Mafalda Cinquetti und die Dame mit Hund - Bastian Richter - E-Book
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Mafalda Cinquetti und die Dame mit Hund E-Book

Bastian Richter

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Beschreibung

Murano, zerstörte Gemälde und drei Rentnerinnen auf Verbrecherjagd

Polizistenwitwe Mafalda Cinquetti lebt auf der venezianischen Laguneninsel Murano ein beschauliches Leben, bis auf die weltberühmte Peggy-Guggenheim-Collection in Venedig ein Anschlag verübt wird. Dabei ist es nicht so sehr die Zerstörung der Kunstwerke, die Mafalda in Aufruhr versetzt, sondern die schnelle Verhaftung des Rumtreibers Beppe. Mafalda kennt Beppe, und ja, manchmal findet sie ihn anstrengend oder nervig. Aber Mafalda weiß, dass er zu dieser Tat nie fähig wäre. Also beschließt sie, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Zusammen mit ihren beiden besten Freundinnen macht Mafalda sich daran, den wahren Täter zu finden - nicht ahnend, dass sie sich dabei in Lebensgefahr begibt ...

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Seitenzahl: 454

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber den AutorTitelImpressum123456789101112131415161718192021222324252627282930EpilogMafaldas KüchengeheimnisseMafalda schreibt selbst – Berichte aus Murano

Über dieses Buch

Murano, zerstörte Gemälde und drei Rentnerinnen auf Verbrecherjagd

Polizistenwitwe Mafalda Cinquetti lebt auf der venezianischen Laguneninsel Murano ein beschauliches Leben, bis auf die weltberühmte Peggy-Guggenheim-Collection in Venedig ein Anschlag verübt wird. Dabei ist es nicht so sehr die Zerstörung der Kunstwerke, die Mafalda in Aufruhr versetzt, sondern die schnelle Verhaftung des Rumtreibers Beppe. Mafalda kennt Beppe, und ja, manchmal findet sie ihn anstrengend oder nervig. Aber Mafalda weiß, dass er zu dieser Tat nie fähig wäre. Also beschließt sie, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Zusammen mit ihren beiden besten Freundinnen macht Mafalda sich daran, den wahren Täter zu finden – nicht ahnend, dass sie sich dabei in Lebensgefahr begibt …

Über den Autor

Nach Stationen in Leipzig und Marburg, langen Jahren in Berlin und einem Abstecher in die Schweiz hat Bastian Richter jetzt im niederländischen Friesland seine Heimat gefunden, wo er mittlerweile neun Bücher verfasst hat, daneben eine alte Bäckerei saniert und mit seinem betagten Binnenschiff die lokalen Gewässer durchkreuzt. Immer wieder zieht es ihn nach Italien, wo die venezianische Hobbyermittlerin Mafalda Cinquetti in sein Leben trat.

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Die Handlung und alle handelnden Personen sind frei erfunden.

Jegliche Ähnlichkeit mit lebenden oder realen Personen ist rein zufällig.

Originalausgabe

Der Autor wird vertreten durch die Autoren- und Projektagentur Gerd F. Rumler, München.

Copyright © 2023 by Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln

Textredaktion: Dr. Ulrike Brandt-Schwarze, Bonn

Umschlaggestaltung: © SO YEAH Design, Gabi Braun unter Verwendung von Illustrationen von © shutterstock.com: Tarasova Mariya | Anna_Pustynnikova | Sira Anamwong

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-4250-4

luebbe.de

lesejury.de

1

Mafalda Cinquetti öffnete die rostige kleine Blechdose, in der sie die Krümel vom Brotschneiden mitgenommen hatte, bückte sich ein wenig und streute die feinen Brösel auf den Steinboden am Rande des Campo San Bernardo, wo die anscheinend immer hungrigen Tauben sich gierig darauf stürzten. Dies alles geschah direkt unter dem Tauben bitte nicht füttern-Schild, das die Verwaltung zu Mafaldas großem Ärger im vorletzten Sommer hier hatte anbringen lassen.

Sie schaute sich misstrauisch um, nicht dass sie hier jemand auf frischer Tat ertappen würde. Aber die Chancen dafür waren gering: Auf den kleinen, von dunkelrot und hellgelb gestrichenen Häusern gesäumten campo auf der Venedig vorgelagerten Insel Murano verirrte sich kaum ein Tourist. Wenige Meter entfernt, an der quirligen Vaporettohaltestelle Murano Museo, hörte man fast nur Englisch und Chinesisch. Hier dagegen, eine Gasse weiter – es war eines dieser venezianischen Mysterien – gehörte der kleine Platz allein den Einheimischen. Und die hatten um diese Tageszeit um kurz nach zehn Uhr morgens anderes zu tun, gingen ihrer Arbeit auf dem Festland nach oder waren einkaufen in den Großmärkten von Mestre.

»Buon appetito, miei amici!«, sagte Mafalda zu den Tauben, steckte verstohlen die nun leere Brotkrümeldose in ihre Handtasche und schaute vergnügt auf die fressenden Vögel, die für sie wie Freunde waren. Fast hatte sie das Gefühl, sie schmatzen zu hören.

Sie schaute sich um und atmete tief ein. Der heutige 1. März war der erste richtige Frühlingstag des Jahres. An den Bäumen auf dem campo schickten sich die ersten Blättchen der neuen Saison an, zu üppigem Grün heranzuwachsen. Der Himmel war makellos blau, und die Sonne trieb das Thermometer schon früh am Vormittag in Richtung der 20-Grad-Marke, wie Mafalda unter ihrem für die Jahreszeit etwas zu dicken wattierten Mantel feststellen musste.

Der lange Winter hatte auch bei Mafalda seine Spuren hinterlassen. Wobei Winter in Venedig bedeutete, dass es monatelang neblig war. Die Feuchtigkeit drang durch alle Fensterritzen in die alten Gemäuer der Wohnungen, und keine Heizung der Welt konnte sie komplett daraus vertreiben.

Mafaldas Ischias konnte ein Lied davon singen! Sie streckte sich vorsichtig, hielt dann inne und legte ihre Hand auf das schmerzende Kreuz. Ihre Ärztin hatte ihr einen Umzug in den Süden empfohlen. Für Menschen ihres Alters sei das Winterklima dort zuträglicher als im immerfeuchten Venedig. Was ein sehr eigenartiger Vorschlag war von einer Frau, die vor Jahren selbst nach Murano gezogen war, das für sie damals der Inbegriff des »Südens« war. Carola Albini, als Carola Svensson in Schweden geboren, war aus Liebe zu einem Mann nach Murano gezogen, dann aus Liebe zu Murano geblieben.

Für Mafalda, die Murano noch niemals in ihrem Leben für längere Zeit verlassen hatte und auch nicht vorhatte, dies jemals zu tun, war dieser Vorschlag völlig indiskutabel.

Einmal allerdings hatte sie Murano verlassen – im mütterlichen Bauch. Ihre Mutter Angela war mit dem Zug zu ihrem Mann Giuseppe nach Padua gereist, der dort seit einer Woche an einer Fortbildung für höhere Polizeibeamte teilnahm. Aus Sehnsucht hatte sie ihn besucht, doch es war die Sehnsucht der kleinen Mafalda, endlich auf die Welt zu kommen, die sie zu einer frühen Geburt in die Entbindungsstation des Krankenhauses der Università di Padova geführt hatte.

Diesem Umstand verdankte Mafalda den unaussprechlichen Makel einer nicht-venezianischen Geburt, der sie, hätten Nachbarn und Freunde davon erfahren, auch so viele Jahre später noch zur Auswärtigen, zur Außenseiterin abgestempelt hätte, da war sie sicher! Und so blieb der Ort ihrer Geburt für immer ihr Geheimnis, und in allen offiziellen Formularen hatte sie stets trotzig Murano als Geburtsort eingetragen.

Mafalda spazierte quer über den campo zu ihrer roten Bank vor der um diese Uhrzeit noch geschlossenen trattoria. Sie prüfte kurz, ob die Sitzfläche trocken war, legte dann ihre schwere Handtasche darauf, drehte sich langsam und ließ sich bedächtig nieder. Kaum saß sie, hob sie die Beine und zappelte mit den Füßen wie ein junges Mädchen.

Wie hatte sie die Sonnenstrahlen vermisst in den letzten Monaten! Immer war sie nur bei Nieselregen und Dunst zwischen ihrer Wohnung im ersten Stock des Eckgebäudes am Campo San Bernardo, dem alimentari, dem Lebensmittelladen von Susanna Osti im hinteren Teil der Insel, der Praxis ihrer Ärztin Carola Albini und ihrem Stammcafé, der kleinen Bar Il Sole am Campo San Donato, hin und her gependelt.

Heute würde Emilia, die Kellnerin der Bar Il Sole, endlich wieder die Stühle und Tische draußen vor ihre bar stellen, und es würde dort mehr geben als einen schnellen caffè im Stehen. Emilia betrieb die kleine bar neben der Basilika schon fast zwanzig Jahre lang, was sie in den Augen der Einheimischen immer noch als Zugezogene gelten ließ. Im Unterschied zu Mafalda hielt sie sich an die Empfehlung der Dottoressa und tauschte den Winter über Regen und Nebel auf Murano gegen die milde Sonne im Süden der Toskana, wo sie aufgewachsen war. Über ihr Privatleben wusste man auf der Insel wenig, denn anders als bei ihren Gästen legte Emilia in eigenen Angelegenheiten auf Privatsphäre großen Wert.

Den Winter über versorgte eine mürrische Aushilfe die kleine Bar, und caffè gab es dann nur lauwarm, durchsichtig dünn und im Stehen am Tresen im Inneren. Das und das feuchte Wetter hielt die meisten Gäste davon ab, im Winter länger hier zu verweilen oder überhaupt vorbeizuschauen. Emilias Rückkehr Anfang März war für alle ein langersehntes Ereignis, auf das man sich schon Wochen im Voraus freute.

Mafalda und ihre Freundinnen hatten heute den gesamten Klatsch und Tratsch der Wintersaison nachzuholen, und das ging nur bequem im Sitzen, bei etwas Sonnenschein, angenehmen Temperaturen oder zumindest einer ombra, einem kleinen Glas Pinot Grigio aus den Weinanbaugebieten nördlich von Treviso.

Mafalda schaute auf ihre altmodische Armbanduhr. Sie musste blinzeln, denn die Uhr war so klein und ihre Sehkraft ohne Lesebrille so schlecht, dass sie die Zeiger nur erahnen konnte. Schon fast halb elf! Auch wenn sie nicht fest verabredet waren, würden sich ihre Freundinnen gleich vor der bar einfinden. So wollte es die Tradition. Denn elf Uhr war der giro de ombre, der Zeitpunkt, an dem nahezu jeder erwachsene Venezianer sein erstes Gläschen Wein des Tages schlürfte.

Erst wenn die drei Golden Girls von Murano vor der bar saßen und tratschten, wurde es richtig Frühling. Das wussten alle Bewohner der Insel.

Mafalda stand auf, nahm ihre Handtasche und ging langsam über den noch immer menschenleeren Platz durch die enge Calle delle Conterie, die nur die Einheimischen kannten und in der sie sicher vor den Touristen war, hinüber zum Campo San Donato. Immer entlang der hohen Backsteinmauer, hinter der einst eine der Glasbläserfabriken ansässig gewesen war und auf deren altem Grundstück jetzt ein schickes Aparthotel für Wochenendtouristen erbaut wurde. Die hohe Mauer hatte das dahinter liegende Wohnquartier jahrhundertelang sicher vor Staub, Rauch und Dreck der Glasfabrik geschützt. Das würde nun auch bald für die Touristenhorden des neu entstehenden Hotels gelten.

Wenige Schritte weiter schaute Mafalda wehmütig lächelnd in den von wild rankenden Glyzinien umrahmten Toreingang, hinter dem irgendwann in den 1980er-Jahren ein glatter, schnörkelloser Neubau errichtet worden war, der heute dunkelrot von dem vielerorts bröckelnden Putz und den vielen unverputzten Backsteinmauern im Viertel herausstach. Der feine Duft der Glyzinien nach Laub und Weintrauben hob sich angenehm ab von dem sonst hier vorherrschenden Geruch nach Staub, feuchtem Stein und den Abgasen der Glasbläsereien – das hatte sich in all den Jahren nicht geändert.

Hier hatte Mafalda zum ersten Mal ihren Salvatore geküsst. Sie wusste es noch, als wäre es gestern gewesen. Salvatore, der junge Tenente, ein Leutnant der Carabinieri mit allerbesten Karriereaussichten. Sie kannten sich schon ein paar Wochen. Es war Frühling wie jetzt, alles um sie herum blühte, und sie waren endlos durch Murano gestreift, hatten beinahe jede calle und jeden campo einmal besucht. Der am Ende einzig verbleibende Weg war der zu ihrem Elternhaus am Campo San Bernardo, wo sie sich bis zum nächsten Abend hatten trennen müssen, weil Mafaldas Eltern keinen Herrenbesuch erlaubten.

Siebzehn war sie da gewesen, und er gerade achtzehn. Er hatte sie sanft beiseitegezogen, in den Eingang zwischen die gemauerten Pfosten, ihr tief in die Augen geschaut und sie geküsst. Erst ganz vorsichtig, dann forscher, um schließlich gar nicht mehr aufhören zu wollen. Die Schmetterlinge in ihrem Bauch konnte sie im Vorbeigehen heute noch spüren.

Salvatore war ihr Hauptgewinn gewesen. Wie sollte ein junges Mädchen auch auf einer Insel, einer kleinen zumal, wo fast jeder mit jedem entfernt verwandt war und der Rest sich beim Namen kannte, jemanden Neues kennenlernen? Salvatore aber war im nahen Triest geboren, das kurz darauf jugoslawisch wurde. Seine Eltern mussten die Stadt in den Nachkriegswirren verlassen, als er gerade sechs Jahre geworden war, und hatten in Mestre, auf dem Festland vor Venedig, ein neues Heim gefunden. Der Anfang war schwer gewesen, doch sie arbeiteten sich hoch. Und ihr einziger Sohn Salvatore hatte es zu einem anständigen Schulabschluss gebracht und eine Ausbildung zum Polizisten begonnen, sehr zum Stolz seiner Eltern. Im Zuge einer Beförderung wurde er auf den Posten der Carabinieri auf Murano versetzt, und schon wenige Wochen später lernten er und Mafalda sich erst kennen und dann lieben.

Mafalda lächelte sehnsüchtig beim Gedanken an ihren Mann. Obwohl er schon vor zwanzig Jahren von ihr gegangen war, hatte sie ihn keinen Tag vergessen.

»Du bist ein Schuft! Mich so früh zu verlassen«, murmelte sie leise vor sich hin.

Ein paar Meter weiter bog sie scharf rechts ab und lief auf den schiefen Kirchturm der mächtigen alten Inselbasilika Santi Maria e Donato zu. Zum Campo San Donato und der Bar Il Sole wäre es jetzt leicht rechts zwischen dem frei stehenden Kirchturm und der Basilika hindurchgegangen. Doch nachdem Mafalda die drei Stufen auf den Kirchplatz hinuntergestiegen war, hielt sie zielstrebig auf die schwere hölzerne Eingangstür der Kirche zu.

Sie trat ins Innere, ging über den uralten Boden aus Marmormosaiken nach vorn, machte einen angedeuteten Knicks in Richtung des Altars und bekreuzigte sich. Dann nahm sie auf einer der Bänke zur Linken Platz und faltete die Hände für ein kurzes Gebet.

Santi Maria e San Donato war ihre Kirche. Hier war sie getauft worden, später gefirmt, hier hatte sie geheiratet. Und hier hatten sie ihren Sohn Giuliano taufen lassen. Hier hatte auch die Totenmesse für Giuliano nach seinem frühen Tod vor neun Jahren stattgefunden. Und Padre Osman hatte außerhalb des Beichtstuhls immer ein offenes Ohr für ihre Fragen und Sorgen.

Wo mochte er heute sein? Mafalda schaute sich um, konnte ihn aber nirgends entdecken. Die Beichtstühle waren unbesetzt. Auf dem hölzernen Chorgestühl hinter dem immer üppig mit Blumen geschmückten Altar unter den byzantinischen Deckenmosaiken, seinem Lieblingsplatz, war er nicht zu sehen. Ein paar wenige Touristen in völlig unangemessenen kurzen Hosen wanderten ziellos durch das Kirchenschiff.

Mafalda schüttelte den Kopf, stand auf, ging rechts am Altar vorbei zu dem eisernen Kerzenständer, warf ein paar Münzen in die Kollekte und nahm sich zwei Kerzen. Eine für ihren Salvatore. Sie drückte sie an ihr Herz und küsste sie, bevor sie sie anzündete und aufstellte. Die zweite Kerze war für Giuliano. Mit feuchten Augen zündete sie sie an und platzierte sie auf dem Leuchter. Seinen Tod hatte sie noch immer nicht verwunden.

»Wir sehen uns morgen«, sagte sie leise, warf einen letzten Blick auf beide Kerzen, wischte sich eine Träne aus dem Auge und ging zum Ausgang. Dort tupfte sie mit der Hand in das Weihwasserbecken und bekreuzigte sich eilig, während sie aus der Basilika hinauslief. Ihre Freundinnen würden sicher schon auf sie warten.

Schnellen Schrittes ging sie nach links weiter, zwischen Dom und Kirchturm hindurch und weiter nach vorn auf den sich weit zum Kanal hinaus öffnenden Campo San Donato, an dem linker Hand die Bar Il Sole zu finden war.

Von ihren Freundinnen war noch keine zu sehen. Mafalda setzte sich an einen der kleinen Tische am Rande der Terrasse, der ihnen genügend Abstand zu anderen Gästen gewähren würde, um ausgiebig zu klatschen und zu tratschen. Zufrieden schaute sie über den campo: Hier hatte sich seit letztem Herbst nichts verändert. An der Westseite des Platzes der zweigeschossige Chorbereich der alten Basilika mit seinen weißen Säulen, davor der campo, in der Mitte der Kanal, über den eine Brücke mit ausgetretenen Marmorstufen auf die andere Seite führte, wo geduckte kleine Häuschen mit den Neppläden für die Touristen das Ufer säumten. Der rostige Müllcontainer neben der Kirche quoll noch genauso über wie im letzten Herbst, so als wäre er in der Zwischenzeit niemals geleert worden.

Die kleine Brücke in der Mitte des Platzes war die unausgesprochene Grenze zwischen dem Territorium der Einheimischen und dem der Touristen, die oft nur für wenige Stunden mit rasant heranrauschenden Fährbooten vor den Glasbläsereien abgeladen wurden. Kaum hatten sie dort den obligatorischen Einkaufsbummel absolviert, machten sie sich mit abenteuerlich verzierten Vasen oder Nippes nur teilweise venezianischer Herkunft auf den kurzen Weg ins Inselinnere. Aber immer nur bis zur Brücke am Campo San Donato, dann eilten sie auf dem schnellsten Wege auf der anderen Seite des Kanals zurück zum zweiten Bootsanleger auf diesem Teil der Insel.

Hinter die Brücke, in das Gebiet der Einheimischen, verirrte sich kaum ein Tourist. Und während jetzt, Anfang März, weiter vorn auf der Insel entlang der Kanäle mit ihren kleinen Häusern, die allesamt eine Etage niedriger als nebenan im großen Venedig waren, schon geschäftige Unruhe herrschte, verharrte der hintere Teil des campo noch immer in einer tiefen, schläfrigen Ruhe.

2

Emilia stand gelangweilt hinter dem grell beleuchteten Tresen der bar zwischen einem Aufsteller mit knallbunten Chipstüten, pappsüßen Schokoriegeln und einer Kühltruhe voll venezianischer Leckereien. Mafalda winkte ihr zu, und sie nickte. Man verstand sich auch nach der langen Winterpause noch immer ohne Worte. Nur Augenblicke später erschien die Kellnerin mit einem doppio und einem Gläschen Weißwein an Mafaldas Tisch.

»Signora Mafalda, buongiorno, schön Sie endlich wiederzusehen«, grüßte sie Mafalda überschwänglicher, als man es ihrem verschlafenen Aussehen nach erwarten konnte.

»Buongiorno, Emilia, e mille grazie! Auf dich ist immer noch Verlass«, antwortete Mafalda, nahm die Kaffeetasse und nippte daran.

Sie hielt die Tasse hoch und betrachtete die darauf abgebildete gelbe Sonne auf rotem Grund, das Logo der Kaffeerösterei. Den starken toskanischen Sol Caffè aus Grosseto gab es in Venedig nur im Frühjahr und Sommer in der Bar Il Sole. Emilia stopfte immer den kompletten Kleinwagen ihres Cousins mit Kaffeesäcken voll, wenn dieser sie von den Winterferien bei ihrer Familie in der Maremma zurück nach Murano brachte. Im Winter, wenn Emilias Vorrat aufgebraucht war, wurden nur noch Supermarktbohnen aufgebrüht, die eher bitter auf der Zunge waren und deren Duft nicht lange in der Nase vorhielt. Ein Grund mehr für die Inselbewohner, Emilias Rückkehr im Frühling zu ersehnen.

Eigentlich war Mafalda dieser erste caffè auf dem campo heilig. Für Klatsch und Tratsch wäre danach noch genügend Zeit. Doch Emilia schien andere Pläne zu haben.

»Was für eine Tragödie!«, rief sie reichlich theatralisch und fasste sich mit der Hand an die Stirn.

Ein Gespräch mit ihr ersetzte ein Zeitungsabonnement, das wusste Mafalda schon lange. Die kleine, mollige Emilia mit ihren schwarz gefärbten Locken, den knallrot bemalten Lippen und der am Vormittag immer etwas nachlässigen Kleidung war Orakel, Cassandra und Nachrichtensprecherin in einer Person – man musste dafür nur ihre umständlichen Litaneien über sich ergehen lassen.

»Die schönen Bilder«, seufzte sie.

Mafalda hatte im Radio schon von der Attacke auf die Sonderausstellung in der Peggy Guggenheim Collection gehört, bezweifelte aber ernsthaft, dass Emilia, die im ausgebeulten Jogginganzug vor ihr stand, auch nur eines der Gemälde beim Namen hätte nennen können, geschweige denn jemals eines davon tatsächlich gesehen hatte.

»Die Guggenheim-Ausstellung?«, fragte Mafalda mehr rhetorisch. Die Nachricht von dem Anschlag auf die Guggenheim Collection hatte sie nicht sonderlich berührt. Nicht dass ihr die Kunst als solche nicht am Herzen läge. Aber das Guggenheim-Museum befand sich drüben in Venedig am Canal Grande. Und dorthin begab sie sich nur, wenn sie bestimmte Einkäufe machen wollte oder Freunde und Verwandte besuchte. Für sie als überzeugte Einwohnerin von Murano war Venedig fast ein wenig wie entferntes Ausland. Jedenfalls kein Ort, den sie zu ihrem näheren Umfeld zählte.

Emilia nickte betroffen und wandte dann den Blick zum Himmel, als würde sie ein Stoßgebet sprechen. Das konnte Mafalda allerdings ausschließen, denn in der Kirche gesehen hatte sie Emilia noch nie.

»Ich hoffe, sie kriegen sie«, sagte Mafalda abwesend.

»Natürlich kriegen sie die«, teilte ihr Emilia verschwörerisch lächelnd mit.

Mafalda schaute sie fragend an. »Wissen Sie mal wieder mehr als die im Radio?«

Emilia fühlte sich sichtlich geschmeichelt, machte einen angedeuteten Miniknicks und nickte.

»Die Polizei war vorhin da. Mit sechs Booten aus Venedig. Das muss was damit zu tun haben«, verkündete sie wichtig.

Mafalda trank ihre Tasse schnell aus, weil sie Angst hatte, der caffè könne über dem Gespräch mit Emilia kalt werden. Die Kellnerin gab sich heute selbst für ihre Verhältnisse sehr mysteriös und ließ sich jedes Wort mühsam aus der Nase ziehen.

»Ein Bilderdieb aus unserem kleinen Murano? Nicht doch, Emilia«, sagte Mafalda nach einigem Nachdenken.

»No! Sie haben die Bilder ja gar nicht gestohlen!«, rief Emilia so laut, dass es auf dem ganzen Platz zu hören war.

Mafalda erinnerte sich, dass im Radio nur mysteriös von einem Anschlag auf die Bilder die Rede gewesen war. »Ja, was denn dann?«

Emilia stutzte, runzelte die Stirn und überlegte angestrengt. »Das habe ich nicht so genau verstanden«, erwiderte sie zögerlich, nun deutlich leiser. »Aber die Bilder sind wohl noch da«, flüsterte sie Mafalda zu.

Die schaute ein wenig verzweifelt. Eine verlässliche Information war aus Emilia heute wohl nicht herauszubekommen. Sie würde später doch noch einmal die Nachrichten hören müssen.

»Kommen denn die beiden signore heute auch noch? Signora Alma und Signora Lucia?«, fragte Emilia, wohl auch ein bisschen, um von ihrer Wissenslücke die Bilder betreffend abzulenken. Natürlich wusste sie nur zu gut, dass der 1. März ein festes Datum für die drei Damen war. Seit Jahren hatten sie an diesem Tag auf dem campo vor der bar den Frühling eingeläutet, wenn Emilia ihren Laden nach der Winterpause wieder öffnete. Schon auf ihrer Weihnachtskarte hatte ihr Mafalda geschrieben, wie sehr sie sich auf diesen Tag freute.

»Ich hatte gehofft, sie wären schon da«, antwortete Mafalda und schaute sich suchend um. »Aber sie werden sicher gleich hier sein.«

Noch während sie sprach, sah sie ihre Freundin Alma Beretti über die kleine Kanalbrücke auf ihre Seite herüberkommen.

»Mafalda, bin gleich da!«, rief die leicht gebückt gehende Alma und winkte mit ihrer altmodischen Korbhandtasche.

Alma war die Älteste des Damentrios. Mit ihrer kurzen Grauhaarkrause, der großen Brille mit den dicken, getönten Gläsern, der beigen Jacke und den kakigrünen Hosen war sie geradezu der Inbegriff einer italienischen Seniorin. Dass sie und Mafalda entfernt verwandt waren, machte das Tratschen mit ihr um einiges leichter, weil man sich ja nur in famiglia austauschte. Als sie Mafaldas Tisch erreichte, ließ sie sich erschöpft auf einen der freien Stühle fallen und schnaufte.

Seit Alma vor acht Jahren Witwe geworden war, hatte sie sich diesen grün-beigen, fast uniformartigen Einheitslook zugelegt, der wohl ihrer Vorstellung vom Aussehen einer italienischen Witwe entsprach. Dabei sah sie mit der dicken Brille kaum mehr als ohne. Ihre Frisur ließ sie von einem dieser Frisiersalons in Venedig richten, die darauf spezialisiert waren, alte Damen in einem Ambiente aus cremefarbenen Trockenhauben, ausgeblichenen Lockenwicklern und dem Duft von Tosca und Kölnisch Wasser glücklich zu machen. Alma hatte immer wieder versucht, Mafalda zum Mitkommen zu bewegen, doch diese hatte standhaft abgelehnt.

Statt eines Grußes zeigte Mafalda irritiert mit dem rechten Zeigefinger auf Almas Gehstock. Dieses Accessoire hatte sie bei ihr im letzten Jahr nicht gesehen.

Alma wedelte abwehrend mit der Hand. »Der Winter, die Gelenke, der Rücken. Ich habe dieses Ding schon lange bei mir zu Hause herumstehen. Benutzt habe ich ihn noch nie. Bis heute. Nicht dass er noch Wurzeln schlägt.« Sie lehnte den Stock an die Tischkante und seufzte laut vernehmbar. »In den Süden soll ich ziehen, meint die Dottoressa.« Sie verdrehte die Augen in Richtung Himmel ob dieses offenbar auch für sie gänzlich undenkbaren Vorschlags.

»Die kriegt wahrscheinlich Prozente dafür«, sagte Mafalda mürrisch.

»Du auch?«, fragte Alma erstaunt.

»Zur Miss Murano werden sie uns auf unsere alten Tage alle nicht mehr wählen«, antwortete Mafalda konsterniert und warf den zerbröselten Keks von der Untertasse ihres Kaffees einer sich ihnen nähernden Spatzenfamilie zu.

Alma nickte mit sauertöpfischer Miene. Sie hatte mittlerweile aufgehört, nach Luft zu ringen, und holte unter Mafaldas missbilligendem Blick eine Packung Feuchttücher aus ihrer Handtasche, wischte mit einem Tuch den Tisch sauber und arrangierte dann Zuckerstreuer und Zahnstocherhalter fein säuberlich exakt in der Mitte des Tisches.

»Weißt du, warum Lucia noch nicht da ist?«, fragte Mafalda und schaute auf ihre Armbanduhr, die jetzt schon Viertel nach elf anzeigte.

»Deswegen bin ich ja so schnell zu dir gerannt«, entgegnete Alma.

Mafalda verkniff sich ein Grinsen, weil Almas gebückter Gang am Stock über die Brücke und den campo so gar nicht zu ihrer Vorstellung von »schnell« passen wollte.

»Sie kommt später. Diese Sache mit den Bildern …«, fuhr Alma mit wichtigem Unterton fort.

»Was haben denn nur heute alle mit den Bildern?«, fragte Mafalda sichtlich ungehalten. Ungehalten über sich, weil sie die Nachrichten nur flüchtig gehört hatte und offenbar jeder mehr über das Bilderdrama wusste als sie.

»Was für ein schreckliches Verbrechen!« Alma schlug sich mit den flachen Händen auf die Oberschenkel.

Emilia kam mit einem zweiten caffè und einer weiteren ombra an den Tisch und mischte sich ungefragt in die Unterhaltung ein.

»Sì! Die Bilder! Furchtbar«, sagte sie und wedelte dramatisch mit den Armen in der Luft herum. Mafalda erwog mittlerweile ernsthaft aufzustehen, zum Zeitungskiosk zu laufen und den Verkäufer dort nach den neuesten Meldungen zu fragen. Schneller als hier in der bar würde sie die so allemal bekommen.

»Was ist jetzt mit Lucia?«, hakte Mafalda nach und prostete Alma mit ihrem Weinglas zu.

Ihre Freundin prostete zurück. »Die Polizei glaubt, dass ihr Untermieter, der die kleine Hütte in ihrem Garten bewohnt, etwas mit der Sache mit den Bildern zu tun hat.«

»Der dumme Beppe?«, fragte Mafalda überrascht und bereute im gleichen Moment, dies so direkt gesagt zu haben.

Beppe wohnte seit einigen Jahren in Lucias Gartenhäuschen. Es war mehr ein Verschlag als ein Wohnhaus, aber vermutlich die einzige Behausung, die er sich leisten konnte. Beppe war definitiv nicht der Hellste und auf ganz Murano dafür bekannt, dass er seit Jahren immer wieder neuen Heilslehren anhing und laut vor sich hin predigend das Ende der Welt ankündigte.

Beppe, trotz seiner kindlich gebliebenen Gesichtszüge mittlerweile gut Mitte vierzig, war im Waisenhaus in Venedig aufgewachsen. Seine Jugend ohne Eltern hatte ihn anfällig gemacht für jeden, der ihm etwas Aufmerksamkeit entgegenbrachte oder ihm irgendwie das Gefühl gab, Teil von etwas Wichtigem zu sein. Dazu kam seine permanente Angst vor allem Neuen und Unbekannten. Veränderungen mochte er nicht, und über die Jahre hatte er nacheinander vor den schweren Gefahren von Mobilfunk und Internet gewarnt, bestand darauf, mit Bargeld zu zahlen, und weigerte sich standhaft, sich von Handykameras fotografieren zu lassen. Allerdings hatte er Venedig zeit seines Lebens nicht verlassen, sodass die Welt, die er kannte, eher überschaubar war. Das nahm seiner immer wieder aufs Neue verkündeten Botschaft vom Ende der Welt ein bisschen die Schärfe. Trotzdem führten die örtlichen Carabinieri eine lange Liste mit Beppes Vergehen. Mal meldete ihn jemand bei den Behörden, weil er stundenlang lautstark vor dem eigenen Haus missionierte oder verbotenerweise handgeschriebene Zettel an die Hauswand klebte. Und noch öfter, weil er sich in meist sinnlosen, aber deshalb nicht minder hitzigen Debatten mit anderen Inselbewohnern verrannte und seinem Gegenüber dabei irgendwann das eine oder andere Schimpfwort an den Kopf warf. Doch viel mehr als solch grober Unfug war nicht dabei.

Der von ihm immer wieder prophezeite Weltuntergang war freilich niemals eingetreten, was Beppe nicht weiter störte, weil er meist nahtlos zum nächsten Aberglauben wechselte. Auch die von ihm als sicher vorausgesagte vernichtende Sintflut und der darauf unausweichliche Untergang Venedigs und der Inseln der Lagune wurden immer unwahrscheinlicher, je näher die Fertigstellung des Hochwasserschutzsystems an der Grenze zwischen der Lagune und dem offenen Meer im nächsten Jahr in Reichweite rückte.

Dass Beppe nun etwas mit »den Bildern« zu tun haben sollte – und es trieb Mafalda mittlerweile fast in den Wahnsinn, dass offenbar niemand ihr sagen konnte oder wollte, was wirklich passiert war –, schien ihr gänzlich undenkbar.

Alma nippte an ihrem Weinglas und nahm gleich noch einen zweiten Schluck.

»Der neue Riesling ist wirklich lecker.« Sie schnalzte mit der Zunge, nahm den Keks vom Unterteller ihrer Tasse und steckte ihn sich verschämt lächelnd in den Mund.

»Der Pinot Grigio aus Treviso hätte es für mich auch sehr gut getan«, gab Mafalda spitz zurück. Sie versuchte, Ruhe zu bewahren, und sah zu, wie sich die Spatzenfamilie um ihren Keks balgte. Ihre Gelassenheit hielt jedoch nicht lange an.

»Was ist denn jetzt mit Lucia und der Polizei?«, platzte es aus ihr heraus.

»Niffts!«, antwortete Alma mit vollem Mund, sichtlich erschrocken über Mafaldas plötzlichen Ausbruch.

Sie kaute ihren Keks so schnell, wie es ihr möglich war, schluckte ihn herunter und wischte eilig die Krümel von ihrem Mantel.

»Nichts ist mit Lucia! Wegen Beppe ist die Polizei da«, erklärte sie erneut.

»Und warum ist dann Lucia noch immer dort?«, fragte Mafalda ungehalten zurück. Die Tatsache, dass Lucia die Sache mit Beppe für wichtiger hielt als ihr gemeinsames Treffen, machte sie ärgerlich.

»Ja, jemand muss doch vor Ort …«, begann Alma drucksend.

»… vor Ort sein, um den Rest der Insel danach mit den neuesten Nachrichten aus erster Hand zu versorgen?«, fiel ihr Mafalda ins Wort, kramte einen Kaffeekeks, den sie für alle Fälle immer dabeihatte, ganz unten aus ihrer Manteltasche und warf ihn der immer noch hungrigen Spatzenmeute zu.

Alma nickte ein wenig hilflos, stand auf und brachte die leeren Plastikverpackungen der Kekse, die Mafalda eben auf den Tisch gelegt hatte, in den Mülleimer auf der anderen Platzseite.

»Dann können wir wohl so bald nicht mit ihr rechnen«, sagte Mafalda mehr zu sich als zu Alma, denn die stand immer noch an dem Papierkorb und hatte sichtlich Mühe, die Keksverpackungen auf dem überfüllten Container zu platzieren. Mafalda war in ihren Gedanken immer noch ganz bei Lucia, die Alma und sie so schamlos versetzt hatte. So etwas nagte an ihr.

In solchen Momenten vermisste Mafalda ihren Salvatore ganz besonders. Als capitano der Carabinieri hätte er Zugang zu allen Informationen gehabt. Oder wenigstens gewusst, wen er hätte anrufen müssen. Ihr Salvatore hätte ihr in allen Einzelheiten von dem Vorfall im Museum berichten können, noch bevor die Presse, Lucia oder irgendein anderes Investigativorgan davon erfahren hätten.

Über ihrem Gekabbel hatten die beiden keine Notiz davon genommen, dass Lucia sich ihnen längst genähert hatte. Mafalda bemerkte erst, als die Spatzenbande erschreckt auseinanderstob, dass ihre Freundin an den Tisch trat.

»Mädels, ihr glaubt nicht, was passiert ist!«, stieß Lucia statt einer Begrüßung aus.

»Beppe und die Sache mit den Bildern?«, erkundigte sich Mafalda. Lucia zu offenbaren, dass sie nicht wusste, was los war, wäre ihr im Traum nicht eingefallen.

Lucia schaute beleidigt zu Mafalda und dann strafend hinüber zu Alma, die ihren großen Auftritt mit ihrem Ausplaudern verpatzt hatte.

Als sie sich nach einer kurzen Kunstpause wieder gefasst hatte und auf dem freien Stuhl am Tisch Platz genommen hatte, sagte sie: »Sì! Sie haben Beppe mitgenommen. Die Polizei. Er hat wohl was mit dem Anschlag auf die Bilder im Guggenheim-Museum zu tun.«

In diesem Moment kam Emilia mit Kaffee und Weinglas für Lucia herbeigeeilt. »Oh, diese schrecklichen Bilder«, murmelte sie.

Die drei Freundinnen schauten sie fragend an. Emilia bemerkte ihren Versprecher. »Diese schönen Bilder, meinte ich.« Sie lächelte verlegen, stellte Kaffee und Wein auf den Tisch und verschwand wieder im Inneren der bar.

3

Lucia Gallo und Mafalda kannten sich seit vielen Jahren. Schon als ihre Kinder noch klein waren, war Lucia regelmäßig zu Mafalda nach Hause gekommen, wenn sie Streit mit ihrem Mann hatte, jenem sturen Francesco Gallo, dem sie auch heute noch in heftiger Abneigung verbunden war. An dieser Beziehung musste wohl mehr dran sein, als auf den ersten Blick zu erkennen war.

Lucia war die Jüngste von den Dreien, ein Umstand, den zu betonen sie nicht müde wurde. Mit ihrer rotbraun gefärbten, hochtoupierten Mähne, dem elegant geschnittenen lila Wollmantel und dem üppigen Goldschmuck an ihren Händen unterschied sie sich schon rein äußerlich sehr von ihren beiden Freundinnen.

»Sie haben den Beppe gleich mitgenommen«, wiederholte sie. »Er soll da in so einer Internetgruppe sein, die einige Bilder in der Peggy Guggenheim Collection für teuflisch hält. So genau habe ich das auch nicht verstanden. Die haben sich online dazu verabredet. Und im Museum irgendeine Flüssigkeit auf die Ölbilder gekippt.«

Mafalda nickte stumm. Für sie, die das Internet ganz allgemein für obskur hielt, war der Zusammenhang mit dem Teuflischen durchaus naheliegend und nachvollziehbar. Dass der wenig helle Beppe damit in Verbindung stehen sollte, wollte ihr weniger einleuchten.

Sie kannte ihn, so wie beinahe jeder auf Murano ihn kannte. Und so wie vermutlich alle hielt sie ihn für anstrengend, aber komplett harmlos. Eine liebe Seele im Grunde, die vom Leben auf die falschen Bahnen gelotst worden war. Oder in die falschen Kanäle und Gassen, um beim Bild von Murano zu bleiben.

Die Spatzenfamilie hatte sich mittlerweile von Lucias Ankunft erholt und war wieder an den Tisch herangekommen. Mafalda nahm ungefragt den Keks von Lucias Untertasse und warf ihn den Spatzen zum Fraß vor, was ihr einen bösen Blick ihrer Freundin einbrachte.

»Die schönen Bilder!«, rief Alma.

Jetzt war es an Mafalda, einen bösen Blick in Richtung Alma zu senden. Wenn sie heute noch ein einziges Mal den Satz »Die schönen Bilder!« hören würde, dann würde sie platzen. Ganz sicher!

»Ganz früh haben sie geklingelt, die Polizisten«, erzählte Lucia. »Ich war gerade vom Supermarkt zurück und noch nicht mal richtig frisiert und geschminkt.«

Sowohl Mafalda als auch Alma schauten sie misstrauisch an. Der Tag, an dem Lucia ohne perfektes Make-up, eine mindestens auf den Punkt aufgedonnerte Frisur und ihren kompletten Goldschmuck aus dem Haus gehen würde – und sei es nur zum Supermarkt, oder sei es gerade zum supermercato, dem Epizentrum des örtlichen Tratsches –, diesen Tag hatte es noch nicht gegeben.

»Der Punkt ist doch der: Ich habe Beppe das Haus ja nur vermietet, weil er dringend eine Bleibe suchte«, fuhr Lucia fort und fügte voller Selbstmitleid hinzu: »Warum muss ich immer nur so nett zu den Menschen sein?«

Mafalda seufzte leise und schaute über die Spatzenfamilie hinweg zur Säulenfront der Basilika und nach oben Richtung Himmel. Wäre zwischen den Säulen wohl noch Platz für eine Heiligenstatue von Lucia?

»Du bist einfach zu gut für diese Welt«, erwiderte sie trocken, ohne Lucia anzusehen. Diese starrte sie irritiert an und nickte dann nach kurzer Pause.

Mit der Vermietung an Beppe mochte sich Lucia über die Jahre ein kleines Vermögen verdient haben. Jedenfalls wenn man in Erwägung zog, dass der zugige Schuppen andernfalls gänzlich unvermietbar und bestenfalls für die Aufbewahrung der Gartengeräte geeignet gewesen wäre. Lucia war wieder mal ganz sie selbst – die Barmherzigkeit in Person.

»Jedenfalls sind die Polizisten durch meinen frisch gewischten Flur gestürmt. Mit Schuhen! Und haben den Beppe aus der Hütte gezerrt. Aus dem Haus, meine ich. Da war er noch ganz verschlafen, im Pyjama!«

Mafalda horchte auf. Wieso sollte jemand, der eben noch ein Verbrechen begangen hat, im Schlafanzug in seiner Wohnung aufgefunden werden?

»Ich war völlig fertig mit den Nerven«, lamentierte Lucia weiter. »Ich habe meiner Haushälterin aufgetragen, den Flur noch mal zu wischen. Und Francesco musste mir einen Grappa einschenken. Una grappa doppia! Einen Doppelten! Erst dann ging es wieder.«

Sie setzte ihr Weinglas an und leerte es in einem Zug. Mafalda und Alma schauten sich erstaunt an.

»Oh, Riesling, wie lecker.« Lucia schwenkte ihr Glas. Mafalda verzog die Mundwinkel nach unten. Ein frecher Kommentar lag ihr auf den Lippen, aber sie beließ es dabei, etwas Unverständliches zu murmeln. Alma holte ein weiteres Feuchttuch aus ihrer Tasche und wischte den Tropfen Wein vom Tisch, den Lucia verschüttet hatte, als sie ihr Glas etwas zu schwunghaft in die Hand genommen hatte.

»Wieso passiert so was immer mir?«, setzte Lucia ihr Klagelied fort, und Mafalda konnte sich kaum noch auf dem Stuhl halten.

»Waren es denn deine Bilder?«, fragte sie leicht ungehalten in Richtung ihrer Freundin.

Lucia stutzte. »Nein, natürlich nicht. Ich weiß nicht mal, um welche genau es sich handelt.«

»Beh … Niemand scheint das hier zu wissen«, sagte Mafalda. »Nicht du, nicht ich, nicht Emilia, niemand.« Und zu Alma: »Oder weißt du es?«

»Die Peggy Guggenheim Collection hat im Gartenhaus wechselnde Ausstellungen«, antwortete Alma, die weithin als wandelndes Lexikon bekannt war. Nach einer Kunstpause fuhr sie fort: »Da ist es wohl auch passiert. Was das für Bilder waren, weiß ich allerdings nicht.«

»Niemand weiß etwas«, sagte Mafalda zu Lucia und zeigte dabei auf Alma. Dann riss sie ihre Arme nach oben in Richtung Himmel. »Aber alle regen sich auf!«

Mafalda lehnte sich wieder zurück und versuchte, sich an ihren letzten Besuch im Museum zu erinnern. Irgendwann war sie dort gewesen, da war es schon längst eine Sehenswürdigkeit geworden. Der einstöckige Museumsbau wirkte neben den altehrwürdigen Palazzi und Kirchen Venedigs mehr wie ein Ufo aus dem Weltall. Aber er war eben doch eine Sehenswürdigkeit, und die nicht zu kennen war für sie als Venezianerin ein Unding.

Und doch vermochte sie sich nicht an die Bilder zu erinnern. Besser erinnerte sie sich an Peggy Guggenheim selbst, die schrille Alte aus Amerika mit den vielen Hunden, die in Mafaldas Jugend im Palazzo Venier dei Leoni Hof gehalten und dort ihre Kunstsammlung gezeigt hatte. Direkt am Canal Grande hatte sie gewohnt, in jenem seltsam oben abgefressenen Fragment von einem Palazzo, von dem nur das Erdgeschoss existierte, weil dem Bauherrn das Geld ausgegangen war. Peggy Guggenheim hatte sich in Venedig niedergelassen, lange bevor der Rest vom Jetset ihr gefolgt war. Und hatte neben einer Kunstsammlung auch eine stattliche Männersammlung angelegt, wenn man den Gerüchten glauben konnte. Sie war immer eine Spur zu grell geschminkt und zu auffällig gekleidet. Mafalda blickte zu Lucia, musterte ihre Kleidung und ihr Make-up, verbot sich aber den Gedanken.

»Ich könnte jetzt erst mal etwas Essbares vertragen«, meinte Lucia gespielt ermattet und wohl auch, um so unauffällig wie möglich das Thema zu wechseln. »Ist es zu spät für tramezzini?«

Mafalda schaute auf ihre Armbanduhr. »Nicht, wenn du schnell bist. Es ist fünf vor zwölf«, entgegnete sie. »Auf der Uhr und für die tramezzini.«

Lucia winkte wild zu Emilia hinter dem Tresen, zeigte mit dem Finger auf ihren Mund und formte mit ihren Lippen das Wort tramezzini. Jede andere hätte die Geste nicht verstanden, doch Emilia kannte ihre Stammkundinnen nur zu gut und brachte Augenblicke später einen Teller mit reich belegten, schräg halbierten Sandwiches nach draußen.

»Ich habe nur noch dreimal Ei mit Spargel, zwei insalata russa und viermal Thunfisch«, sagte sie entschuldigend und zeigte auf die auf dem Teller verbliebenen Sandwiches.

»Die nehmen wir.« Lucia riss ihr den Teller fast aus der Hand.

»Und noch eine Runde caffè und Wein, bitte«, sagte Mafalda. Am liebsten hätte sie auch noch eine Runde Kekse bestellt, um die Spatzen weiter zu füttern. Aber das traute sie sich nicht.

»Was passiert denn jetzt mit Beppe?«, fragte Alma Lucia.

»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, erwiderte diese und plusterte sich auf. »Die Polizei wird schon ihre Arbeit machen.«

»Das hat mein Mann, der Capitano, auch immer gesagt. Und dann doch auf die Kollegen drüben in Venedig geschimpft«, warf Mafalda ein.

Die beiden anderen verdrehten die Augen. Dass Salvatore Vorsteher des örtlichen Polizeipostens auf Murano gewesen war, vergaß Mafalda auch zwanzig Jahre nach seinem Tod nicht, bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu erwähnen.

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Beppe etwas mit den Bildern zu tun hat«, meinte Lucia nachdenklich. »Der hat immer viel geplärrt und für Unruhe gesorgt. Aber letztendlich hat der nie was gemacht.«

Mafalda nickte.

»Mir hat er immer im Garten geholfen. Mit dem ganzen Unkraut und den Bäumen«, erzählte Alma.

»Und mir hat er mal den Boiler gerichtet«, sagte Mafalda. »Er wollte nicht mal Geld dafür haben.«

»Ich kann es mir eigentlich auch nicht vorstellen.« Lucia schüttelte den Kopf. »So einen hätte ich doch nie bei mir aufgenommen! Und wer zahlt mir die Miete für mein Gartenchalet, wenn Beppe jetzt ins Gefängnis kommt?«

Mafalda musste sich wieder ein Grinsen verkneifen, als sie hörte, dass der Grund für Lucias Hilfsbereitschaft weniger selbstloser als materieller Natur war. Und so, wie sie den alten Schuppen schrittweise zum Gartenhaus und Chalet befördert hatte, klang es ein wenig, als hätte Königin Elizabeth einen ihrer Nebenpaläste in Schloss Windsor den Bedürftigen zur Verfügung gestellt. Gegen angemessene Miete, verstand sich.

»Ich wollte nachher sowieso bei Pietro vorbeischauen«, sagte Mafalda. »Er ist ja …«

»… Polizist in vierter Generation«, fielen ihr Alma und Lucia laut und unisono ins Wort, sodass die Leute an den anderen Tischen irritiert herüberschauten.

Mafalda warf den beiden einen beleidigten Blick zu. »… gerade zum tenente befördert worden«, fügte sie schnippisch hinzu.

Ihr siebenundzwanzigjähriger Enkel Pietro war ihr ganzer Stolz. Schon seit Pietros Mutter Mann und Kind früh für einen anderen Mann verlassen hatte, war Mafalda eine Art Ersatzmutter für ihn gewesen. Und seit dem Tod ihres Mannes und ihres Sohnes war er ihr einziger naher Verwandter. Wie schon Mafaldas Vater, Mann und Sohn hatte er die Polizeilaufbahn eingeschlagen, nicht ganz ohne großmütterlichen Druck, und arbeitete jetzt in dem kleinen Posten der Carabinieri auf Murano, den sein Großvater einst als Vorsteher geleitet hatte. Seine Beförderung zum tenente erfüllte Mafalda mit großmütterlichem Stolz. Allein die Tatsache, dass er mit siebenundzwanzig Jahren immer noch unverheiratet war, erfüllte sie mit Sorge.

»Wie gesagt, ich wollte nachher sowieso bei Pietro vorbeischauen, um ihm zu seiner Beförderung zu gratulieren«, wiederholte Mafalda trotzig.

»Aber das waren Polizisten aus Venedig. Was soll Pietro da von unseren Carabinieri auf Murano aus in Erfahrung bringen?«, warf Lucia ein, und Alma nickte.

»Er hat so seine Verbindungen«, antwortete Mafalda vage. Und dachte an ihren seligen Salvatore, den fehlende Zuständigkeit auch nie daran gehindert hatte, sich irgendwo einzumischen.

»Ciao. Wir sehen uns«, verabschiedete sie sich, stand auf, nahm ihre Handtasche und ging nachdenklich in Richtung Platzmitte. Es war wohl noch kein Frühlingsanfang in der Bar Il Sole so kurz ausgefallen. Aber es war auch das erste Mal, dass ein Verbrechen ihr gemeinsames Ritual so jäh gestört hatte.

4

Mafalda hatte kurz überlegt, zur Station der Carabinieri wieder den Weg durch die kleinen calli an ihrem Haus vorbei zu nehmen. Das war zwar ein paar Meter länger, aber dafür käme sie zügiger voran, und niemand wäre ihr dort im Weg. Der makellos blaue Himmel und die warmen Temperaturen waren jedoch zu verlockend, und so ging sie am Wasser und am Canal Grande di Murano entlang.

Die Zahl der Touristen war um diese Jahreszeit noch überschaubar, zumindest gemessen an den Massen, die sich zwischen Mai und Oktober entlang der Kanäle drängten. Die meisten, die sich jetzt schon nach Venedig verirrten, blieben drüben zwischen Piazza San Marco und Rialto und mieden die Inseln der Lagune, vor allem, weil man nie wusste, ob das Wetter noch schön war, wenn man nach halb- oder gar einstündiger Bootsfahrt dort angekommen war.

An der Stelle, wo die drei großen Kanäle von Murano sich in einem Dreieck trafen, blieb Mafalda kurz stehen, um durchzuatmen und einen Blick über das blaugrüne Wasser zu werfen, das jetzt im Frühjahr wieder herrlich im Sonnenlicht funkelte und frisch nach Algen und Seewasser roch. Das gab es nur hier in der Lagune von Venedig.

Mafalda ging weiter auf die Ponte Longo, die große Brücke, zu, und betrat zuvor noch schnell rechts den kleinen Supermarkt. Dieser versteckte sich hinter einer alten Fassade im Stil von Murano. Nur das rote Logo über der Tür wies auf das Geschäft hin. Im Inneren fand sich auf einigen hundert Quadratmetern alles, was man für den täglichen Bedarf benötigte. Viel moderner, als man es Murano selbst und diesem alten Gemäuer zugetraut hätte.

Doch für Mafalda war das nichts. Ihre Einkäufe tätigte sie in dem kleinen Lebensmittelladen von Susanna Osti weiter hinten auf der Insel. Ihrer Treue zu Susannas alimentari hatte auch die Eröffnung dieses Supermarktes keinen Abbruch getan. Sie kaufte nur eine Schachtel Kekse für die Spatzen und Tauben, weil sie hier deutlich billiger waren als bei Susanna, und steckte sie in ihre Manteltasche.

Ein paar Schritte weiter, kurz hinter der Ponte Longo, lag die Station der Carabinieri. Hier hatte sie früher Salvatore von der Arbeit abgeholt. Etwas ungehalten blickte sie auf die abblätternde Farbe an der Fassade und wischte mit einem Taschentuch über das staubige Carabinieri-Schild, das an der Wand hing. So etwas hätte es zu Zeiten ihres seligen Mannes nicht gegeben!

Sie klingelte, der Türöffner summte, und die schmiedeeiserne Tür öffnete sich. Schnellen Schrittes ging sie durch den kleinen, schmucklosen Innenhof, öffnete die zweite Tür und stand dann mitten im Großraumbüro der Station. Sie schaute sich erstaunt um. Sie kannte diese Räumlichkeiten mehr als gut, aber jetzt konnte sie sie fast nicht mehr wiedererkennen.

Weiter hinten war das Dienstzimmer ihres Mannes gewesen. Das Zimmer davor, wo früher die Carabinieri der niederen Ränge bei schlechtem Licht an grob aus Holz geschreinerten Tischen vor klapprigen Schreibmaschinen saßen, hatte sich komplett verändert. Die Schreibtische waren jetzt blütenweiß, darauf standen Flachbildmonitore. Als Beleuchtung diente eine riesige Deckenlampe, die wie ein Deckenfenster tageslichtähnliche Helle im Raum verteilte. Wann waren die Pfennigfuchser von der Verwaltung im Innenministerium großzügig geworden? Auch die Grünpflanzen im Büro schienen von der neuen Lichtquelle zu profitieren. Statt gelb, welk und mit hängenden Blättern dahinzuvegetieren, schossen sie jetzt gerade nach oben. Selbst der früher so undankbare, raumhohe Ficus hinten links schien gegen seine frühere Gewohnheit seine Blätter nicht mehr abzuwerfen. Die Wände, an denen die üblichen Fahndungsplakate hingen, waren dunkelgrün gestrichen.

Am Schreibtisch in der hinteren rechten Ecke saß Pietro. Er war ein schmächtiger junger Mann mit dunklem Haar, hageren Gesichtszügen, einer runden Nickelbrille und der charakteristischen langen Cinquetti-Nase. Hätte er nicht seine Uniform getragen, hätte man ihn auch gut für einen Abiturienten halten können. Er hatte seine Großmutter schon beim Hereinkommen bemerkt, war aufgestanden und kam ihr entgegen.

»Nonna, was führt dich hierher?«, fragte er und umarmte sie.

Mafalda schaute sich mit erhobenem Kopf um und sagte dann so laut, dass es alle hören konnten: »Früher war ich ja regelmäßig hier. Aber jetzt gibt es einen besonderen Anlass. Ich habe gehört, dass jemand befördert worden ist!« Sie tippte ihm mit dem rechten Zeigefinger auf die Brust. So viel Aufmerksamkeit war Pietro sichtlich unangenehm. Er lief rot an.

Schick sah er aus in seiner Uniform, fand Mafalda. Sie strich ihm durch das halblange schwarze Haar. »Wie dein Großvater!«

Jetzt sah er endgültig so aus, als würde er am liebsten im Boden versinken.

»Außerdem«, fuhr Mafalda fort, »habe ich da noch eine Frage zu deinem Internet.«

Pietro seufzte erleichtert und ging zurück zu seinem Platz. Er bot ihr den Besucherstuhl neben seinem Schreibtisch an und setzte sich wieder vor seinen Computer.

Mafalda beobachtete, wie Pietro sich immer wieder mit der Hand durchs Haar fuhr, als ob er seine Frisur in Form bringen wollte. Fast wirkte es auf sie, als würde er sich unbehaglich fühlen und jeden Moment aufspringen, um mit einem Kamm zum Spiegel in der Toilette zu eilen. Zumindest schaute er mehrfach in diese Richtung, wie sie sehr wohl bemerkte. Doch den Gedanken, dass es ihm unangenehm sein könnte, wenn sie ihm durch die Haare strich, verwarf sie augenblicklich wieder. Sie war seine nonna! Sie hatte ihm schon immer die schwarzen Haare durchwuschelt und würde das auch immer tun!

»Mein Internet? Na, da will ich mal schauen, ob ich das heute eingepackt habe«, entgegnete er schmunzelnd.

Mit Technik hatte Mafalda nun wirklich nichts am Hut. Bis heute bestand sie darauf, ihr altes Transistorradio mit den riesigen runden Knöpfen, der kaputten Beleuchtung und dem Werbeaufkleber für UKW-Mono-Empfang zu benutzen. Pietro hatte ihr schon vor Jahren ein neues geschenkt. Doch das hatte sie samt Karton in den Schrank gestellt, weil ihr altes Radio ja noch perfekt funktionierte. Und weil nur das den wunderbaren Klang hatte, auf den sie nicht verzichten wollte.

Ihren neuen Fernseher konnte sie nur bedienen, weil Pietro alle nicht unbedingt benötigten Tasten der Fernbedienung mit Klebeband verdeckt hatte. Aber diese Anschaffung war leider unvermeidlich gewesen, weil das alte Gerät nur noch Schnee empfing, seit die Regierung unsinnigerweise, wie Mafalda immer wieder betonte, die Frequenzen geändert hatte. Der nun fehlende wuchtige Röhrenapparat hatte eine große Lücke in ihrem Wohnzimmer hinterlassen, den der schmale Digitalfernseher nicht zu füllen vermochte. Der Fernsehschrank, die gehäkelten Deckchen darauf und die Stehlampe für die optimale Beleuchtung dahinter, all das war auf den alten Apparat abgestimmt gewesen. Mit dem neuen Flachbildschirm sah ihr guter alter Fernsehschrank aus, als hätten sich irgendwelche Ganoven ihr 750.000 Lire teures Prunkstück von 1982 unter den Nagel gerissen. Was irgendwie auch zutraf, denn der Austausch des Geräts war ja erst durch das unsinnige Handeln der Regierung erforderlich geworden. Und das waren ohnehin alles Ganoven, wie Mafalda fand.

Pietro hatte sie überredet, sich ein einfaches Mobiltelefon zuzulegen, für Notfälle. Nur hing ihr telefonino meist bei ihr zu Hause am Ladekabel auf der Spitzendecke aus Burano, auf der auch ihr grünes Tastentelefon stand. Da wusste sie wenigstens, wo es zu finden war, wenn sie es einmal brauchte.

»Worum geht es, nonna?«, fragte Pietro.

Mafalda rutschte auf ihrem Stuhl hin und her und überlegte, wie sie am besten anfangen könnte.

»Es hat da wohl gestern drüben in der Stadt eine Art Überfall auf die Guggenheim Collection gegeben«, begann sie.

Pietro nickte. »Ein Anschlag auf Bilder der Sonderausstellung. Jemand hat eine schmutzig-ölige Flüssigkeit darauf gespritzt, um sie zu beschädigen. Es kam heute Morgen im Radio.«

»Sì! Genau darum geht es«, sagte Mafalda. »Deine Kollegen aus Venedig haben heute Vormittag einen entfernten Bekannten von mir verhaftet, der dafür verantwortlich sein soll. Im Morgengrauen haben sie ihn aus dem Haus gezerrt. Da hatte er noch den Schlafanzug an! Aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass er etwas damit zu tun hat.«

Pietro setzte seine silberne Brille, die er zur Begrüßung abgenommen hatte, wieder auf – eine gewisse Fehlsichtigkeit lag seit Generationen in der Familie –, klapperte mit seinen langen, dünnen Fingern auf seiner Tastatur herum und durchsuchte die aktuelle Liste der Untersuchungshäftlinge. Lang war sie nicht, denn eine Stadt wie Venedig war eigentlich nur im Film ein Ort schwerer Verbrechen. Das meiste, was hier passierte, war Kleinkriminalität, und dafür kam man nicht in Untersuchungshaft.

»Giuseppe Scarpa, Murano, bei der alten Glasfabrik? Meinst du den?«, erkundigte sich Pietro.

Keine sehr genaue Ortsbeschreibung für eine Insel, die für ihre Glasbläserkunst bekannt war.

»Glasfabriken gibt es auf Murano wie Sand am Meer, wie du weißt. Er wohnt bei meiner Freundin Lucia in Navagero im Gartenhaus. Seinen Nachnamen kenne ich aber nicht«, stellte Mafalda klar. Jeder auf Murano kannte ihn nur als Beppe.

»Navagero, ja. Das könnte passen. Er ist heute Vormittag verhaftet worden. Sie haben ihn ins Gefängnis nach Padua gebracht.«

»Aufs Festland?«, fragte Mafalda entsetzt und ließ beinahe ihre Handtasche fallen.

»Beh … Das Gefängnis auf Giudecca wird seit Monaten renoviert, die Gelder für das neue Gefängnis in Mestre sind in den Taschen irgendwelcher Verwaltungsbeamter versickert, und in die Bleikammern am Dogenpalast konnten sie ihn ja schlecht bringen«, erwiderte Pietro. Als Mafalda nicht darauf reagierte, beugte er sich verschwörerisch zu ihr und fügte hinzu: »Da wäre es wegen der vielen Touristen ja auch viel zu unruhig.«

Mafalda war nicht nach Späßen zumute. Gegen den eigenen Willen aufs Festland gebracht zu werden – allein das wäre für sie schon die Höchststrafe. Und sie machte sich Sorgen, wie es dem eher labilen Beppe in der fremden Umgebung wohl gehen würde.

»Was wird ihm denn vorgeworfen?«, fragte sie.

Pietro tippte eifrig weiter.

»Das kann ich hier leider nicht sehen. Die Akte ist gesperrt.«

»Das hätte deinen Großvater nicht gehindert«, sagte sie ein wenig spitz, aber mit freundlich-bittendem Lächeln.

Pietro drehte sich weg vom Computer, beugte sich wieder zu ihr und schaute ihr tief in die Augen.

»Mein Großvater hat sich auch noch mit staubigen Aktenordnern statt mit passwortgeschützten Dateien im Intranet des Justizministeriums beschäftigt.«

Mafalda schaute ein wenig enttäuscht drein.

»Aber ich kann noch ein bisschen herumtelefonieren. Vielleicht kriege ich doch etwas raus«, meinte Pietro.

Mafalda tätschelte Pietros Wange und legte ihm dann die Hand auf die Schulter.

»Das ist der Geist deines Großvaters! So hätte der das gemacht«, sagte sie, wieder etwas zu laut. Und alle im Büro starrten auf ihren Enkel.

Sie wollte gerade aufstehen und sich verabschieden, als Pietro sich erhob und freudig in Richtung Tür blickte. Ein junger Mann hatte den Raum betreten, Mitte zwanzig, groß, schlank, mit Dreitagebart, hellblauen wachen Augen und blondem halblangen Haar, was eine Seltenheit hier in dieser Gegend war. In der rechten Hand hielt er eine rote Rose. Er ging zielstrebig an Mafalda vorbei auf Pietro zu, schaute unsicher zwischen ihm und Mafalda hin und her und küsste ihn flüchtig auf die Wange.

Pietro zuckte erneut zusammen, lief wieder rot an und schaute sich verlegen im Raum um.

»Herzlichen Glückwunsch zur Beförderung«, sagte der junge Mann.

Pietro stammelte etwas wie »Danke«, fasste sich wieder und sagte dann, noch immer stehend, zu seiner Großmutter: »Nonna, du kennst Angelo?«

Mafalda nickte stumm, verzog aber keine Miene. Angelo schaute zwischen ihr und Pietro hin und her und begrüßte sie dann zaghaft. Dass Pietro und Angelo schon seit einem Jahr ein Paar waren und seit einigen Wochen zusammenwohnten, war Mafalda natürlich nicht entgangen. Nur hatte ihr Goldenkel bislang noch nicht den Mut gefunden, dies seiner geliebten Großmutter zu erzählen. Was sie sehr ärgerte, denn schließlich war ihr Pietros Glück am wichtigsten. Und sie war ja auch nicht von gestern! Jedenfalls nicht in dieser Hinsicht.

Doch solange er sie nicht ins Vertrauen zog, würde sie von ihm weiterhin als von ihrem unverheirateten Enkel sprechen und ihm bei jeder sich bietenden Gelegenheit ledige junge Frauen vorstellen, was ihr eine diebische Freude bereitete.

»Es ist schön, dass du so gute Freunde hast«, sagte sie zu Pietro und lächelte Angelo übertrieben wohlwollend an. Dann drehte sie sich wieder zu ihrem Enkel und nestelte an seiner Krawatte herum. »Dein Großvater hatte auch immer viele gute Freunde.«

Angelo hatte seine Wangen aufgeblasen und entließ die Luft deutlich hörbar aus seinem Mund, was ihm einen strafenden Blick von Pietro einbrachte.

»Reicht es, wenn ich heute Abend nach der Arbeit bei dir vorbeikomme, um dir zu erzählen, was ich über diesen Beppe herausgefunden habe?«, fragte Pietro, offenbar, um möglichst schnell das Thema zu wechseln.

»Benissimo«, antwortete Mafalda. »Dann koche ich uns was. Ein gemeinsamer Abend – nur für uns zwei.«

Angelo wollte etwas sagen, doch Mafalda war schon aufgestanden, hatte ihre Handtasche genommen und knöpfte im Gehen ihren Mantel zu.

»Und weiter schön fleißig arbeiten. Dann schaffst du es auch zum capitano, wie dein Großvater!«, rief sie quer durch den Raum, und sah, dass Pietro schon wieder dunkelrot anlief.

»Irgendwann musst du es ihr wirklich mal sagen«, hörte sie Angelo noch leise hinter sich murmeln. Doch war die Tür schon fast ins Schloss gefallen, und sie beschloss kopfschüttelnd, das zu überhören.

5

Nach dem Besuch bei Pietro war Mafalda gleich weitergegangen, erst am Kanal entlang und dann nach links durch die schmale Calle Angelo dal Mistro. Wenn sie heute Abend für Pietro kochen wollte, musste sie noch einkaufen. Für Mafaldas Verhältnisse wurde dieser 1. März schon fast ein wenig stressig.

Auf halber Höhe der calle bemerkte sie aus dem Augenwinkel zwei neue Graffiti an der verwitterten Backsteinwand zu ihrer Linken. Sie runzelte kurz die Stirn, wollte schon etwas Unflätiges ausstoßen, als ihr Blick auf das kleine Mädchen mit Zöpfen und Luftballon auf einem der Wandbilder fiel. An seiner Hand hielt es etwas Pelziges, eine Mischung aus Plüschtier und Ratte vielleicht. Und gemeinsam sprangen sie in eine Pfütze.

Das Motiv gefiel Mafalda, und sie musste lächeln. Sie schaute sich verstohlen um, ob auch niemand sie beobachtete. Aber sie war allein und blieb stehen, um das Bild genauer zu betrachten. Es wirkte einfach zu sympathisch auf sie. Wie ein Foto von ihr aus Kindertagen auf Murano.

Die Wand hätte so oder so schon lange frische Farbe gebraucht. Und schließlich konnte sie ja nicht über neue Kunstwerke schimpfen, wenn sie drüben in Venedig Beppe helfen und wegen der zerstörten Gemälde selbst ermitteln würde. Das zumindest sagte sie sich im Stillen, schüttelte den Kopf und ging vergnügt weiter.

Während sie am campo vor ihrem Haus vorbeilief, stellte sie in Gedanken die Einkaufsliste für den heutigen Abend zusammen. Natürlich würde sie das alles bei Susanna kaufen. Nur in ihrem alimentari bekam sie sämtliche Zutaten so frisch und von guter Qualität, wie sie dies wollte.