliesen über ihr entdeckte sie einen rostfarbenen Wasserfleck. Mist. Irgendwas war undicht da oben. Es ließ sich nicht sagen, wie lange der Fleck schon dort war, aber wo Wasserschäden waren, war vielleicht auch Schimmel. Doppelter Mist. Gestern Abend hatte sie eine Folge von Medical Detectives gesehen, in der sich in einer Villa in Texas Schimmelsporen ausgebreitet hatten, die bei den Bewohnern zu bleibenden Hirnschäden geführt hatten. Die Sporen waren so giftig, dass man das Haus nur mit Schutzanzug betreten konnte, und gleichzeitig konnte das Haus nicht abgerissen werden wegen der Gefahr, dass die Sporen über die Luft in den Rest der Welt gelangten. Jetzt sah C.J. überall Schimmel, beim vergessenen Toastbrot angefangen, das sie heute Morgen in der Brotschublade entdeckt hatte. Wenn sie nach Hause kam, würde sie Dominick bitten, den Kühlschrank von der Wand zu rücken und dahinter nachzusehen. Am besten, sie sprühte das ganze Haus mit Chlor ein. So ist Südflorida – wo man hinspuckt, keimt es.
Eddie lachte wieder. «Ich wette, Sie sehen keinen Tag älter aus, C.J. Als ich hörte, dass Sie nach Miami zurückkommen, konnte ich es erst gar nicht glauben. Nach allem, was passiert ist, dachte ich, wir sehen Sie hier nie wieder.»
Schlagartig hatte sie den Schimmel vergessen.
Ihr Blick fiel auf den Stapel Protokolle, die sie heute Abend noch durchgehen musste. Dann waren da die Zeugenvernehmungen, die sie für Donnerstag vorbereiten musste, und der Antrag auf Klageabweisung, den sie bearbeiten musste. Eddie hatte recht: Lange hatte sie selbst nicht geglaubt, dass sie je wieder einen Fuß nach Florida setzen würde, erst recht nicht in diese Behörde. Aber sie war wieder da – in Miami, beim SAO, nur eine Etage über ihrem alten Wirkungsbereich Major Crimes – Kapitalverbrechen. Ihr neues Büro war größer, entsprechend ihrer neuen Verantwortung als Chief Assistant State Attorney. Ansonsten sah das Graham Building noch genauso aus wie vor zehn Jahren, als sie es verlassen und sich geschworen hatte, niemals zurückzukehren. Bis hin zum deprimierenden Grau der Wände und dem abgetretenen lila Teppichboden. Nur von ihren früheren Kollegen war keiner mehr da, bis auf ein paar Ausnahmen in irgendwelchen Sondereinheiten, und der Verwaltungsstab hatte sich mehrmals runderneuert. Und genau wie sie nicht mehr viele Gesichter kannte, kannte der Großteil der Belegschaft C.J.s Gesicht nicht, auch wenn ihr Name ihnen ein Begriff war. Ihr Ruf eilte ihr voraus: Sie war die Staatsanwältin, die Floridas berüchtigtsten Serienmörder hinter Gitter gebracht hatte – William Rupert Bantling. C.J. griff nach ihrem Kugelschreiber und tippte nervös auf den Schmierzettel, auf den sie am Morgen notiert hatte: SCHIMMEL HINTERM KÜHLSCHRANK?????
«Wie heißt es so schön, Eddie? Sag niemals nie.»
«Und jetzt sind Sie Häuptling, was?»
«Häuptling ist der Oberstaatsanwalt. Ich bin hier bloß der Babysitter – ich habe die Verantwortung für die Küken auf dem Parkett.» Sie seufzte «O Gott, habe ich Küken gesagt? Jetzt klinge ich wirklich alt.»
Das «Parkett», wie die zwanzig Unterabteilungen des Bezirksgerichts auch genannt wurden, war mit einem Heer unterbezahlter Mittzwanziger frisch von der Uni besetzt, die freiwillig Zwölf-Stunden-Schichten einlegten, um für ihren Lebenslauf Gerichtssaal-Erfahrung zu sammeln. Die meisten suchten früher oder später ihr Glück auf der anderen Seite, in privaten Kanzleien, aber ein paar wenige machten Karriere bei der Staatsanwaltschaft – so wie C.J. vor langer Zeit. Sie hatte fünfzehn Jahre lang im Dienst der Anklage gestanden, die meisten davon bei Major Crimes, wo sie es mit scheußlichen Mordfällen zu tun hatte, die die Medien in Atem hielten. Dann brauchte sie eine zehnjährige «Auszeit». Aber letzten November war ihr alter Freund Lou Todd zum leitenden Oberstaatsanwalt gewählt worden, und er hatte sie gefragt, ob sie nicht zurückkommen wolle. Als seine Stellvertreterin, als Chief Assistant State Attorney, hatte C.J. die Aufsicht über die frischgebackenen Anklägerinnen und Ankläger. Außerdem betreute sie die Prozesse verschiedener Sondereinheiten: Häusliche Gewalt, Drogen, Sexualdelikte, Raubüberfälle, Terrorismus, Korruption, Wirtschaftsverbrechen. Rund 250 Anwälte zu managen und gleichzeitig ihre eigenen komplexen Fälle zu verhandeln schlug sich in langen Arbeitstagen nieder. Eddie stellte zu Recht in Frage, welcher gesunde Mensch freiwillig zur Staatsanwaltschaft von Miami zurückkam.
Vor allem nach den damaligen Ereignissen.
«Ich wette, Sie sind immer noch so hübsch wie früher, C.J.»
Unangenehm, aber sie hatte das Kompliment selbst provoziert. Höchste Zeit, das Thema zu wechseln, bevor das Gespräch eine falsche Richtung einschlug. «Wo sind Sie in der Zwischenzeit gelandet, Eddie? Immer noch beim Miami-Dade Police Department?»
«Nee, da habe ich vor ein paar Jahren aufgehört. Ich bin jetzt Ermittler bei der Staatsanwaltschaft drüben in Collier County.» Collier war ein ruhiger Bezirk an der Westküste von Florida, dessen zweitgrößte Siedlung Naples dafür bekannt war, dass die Leute ihre Yachten im Garten ihres dritten oder vierten Wohnsitzes parkten. «Sie wissen, wie’s läuft», fuhr Eddie fort. «Das County zahlt mir ein nettes Gehalt und eine gute Rente, und ich stehe nicht mehr im Kugelhagel. Nicht dass mir das in Miami täglich passiert wäre. Die meisten Dreckskerle, mit denen ich zu tun hatte, waren schon tot. Aber mein Job hier ist ein Kinderspiel. Ich muss bloß Zeugen aufspüren und Vorladungen zustellen. Pillepalle.»
«Freut mich für Sie, Eddie.»
«Sind Sie noch mit Dom zusammen? Ich habe gehört, Sie beide hätten getrennte Wege eingeschlagen. Dass Sie deshalb an die Westküste gegangen sind? Kalifornien?»
Sie verlagerte das Gewicht. «Nein, uns geht’s gut, Eddie. Immer noch zusammen. Alles beim Alten.» Obwohl sie zehn Jahre aus Miami weg gewesen war, waren Dominick und sie offenbar immer noch ein Thema.
«Oh», sagte Eddie. Eine peinliche Pause entstand. Dann erklärte er: «Ich fasse es nicht, dass der Mistkerl immer noch nicht geschnappt wurde.»
Jetzt war es raus. Eddie hatte gerade alle Zäune umgerannt und den stillen Alarm ausgelöst. Sie spürte, wie ihre Magensäure aufschäumte.
«Wer?», fragte sie, als wüsste sie nicht haargenau, von wem Eddie sprach.
«Bill Bantling», antwortete Eddie. «Cupido. Der Typ spaziert einfach aus dem Knast. Was zum Teufel war da los? Wie kann ein Todeskandidat mit einem anderen verwechselt werden und seelenruhig in die Freiheit schlendern? Das hab ich nie verstanden, C.J.»
William Bantling, besser bekannt als der Serienmörder Cupido, war dafür verurteilt worden, in den Jahren 2000 und 2001 elf Frauen vergewaltigt, ermordet und zerstückelt zu haben. Den Prozess im Jahr darauf hatte die ganze Welt verfolgt. 2015 war er stillschweigend vom Florida State Prison in Starke, wo er in der Todeszelle saß, zurück nach Miami überstellt worden, um in einem anderen Prozess als Zeuge auszusagen. Unglücklicherweise hatte zur selben Zeit ein Hurrikan der Kategorie fünf in Miami gewütet und dazu geführt, dass das Untersuchungsgefängnis geräumt werden musste, in dem Bantling vorübergehend einsaß. In dem Chaos, das auf die Evakuierung folgte, war Bantling versehentlich in einem Bus mit Freigängern gelandet. Seitdem hatte sich jede Spur von ihm verloren.
«Das kann ich mir auch nicht erklären, Eddie», antwortete C.J. vorsichtig. Das Klopfen ihres Kulis wurde heftiger, und die Notizen auf dem Zettel verschwanden unter schwarzen Strichen. «Ich war nicht hier, als es passiert ist.»
«Einer wie der lässt das Morden nicht. Da können Sie Gift drauf nehmen. Es liegt in seinem Wesen – er ist ein Raubtier.» Jetzt klang Eddie wieder wie der Pessimist von damals, als sie im Wettlauf mit der Zeit gegen einen sadistischen Mörder ermittelt hatten. «Haben Sie keine Angst vor ihm? Ich meine, Sie haben ihn in die Todeszelle gebracht, C.J. Ich war im Gerichtssaal, als er gedroht hat, Sie umzubringen, und er klang, als würde er es verdammt ernst meinen. Sie müssen doch manchmal Angst vor ihm …»
Das Papier mit dem Gekritzel war gerissen. In der Mitte des Blatts klaffte ein schwarzes Loch.
Ja, sie hatte Angst. Sie hatte schreckliche Angst. Aber nicht vor Cupido. Nicht mehr.
Es gab keinen Grund mehr, sich vor William Rupert Bantling zu fürchten. Bill Bantling war tot. Das wusste sie. Denn sie selbst hatte ihn getötet.
Bantling hatte mehr getan, als zu drohen, sie umzubringen, damals nach der Urteilsverkündung vor sechzehn Jahren. Er hatte viel mehr getan. Aber davon würde – durfte – die Welt nie erfahren. Er hatte ihr grauenhafte, abartige Dinge angetan. Dinge, die C.J. immer wieder in ihren Albträumen durchlebt hatte, bis ins schlimmste Detail, über mehr als zwanzig Jahre. Ihr Körper war immer noch von den Narben gezeichnet, die Bantling mit dem gezahnten Messer hinterlassen hatte, nachdem er sie ans Bett gefesselt und mit ihrer eigenen Nylonstrumpfhose geknebelt hatte, damit niemand ihre Schreie hörte.
Seit er tot war, hatten die Albträume endlich aufgehört. Doch seitdem hielt sie nachts eine neue Angst wach, ließ sie ruhelos lauschen, wer vor der Haustür lauern könnte. Und Eddie Bowman war wie ein ahnungsloser Schatzsucher mit Metalldetektor gefährlich nahe an eine Sache herangekommen, die er sicher nicht gesucht hatte.
«Mir haben schon viele Leute gedroht, Eddie. Wahrscheinlich sagt das etwas über meinen Charakter aus», sagte sie mit einem hohlen Lachen. «Aber man darf sich von der Angst nicht unterkriegen lassen.»
«Bantling hat elf Frauen abgeschlachtet. Ich würde wahrscheinlich mit einem offenen Auge und der Knarre unter dem Kissen schlafen.»
«Er hat sich jedenfalls nicht bei mir gemeldet. Vielleicht war ihm klar, dass er das große Los gezogen hat, als er im falschen Bus gelandet ist, und jetzt sitzt er irgendwo in einem der Regenwälder, die seine Möbel-Firma früher abgeholzt hat, ernährt sich von exotischen Maden und stirbt an irgendeiner schmerzhaften unheilbaren Krankheit. Das wäre höhere Gerechtigkeit, oder?»
«Nicht das, was ich Gerechtigkeit nenne. Wie konnten diese Volltrottel ihn einfach davonspazieren lassen? Genug kriminelle Intelligenz für eine Verschwörung traue ich den Kollegen vom Vollzug allerdings nicht zu.» Eddie lachte in sich hinein. «Früher haben wir immer gesagt, der einzige Unterschied zwischen den Knastis und den Wachleuten ist, dass die Wachleute nicht vorbestraft sind.» Dann lachte er lauter, was wieder einen Hustenanfall nach sich zog.
«Alles in Ordnung, Eddie?»
«Ja, alles klar. Mir geht’s gut. Hab gerade eine Erkältung hinter mir. Na ja, wir können hoffen, dass ihm eine Boa constrictor die Männlichkeit abnagt, aber der alte Bill Bantling ist und bleibt ein Serienmörder. Sie wissen so gut wie ich, dass solche Typen nicht mit dem Morden aufhören, bis ihnen jemand das Handwerk legt.»
«Vielleicht ist er ja tot», sagte C.J. ausdruckslos und starrte den Stift in ihrer Faust an. Ihre Knöchel waren weiß.
«Vielleicht. Immerhin hat nie wieder jemand von ihm gehört. Und es ist jetzt bald ein Jahr her, oder? Vielleicht ist das FBI an ihm dran, und sie halten dicht, weil sie ihre Ermittlungen nicht gefährden wollen. Oder sie wollen ihre Informationen nicht mit uns teilen. Die Spielchen kennt man ja von den Fibbies. Vielleicht wissen die wirklich mehr als wir Normalsterbliche.»
«Falls er tot wäre, würde das den Steuerzahler eine Menge Geld sparen, Eddie. Aber angenommen, er lebt, dann glaube ich nicht, dass er seine Freiheit aufs Spiel setzen würde, um mir nachzustellen. Um Ihre Frage zu beantworten: Nein, ich habe keine Angst vor ihm.»
«Außerdem haben Sie ja Dominick, der Sie beschützt.»
«Das stimmt.»
Wieder entstand eine peinliche Pause. Sie wünschte, das Telefonat wäre zu Ende. Sie wollte nichts mehr dazu sagen, aber sie wollte ihn auch nicht misstrauisch machen. Eddies Worte heizten ihre Paranoia an, mit der sie kämpfte, seit sie Bantling getötet hatte.
Vielleicht wissen die wirklich mehr als wir Normalsterbliche.
Was wusste das FBI? Wie nah waren sie Bantlings Grab gekommen? Wussten sie von seiner letzten Reise nach Goleta in Kalifornien, wo C.J. damals gelebt hatte? Wo Bantling sie aufgespürt hatte? Würden erfahrene Ermittler eins und eins zusammenzählen? Jeden Tag las sich C.J. zuerst die nationalen Nachrichten auf Yahoo durch und dann Noozhawk, den regionalen Newsfeed von Goleta und Santa Barbara County, auf der Suche nach der Story, die den Anfang ihres Endes bedeuten würde: dass etwa vierzig Meter entfernt von einem Wanderweg im Los-Padres-Wald in den Bergen von Santa Ynez eine Leiche entdeckt worden war. Aber noch gab es diese Story nicht. Zumindest war sie noch nicht draußen.
Vielleicht wissen die wirklich mehr als wir Normalsterbliche.
Doch fürs Erste wollte C.J. davon ausgehen, dass die Feds Bantling noch nicht gefunden hatten, dass sie nicht auf der Straße vor dem Haus im Wagen saßen, C.J.s Gespräche abhörten und schon mal den Haftbefehl ausfüllten. Denn jeder andere Gedanke würde sie in den Wahnsinn treiben. Als Anwältin tröstete sie sich mit dem juristischen Prinzip des Corpus Delicti: Erst musste bewiesen sein, dass ein Verbrechen vorlag, bevor man jemanden dafür verurteilen konnte. Oder für den Laien: ohne Leiche kein Mord.
«Was kann ich für Sie tun, Eddie? Für Collier County bin ich leider nicht zuständig.»
«Eigentlich rufe ich wegen einem anderen Fall an, der von Ihrer Behörde verhandelt wurde, C.J. Ich hab mich daran erinnert, auch wenn ich an den Ermittlungen nicht selbst beteiligt war. Bei euch wurde mal ein Typ wegen Mordes angeklagt – ein Playboy mit richtig viel Geld. Sein Name war Talbot Lunders.»
Der Alarm in ihrem Kopf ging wieder los. Der Metalldetektor des ahnungslosen Schatzsuchers war unversehens auf etwas Großes gestoßen. C.J. schlug mit dem Kuli auf den Tisch, und diesmal brach er in der Mitte durch. Die Kugelschreibertinte lief ihr über die Hand und auf den malträtierten Schmierzettel.
Eddie wartete ein paar Sekunden, bevor er die Frage stellte, die ihr einen kalten Schauer über die Haut jagte: «Kommt Ihnen der Name bekannt vor, C.J.?»
Sie versuchte, die Tinte mit einem alten Taschentuch wegzuwischen, das sie in der Schreibtischschublade fand. «Lunders? Den Namen habe ich schon mal gehört. Aber der war keiner von meinen.»
«Nein, war er nicht. Ich wette, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, dass Ihre irgendwann wieder frei rumlaufen», sagte Eddie anerkennend. «Sie sind gut in Ihrem Job, C.J., Sie haben Eier in der Hose. Bei der Taskforce haben alle immer nur in den höchsten Tönen von Ihnen geredet.»
«Danke.» Das Taschentuch blieb an ihrer Hand kleben. Die schwarze Tinte war in das Netz feiner Linien ihrer Handflächen gesickert.
«Sie waren schon lange weg, als Talbot Lunders 2015 wegen Entführung und Ermordung einer College-Studentin festgenommen wurde. Und letztes Jahr wurde die Staatsanwältin, die für den Fall zuständig war, ermordet – DeBianchi. Daria DeBianchi. Man hat ihre Leiche in Miami Lakes in einem Müllcontainer gefunden. Ich glaube kaum, dass in Kalifornien über den Fall berichtet wurde, aber Sie haben bestimmt davon gehört, seit Sie wieder da sind. Ihre Behörde verliert ja zum Glück nicht viele Kollegen auf die Art. Als Daria DeBianchi verschwunden ist, kam Lunders frei. Seine Anklage ging wegen eines Brady-Verstoßes flöten. Der Richter wies die Klage ab, bevor sie überhaupt vor die Geschworenen kam.»
Brady-Verstoß nannte man das bewusste Zurückhalten von Beweisen seitens der Staatsanwaltschaft, die möglicherweise der Verteidigung dienlich wären, benannt nach dem Präzedenzfall Brady gegen Maryland.
«Ach ja, jetzt weiß ich, wen Sie meinen», antwortete C.J. vorsichtig. «Ich habe Daria DeBianchi nie kennengelernt. Sie hat bei der Staatsanwaltschaft angefangen, als ich schon weg war. Aber ich habe gehört, sie war eine nette Kollegin. Aufgeweckt und witzig.»
Es war schlimm, von einer so jungen Frau in der Vergangenheit sprechen zu müssen: Daria DeBianchi war nur 29 Jahre alt geworden.
«Witzig und winzig», sagte Eddie und lachte wieder. «Sie war keine eins sechzig, mit Absätzen. Aber eine Persönlichkeit hatte die, die war mindestens doppelt so groß. Und sie hatte Großes vor – wie Sie, C.J. Sie hätten sie gemocht.»
«Haben Sie mit ihr gearbeitet?»
«Ja. Sie hat mal eine Gruppenvergewaltigung von mir verhandelt. Das war lange vor Lunders. Einer der Beteiligten wollte auspacken, auch wenn er selbst ein Schwein war. Abschaum – die ganze Bande. Die Welt wäre ein besserer Ort, wenn wir alle Verbrecher auf eine Insel verbannen und aufeinander loslassen könnten. Jedenfalls wollte das Schwein einen Deal, und als wir uns mit der Verteidigung getroffen haben, sah Daria aus wie eine Praline, so klein und zart. Ich hatte Angst, der Anwalt des Typen würde sie wegpusten. Falsch gedacht. Sie hat die Plaudertasche gegen seine Kumpels aussagen lassen und ihn zu drei Jahren verknackt.»
Blinzelnd starrte C.J. ihre mit Tinte verschmierten Hände an. «Schrecklich, was ihr passiert ist.»
«Wie Abfall auf den Müll geworfen. Eine verdammte Schande.»
«Der Fall ist immer noch ungelöst, Eddie.»
«Was? Ein Jahr später? Ticktack, ticktack. Sie wissen am besten, dass bei Mord die Zeit nicht für das Opfer spielt. Aber irgendwer muss dafür bezahlen, was sie der armen Frau angetan haben. Jetzt, wo Sie wieder da sind, sollten Sie sich drum kümmern, C.J. Das nächste Arschloch aufs Schafott bringen – entschuldigen Sie, wenn ich es so direkt sage. Aber wenn irgendeiner es schafft, dann Sie.»
«Unsere Behörde ermittelt noch.»
«Wie gesagt, die Zeit läuft. Von der Taskforce ist nur noch einer übrig, und das ist Manny Alvarez. Der Bär war mit ihr zusammen, wussten Sie das? Scheint ’ne ernste Sache gewesen zu sein. Ich hab gehört, dass er immer noch nicht damit klarkommt.»
Manny Alvarez gehörte zur alten Garde beim Morddezernat des Miami PD. Er war mit Eddie, Dominick und einigen Kollegen aus anderen Departments Teil der Cupido-Taskforce gewesen. Auch wenn niemand wusste, wer ihm den Spitznamen «Bär» gegeben hatte, passte er wie die Faust aufs Auge: Manny war fast zwei Meter groß und von Kopf bis Fuß mit schwarzem Haar bedeckt – bis auf seine spiegelglatte olivfarbene Glatze.
«Verständlich. Seine Freundin wurde ermordet», sagte sie.
«Wussten Sie, dass er in Miami Beach betrunken am Steuer erwischt wurde? Aber das bleibt unter uns. Wenn das rauskäme, würden ein paar Köpfe rollen. Die Jungs von der Streife haben ihn verwarnt und nach Hause gefahren, aber wie man hört, trinkt er immer noch mehr, als gut für ihn ist.»
«Manny ermittelt nicht in Darias Fall, Eddie», sagte sie. «Das würden sie beim Miami PD nicht zulassen, und meine Behörde auch nicht.»
Die Gerüchte über Manny waren längst bei C.J. angekommen. Dominick und Manny waren lange vor Cupido enge Freunde gewesen, und auch wenn sie sich in den letzten Jahren wenig gesehen hatten, ohne dass C.J. gewusst hätte warum, war der Kontakt nie abgebrochen.
«Nicht offiziell», gab Eddie zu. «Aber ich kenne den Bär. Ihm ist es egal, wenn irgendein Vorgesetzter ihm was verbieten will. Der gibt nicht auf, bis er den Mörder gefunden hat. Und dann stehe Gott dem Arschloch bei. Der Bär wird ihn mit bloßen Händen in Stücke reißen.»
«Ty Rutherford leitet die Ermittlungen. Miami Dade Homicide», sagte C.J. «Das ist doch Ihr alter Laden, Eddie.»
«Rutherford ist ein Idiot. Ist nicht respektlos gemeint, aber der findet seine eigenen Schuhe nicht, wenn man ihm nicht sagt, er soll runterschauen. Genau das habe ich ihm auch ins Gesicht gesagt. Er und ich, wir sind uns nicht grün.»
«Rufen Sie mich deswegen an, Eddie?», fragte C.J. ungeduldig. «Damit ich die Ermittlungen im Fall Daria DeBianchi wieder in Schwung bringe? Oder dafür sorge, dass Manny mit dem Trinken aufhört?»
«Nee, aber ich hoffe, Sie finden das Schwein. Machen Sie irgendwem bei der Behörde Feuer unterm Arsch. Aber der Grund, warum ich mich melde, hat mit Talbot Lunders zu tun.»
«Okay.»
«Letztes Wochenende habe ich mit einem Detective vom Collier County PD ein Bier getrunken. Er hat mir von einem Fall erzählt, an dem sie dran sind: Ein Arbeiter auf einer Deponie hat im Müll eine Leiche gefunden. Weiblich, um die zwanzig. Keine Papiere. Und ohne Kopf. Sie hatte Fesselspuren an Händen und Füßen, wurde sexuell missbraucht und hatte so ein Zeichen an der Schulter. Sah aus wie ’ne Brandmarke. Wie bei einem Rind, meinte der Kollege. Oder ein Tattoo, das nichts geworden ist. Oder eine Narbe. Sie konnten sich keinen Reim darauf machen. Aber da ist mir Lunders eingefallen. Ich erinnere mich dunkel, dass irgendwer, vielleicht war es Manny, gesagt hat, Lunders’ Opfer hätte ein Brandzeichen oder so was gehabt. Ein Detail, das nie an die Öffentlichkeit gekommen ist. Und so was sieht man nicht jeden Tag, oder?»
Mit klopfendem Herzen lehnte C.J. sich im Stuhl zurück.
Eddie und sein Metalldetektor standen genau über ihrem kostbaren Geheimnis.
«Das war nicht mein Fall, Eddie. Ich habe keine Ahnung von den Details in den Lunders-Ermittlungen», log sie.
«Na gut, ich dachte nur, vielleicht ist die Frau ohne Kopf ein Fall, der interessant sein könnte.» Er schien ihre Reserviertheit zu spüren. Oder vielleicht ihre Angst. «Aber was weiß ich schon? Ich drehe hier bloß meine Runden. Ich wollte nur eine Info weitergeben, die vielleicht interessant ist.»
«Sie ist interessant.»
«Und als ich gehört habe, dass Sie wieder da sind, dachte ich, ich packe die Gelegenheit beim Schopf und melde mich mal.»
«Hat mich sehr gefreut.»
«Ich fand Sie immer gut, C.J.», sagte er dann, und seine Stimme kippte wie bei einem nervösen Teenager. «Meine Frau und ich haben uns getrennt, wissen Sie?»
«Nein, das wusste ich nicht. Tut mir leid.»
«Na ja, wer weiß, wozu es gut ist. Außerdem war sie ein Biest. Hat mich neunzehn Jahre meines Lebens und die Hälfte meiner Rente gekostet. Wie gesagt, ich hatte gehört, dass Sie und Dom nicht mehr zusammen sind. Und da dachte ich, vielleicht könnten wir mal essen gehen oder so. Ich bin öfter in Miami. Meine Kinder leben da, und viele meiner Freunde auch. Es ist schwer, Miami den Rücken zu kehren, selbst wenn eine wütende Ex dort umgeht.»
Sie konnte den Schweiß, der ihm auf der Stirn stand, fast tropfen hören. «Das ist sehr nett von Ihnen, Eddie. Aber ich bin glücklich mit Dominick.»
Wieder entstand eine peinliche Pause. Wahrscheinlich wartete er auf eine Erklärung der anders lautenden Gerüchte, aber sie würde kein Wort dazu sagen. Sie und Dominick waren auf einem guten Weg.
«Ja, okay. Schon klar. Dom ist ein toller Typ. Ich muss mich mal wieder bei ihm melden.»
«Ich grüße ihn von Ihnen.»
«Ja, tun Sie das.»
«Zu der Unbekannten von der Mülldeponie, gibt es da irgendwelche Verdächtigen?», fragte sie.
«Es gibt überhaupt nichts. Die wissen nicht mal, wer sie ist. Der Kopf ist weg. Und die Finger fehlen ihr auch.»
«Wie wäre es, wenn Sie mir schicken, was Sie haben? Dann sehe ich noch mal in die Lunders-Akte und suche nach Parallelen. Haben Sie mit Rutherford gesprochen?»
Sie starrte ihre schmutzigen Hände an. Sie wollte so schnell wie möglich in den Waschraum, auch wenn sie wusste, dass nicht einmal die rosa Behörden-Seife ihre Hände rein waschen konnte – selbst wenn sie die klebrige schwarze Tinte entfernte.
«Nee», gab er zurück. «Mit dem Blödmann rede ich nicht. Ist mir lieber, wenn Sie mal reinsehen und ihn kontaktieren, falls was auftaucht.» Als könnte er ihre Gedanken lesen, machte er noch eine letzte, beunruhigende Bemerkung: «Ich weiß, dass Sie wissen, wie man mit so was umgeht, C.J. Ich weiß, Sie tun, was getan werden muss.»
Dann legte er auf und ließ sie mit ihren irritierenden Gedanken und ihren schmutzigen Händen allein.
Nervös wartete sie im verlassenen Labyrinth des Sekretariats vor dem Faxgerät. Es war nach sieben, und bis auf ein paar Nachzügler, die jetzt erst vom Gericht kamen oder noch Termine für den nächsten Tag vorbereiten mussten, war das Gebäude verlassen.
Als das Gerät zu rattern und zu piepen begann, sammelte sie hastig den Polizeibericht ein, den Eddie ihr geschickt hatte. Dann ging sie zurück in ihr Büro, schloss die Tür und drehte den Schlüssel um – für den Fall, dass einer der Nachzügler auf einen Plausch vorbeikam.
Sie blätterte den Bericht des Collier County PD durch. Am 16. März war auf einer Mülldeponie beim Abladen eines Abfallsammelfahrzeugs die teilweise verweste kopflose Leiche einer hellhäutigen Frau gefunden worden, circa 18 bis 25 Jahre alt. Sie war mit einem Slip und einem BH bekleidet. Es gab keine Hinweise auf ihre Identität. Die Abfallfuhre stammte von verschiedenen Firmen und Müllabladeplätzen in und um Bonita Springs.
Der Leichenfund lag über drei Wochen zurück. C.J. gab die Eckdaten im Netz ein, konnte aber keine Erwähnung finden.
Es war unerklärlich, aus welchen Gründen manche Verbrechen die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erregten und andere nicht. Wenn weder Opfer noch mutmaßlicher Täter prominent waren, war es selbst nach all den Jahren im Beruf unmöglich vorauszusehen, welche Fälle in die Schlagzeilen gerieten. Als Bantling vor Gericht stand, hätte niemand vermutet, welches Ausmaß der internationale Medienzirkus annehmen würde: Über siebzig Sender hatten ihr Lager am Gerichtsgebäude aufgeschlagen; aus der ganzen Welt flatterten Heiratsanträge an den angeklagten Serienmörder ein. Titelseiten von Zeitschriften. Filmangebote. Buchverträge. Eine Hysterie, die es bis dahin nur bei Fällen wie O.J. Simpson, den Menendez-Brüdern, dem Versace-Mord und dem Mord an Jon Benet Ramsey gegeben hatte. Wochenlang saß ganz Amerika einträchtig vor der Glotze und verfolgte den Gerichtsprozess und die minütlichen Updates in den Nachrichtensendungen.
Doch eine kopflose Frau auf einer Mülldeponie reichte anscheinend nicht mal für eine Randnotiz in der Lokalzeitung. Traurig. Heutzutage taten die Leute alles, um in den sozialen Netzwerken die Zahl der «Likes» für ihre Fotos, Videos oder Kommentare zu erhöhen. Jeder wollte seine fünfzehn Minuten Ruhm, egal wie. Und dieses arme Mädchen, das die Welt auf eine so grausame, abrupte und entsetzliche Art verlassen musste, erhielt nicht einmal zwei Zeilen in der Zeitung.
C.J. überflog den Bericht. Manche Wörter gingen einem immer unter die Haut, ob sie in einem Roman standen oder einem Polizeibericht. Enthauptet. Verstümmelter Torso. Vergewaltigt und ermordet. Fesselspuren. Folter.
Sie schloss den Aktenschrank auf und zog aus der hintersten Reihe einen Ordner hervor. Auf dem Aktendeckel stand «Motolo» – ein Angeklagter, den sie vor vielen Jahren verhandelt hatte. Aber der Fall, der sich darin verbarg, war nicht der von Santos Motolo. Der Ordner enthielt eine detaillierte Akte zum Mord an Assistant State Attorney Daria DeBianchi. Und dazu gehörte die vollständige Fotokopie der Unterlagen zum Fall Florida gegen Talbot Lunders.
C.J. nahm die Obduktions-Fotos des Opfers heraus, dessen Ermordung Talbot Lunders zur Last gelegt worden war: Holly Skole, Studentin der University of Miami. Im Nacken war deutlich das «Brandzeichen» zu sehen, von dem Eddie gesprochen hatte: ein Kreis mit einem Symbol, das wie ein gezackter Blitz aussah.
Sie fuhr mit dem Finger über die braune Mappe, auf deren Umschlag Daria DeBianchi Florida gg. Lunders geschrieben hatte – wahrscheinlich ganz am Anfang, als der Fall als einer von vielen Morden auf ihrem Tisch gelandet war. Die Handschrift einer Toten.
Talbot Alastair Lunders. C.J. hatte weder ihn noch sein Opfer Holly Skole je kennengelernt. Auch Daria DeBianchi, die Staatsanwältin, kannte sie nicht. Sie kannte keinen der Beteiligten des Falls persönlich, aber als sie zu Eddie Bowman gesagt hatte, dass sie nichts über den Fall wüsste, hatte sie gelogen.
Talbot Lunders war außergewöhnlich attraktiv und außergewöhnlich vermögend für einen Mordverdächtigen, und Holly Skole war eine hübsche Studentin gewesen. Es gab nur Indizien, aber davon genug, um einen hinreichenden Verdacht zu rechtfertigen: Ein Überwachungsvideo zeigte, wie Holly mit Talbot einen Club verließ. Man hatte ihre DNA im Wagen seiner Mutter gefunden. Als die Polizei ihn in den Fokus ihrer Ermittlungen nahm, hatte Talbot plötzlich versucht, Besitztümer zu verkaufen und sich nach Zürich abzusetzen.
Und dann, nachdem das Gericht aus gegebenem Anlass die Freilassung auf Kaution verweigert hatte, sorgte seine Mutter plötzlich für eine Wendung in dem Fall, die dazu führte, dass die Klage platzte: Sie legte Daria DeBianchi und Manny Alvarez einen USB-Stick vor. Das verstörende Video auf dem Stick änderte nicht nur den Kurs der Ermittlungen, sondern endete schließlich mit der Flucht von Floridas berüchtigtstem Serienkiller und der brutalen Ermordung der Staatsanwältin Daria DeBianchi. Und genau dieser USB-Stick hatte C.J. letztlich gezwungen, nach Miami zurückzukehren.
Das Video war fünf Jahre alt und weniger als eine Minute lang. Eine teilweise nackte unbekannte Frau war mit den Handgelenken an eine Vorrichtung an der Decke gefesselt – und befand sich entweder in einem einvernehmlichen sadomasochistischen Liebesspiel mit einem maskierten Mann, oder sie wurde brutal misshandelt. Die Frau auf dem Video sah Holly Skole ähnlich. Lunders’ Mutter behauptete, das Video sei ihr von Holly Skoles «wahrem» Mörder anonym zugespielt worden.
Manny war ein unglaublich guter Polizist, und er fand die Frau auf dem Video. Ihr Tod lag lange zurück. Sie hieß Gabriella Vechio, und sie war wie Holly Skole mit einem Fremden aus einem Nachtclub verschwunden. Wie Holly war sie vergewaltigt und gefoltert worden. Wie Holly hatte man sie gebrandmarkt und ermordet.
Und dann spürte Manny noch drei weitere gebrandmarkte Opfer auf. Es handelte sich durchweg um ungelöste Fälle aus unterschiedlichen Polizeibezirken, die von unterschiedlichen Behörden bearbeitet worden waren. Da zum Teil Tausende Kilometer und mehrere Jahre zwischen den Fällen lagen, hatte kein Polizist je einen Zusammenhang entdeckt. In der Folge wurde jeder als willkürlicher, ungelöster Einzelfall zu den Akten gelegt.
C.J. nahm Gabriella Vechios Obduktions-Fotos aus Lunders’ Akte. Sie legte das Foto mit dem Brandzeichen neben das von Holly. Dann legte sie die Fotos des kopflosen Mädchens von der Deponie daneben, das vor drei Wochen aufgetaucht war.
Obwohl die verwesende Haut der kopflosen Unbekannten sich bereits zu blähen und zu verfärben begonnen hatte, war die ungewöhnliche Narbe in der Mitte des rechten Schulterblatts noch deutlich zu erkennen. C.J. brauchte keinen forensischen Vergleich, um zu sehen, was augenfällig war: Die Kreise mit dem hässlichen gezackten Blitz, die alle drei Mädchen zeichneten, waren nicht nur ähnlich.
Sie waren identisch.
Identische Brandzeichen an drei Mordopfern konnten nur eines bedeuten: Es war derselbe Täter.
Beziehungsweise dieselben Täter.
C.J. ging Daria DeBianchis handschriftliche Notizen durch, bis sie fand, wonach sie suchte:
Alvarez hält Video für die Aufnahme des tatsächlichen Mordes an Gabby Vechio. Also Snuff??
Snuff-Videos – wenn arglose Opfer vor laufender Kamera ermordet werden – galten lange Zeit als Ammenmärchen. Die Vorstellung, dass ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen Morde inszenierten und filmten, um sie auf dem Schwarzmarkt zu vertreiben, war so widerwärtig, dass die Existenz eines solchen Genres mehr als unwahrscheinlich schien. Heute aber, da jeder ein Handy besaß und nach Aufmerksamkeit im Internet gierte, war die Vorstellung von Snuff-Videos plötzlich nicht mehr so weit hergeholt. Immer mehr Selbstmorde und sexuelle Übergriffe wurden gefilmt und live auf Facebook oder anderen sozialen Netzwerken übertragen, während kaltherzige Fremde das Grauen nicht nur in Echtzeit verfolgten, sondern sogar kommentierten oder bejubelten.
Det. Alvarez verweist auf Cupido-Ermittlung und eine Vernehmung von Bill Bantling in Haft 2004.
Der Anblick von Bantlings Namen nahm ihr den Atem. C.J. hasste es, dass er immer noch so viel Macht über ihre Gefühle hatte, obwohl es keinen Grund mehr gab, ihn zu fürchten.
Evtl. verfügt Bantling über Informationen zu einer Art illegalem Privat-Club.
Da war es schwarz auf weiß. Die Worte, die sie gesucht hatte: illegaler Privat-Club.
Ein Mörder-Club.
C.J. schob die Kopie, die sie von Abigail Lunders’ USB-Datei gezogen hatte, in den Laptop. Wenn man wusste, was sie enthielt, war es schwer, auf Play zu drücken.
Die hübsche dunkelblonde Buchhalterin wand sich und strampelte, die Hände mit schwarzen Seidentüchern gefesselt, die an Ringen am Deckenbalken befestigt waren. Ihre Brüste waren nackt, der Rock hochgeschoben, ihre Nylonstrumpfhose steckte als Knebel in ihrem Mund. Das letzte Bild erschien wie ein makabrer Bildschirmschoner: Gabriellas grüne Augen in Panik weit aufgerissen, als jemand aus dem Off auftauchte, mit einer Rose in einer Hand und einer Schere in der anderen.
Es war ein 58-Sekunden-Clip der Vergewaltigung und Folter. Das war keine einvernehmliche sexuelle Praktik. Es waren die letzten Augenblicke in Gabriellas Leben, vorsätzlich von der Kamera eingefangen, auch wenn das brutale Ende fachkundig herausgeschnitten war, bevor das Video an die Staatsanwaltschaft ging.
Ein Snuff-Film, ohne jeden Zweifel.
C.J. spürte die Vorboten heftiger Kopfschmerzen, das Pochen in den Schläfen und hinter den Augen wie das Aufziehen eines Sturms. Sie schluckte zwei Tabletten und spülte sie mit einem Schluck kaltem, bitterem Kaffee herunter.
Als Manny Alvarez und Daria DeBianchi den Stick in den Computer gesteckt hatten, erkannten sie nicht gleich, was sie vor sich hatten. Und ihre instinktive Scheu, das für real zu halten, was sie sahen, war nachvollziehbar, denn es war unerträglich.
2004 hatte Bantling Manny und Dominick gegenüber bei einer Vernehmung angedeutet, er habe Informationen über einen brutalen «Snuff-Club», der von Miami aus operierte – einem Club von Individuen, die die Snuff-Filme nicht selbst drehten, sondern dafür zahlten, zusehen zu können, wie sie gedreht wurden. Morde wurden gecastet, choreographiert und zahlenden Kunden auf der ganzen Welt per Livestream ins Wohnzimmer übertragen.
Damals hatte die Story zu krank geklungen, um wahr zu sein. Für konkrete Hinweise und Namen der Mitglieder hatte Bantling seine Begnadigung gefordert – ein Deal, den niemand mit ihm eingehen wollte, am allerwenigsten C.J. Und so wurde nie gegen diesen angeblichen «Club» ermittelt, und Bantlings Behauptungen wurden als verzweifelte Manipulationsversuche eines zu Tode verurteilten Psychopathen verworfen.
Schnitt ins Jahr 2015. Talbot Lunders wird wegen Mordes verhaftet. In dem Moment, als der USB-Stick in Mannys Händen landet, wird eine Kette tragischer Ereignisse in Gang gesetzt: Manny Alvarez findet Gabriella Vechio und kurz darauf drei weitere gebrandmarkte Mordopfer. Ihm wird klar, dass Bantling die Wahrheit erzählt hat – es gibt wirklich einen Snuff-Club, der von Miami aus operiert. Für die Nennung der Namen will Bantling immer noch raus – ein Deal, zu dem Manny immer noch nicht bereit ist.
Daria DeBianchi schon.
So kam es, dass Bantling nach Miami zurückkam. Ob durch Dummheit oder irgendwelche Machenschaften, während eines verheerenden Sturms landete Bantling im falschen Bus und verschwand spurlos. Und dann machte er sich auf den Weg nach Kalifornien und fand C.J.s Versteck, wie er es geschworen hatte. Das war der Moment, als sie beschlossen hatte, nicht mehr vor dem Monster davonzulaufen, das sie bis zum bitteren Ende jagen würde.
Bantling versuchte mit den Namen der Club-Mitglieder um sein Leben zu feilschen, aber C.J. war zu keinem Deal bereit. Mit der kreativen Hilfe eines 50000-Volt-Tasers bekam sie die Namen trotzdem aus ihm heraus. Es waren dreizehn. Die Liste bewahrte sie seitdem in ihrer Handtasche auf.