Mafalda Cinquetti und das faule Ei - Bastian Richter - E-Book

Mafalda Cinquetti und das faule Ei E-Book

Bastian Richter

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Beschreibung

Wo andere Urlaub machen, deckt Mafalda Cinquetti Verbrechen auf

Auf der malerischen Insel Murano geht es erneut nicht mit rechten Dingen zu: Immer mehr Souvenirläden verkaufen angebliche authentische Meisterwerke aus Muranoglas. Doch ein Blick genügt, und die Polizistenwitwe Mafalda Cinquetti weiß genau: Dieser billige Plunder ist niemals echt! Gleichzeitig muss sie sich damit herumschlagen, dass das Haus, in dem sie wohnt, nach dem Tod ihrer unbeliebten Vermieterin an eine anonyme Immobilienfirma verkauft wurde, die etwas zu verbergen scheint. Jetzt stehen ihre Nachbarin Maria und deren Tochter Anna kurz vor dem Rauswurf. Zusammen mit ihren Freundinnen Lucia und Alma macht sich Mafalda auf, das Geheimnis hinter den beiden Machenschaften zu lösen und stößt dabei auf eine mysteriöse Bruderschaft ...




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Seitenzahl: 508

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber den AutorTitelImpressum12345678910111213141516171819202122232425262728293031323334353637Mafaldas neue KüchengeheimnisseMafalda schreibt selbst – Berichte aus Murano

Über dieses Buch

Wo andere Urlaub machen, deckt Mafalda Cinquetti Verbrechen auf

Auf der malerischen Insel Murano geht es erneut nicht mit rechten Dingen zu: Immer mehr Souvenirläden verkaufen angebliche authentische Meisterwerke aus Muranoglas. Doch ein Blick genügt, und die Polizistenwitwe Mafalda Cinquetti weiß genau: Dieser billige Plunder ist niemals echt! Gleichzeitig muss sie sich damit herumschlagen, dass das Haus, in dem sie wohnt, nach dem Tod ihrer unbeliebten Vermieterin an eine anonyme Immobilienfirma verkauft wurde, die etwas zu verbergen scheint. Jetzt stehen ihre Nachbarin Maria und deren Tochter Anna kurz vor dem Rauswurf. Zusammen mit ihren Freundinnen Lucia und Alma macht sich Mafalda auf, das Geheimnis hinter den beiden Machenschaften zu lösen und stößt dabei auf eine mysteriöse Bruderschaft …

Über den Autor

Nach Stationen in Leipzig und Marburg, langen Jahren in Berlin und einem Abstecher in die Schweiz hat Bastian Richter jetzt im niederländischen Friesland seine Heimat gefunden, wo er mittlerweile 9 Bücher verfasst hat, daneben eine alte Bäckerei saniert und mit seinem betagten Binnenschiff die lokalen Gewässer durchkreuzt. Immer wieder zieht es ihn nach Italien, wo die venezianische Hobbyermittlerin Mafalda Cinquetti in sein Leben trat.

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Der Autor wird vertreten durch die Autoren- undProjektagentur Gerd F. Rumler, München

Copyright © 2024 by Bastei Lübbe AG,Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für dasText- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Textredaktion: Nora Schmitt

Umschlaggestaltung: © SO YEAH DESIGN, Gabi Braun

unter Verwendung von Motiven von © shutterstock.com: Aliaksandr Antanovich | Anna_Pustynnikova | Sira Anamwong

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-5580-1

luebbe.de

lesejury.de

1

Ich kann dein Ohr sehen.«

»Was? Wie?«, stotterte Mafalda komplett verwirrt. Sie nahm ihr telefonino vom Kopf wieder weg, wischte den Sand und eine Spur Sonnencreme vom Gerät, dann schaute sie von der Sonne geblendet mit zusammengekniffenen Augen unsicher auf das verschwommene Display.

»Ich bin es, Pietro. Das ist ein Videotelefonat. Und du hattest die Kamera an dein Ohr gehalten!«, antwortete ihr Enkel mit Engelsgeduld.

Eben noch hatte Mafalda in der Brandung gestanden, als sie das Klingeln aus ihrer Handtasche gehört hatte, und war dann schnell zu ihrem Liegestuhl geeilt. Sie versuchte, den nassen Sand von ihren Füßen abzuklopfen, und drehte das telefonino unschlüssig in den Händen hin und her, konnte ohne Brille aber so gut wie nichts auf dem Display erkennen. Fast verlor sie das Gleichgewicht, als sie auf einem Bein stehend das telefonino scheinbar ziellos mit wildem Tippen und Wischen traktierte. »Ist es jetzt besser?«, fragte sie Pietro, immer noch reichlich verunsichert.

»Besser. Aber falsch herum.«

Mafalda betrachtete ihr telefonino und fing an, an sich selbst zu zweifeln. Es war nicht wirklich hilfreich, dass drei Kinder laut schreiend um sie herumrannten, sich abwechselnd einen triefnassen Gummiball zuwarfen und Mafalda dabei nur um Zentimeter verfehlten. Sie schaute entnervt zu den Kindern, doch die störten sich nicht daran. Schließlich drehte sie ihr telefonino komplett herum.

»Jetzt kann ich den Sand sehen. Aber der Himmel ist wenigstens oben.« Noch immer war keine Spur von Ungeduld in Pietros Stimme zu hören. Diese Art Gespräche mit seiner Großmutter schien er gewohnt zu sein.

»Ich suche schnell meine Brille«, sagte Mafalda, legte das Handy auf den Liegestuhl und kramte in ihrer Handtasche nach der Lesehilfe. Als sie sie endlich gefunden hatte, nahm sie die Tasche von ihrem Schoß und das telefonino wieder in beide Hände.

»Oh, salve, Pietro! Jetzt kann ich dich sehen«, sagte sie freudig.

»Bene«, antwortete Pietro artig. In seiner Stimme war eine Spur von Erleichterung zu hören.

»Wir sind in Jesolo, Lucias Geburtstag feiern. Alma, Lucia und ich«, sagte Mafalda. Sie wedelte mit ihrer Handykamera wild in der Gegend herum, um Pietro den Strand zu zeigen. »Weshalb rufst du an?«

Sie sah, wie Pietros Lippen sich bewegten, konnte aber nichts hören, weil die Kinder so schrien.

»Warte einen Moment. Der ganze Strand ist leer, aber diese Gören müssen direkt um mich herum Ball spielen, als gäbe es keinen anderen Platz! Ich gehe schnell zum Garten vor dem Hotel hoch. Da ist es ruhiger.«

Sie sah nur, wie Pietro nickte. Daraufhin schnappte sie sich mit der Linken ihre Handtasche und ging durch die wie mit dem Lineal gezogenen Liegestuhlreihen nach oben. Nach dem kleinen Strandkiosk, dessen Besitzer beinahe schlafend hinter dem um diese Jahreszeit ansonsten verwaisten Tresen stand, nahm sie die schmale Treppe in den Hotelgarten hinauf, über die Wiese mit den mächtigen Palmen hinweg und durch den Garten des Hotels.

Schnaufend sagte sie: »Jetzt ist es besser! Ich bin gleich für dich da.«

»Kein Problem, nonna!«, antwortete Pietro noch immer ganz die Ruhe selbst. So wie Mafalda im Stillen froh war, überhaupt den richtigen Knopf gefunden zu haben, um das Gespräch anzunehmen, schien Pietro schon zufrieden zu sein, dass er seine nonna kurz sehen und hören konnte. Alles Weitere würde sich fügen.

»Was wird denn da gebaut?«, fragte er. Mafalda hatte das telefonino so gehalten, dass der Hotelgarten seitlich liegend zu sehen war. Pietro war schon oft mit Mafalda hier gewesen und musste den Hotelgarten wiedererkannt haben. Jedem anderen wäre durch das verwackelte Bild übel geworden. Doch ihm scheinbar nicht, und wenn doch, dann wäre es Mafalda nicht aufgefallen. Zu sehr war sie damit beschäftigt, mit telefonino und Handtasche bewaffnet die Stufen zur Hotelterrasse zu erklimmen.

Auch sie hatte zuvor schon die Berge von Steinen und die Betonsäcke am Rande des Gartens gesehen. »Sie wollen ein Schwimmbad bauen, Pietro, denk dir nur! Ein Schwimmbad vor einem Hotel direkt am Meer. Was für ein Unsinn!«

»Die Kundschaft wird danach verlangen«, sagte Pietro ungerührt. Er hatte seine Großmutter schon oft damit aufgezogen, wie sehr sie jede Veränderung verabscheute. Auch jetzt wieder meinte Mafalda, einen spöttischen Unterton in seiner Stimme bemerkt zu haben, entschied sich jedoch, diesen zu ignorieren.

»Ich habe mich immer noch nicht an die neue Deckenvertäfelung in der Lobby gewöhnt«, sagte sie. »Die wurde doch auch erst vor kurzem eingebaut. Wann war das nochmal?«

»1993?«, antwortete Pietro feixend. »In jedem Fall vor meiner Zeit.«

»Doch schon so lange!«, antwortete Mafalda verblüfft. Es war ihr viel kürzer vorgekommen. »Ja, jedenfalls habe ich mich an die immer noch nicht gewöhnt!«

Sie hatte inzwischen an einem der Bistrotische auf der Hotelterrasse Platz genommen und ihr telefonino auf den Tisch gestellt, was Pietro vom schwankenden und wankenden Videobild erlöste. Schweiß lief über ihre Stirn. »Schieß los!« forderte Mafalda ihn auf weiterzureden.

»Was ich dir erzählen wollte«, sagte Pietro, »deine Vermieterin ist gestorben.«

Mafalda bekreuzigte sich flüchtig, faltete ihre Hände zusammen, legte ihr Gesicht leicht zur Seite und bemühte sich, einen leidenden Gesichtsausdruck zu machen. So, wie das in solchen Fällen eben erwartet wird. Lange hielt sie das nicht durch. »Die alte Schreckschraube!«, rief sie erbost. »Geizig war sie ohne Ende. Durch das Dach tropft es, und wir dürfen alles mit Eimern auffangen, wenn es regnet. Und als mein Boiler kaputt war, musste ich Beppe bitten, mir den zu richten. Kostenlos. Denn sie hätte nichts bezahlt!«

»War sie nicht schon über hundert?«, fragte Pietro. Als Carabiniere kam er eigentlich gut auf Murano herum, aber offenbar nicht gut genug, um Mafaldas Vermieterin zu kennen. Was nur verständlich war, denn außerhalb ihres Hauses hatte Mafalda sie zuletzt vor zwanzig Jahren gesehen. Da war Pietro sieben.

»Nicht ganz. Siebenundneunzig«, korrigierte ihn Mafalda.

»Dann wird es wohl keinen Kranz vom Bürgermeister zur Beerdigung geben«, bemerkte Pietro trocken.

»Den hätte sie auch nicht verdient!«, antwortete Mafalda. »Seit sie vor zwanzig Jahren gestürzt ist, hatte ich nur noch telefonisch mit ihr Kontakt. Und immer, wenn ich etwas wollte, war ihre Antwort nein. Sempre no!«

Pietro nickte. Mafalda erzählte ihm nicht zum ersten Mal von Ärger mit ihrer Vermieterin. Diese Litaneien kannte er schon sein ganzes Erwachsenenleben lang. Mindestens. »Jedenfalls«, sagte er, »das ist der eigentliche Grund für meinen Anruf, denn ich wollte, dass du es zuerst von mir erfährst …« Er machte eine theatralische Pause. Fast wäre ihm Mafalda ins Wort, nein, ins Schweigen gefallen. »Dein Mietvertrag ist sicher.«

Mafalda stutzte. »Wieso sollte er das nicht sein?«, fragte sie irritiert zurück.

»Nun, du kennst den Immobilienmarkt in Venedig …«, sagte Pietro bedeutungsvoll.

»No. Was sollte ich da wissen?«, hakte sie nach. Sie war 1961 mit ihrem Salvatore in ihre Wohnung eingezogen. Sie hatte sich danach nie wieder um neuen Wohnraum kümmern müssen und beschwerte sich auch heute noch, dass ihre Miete bei der Umstellung von Lira auf Euro aufgerundet worden war, weil die Regierung in Rom sowie die Bürokraten in Brüssel das so bestimmt hatten.

Jetzt schien Pietro ungeduldiger zu werden. Zumindest konnte sie auf dem Display sehen, wie sich seine Wangen röteten und diese kleinen roten Flecken an seinen Schläfen sichtbar wurden, die er immer bekam, wenn ihn etwas sehr beschäftigte.

Er nahm die Brille ab und rückte näher an die Kamera. »Dio mio, nonna! Jede freiwerdende Wohnung wird in eine Ferienwohnung umgewandelt. Einheimische finden praktisch nichts mehr zum Mieten. Und wenn jemand eine vermietete Wohnung erbt …« Er machte wieder eine Kunstpause.

Aber diesmal wollte Mafalda ihn nicht damit davonkommen lassen. »Dann was? Meine Güte, ich bin über siebzig! Lass mich doch nicht so lange warten!«, fuhr sie ihm dazwischen.

»Dann werden die gerne mal an Urlauber vermietet, sobald die alten Mieter rausgesetzt worden sind«, antwortete er.

»Ich auch?«, fragte Mafalda ein wenig erschrocken. »Ich meine, kann das mit meiner Wohnung auch passieren?«

Pietro schüttelte energisch den Kopf. »Eben nicht«, sagte er. »Deswegen rufe ich ja an. Dein Mietvertrag ist ordnungsgemäß bei der Stadt angemeldet. Dir können sie gar nichts.«

Diese Antwort stellte Mafalda zufrieden. »Bene, dann ist ja alles gut und sicher«, antwortete sie. »Aber was ist in Italien schon sicher?«, fügte sie gekünstelt lächelnd hinzu. »Gibt es sonst noch Neuigkeiten?«

»In den knapp vierundzwanzig Stunden, seitdem du weg bist?«, fragte Pietro zurück und kicherte leise. Mafalda dagegen fand ihre Frage kein bisschen abwegig und rührte keine Miene. Wenn etwas Wissenswertes auf Murano geschah, wollte sie sofort davon erfahren, nicht erst nach ihrer Rückkehr.

»Jemand hat die Schaufenster des Souvenirladens vorn am Rio dei Vetrai beschmiert.«

»Des Souvenirladens?«, fragte Mafalda stirnrunzelnd. Die Ufer des schmalen Kanals im vorderen Teil von Murano bestanden praktisch nur aus Souvenirgeschäften.

»Du weißt, welchen ich meine. Bei allen anderen hätte ich Glaskunstgeschäft gesagt. Es gibt nur einen, der die ganz scheußlichen Sachen verkauft. Sie haben eine Kollegin von mir herbeigerufen.«

Sie nickte. »Bei dem dürfen sie gerne die Scheiben beschmieren«, sagte sie wie von selbst, hielt sich dann erschrocken die Hand vor den Mund. »So habe ich das nicht gemeint«, fügte sie eilig an.

Pietro schmunzelte. »Kein Problem. Den Impuls hatten wir alle auf Murano schon einmal.«

»Gibt es sonst noch was?«, fragte Mafalda.

»Die alte Glasbläserei macht wohl auf«, antwortete Pietro schließlich. Mafalda nickte nur. Stumm wartete sie, ob sie ihrem Enkel eine Liste der geschlossenen Glasbläsereien auf Murano vorbeten musste oder ob er ihr weitere Details mitteilen würde.

»Die am Fondamenta Radi«, sagte er nach kurzer Pause. Nicht die beste Adresse auf Murano und zudem reichlich abgelegen. Jedenfalls wenn man von den Touristenströmen ausgeht, ohne die kaum eine Glasmanufaktur auf der Insel überleben konnte. »Wo letzte Woche die Fassade gestrichen und die Fenster ausgetauscht wurden«, sagte Pietro noch.

Mafalda runzelte die Stirn. »Der Laden ist doch schon mindestens fünfzig Jahre geschlossen«, grübelte sie laut vor sich hin. »Wie wollen sie da so schnell einen neuen Betrieb hochziehen?«

Pietro zuckte mit den Schultern. »Eine offizielle Einweihung gibt es im Moment noch nicht«, sagte er. »Aber die Gerüchteküche besagt, dass es bald losgehen soll.«

Mafalda nickte unsicher. »Na mir soll es recht sein, wenn es mit der Glasbläserei auf Murano wieder aufwärtsgeht«, sagte sie nachdenklich. »Wo und wie auch immer das geschieht.«

»Da wird eine Menge Arbeit auf uns bei den Carabinieri zukommen«, sagte Pietro leise stöhnend.

Mafalda stutzte. »Wegen der neuen Glasmanufaktur?«, fragte sie.

Pietro schüttelte energisch den Kopf. »No, no, wegen deiner Vermieterin.« Jetzt konnte Mafalda ihm wieder folgen. »Kinder hatte sie nicht. Es gibt wohl entfernte Verwandte. Aber die haben sich seit Jahren nicht mehr auf Murano blicken lassen. Und jetzt dürfen wir die finden!«

Mafalda legte ihren Kopf zur Seite, faltete wieder ihre Hände und schaltete ihren Gesichtsausdruck auf anteilnehmend zurück. »Wenn du sie findest, richte ihnen doch bitte meine aufrichtige Anteilnahme aus, ja?«

Pietro lächelte süffisant. »Inklusive deinem Monolog von vorhin und den Worten ›Schreckschraube‹ und ›Geizkragen‹?«

Für diese kleine Frechheit gab es von ihr eine angedeutete Ohrfeige in Richtung Kamera. »Ich muss jetzt auflegen. Alma und Lucia kommen«, sagte sie.

Pietro hatte sich offenbar entschieden, die letzten Sätze und Gesten zu ignorieren, denn er sagte vor dem Auflegen nur feixend: »Ich werde deine Kondolenzwünsche gerne ausrichten.«

»Was war denn los?«, fragte Lucia, die zusammen mit Alma mittlerweile vom Strand nachgekommen war und sich etwas außer Atem auf den Stuhl neben Mafalda fallen ließ.

»Du bist ohne ein Wort aufgesprungen und zum Hotel zurückgegangen?« Alma setzte sich auf die andere Seite.

»Ach, eigentlich nichts«, sagte Mafalda und schaute irritiert auf den Teller mit zwei großen Sandwiches sowie reichlich Cocktailsauce, den Lucia vom Strandkiosk mitgebracht hatte. Die Portion schien ihr für den späten Nachmittag als Zwischenmahlzeit mehr als üppig, zumal heute Abend noch Lucias Geburtstagsessen eingeplant war. Aber Geburtstag war Geburtstag, und Mafalda wäre es nicht im Traum eingefallen, den Lucia mit einer unpassenden Bemerkung über das Essen zu verderben. Außerdem war die dick belegte dreieckige Toastscheibe, in die Lucia gerade mit gesegnetem Appetit hineinbiss, für sich schon eine Institution hier am Strand von Lido di Jesolo.

»Delizioso!«, seufzte Lucia im sonnengelben Strandkleid und biss nochmals herzhaft in das Sandwich, das sie eben vom Pappteller genommen und ausgiebig in Cocktailsauce getunkt hatte. »Ich liebe Klebbe!«, sagte sie fast schmatzend. Sie nahm einen weiteren Bissen, während ihr eine gute Portion Sauce vom Sandwich auf ihr Kleid tropfte. »Der Kiosk hat gestern erst aufgemacht für diese Saison.«

Hinter ›Klebbe‹ verbarg sich ein normales Club Sandwich, das hier im Badeort Lido di Jesolo, nur eine Stunde Schifffahrt von Venedig entfernt, in jedem der kleinen Strandkioske, die wie an einer Perlenschnur in regelmäßigen Abständen den kilometerlangen Strand säumten, mit Inbrunst serviert und zelebriert wurde. Klebbe, nicht Club Sandwich, weil die englischen Sprachkenntnisse der Kioskbesitzer von jeher recht überschaubar waren und man diese Aussprache als Italiener von Welt in den sechziger Jahren für korrektes Englisch gehalten hatte. Und selbst wenn man es mittlerweile besser wusste oder auch nicht, die Kundschaft hatte sich über die Jahre so an den italienisch-englischen Kunstbegriff gewöhnt, dass das Sandwich nur so ausgesprochen bestellt werden konnte und auch nur so serviert wurde. Alles andere hätte nur Verwirrung gestiftet.

Alma hatte aus ihrer Badetasche eines ihrer unentbehrlichen Feuchttücher herausgefischt, um damit auf Lucia und den Cocktailsaucenfleck zuzugehen. Aber Mafalda konnte sie mit einem energischen Kopfschütteln davon abhalten.

»Die Schaufenster eines Souvenirladens sind beschmiert worden«, erzählte sie.

»Der bei Rialto?«, fragte Lucia.

Mafalda schüttelte den Kopf. »Der am Rio dei Vetrai. Auf Murano. Mit der scheußlichen Schaufensterdeko.«

Lucia nickte. Sie wusste sofort, welchen Mafalda meinte. »Na, dann sind es schon zwei«, sagte sie ungerührt weiterkauend.

»Die Glasbläserei hinten bei dir macht bald auf, Alma«, fuhr Mafalda fort. »Oder auch nicht. Genaues weiß man nicht.«

Alma legte den Kopf zur Seite. »Ich hatte mich schon gewundert, warum dort von heute auf morgen so emsig gebaut wurde.«

»Und deswegen hat Pietro dich angerufen?«, fragte Lucia mit vollem Mund.

»No, nicht deswegen«, antwortete Mafalda. »Meine Vermieterin ist gestorben«, sagte sie nach kurzem Schweigen, in dem nur Lucias angestrengtes Kauen zu hören gewesen war.

»Die alte Xanthippe?«, fragte Lucia erstaunt immer noch kauend zurück, dabei lehnte sie eine ihr von Alma angebotene Serviette ab.

»Das wären jetzt nicht meine Worte gewesen …«, antwortete Mafalda pikiert. Wobei sie fast noch vor Satzende kichern musste. »Obwohl … das waren fast genau meine Worte, als ich vorhin mit Pietro telefoniert habe«, sagte sie leise lachend.

Alma musste auch schmunzeln. »Ich glaube, die hat niemand wirklich gemocht«, sagte sie.

»Niemand. Nicht mal du!«, prustete Lucia laut heraus und deutete auf Alma. »Und du magst sonst jeden!«

»Wir sollten nicht lachen«, sagte Mafalda, immer noch leise kichernd.

Lucia lehnte sich im Stuhl zurück. Das Sandwich hatte sie schon weitgehend verdrückt. Nur etwas Salat sowie eine Tomatenscheibe hatte sie übrig gelassen. Alma zeigte mit dem Finger auf beides und schaute Lucia fragend an.

»Das wird doch etwas zu viel«, wehrte die Almas Blick ab. »Schließlich gibt es nachher noch Abendessen.« Alma nickte und seufzte kaum vernehmbar.

Nicht, dass Lucia Almas Reaktion hätte auffallen können, denn sie hatte sich schon wieder Mafalda zugewandt. »Wird dein Haus jetzt verkauft?«, fragte sie sie.

»Verkauft?«, fragte Alma von der Seite besorgt zurück.

»Wieso denn verkauft? Gestorben ist sie, die Alte«, antwortete Mafalda verdutzt.

»Na da liegt es doch auf der Hand …«, sinnierte Lucia.

»Was liegt auf der Hand?«, fragte Mafalda hart zurück.

»Na die Erben werden das Erbe schnellstmöglich versilbern wollen. Oder sonst möglichst gewinnbringend verwerten.«

»Die haben sie doch noch gar nicht gefunden, die Erben. Pietro sagt, sie suchen sie noch.«

Lucia betrachtete ihre roten Fingernägel in der Sonne. »Es würde mich wundern, wenn die Erben sich darüber nicht schon lange Gedanken gemacht hätten. Sie war doch schon über hundert!«

»Siebenundneunzig«, korrigierte Mafalda sie patzig. »Und darf ich annehmen, dass in deiner Vision von der gewinnbringenden Verwertung …«, sie wedelte ganz wild mit den Händen, als sie dies sagte, »… dass in der kein Platz für mich ist?«

Lucia winkte mit der rechten Hand. »Mach dir keine Sorgen! Dich kriegt da keiner raus. Bei so etwas können sie dir fast gar nichts!« Ihr Blick wurde säuerlicher und glitt in die Ferne. »Francesco hat es weiß Gott versucht.«

»Dein Mann hat was?«, fragte Alma entsetzt.

Lucia setzte sich gerade auf. Sie war mit ihrer Aufmerksamkeit wieder voll da. »No! Nicht bei ihr! Nicht bei Mafalda!«, antwortete sie. »Irgendein anderes Projekt. Ich habe das nur gehört«, fügte sie entschuldigend an und wedelte abwehrend mit ihren frisch lackierten Nägeln in der Luft herum. »Vielleicht habe ich mich auch verhört.«

Alma warf Lucia einen bösen Blick zu. Mafalda verdrehte die Augen und schaute dann gen Himmel. Oder in diesem Fall in Richtung der altertümlichen blau und weiß gestreiften Markisen, deren Stockflecken man nur teilweise hatte entfernen können, und in Richtung des bröckelnden Putzes an der Unterkante der Balkone im ersten Stock über ihnen.

»Aber danke für deine Anteilnahme!«, zischte sie zu Lucia rüber, ohne sie richtig anzusehen. Dann stand sie auf. »Ich würde jetzt trotzdem lieber kurz auf mein Zimmer gehen«, sagte sie. Alma nickte verständnisvoll.

»Nicht vergessen, um halb acht essen wir zu Abend. Es gibt eine Überraschung!«, sagte Lucia, stand auf und ging wieder in Richtung Strand zurück.

»Du wirst wieder Hunger haben?«, murmelte Mafalda leise in sich hinein, als Lucia schon außer Hörweite war.

2

Sind das die Zahlenkerzen vom letzten Jahr?«, flüsterte Alma Mafalda zu, als die rundliche Köchin voller Stolz die Geburtstagstorte mit der großen 5- und 9-Kerze an ihnen vorbei zu ihrem Tisch brachte.

»Immerhin stehen sie diesmal richtig herum und nicht vertauscht wie vor zwei Jahren!«, flüsterte Mafalda zurück. Sie konnte ein Kichern nicht ganz unterdrücken. »Das war ein Drama!«

Der komplett weiß getünchte Speisesaal des Hotels, der sich in den Jahrzehnten, seit die drei Freundinnen hier vorbeikamen, praktisch nicht verändert hatte, war hell erleuchtet von zahllosen Energiesparlampen und Neonröhren und für die Vorsaison gut gefüllt mit Stammgästen vorgerückten Alters. Bodenlange Stores verdeckten den Blick durch die großen Fenster nach draußen in den Garten. Sie erzeugten zusammen mit dem kaltweißen Kunstlicht der Deckenlampen eine U-Boot-artige Atmosphäre. Auch ohne die für die Jahreszeit viel zu kalt eingestellte Klimaanlage hätte man in diesem Raum wohl immer ein wenig gefröstelt.

Noch bevor sie am Tisch gegessen und sich dann über Lucias Geburtstagstorte hergemacht hatten, war Mafalda beim Hereinkommen ein Glasleuchter an der Decke des Speisesaals aufgefallen, der beim letzten Abendessen noch nicht da gehangen hatte. Reichlich unharmonisch fügte er sich zwischen die Neonlampen ein. Die in seine Fassungen geschraubten Energiesparbirnen taten ein Übriges, um den Lüster hier irgendwie fehl am Platze erscheinen zu lassen. Mafalda ging in die Raummitte, um den Leuchter aus der Nähe zu betrachten. Sie winkte Alma und Lucia herbei.

»Schauderhaft!«, murmelte sie den beiden hinter vorgehaltener Hand zu. »Rot, gelb, blass lila und ein Braun-Grün. Wie verwelkter Spinat.«

Alma schaute unbeteiligt zu dem Leuchter hinauf, während Lucia den Kopf abfällig zur Seite neigte. »Tanzende Engel auf grauem Geweih mit Energiesparlampe«, murmelte sie. »Und das verkaufen sie dann wahrscheinlich noch als echt.«

Alma starrte auf die Glühbirnen und konnte nichts Besonderes daran finden. Die kaltweißen Strahler mit den verdrehten Leuchtstoffröhren hatte sie auch zu Hause, weil das die billigsten Lampen waren. Auch wenn Lucia sie immer wieder damit aufzog, dass deren Licht alles in ihrer Reichweite zu Staub zerfallen lassen könnte.

Die einen Kopf kleinere Köchin mit Schürze und praktisch-kurzem Grauhaarschnitt musste die Aufmerksamkeit der drei für ihren Leuchter bemerkt haben, denn sie humpelte herbei. Dann nickte sie anerkennend und sagte stolz: »Muranoglas! Wir haben den gestern erst gekauft.«

»Wir sind aus Murano«, antworteten alle drei unisono. Aber Mafalda dachte sich dazu, dass sie eine solche Monstrosität noch nie auf der Insel gesehen hatte. An die Köchin gerichtet formulierte sie es etwas freundlicher. »Wo haben Sie den denn gekauft?«

»Beim Outlet Arredamenti, dem Einrichtungsladen an der Autobahn. Mit Echtheitszertifikat!«, sagte sie wichtig nickend.

Mafalda zog es vor, zu schweigen. Aber im Stillen fragte sie sich, wie schnell Angelo mit seinem Computer wohl so ein Dokument hervorzaubern könnte.

»Wenn das Echtheitszertifikat echt ist, dann bin ich eine berühmte Balletttänzerin«, murmelte Lucia spöttisch, nachdem die Köchin gegangen war.

Mafalda schaute lächelnd an Lucia auf und ab und sagte: »Letzteres können wir ausschließen, denke ich. Und wahrscheinlich stand auf der Urkunde nur ›echtes Pressglas‹ und nicht ›Muranoglas‹.«

Lucia schnaubte. Alma folgte den beiden schweigend, als sie weiter zum Tisch gingen. Von Glas und Kunst verstand sie nicht viel.

Der Tisch der drei Freundinnen stand in der hinteren rechten Ecke, direkt an der Fensterfront, und war wie alle anderen Tische dicht von den Tischen der Nachbarn und deren Stühlen eingekreist. Was es einerseits ermöglichte, die Konversation der Tischnachbarn komplett mitzuhören und bei Bedarf daran teilzunehmen. Was andererseits jedoch bei jedem der mindestens fünf Gänge zum an der Wand zur Küche aufgebauten Buffet zu endlosem Stühlerücken, lautlos gemurmelten Entschuldigungen und genervten Blicken führte.

Wer ausgefeilte italienische Kochkunst erwartete, war hier fehl am Platze. Statt feinem Fisch und Meeresfrüchten und rosa Rind- oder Lammfilet gab es im Hotel Hausmannskost des letzten Jahrhunderts: viele Fertigsalate, sehr unitalienische Salzkartoffeln als Tribut an die Gäste aus Deutschland und Österreich sowie ohne Salz als Tribut an die Anforderungen an eine gesunde Küche, wenig scharf Gewürztes und alles mindestens gut durch, wenn nicht mehr. Aber es war das, was schon beim ersten Besuch der drei hier aufgetischt wurde. Wie lange das her war, hatte Lucia ihnen verboten, laut auszusprechen. Weil das Essen über die Jahre so unverändert geblieben war, hatten sie es akzeptiert, sogar ein wenig für gut befunden und die größten Absonderlichkeiten ins Herz geschlossen. So freuten sie sich Jahr auf Jahr erneut darauf, als wäre es ein mehrgängiges Dinner in einem Sternerestaurant.

Kaum hatte die Köchin sich nach dem Ende des Essens zwischen den unverwüstlichen Schlingpflanzen in der Raummitte hindurchgeschlängelt und die Kerzen auf Lucias Geburtstagstorte angezündet, stimmte der ganze Saal spontan ein gemeinschaftliches Geburtstagsständchen an, was Lucia, die beim Ertönen der Melodie aufgestanden war, wiederum zu gütig lächelnden Verbeugungen veranlasste. Es sei doch kein runder Geburtstag, betonte sie wieder und wieder mit Verweis auf die Zahlen auf der Torte, machte einen angedeuteten Knicks und blies dann mit leicht übertriebener Geste die Kerzen aus.

»Womit sie ja recht hat!«, zischte Alma Mafalda hinter vorgehaltener Hand zu.

Eben die wurde nach dem Essen immer stiller und starrte schweigend durch das Stück torta auf ihrem Teller hindurch. »Der Kuchen ist neu, nur die Zahlenkerzen sind die gleichen wie im Vorjahr. Du kannst sie gefahrlos essen!«, raunte Alma ihr quer über den Tisch zu.

»Ich bitte dich!«, murmelte Lucia ungehalten und knuffte Alma von links in die Seite.

»Aber es ist doch wahr!«, protestierte Alma lächelnd. »Letztes Jahr gab es Torta di cioccolato e lamponi, Schokoladentorte mit Himbeeren. Heute ist es Torta di profiteroles con crema di latte, Windbeuteltorte mit Schokocreme und viel Sahne. Aber die Fünf und die Neun steckten auch schon obendrauf!«

»Ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon du redest!«, antwortete Lucia peinlich berührt. Schnell schaufelte sie sich mit der Kuchengabel ein riesiges Stück Profiteroles mit Sahne in den Mund. »Probier!«, forderte sie Mafalda zu ihrer Linken mit noch halbvollem Mund auf. »Die torta ist wirklich lecker!«

Mafalda hatte eigentlich keinen Appetit mehr. Die Gänge zuvor waren mehr als reichhaltig gewesen – frittierte Tintenfischringe als antipasto, Lasagne als Vorspeise und Arrosto di Maiale, Schweinebraten mit Kruste, dazu Polenta und grüne Bohnen. Selbst den Vorspeisensalat hatte sie stehen lassen, da war an ein Dessert nicht zu denken.

Nur widerwillig nahm sie den Teller entgegen und stocherte dann lustlos mit der Tortengabel in dem vor ihr liegenden Tortenstück herum. Dieses Wochenende war Lucia wichtig, das wusste sie. Es war schon Tradition, dass Lucia rund um ihren Geburtstag ihre beiden Freundinnen auf einen Vorsaisonskurzurlaub ins benachbarte Strandbad Lido di Jesolo einlud. Noch bevor die Touristen dort in Massen einfielen und der in der Vorsaison verschlafene Badeort so wirkte, als hätte sich in den letzten fünfzig Jahren praktisch nichts geändert. Was Lucia für drei Tage in der unbeschwerten Illusion leben ließ, sie selbst sei auch keinen Tag gealtert. Lucia jetzt diesen Spaß zu verderben wäre Mafalda nicht im Traum eingefallen. So etwas tat eine Freundin nicht. Sie setzte ein vorsichtiges Lächeln auf, auch wenn es tief in ihr drin anders aussah.

»Das mit deiner Wohnung geht mir nicht aus dem Kopf«, sagte Alma nachdenklich zu Mafalda. »Es wird immer schlimmer. Gestern stand es im Gazzettino. Mittlerweile verdrängen ausländische Investoren sogar schon die ersten Bewohner aus den palazzi hinten in Castello«, murmelte sie und schaute dabei auf die Tortenkrümel auf ihrem Teller. Dann blickte sie auf und fügte etwas lauter an: »Eine entfernte Bekannte musste jetzt da ausziehen. Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich eine Wohnung in Mestre zu suchen.«

Mafalda schlug die Hände zusammen. »Aufs Festland? In diesen Moloch Mestre?«, rief sie entsetzt aus.

»Dass uns jetzt die Ausländer hier die Preise verderben, das passt mir ja gar nicht!«, sagte Lucia mürrisch. Sie wischte dabei so heftig mit der Hand durch die Luft, dass sie ihr Weinglas traf. Es stieß laut scheppernd gegen die leere Weinflasche vor ihr, wippte bedrohlich hin und her, um dann schließlich doch auf dem Tisch stehenzubleiben.

Mafalda schaute mit zusammengekniffenen Augen zu Lucia hinüber. »Es ist natürlich viel besser, wenn inländische Investoren die Immobilien aufkaufen und sie in Ferienwohnungen umwandeln!«, sagte sie spitz.

Alma schaute irritiert zwischen ihren beiden Freundinnen hin und her und verstand kein Wort. Lucia hatte Mafalda vor einigen Wochen im Vertrauen verraten, dass ihr Mann Francesco sich dem allgemeinen Bauboom angeschlossen und drei alte Häuser in Cannaregio aufgekauft hatte, um diese nach abgeschlossener Sanierung als Luxusapartments an Auswärtige weiterzureichen.

»Das ist ja etwas ganz anderes«, protestierte Lucia blasiert. »Francesco kümmert sich um die Erhaltung historischer Bausubstanz.«

Das war für Mafaldas Geschmack dann doch etwas zu dick aufgetragen. Sie trommelte mit den Fingern auf dem Tischtuch und fragte bissig: »Indem er Aufzüge und Whirlpools einbaut?«

Lucia zog es vor, nicht darauf zu antworten. Sie schaute nur gelangweilt durchs Fenster. Oder vielmehr auf die dicken, beinahe blickdichten Stores.

»Wir wollen uns doch nicht streiten!«, fuhr Alma vermittelnd dazwischen. »Gerade heute nicht. Wir haben doch etwas zu feiern.« Nachdem keine ihrer beiden Freundinnen darauf reagierte, wandte sie sich nach kurzer Pause Mafalda zu, legte ihr die Hand auf den Unterarm und fragte: »Sag … gibt es denn irgendwelche Neuigkeiten von Giuliano?«

Normalerweise wäre Alma immer tagesaktuell über die noch so kleinste Neuigkeit im Leben von Mafalda informiert gewesen. Doch sie hatte fünf Tage lang eine Cousine in Treviso besucht und Mafalda erst auf dem Weg nach Lido di Jesolo wieder getroffen, dort aber keine Gelegenheit gehabt, wirklich ungestört mit ihr zu reden.

»Wegen diesem Brief von ihm?«, fragte Lucia abwesend, ihren Blick immer noch fest durch das Fenster in den Garten gerichtet.

»Sofern ihr toter Sohn Giuliano in den letzten Tagen nicht auch noch aus dem Jenseits angerufen hat, ja!«, antwortete Alma ärgerlich.

Seit Mafalda vor drei Wochen beim Nachhausekommen den Brief ihres Sohnes vorgefunden hatte, war ihre Welt gehörig aus den Fugen geraten. Den Brief des Sohnes, dessen leeren Sarg sie vor fast zehn Jahren viel zu früh zu Grabe hatte tragen müssen und der, wenn man diesem Brief Glauben schenken durfte – wenn sie seinen Worten Glauben schenken durfte –, vielleicht doch noch am Leben war. Mafalda seufzte. »No. Nicht viel«, antwortete sie nach einigem Zögern.

»Was ist denn jetzt mit dem Inhalt des Schließfachs, zu dem er dir den Schlüssel geschickt hat?«, hakte Alma nach.

Mafalda wollte antworten, doch Lucia kam ihr zuvor: »Sie haben sie abgerissen, die Schließfachanlage, als sie den Bahnhof vor ein paar Jahren saniert haben. Und keiner weiß, wohin sie die Inhalte gebracht haben. Nicht die Baufirma in Venedig. Nicht die Bahnverwaltung in Mestre. Schon gar nicht die Zentrale in Rom.«

»So weit war ich auch schon informiert!«, blaffte Alma Lucia an, drehte sich wieder zu Mafalda und legte ihr die rechte Hand zurück auf ihren Unterarm.

»Alles, was in den Schließfächern war, wurde eingelagert«, antwortete Mafalda stockend. »Aber die Firma, die den Bahnhof saniert hat, ist pleitegegangen. Und die, die die Station betreibt, ist an einen neuen Betreiber übergegangen. Eine Vorgabe aus Europa, sagten sie.«

Alma nickte verständnisvoll. Europa als Schuldiger war ein Argument, das jeder Italienerin und jedem Italiener ohne weitere Erklärungen einleuchtete. »Keiner von denen weiß jetzt mehr, wo die Sachen aktuell lagern. Oder ob es sie überhaupt noch gibt«, fuhr Mafalda mit leiser werdender Stimme fort.

»Giuliano hätte ein Bankschließfach nehmen sollen. Da wären die Unterlagen wenigstens sicher gewesen!«, mischte sich Lucia erneut ungefragt ein und stampfte mit dem rechten Fuß recht undamenhaft auf den Boden.

»Machst du Witze?«, bemerkte Alma trocken. »Dann bist du schon lange nicht mehr in einer italienischen Bank gewesen! Ein Teil ist pleite, ein Teil zwangsfusioniert. Der Rest hat im Zweifel die bequem zu erreichende Filiale direkt um die Ecke dichtgemacht, wo man jahrelang problemlos am Ersten seine Rente abholen konnte.« Dann beugte sie sich weiter in Richtung von Lucia vor, deutete mit dem rechten Zeigefinger auf ihr rechtes Auge und sagte: »Inklusive Bankschließfächer!«

Mafalda ignorierte das Gezeter ihrer besten Freundinnen. »Und außerdem – ein Bankschließfach war vermutlich genau das, was er nicht wollte.« Mafalda schaute nach oben, lachte gespielt und ließ die offenen Hände auf ihre Oberschenkel herabfallen. »Wo in Italien bekommt man heute noch ein Bankschließfach, ohne seine kompletten Personalien angeben zu müssen?« sagte sie und fügte leise hinzu: »Und dann wären die Unterlagen auch nicht mehr sicher gewesen vor denen, die hinter ihm her waren. Oder hinter denen er her war.«

Alma nickte. »Trau keiner Bank!«, sagte sie. »Außerdem haben wir das früher immer so gemacht, mit den Schließfächern am Bahnhof. Wenn wir etwas nicht durch halb Venedig tragen wollten, haben wir es dort eingeschlossen. Für fünfhundert Lire Pfand. Auch gerne mal länger. Wir hatten da fast ein festes Schließfach.«

Lucia lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und verschränkte die Arme. »Beh … das dürfte der Grund gewesen sein, weshalb dort fast nie Schließfächer frei waren!«, sagte sie.

»Bei der Baufirma sind die Sachen jedenfalls definitiv nicht.« Mafalda hatte immer noch keine Lust, auf die Kabbeleien der Freundinnen einzugehen. »Die Bahn hat mir bestätigt, dass die ihnen alles übergeben hat, was in den Schließfächern war. Nur wo diese Kartons jetzt lagern, das wissen sie nicht«, sagte sie.

»Noch nicht«, ergänzte Alma.

»Was ist mit denen vom Zeugenschutzprogramm? Dieser Servizio centrale di …«

»… di Protezione«, antwortete Mafalda Lucia. »Die wissen offiziell von nichts und dürften so oder so wahrscheinlich auch keine Auskunft geben.«

»Impossibile!«, empörte sich Lucia. »Er hat doch für die gearbeitet! Da sollten sie dir als Mutter doch wenigstens Auskunft geben müssen!«

»Das war ja auch nicht offiziell«, entgegnete Mafalda.

»Außerdem, wenn Giuliano noch lebt und sie geben keine Auskunft darüber, dann geschieht dies ja auch vor allem zu seinem Schutz! Das sehen die Regeln so vor«, kam Alma Lucias Einwänden zuvor.

»Burocrazia, burocrazia!«, moserte Lucia patzig und stampfte schon wieder mit dem Fuß auf. Sie hatte die Schuldigen schon gefunden. »Einer Mutter, die weiß, dass ihr Sohn für das Zeugenschutzprogramm vorgesehen war, nicht zu sagen, ob ihr Sohn noch lebt … das ist … das ist …« Lucia suchte empört nach Worten.

»Schon reichlich unitalienisch«, sagte Mafalda leise lächelnd, während sie kaum wahrnehmbar nickte.

»Alles wird gut!«, sagte Alma, wohl mehr, um die Gemüter zu beruhigen, als weil sie wirklich daran glaubte. Oder auch einfach nur, weil man so etwas halt sagt, wenn man eine wirklich gute Freundin ist. »Ich bin sicher, die bei der Bahn werden die Unterlagen noch finden.«

»Du solltest wirklich von der Torte essen, nicht nur darin herumstochern!«, ermunterte Lucia Mafalda plötzlich. Die schreckte hoch und schaute erst Lucia und dann Alma an. »Scusate! Die torta ist bestimmt sehr lecker. Es ist nur …«

»Du magst ab sofort nur noch Herzhaftes?«, fragte Lucia scherzhaft lächelnd.

Eine Spur von Lächeln zog über Mafaldas Gesicht. »No!«, sagte sie.

»Du machst jetzt diese Low-Carb-Diät, die schon bei Lucia nicht funktioniert hat?«, hakte Alma nach. Lucias strafender Blick traf sie mit voller Härte.

Mafalda lachte. »Nein, es ist ja nicht so, dass ich abnehmen müsste! Ich sicher nicht.«

»Manch einer kann halt alles in sich hineinschaufeln, bei anderen genügt dafür schon ein Blick auf die Speisekarte und es ist wieder ein Pfund mehr auf der Hüfte«, murrte Lucia, starrte auf den Teller vor ihr und nahm sich mit der Kuchengabel ein weiteres Stück torta.

»Bitte entschuldige! Ich wollte dir die Stimmung nicht verderben. Schließlich ist heute dein Geburtstag, Lucia!«, sagte Mafalda.

»Es ist ja kein runder«, warf Alma leise dazwischen. Aber das hatte Lucia nicht mehr gehört, weil sie schon mit dem Kauen des letzten Happens ihres zweiten Stückes Torta beschäftigt war.

»Ich frage mich nur«, fuhr Mafalda fort, »was jetzt mit meinem Haus wird? Wenn das wirklich verkauft wird?« Sie schaute seufzend auf die Pendellampe über ihrem Tisch, an deren Boden sich mehrere nun tote Fliegen verirrt hatten. »Salvatore und ich haben so viele Jahre in der Wohnung verbracht. Das sind so viele Erinnerungen. An einen Auszug haben wir nie gedacht!«

»Ausziehen musst du auch nicht«, antwortete Lucia lakonisch. »Du bist unkündbar. Das sagte ich dir doch schon.«

»Darum geht es nicht«, wandte Mafalda ein. »Wenn sie nun das Haus umbauen oder renovieren wollen?«

»Du hast doch selbst gesagt, dass das Dach undicht und der Boiler kaputt sei. Eine Sanierung ist dann doch das Beste, was dir passieren kann?«, fragte Lucia zurück.

Mafalda suchte nach Worten. »Ein bisschen … okay. Aber nicht unbedingt das volle Programm. Und wenn die jetzt das Haus kaufen, dann werden die doch etwas anderes damit vorhaben, als die vierhunderttausend Lire Miete von mir einzustreichen?«

Lucia zuckte mit den Schultern. »Da, wo sie die Mieter rauskriegen, werden sie Ferienwohnungen draus machen, denke ich.« Alma trat unter dem Tisch mit ihrem linken Fuß an Lucias rechtes Bein.

»Uffa!«, schrie die und echauffierte sich: »Jeder macht das so! Ich habe neulich die Jalousie in meinem Schlafzimmer hochgezogen, und da lächelte mich eine mir komplett unbekannte vierköpfige Familie aus dem Fenster quer über die Gasse an. Ich konnte es erst gar nicht glauben, habe geblinzelt, aber sie waren immer noch da. Dann bin ich aus dem Zimmer gegangen, zurückgekommen, und da hat mir deren eine Tochter quer über die Gasse zugewunken, die andere hat ein Selfie mit mir durch das Fenster gemacht.« Lucia seufzte. »Die alte Signora Rossini haben sie ins Heim abgeschoben, und eine Woche später waren die ersten Feriengäste da, sagt meine Nachbarin.«

»Fragt sich, wer sich mehr erschrocken hat. Du über den Anblick der Feriengäste oder die sich über deinen Anblick, unfrisiert und ohne Make-up?«, kommentierte Alma von der Seite, nahm ihr Wasserglas, welches sie in einem Zug leerte.

Mafalda kicherte. »Im Reiseprospekt stand bestimmt ›Erleben Sie Murano, wie es wirklich ist!‹. Das dürfte ihnen gelungen sein.« Dann wurde sie wieder nachdenklicher. »Vielleicht mache ich mir ja wirklich zu viele Gedanken!«, sagte sie schnell, auch um die Wogen zu glätten und Lucia von einem noch bissigeren Kommentar auf Almas garstige Bemerkung abzuhalten. Denn der hatte Lucia schon auf den Lippen gelegen.

Doch jetzt schaute sie wieder zu Mafalda und sagte: »Meine Rede! Du bist unkündbar. Dich kriegen sie da nicht raus, bis du …« Sie suchte nach einer Formulierung, fand aber keine passende, daher ließ sie den Satz unbeendet.

Mafalda nickte. »Mille grazie! So genau wollte ich es gar nicht wissen.«

3

Das tiefe Brummen des Türsummers ließ Mafalda aus dem Tiefschlaf hochschrecken. Müde blinzelte sie durch ihr stockfinsteres Schlafzimmer. Sie suchte mehrfach vergeblich den Lichtschalter der Nachttischlampe, bis sie ihn endlich fand. Dann setzte sie sich langsam auf und schaute orientierungslos herum, bis der Türsummer erneut brummte, diesmal zweimal.

»Ich komme!«, rief sie laut in Richtung Flur. Sie schlüpfte in ihre Pantoffeln, stand auf, zog den Morgenmantel über, der über der Lehne des weißen Stuhls an der Wand neben ihrem Bett bereit lag, und schlurfte mit den Filzschuhen über den eiskalten Terrazzoboden vom Schlafzimmer in den Flur zur Wohnungstür.

»Ich komme schon!«, rief sie mürrisch der schon zum dritten Mal brummenden Türglocke entgegen. Oder war es schon das vierte Mal? Wer um Himmels willen würde sie zu dieser nachtschlafenden Zeit so dringend sehen wollen? Sie fingerte mit eiskalten Händen an der Türkette herum, die ihr Pietro als Schutz vor zudringlichen Besuchern eingebaut hatte. Doch die Kette wollte und wollte nicht in das Schloss im Türrahmen passen.

Es klingelte ein weiteres Mal. Mafalda ließ die Türkette mit einem entnervten Knurren fallen, drehte den Schlüssel zweimal im Schloss herum, ergriff dann die Türklinke und öffnete die Wohnungstür. Erst vorsichtig, einen Spalt weit, dann schließlich ganz. Mit weit aufgerissenen Augen stand sie in der Tür und hielt sich die rechte Hand vor den vor Erstaunen geöffneten Mund. Sie starrte ihren nächtlichen Besucher ungläubig an, der im kalten Flackerlicht der Energiesparlampe im Treppenhaus stand.

Es war niemand anderes als ihr Sohn Giuliano. War er es wirklich? Hatte sie den Brief richtig verstanden?

Zeugenschutzprogramm oder nicht – der Mann, der da vor ihr stand, war ihr Sohn Giuliano, älter zwar, mit ein paar mehr Falten um die Augen und ein paar grauen Strähnen rund um die Schläfen. Aber das war er, Giuliano, ihr Sohn, von dem sie sich nie hatte verabschieden können. Der von einem Tag auf den anderen aus ihrem Leben verschwunden war und von dem nur ein kalter und zudem leerer Sarg aus Rom zurückgekehrt war, zwischen dem und ihrem einzigen Sohn sie niemals eine Verbindung zu ziehen im Stande gewesen war.

Keinen Tag der vergangenen neun Jahre hatte sie ihren Frieden damit machen können. Als Mafaldas Mann Salvatore starb, vor zwanzig Jahren schon, da war das viel zu früh gewesen – aus ihrer Sicht sowieso. Aber so etwas passierte. Es gehörte zum Leben, zu ihrem in jedem Fall, zu seinem nicht mehr. Sie rappelte sich auf. Sie richtete sich ein. Sie lebte ihr Leben weiter. Ein neuer Abschnitt begann. Kein Tag davon freilich verging, an dem sie nicht mindestens einmal Zwiesprache mit Salvatore hielt. Doch dann auch der Sohn? Das war zu früh. Das war gegen die Ordnung! Das hatte sie nie verwunden. Auch wenn sie sich das öffentlich nicht anmerken ließ.

Mafalda hatte damals ihren fast volljährigen Enkel Pietro bei sich aufgenommen. Sie hatte ihm ein Heim gegeben, ihm den verlorenen Vater und die schon lange verschwundene Mutter ersetzt. Sie hatte funktioniert, weil das so von ihr erwartet wurde. Sie hatte für Pietro gesorgt, ohne sich den inneren Schmerz anmerken zu lassen, weil das für sie selbstverständlich war. Weil er das einzige Familienmitglied war, das ihr jetzt noch geblieben war.

Doch wenn sie ihrer Kirche Santi Maria e Donato wie jeden Tag einen Besuch abstattete, dann ertappte sie sich immer häufiger dabei, wie sie einen wütenden Blick in Richtung Altar warf. Nicht lange, nur für einen Moment, bevor sie wieder Haltung annahm und sich für den Gedanken tadelte. Nicht dass sie ihrem Beichtvater Padre Osman jemals von diesen Gedanken berichtet hatte. Oder irgendjemandem sonst. Das waren Gedanken und Gefühle, die sie sich nicht einmal selbst einzugestehen bereit war. Stundenlang konnte sie am Grab ihres Mannes auf der Friedhofsinsel San Michele sitzen und mit ihm plauschen. Doch für Giuliano, der im Ehrengrab seiner Carabinieri mit dem wuchtigen Grabstein aus weißem Marmor nur wenige Meter entfernt im sonnigen Südteil der Friedhofsinsel lag, hatte sie nie mehr als einen traurigen Blick und ein paar leise Tränen übriggehabt, wenn sie Woche für Woche seinen Strauß Blumen gegen einen neuen ausgetauscht hatte.

All diese Gedanken schossen Mafalda durch den Kopf, als sie Giuliano jetzt gänzlich unerwartet vor sich stehen sah. Das mochte nur der Bruchteil von Sekunden gewesen sein, aber ihr kam es vor wie eine Ewigkeit. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie nahm die rechte Hand vom offenen Mund und bewegte sie in Giulianos Richtung, teils um ihn zu grüßen, teils um ihn vorsichtig zu berühren. Auf dem Weg zu ihm holte sie aus, wollte ihm eine Ohrfeige verpassen, doch mehr als ein zärtlicher Klaps wurde es nicht. Sie öffnete beide Arme, ging auf ihn zu, wollte ihn endlich wieder umarmen … und griff ins Leere.

Traurig schaute sie an die weiß getünchte Decke ihres Schlafzimmers. Es war der gleiche Traum, den sie seit drei Wochen jede Nacht gehabt hatte.

Mafalda schaltete das Licht ein. Sie nahm die große, runde Lesebrille vom Nachttisch und griff nach Giulianos Brief, der in den letzten Wochen auf ihrem Nachttisch gelegen hatte. Wenigstens der Brief war kein Traum gewesen! Wieder und wieder hatte sie seine letzten Zeilen gelesen:

Ich möchte am liebsten hier immer weiterschreiben, damit nicht der Satz, den ich gerade geschrieben habe, der letzte ist, den du von mir zu lesen bekommst. Aber ich muss jetzt aufhören. Es geht nicht anders. Sosehr ich es mir auch anders wünschen würde.

4

An diesem Aprilmontag war es ein bisschen, als wäre der Winter noch einmal zurückgekehrt. Nicht dass es geschneit hätte, das wäre für Venedig Anfang April doch ein wenig zu viel des Guten gewesen. Aber seit gestern Abend hatte kalt über die Landschaft peitschender Wind der nassgrauen Lagune immer neue Schauer gebracht.

Das regnerische Wetter dieses Morgens passte gut zu Mafaldas Stimmung. Schlafstörungen kannte sie seit Jahren. Doch waren diese noch nie so intensiv gewesen wie jetzt, wo sie beinahe Nacht für Nacht von der beinahe zehn Jahre lang für unmöglich gehaltenen Rückkehr ihres totgeglaubten Sohns Giuliano geträumt hatte und dann doch traurig und allein wieder aufgewacht war. Dass das nicht so weitergehen konnte, das wusste sie selbst nur zu gut. Es war Zeit, etwas zu unternehmen, damit sie wieder zur Ruhe kommen konnte.

Der feine Nieselregen hatte mittlerweile eine Pause eingelegt. Über der Lagune konnte man nun auch wieder mehr als nur die vagen Umrisse der benachbarten Inseln und der Altstadt von Venedig sehen. Als sich wenig später die Trauergemeinschaft langsamen Schrittes hinter Padre Osman ihren Weg über die Friedhofsinsel San Michele bahnte, mussten die Trauernden und die Sargträger der einen oder anderen Pfütze ausweichen.

Für jemanden, mit dem schon so lange niemand mehr Kontakt gehabt hatte, war die Trauergemeinde überraschend groß. Alma und Lucia liefen, Mafalda in ihrer Mitte untergehakt, hinter Padre Osman und dem Sarg hinterher. Lucia hatte den Kragen ihres schwarzen Mantels hoch nach oben gezogen. Sie hielt in ihrer rechten Hand immer noch den Schirm fest, als Zeichen, dass dem plötzlich aufgeklarten Himmel nicht zu trauen sei. Alma tätschelte mit ihrer Linken Mafaldas Unterarm und murmelte unverständliche Worte.

Mafalda schaute teilnahmslos auf den Sarg vor ihr und blickte im Vorbeigehen traurig zur Grabstelle ihres seligen Salvatore. Zu oft war sie diesen Weg schon gegangen, kannte die Rituale nur allzu gut. Zu gerne hätte sie sich diesem Gang entzogen. Doch Sitte und Tradition verlangten nach ihrer Anwesenheit, so wie sich wohl nur wenige andere der alteingesessenen muranesi erlaubt hätten, einer Beisetzung von Inselbewohnern fernzubleiben.

Am Grab angekommen, das bis jetzt nicht viel mehr als ein rechteckiges Loch in der durchfeuchteten Erde war, sagte Padre Osman ein paar salbungsvolle Worte, die Mafaldas Ohr nicht erreichten. Ein Trauernder nach dem anderen trat an den Sarg heran und ließ von einer Schippe etwas Erde auf den Sarg herabrieseln.

»Mein Beileid zu Ihrem Verlust!«, sagte Padre Osman zu Mafalda. Er nahm ihre rechte Hand zwischen seine beiden Hände. Mafalda nickte stumm, nahm widerstrebend auch eine Schippe Erde und ließ sie hastig auf das Grab hinabrieseln. Sie hatte schon von Kindesbeinen an eine Abneigung gegen Beerdigungen gehabt. Aber dieses Ritual hatte ihr immer am meisten missfallen.

Langsam entfernte sie sich von dem feuchten Loch, in das man den Sarg versenkt hatte, Lucia und Alma immer im Schlepptau. Erst als sie außer Hörweite war, drehte sie sich um und zischte ihnen leise den Padre nachahmend zu: »Mein Beileid zu Ihrem Verlust! Mein Beileid zu Ihrem Verlust! Sie war meine Vermieterin und nicht meine Tante! Alles, was ich die letzten zwanzig Jahre von ihr mitbekommen habe, waren die monatlichen Überweisungen auf ihr Konto. Außerdem war sie siebenundneunzig, und es kam weiß Gott nicht unerwartet!«

»Aber du weißt doch, dass sie schon lange das Haus nicht mehr verlassen konnte«, sagte Alma.

Mafalda legte den Kopf leicht zur Seite und sagte unter Almas tadelndem Blick: »Was mir ganz recht war, denn schon vorher habe ich den Kontakt mit ihr immer auf ein Minimum beschränkt. Sie war schon eine gierige Alte, als Salvatore und ich die Wohnung angemietet haben.«

»Ich hatte ohnehin gedacht, dass du die Eigentümerin des Hauses wärst, bis du mir neulich von ihr erzählt hast«, sagte Lucia schulterzuckend.

»Wir können nicht alle mit unendlichem Reichtum gesegnet sein!«, knurrte ihr Mafalda zu.

Lucia wollte protestieren. Doch mehr als »Nun, so viel ist es auch n…« brachte sie nicht heraus.

»Demnach waren wir jetzt alle bei bis eben strömendem Regen auf der Beerdigung einer Frau, die keine von uns gut kannte oder mochte und die keine von uns in den letzten zwanzig Jahren zu Gesicht bekommen hat?«, fragte Alma etwas konsterniert in die Runde, blies die Wangen auf und atmete dann schnell aus.

»Das gehört sich ja wohl so«, antwortete Lucia leicht ungehalten.

»Was kratzt du dir denn ständig am Handgelenk herum?«, fragte Mafalda entnervt Alma.

»Das muss dieses Armband gewesen sein, das uns Lucias Damenausstatter aus der Strada Nova nach dem Einkaufen letzte Woche geschenkt hat. Ich hatte am Tag danach schon dieses Jucken, daraufhin habe ich das Kettchen dann abgenommen. Heute früh habe ich es wieder angelegt, und jetzt juckt es wieder.«

Der für Mafaldas Geschmack eine Spur zu joviale Ladeninhaber hatte als krönenden Abschluss und nach reiflicher Begutachtung von Lucias prall gefüllten Einkaufstüten den drei Freundinnen kleine Kettchen mit Glasperlen um die Handgelenke gebunden. »Ein Geschenk«, hatte er gesagt. »Aus Murano für Murano.« Dabei hatte er beinahe feierlich in die Runde geschaut.

Gleich nachdem er gegangen war, hatte Mafalda ihres wieder abgenommen, weil es ihr überhaupt nicht gefallen hatte und weil sie die Geste viel zu aufdringlich fand.

»Oh, das hatte ich Freitag auch, nachdem ich zum vaporetto gerannt bin!«, sagte Lucia. Alma und Mafalda schauten sich irritiert an, weil keine der beiden sich Lucia rennend vorstellen konnte. Die strich mit dem Finger über ihr Handgelenk. »Die Farbe war abgegangen und hatte mir die Haut eingefärbt. Danach hat es ganz fürchterlich gejuckt«, sagte sie und rieb über ihren Unterarm. »Ich habe eine teure Creme draufgemacht, dann war es wieder in Ordnung. Ich gebe dir nachher was von der Salbe!«

Mafalda musterte den roten Ring, der einmal um Almas rechtes Handgelenk herumging. »Wenn es die Haut dermaßen reizt, dann war das Kettchen bestimmt nicht aus Murano!« Alma sah sie erschrocken an. »Das und so einiges anderes«, sagte Mafalda leiser und musste an den Kronleuchter im Speisesaal in Jesolo denken. Einige Augenblicke später brummelte sie: »Also ich hätte gut und gerne darauf verzichten können!«

»Auf das Armband?«, fragte Lucia irritiert zurück.

»Nein, auf die Beisetzung heute. Aber ich wollte sehen, wer mein Haus jetzt erbt.«

»Weiß man denn noch nicht, wer die Erben sind?«, fragte Alma.

»Pietro hat nur einen Großneffen und eine Nichte ausfindig gemacht. Er wohnt in Mailand, sie nördlich von Neapel. Die beiden haben es beide offenbar nicht für nötig gehalten, heute hier vorbeizuschauen!«, antwortete Mafalda und schaute verärgert auf den kärglichen Rest der Trauergemeinde. »Denn wir zählten heute offenbar schon zu den engsten Freunden und Angehörigen.«

»Erben die Nichte und der Großneffe dann trotzdem?«, fragte Alma etwas naiv.

»Es hat gerade keine Anwesenheitskontrolle stattgefunden, denke ich«, schnaubte Mafalda sie an. »Die Testamentseröffnung werden die sich vermutlich nicht entgehen lassen. So eine gut in Schuss gehaltene Immobilie in zentraler Lage auf Murano ist mittlerweile ein kleines Vermögen wert«, sagte Lucia und starrte ins Leere, während sich vor ihrem inneren Auge Zahlenkolonnen auf und ab bewegten.

Mafalda zog die Augenbrauen hoch. »Gut in Schuss?«, fragte sie in Lucias Richtung. »Ich muss mit dir wohl mal eine Tour über den Dachboden machen? Einen Slalom um die vielen Eimer, die dort das Regenwasser auffangen sollen!«

Alma nickte. »Bei Maria im Erdgeschoss sind die Wände auch ganz feucht. Da müsste dringend mal was gemacht werden.«

»Beh … dann eben nur Immobilie in zentraler Lage!«, antwortete Lucia patzig. »Immer noch ein Filetstück! Da kann man eine Menge draus machen.«

»Du vergisst wohl, dass ich da noch wohne! Und da auch gerne noch eine Weile bleiben würde!«, knurrte Mafalda ihr zu.

»Sì sì, das meine ich doch nicht!«, antwortete Lucia abwehrend. Sie schüttelte die immer noch auf ihrem Schirm verbliebenen Regentropfen ins Gebüsch.

»Lasst uns schnell zum Anleger gehen und das vaporetto zurück nach Murano nehmen«, drängte sich Alma beschwichtigend dazwischen. Sie wusste aus Erfahrung nur zu gut, wie lange sich die feinen Kabbeleien zwischen ihren beiden Freundinnen hinziehen konnten, und war angesichts des regnerischen Wetters nicht gewillt, irgendetwas zu riskieren und so lange auszuharren. »Ich würde mich gerne bei Emilia in der Bar Il Sole etwas aufwärmen!«

»Caffè klingt sehr gut! Mit einem Schuss Grappa dazu!«, antwortete Lucia, dann klemmte sie sich beherzt ihren Schirm unter den Arm und ging schnellen Schrittes voran in Richtung des Ausgangs und der Haltestelle am Rande der Insel.

5

Nach dem caffè bei Emilia hatte Mafalda Alma noch nach Hause begleitet und dann den kleinen Umweg bis fast ganz ans Ende des Fondamenta Lorenzo Radi auf sich genommen. Sie wollte die neu eröffnete Glasmanufaktur in Augenschein nehmen, von der Pietro ihr berichtet hatte. Den Weg in den hintersten Winkel der Insel war sie schon oft gegangen, wenn sie Alma besucht hatte. Bis ganz nach hinten, wo sich der schmale Kanal mit den schmächtigen, zweigeschossigen Häuschen an beiden Seiten zur Lagune hin öffnete und man umkehren musste, weil kein anderer Weg zurückführte. Für die paar Extraschritte, die ihr die Dottoressa verordnet hatte, war der Weg allemal gut. Begegnete sie doch in dieser einsamen Gegend nur ganz selten jemandem, sodass sie ungestört und ohne Pause laufen konnte. Natürlich nicht, ohne am Ende der Sackgasse kurz innezuhalten, tief durchzuatmen und den Blick über die Inselwelt der Lagune vom schiefen Kirchturm auf Burano bis nach Certosa und den wuchtigen Gebäuden auf dem Lido schweifen zu lassen. Doch heute ging es nicht um ihre Gesundheit, und einsam war es entlang des Kanalufers auch nicht. Ob die Glasbläserei nun wirklich eröffnet war oder nicht, war noch nicht klar. Doch das hatte ein Grüppchen Einwohner von Murano nicht davon abgehalten, in diese abgelegene Ecke der Insel zu flanieren. Jedenfalls war es eine auffällig große Menschentraube, die die langgestreckte Sackgasse am rechten Kanalufer nach hinten gelaufen war und sich die Nase an den Schaufenstern des Showrooms plattdrückte. Die Schaufenster waren heute Morgen erst enthüllt worden. So viel hatte Mafalda schon vorab erfahren. Sie konnte die Menschenansammlung vor ihnen bereits aus einiger Entfernung sehen.

Als sie näher kam, sah sie zwar Lichter in den blank geputzten Schaufenstern. Die Eingangstür in der Mitte des Gebäudes war aber mit einer Kette verschlossen. Weder neben der Tür noch an der Fassade zeugte ein neues Firmenschild von bald aufzunehmenden geschäftlichen Aktivitäten. Für eine Besichtigung war sie wohl zu früh dran, so wie die anderen Inselbewohner auch. Und ob in den Schaufenstern überhaupt schon Exponate standen, konnte sie zunächst nicht sehen – so eng standen die Menschen beisammen. Schritt für Schritt bahnte sie sich ihren Weg nach vorn, ihre Handtasche vorweg, um sich den Weg frei zu machen.

Was sie hinter der blitzblanken Glasscheibe des rechten der drei Fenster sah, ließ ihr den Atem stocken: Ein sechzehnflammiger Glaslüster hing da auf Augenhöhe, reichlich bestückt mit bunten Blütenblättern, in den typisch kräftigen Muranoglasfarben. Am Ende eines jeden Armes leuchtete eine echt anmutende Kerze, die sanft vor sich hin flackerte. Nur echt anmutend vermutlich, denn niemand würde wohl echte Kerzen in einem Schaufenster vor einem naturfarbenen Leinenvorhang anzünden. Aber doch wunderschön, so fragil und majestätisch zugleich, dass Mafalda ihn am liebsten gleich eingepackt hätte, wären die Zimmerdecken in ihrer Wohnung nur etwas höher als knapp zwei Meter gewesen. Vier Meter würden dafür nötig sein oder sogar mehr. Etwas Schöneres aus Glas hatte sie hier auf der Insel noch nie gesehen.

»Ein Meisterstück«, sagte ein junger Mann mit schütterem Haar direkt neben ihr. Er war in fleckige Arbeitskluft gekleidet und gut einen Kopf größer als sie. Sie hatte ihn nicht kommen sehen. Wie aus dem Nichts war er erschienen. Der Mann musste ihr Erstaunen bemerkt haben. Mafalda schaute ihn an, blickte dann zum Leuchter zurück.

»Ein Meisterstück«, wiederholte sie seine Worte. Er nickte dabei säuerlich. Sie blickte fragend zu ihm hinauf und konnte sich keinen Reim darauf machen, wie jemand den Lüster so loben, jedoch dabei so missmutig dreinschauen konnte. Er nickte nochmals, deutete auf den Leuchter und sagte dann: »Mein Meisterstück.«

Nun verstand Mafalda gar nichts mehr. »Signora«, sagte er, »dieser Lüster zählt zu dem Schönsten aus Muranoglas, was auch ich je gesehen habe.« Er machte eine dramatische Pause, blies die Wangen auf und ließ die Luft dann lautstark entweichen. Dann zeigte er auf den gepflasterten Boden vor ihnen. »Aber ich kann Ihnen versichern, dass dieses schöne Stück nicht hier in dieser Manufaktur hergestellt wurde. Weil ich es hergestellt habe. In meiner Werkstatt.«

Mafalda starrte ungläubig zwischen dem Leuchter und dem Mann hin und her.

»Scusi, ich habe mich gar nicht vorgestellt«, sagte der Mann und deutete eine Verbeugung an. »Ettore Casarotti aus der Calle San Cipriano. Ich arbeite als Glasbläser bei Righetti vorn auf der Insel. Und dieses Stück«, er zeigte auf das Schaufenster, »sollte eigentlich mein Meisterstück werden und in unserer Auslage hängen. Aber dann wurde es plötzlich verkauft. Abends war es noch da, doch am nächsten Morgen war es schon verschwunden. Mein padrone wollte mir nichts dazu erklären. Aber ich habe die wild blinkenden Eurozeichen in seinen Augen gesehen!«

Nun verstand Mafalda schon etwas mehr. Sie suchte an und unter dem Leuchter nach einem kleinen Schild, das einen Hinweis auf den Handwerksmeister geben könnte, der den Lüster geschaffen hatte. »Ist es nicht normalerweise üblich …«, fragte sie und deutete auf das Fenster, ohne ihre Frage jedoch zu beenden.

»… sich nicht mit fremden Federn zu schmücken?«, vollendete Ettore grimmig lächelnd ihre Frage und nickte.

Mafalda fühlte, wie sich ihr Mund wieder öffnete. Sie brauchte einen Moment, um sich zu sammeln. »Scusi«, sagte sie. »Bitte entschuldigen Sie, ich habe mich gar nicht vorgestellt. Ich bin …«

»… Signora Mafalda Cinquetti«, sagte Ettore freundlich lächelnd. »Man kennt Sie auf Murano«, fügte er etwas mysteriös hinzu und reichte ihr die Hand.

Mafalda schüttelte seine Rechte und schaute ihn dabei reichlich erstaunt an. Man kannte sie, wunderte sie sich. Woher? Wieso? Nun war es gewiss nicht so, dass sie zurückgezogen lebte und Kontakten aus dem Weg ging. Doch dass dieser ihr bis eben wildfremde junge Mann sie kannte und nebenbei zur Inselgröße erklärt hatte, wunderte sie schon sehr.

Sie musterte ihn neugierig von oben bis unten. Dieser Ettore Casa… – sie versuchte, sich an seinen Namen zu erinnern. Dieser Ettore Casarotti schaute sie mit wachen hellgrünen Augen aus einem von der Sonne oder von den Glasbläseröfen gegerbten Gesicht an. Er mochte keine vierzig sein, aber die früh gekommenen Falten und sein kurzes mittelbraunes Haar mit den hohen Geheimratsecken machten ihn älter. Älter jedenfalls als seine immer noch voll jugendlicher Neugier, gepaart mit einer Prise Zorn, funkelnden Augen. Sie erinnerten Mafalda ein wenig an ihren Salvatore, wenn sie sich gestritten hatten. Was freilich nie lange angehalten hatte – deswegen hatte sie es ja in so guter Erinnerung.

»Woher wissen Sie …«, fing Mafalda an zu fragen und deutete wieder auf die Auslage im Schaufenster.

»… dass der Leuchter hier hängt?«, fragte er zurück und redete weiter, ohne auf ihre Antwort zu warten. »Bis gestern waren die Schaufenster noch mit Packpapier verklebt. Niemand konnte sehen, was sich im Inneren verbirgt. Ein Freund hat es mir heute Morgen gesagt. Er ist mit meiner Arbeit vertraut, daher hat er sie sofort erkannt. Ich bin gleich hierhergekommen. Ich konnte es erst nicht glauben, als ich den Leuchter hier wirklich im Schaufenster gesehen habe. Ich habe geklingelt, geklopft, immer wieder. Aber niemand hat die Tür geöffnet. Dabei habe ich ganz deutlich Schatten hinter den Leinenvorhängen gesehen, die sich bewegt haben.«

Mafalda nickte und schaute auf die verschlossene Eingangstür. »Ist das nicht …« Sie stockte und musste erst ihre Gedanken sortieren. »Ist das nicht ein Fall für die Polizei?«, fuhr sie fort. Den Hinweis auf ihren Enkel, den Carabiniere, unterließ sie. Für den Moment jedenfalls.

Ettore schüttelte den Kopf. »Es ist üblich, den Meister zu nennen, der ein Stück in dieser Größe geschaffen hat. Aber es ist nicht verboten, es nicht zu tun.«

»Und Ihr Chef?«, fragte Mafalda. »Ihr padrone?«

»Der ist keine Hilfe«, sagte Ettore missmutig.

»Ach ja, das sagten Sie ja schon«, antwortete Mafalda. Sie war immer noch ein wenig von den Gedanken abgelenkt, woher Ettore sie kennen könnte.

»Mit dem Leuchter wollten wir eigentlich den Ruf unserer Manufaktur ein wenig aufpolieren«, sagte er und ballte die Fäuste in den Taschen seines Blaumanns zusammen. »Sogar im Museo del Vetro sollte er für einige Wochen ausgestellt werden. In einer Sonderausstellung. Um zu zeigen, dass wir uns von der Billigkonkurrenz durchaus abheben können.«

»Billigkonkurrenz?«, fragte Mafalda zurück.

Ettore winkte ab. »Ach kommen Sie«, entfuhr es ihm. »Drüben in Venedig wird mehr einfaches Glas als Muranoglas verkauft, als auf unserer kleinen Insel überhaupt hergestellt werden kann. Das ist doch nun wahrlich kein Geheimnis.«

Mafalda dachte nach. Der plump gefälschte Leuchter in Jesolo, die Handkette aus der Strada Nova, die abfärbte und die Haut reizte. Das waren für sie alles Einzelereignisse gewesen. Ärgerliche Begebenheiten, aber doch voneinander isolierte Geschehnisse. Einen größeren Zusammenhang hatte sie dahinter bisher nicht vermutet. Wenn die Leute von der Welle gefälschter Billigkopien gesprochen hatten, hatte sie das zwar immer wahrgenommen, aber nie die Verbindung ins benachbarte Venedig und schon gar nicht in ihr Murano hergestellt. Vielleicht ein Fehler, wenn sie Ettore so reden hörte. »Ist es denn wirklich so viel?«, fragte sie zögerlich.

»Es wird immer mehr«, antwortete er verbittert. »Selbst die Herkunftsaufkleber mit den Hologrammen, von denen sie uns gesagt haben, sie wären fälschungssicher, werden mittlerweile reihenweise kopiert.« Er deutete mit dem Arm in Richtung Venedig. »Gehen Sie doch mal in so einen Souvenirshop drüben bei San Marco oder Rialto. Da finden Sie fast keine Originale mehr. Keine echten zumindest. In den Outlets an der Autobahn oder online ist es nicht besser. Und die Touristen stört es nicht. Die kaufen alles.«



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