Maganon - J. S. Ellen - E-Book

Maganon E-Book

J. S. Ellen

0,0

Beschreibung

Sam ist ein unsicheres und unscheinbares 16-jähriges Mädchen, dass sich in ihrem Leben nie richtig wohlfühlt. Als ihre Mutter auf mysteriöse Weise verschwindet, kommt eine Lawine an Ereignissen ins Rollen, die Sam vor schier unüberwindbare Herausforderungen stellt. In den Fängen des Königs - einer ihr bis dahin unbekannten Welt - wird ihr das Herz entrissen und die pure Dunkelheit eingepflanzt. Sie verliert sich selbst und wird übermächtig. Doch so ganz ist Sam noch nicht verloren. Die -gute- Sam ist als winziger Teil in der Bösen zurückgeblieben und kämpft um ihren Körper, um ihren Geist und ihre Macht. Ihr Freund Elias befreit sie auch den Fängen des Königs und Sam kehrt mit ihm gemeinsam ins Hauptquartier einer geheimen Garde zurück. Sam fällt in ein tiefes Loch aus Scham und Schuld, zweifelt an sich und daran, die Prophezeiung abwenden zu können. Zweifelt daran, dass Elias ihr verzeihen kann, was im Schloss geschehen ist. Doch die Liebe der beiden ist stark genug zu überstehen, egal was geschieht. So finden sie zum Ende des Buches die Hoffnung, die Sam so dringend brauchte und das Wissen, dass egal wie schlecht eine Zukunft auch aussehen mag, sie nie unabänderbar ist.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 406

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

PROLOG

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

PROLOG

Allegra von Elysion 14 Jahre zuvor

„Wir müssen hier weg!“ Panisch rannte ich auf ihn zu.

Als er mich sah und gleichzeitig bemerkte, was hinter mir los war, erstarrte er. Mit weit aufgerissenen Augen sah er zwischen mir, dem Wunder in meinen Armen und der Hölle hinter mir hin und her.

Er wusste was ich wollte, wofür es keinen Ausweg mehr gab. Wir mussten fliehen. Nie hätte ich gedacht, dass es wirklich passierte. Hier bei uns.

War es wirklich möglich?

Er reagierte ruhiger als ich, er war Krieger durch und durch.

Er war schon immer der kühle Kopf gewesen.

„Flieh! Nimm Sam und versteckt euch. Schützt euch mit allem was du hast und kommt nie wieder zurück. Versprich mir, dass ihr von hier fernbleibt. Sobald sich alles beruhigt hat, werde ich euch finden und bei euch sein. Das schwöre ich bei meinem Leben.“

Mit Tränen in den Augen blieb ich vor ihm stehen.

„Bitte komm mit uns, ich schaffe das nicht allein!“ flehte ich. Doch alles Flehen nützte nichts, er blieb standhaft, nahm mich in die Arme und lehnte seine Stirn gegen meine.

„Ich werde immer bei euch sein.“

Mit diesen Worten küsste er mich auf die Schläfe, sah uns kurz in die Augen und rannte an mir vorbei, genau in die Hölle hinein.

Eine riesige Rauchwolke drang vom Boden in Richtung Himmel, jemand hatte einen Brand gelegt.

Das Dorf, das ums Schloss herum lag, brannte. Einige Häuser waren bereits bis auf ihre Grundmauern niedergebrannt, die Schreie der Leute drangen tief in meine Seele.

Ich musste fliehen.

Einst hatte ich geschworen, mein Leben für dieses Land zu lassen und so schwer es mir fiel, musste ich fliehen.

Denn überleben konnte dieses Land nur mit ihr.

Der Schlüssel für das Überleben dieser Stadt, dieser und der anderen Welt hing an dem Kind, das ich in den Armen hielt.

An meiner Tochter.

In ihr sammeln sich die Kräfte, die Kräfte der Krieger, der Magier, der Heiler, der Allwissenden und der Könige.

Sie wird der Schüssel sein, der alles entscheidet.

Doch mit ihren zarten zwei Jahren wird sie es jetzt noch nicht können. Sie muss wachsen und gedeihen und wenn es soweit ist, werde ich sie trainieren müssen. Werde ihr zeigen müssen, wozu sie fähig sein würde.

Doch bis dahin wird noch einige Zeit vergehen. Ihre volle Macht wird sich erst an ihrem 16. Geburtstag entfalten, bis dahin wird und soll sie ein normales Leben führen.

Ich senkte den Kopf und gab ihr einen sanften Kuss auf die Stirn. Und dann rannten wir. Um unser Leben und das Leben dieser Welt.

Kurz hielt ich inne, holte Atem und sah sie an.

„Meine kleine Samantha, auf dir lastet die Bürde, diese Welt zu befreien. Nur du wirst ihr den Frieden bringen können, den sie verdient. Ich werde an deiner Seite stehen, so wie tausend andere. Dein Vater wird hier für dich, für uns kämpfen. Wir werden ihn wiedersehen. Das verspreche ich dir.“

Nie hatte ich gedacht, dass ich diesen Weg gehen müsste.

Nie hätte ich gedacht, dass ich es bin, die das Unheil ins Haus holte.

Wieso hatte ich gerade ihn geheiratet?

Wieso hatte ich nicht auf mein Herz gehört und hätte mich verstoßen lassen?

Doch es war zu spät, Vergangenes ist Vergangen und die Zeit wird zeigen, ob die Zukunft auf unserer Seite ist.

EINS

„Sam, jetzt mach. Du kommst zu spät!“

Abermals hallte der Schrei meiner Mutter durch die Wohnung.

Verschlafen öffnete ich meine Augen, starrte an die raue Decke meines Zimmers und zog mir murrend die Decke über den Kopf. Ich war doch gerade erst eingeschlafen.

Ist es wirklich schon wieder Morgen?

Mit einem Klopfen machte meine Mutter erneut auf sich aufmerksam.

Mit ihrer irritierend perfekten Art achtete meine Mutter penibel darauf, dass ich weder zu spät zur Schule kam noch das Frühstück verpasste.

„Ich komm ja schon!“

Schicksalsergebend stand ich auf.

Der Ruf meiner Mutter hallte noch in mir nach, als ich mich schwerfällig aus dem Bett erhob und langsam Richtung Badezimmer schlurfte.

Während ich vor dem Spiegel stand und mein Spiegelbild anstarrte, kämmte ich mir mein Haar, versuchte es in einem Zopf zusammenzufassen und erledigte den Rest meiner Morgenroutine.

Doch egal wie groß die Mühe war, mein Spiegelbild verriet mir die Wahrheit. Es hatte einfach nichts gebracht, meinen blonden Lockenkopf bändigen zu wollen. Jetzt schon suchten sich die ersten Strähnen ihren Weg aus meinem Zopf. Sie hatten einfach ihren eigenen Kopf.

Tatsächlich war es aber mein Gesamtbild, was mich nicht nur störte, sondern auch verzweifeln ließ.

Ich war immer noch kleiner als der Rest aus meiner Klasse und egal wie viel Sport ich trieb oder wie wenig ich aß, ich blieb einfach speckig, naja wohl eher dick.

Durch die Locken wirkte ich nicht nur klein und jung, sondern auch ziemlich zerstreut, was meine großen Augen zusätzlich unterstrichen.

Frustriert von meinen mäßig bis nicht vorhandenen Erfolg ging ich in die Küche und setze mich meiner Mutter gegenüber an den Tisch in unserer kleinen, sehr, sehr kleinen Küche.

Der Tisch stand unter dem einzigen Fenster im Raum.

Wie alles in unserer Wohnung, war auch dieser Raum sehr spartanisch eingerichtet. Es gab nur eine winzige Küchenzeile, sofern man die zusammengewürfelten Schränke und Elektrogeräte überhaupt als sowas hätte bezeichnen können.

An der gegenüberliegenden Wand, also der Wand auf die ich blickte, stand ein Mülleimer und über diesem hing das einzige Bild der Küche.

Eines, das mich bei dessen Betrachtung manches Mal schon aus der Bahn geworfen hatte. Denn egal wie oft ich es bereits betrachtet hatte, ich erhielt jedes Mal einen anderen Eindruck davon. Und manches Mal vermischte der Eindruck sich mit einem unguten Gefühl.

Heute jagte mir die herbstlich anhauchende Baumallee einen Schauer über den Rücken. So, als würde ich den Wind wirklich spüren, den das Bild mir weismachen wollte.

Als Betrachter des Bildes blickte man über ein langes Stück des Weges, der zwischen der Allee durchführte und immer kleiner wurde und doch kein Ende zu nehmen schien. Betrachtete das vereinzelt fallende oder bereits liegende Laub und sah am Wegesrand, zwischen den Bäumen die schmiedeeisernen Bänke.

„Wie geht es dir, mein Schatz?“

Meine Mutter riss mich aus meinen Gedanken und Betrachtungen.

„Mir geht es gut, Mom!“ genervt verdrehte ich die Augen. Immer dasselbe.

Mit einem Blick, der tausend Fragen aufwarf, prüfte meine Mutter mich und meinen Zustand. Als wäre ich krank oder verrückt. Sorgenfalten zierten ihre Stirn.

Die Angst, die sie dabei zu empfinden schien, war fast körperlich spürbar. Doch konnte ich diese Angst nicht nachvollziehen.

Denn das einzige Unberechenbare in unserem Leben waren die Wettervorhersagen und die Lottozahlen.

Bei uns war alles fest durchgeplant und getaktet. Jeder Morgen, jede Stunde, einfach jeder erdenkliche Moment jedes einzelnen Tages in unserem Leben war durchstrukturiert.

Ihre Ausrede oder Erklärung hierfür, war ihre Abneigung gegen Spontanität. Ganz nachvollziehbar war das nicht. Und was ließ sich ein Pubertierender Teenie nicht gefallen? Richtig… zu viele Regeln und Pflichten.

Also versuchte ich seit Beginn der Pubertät gegen dieses Verhalten zu rebellieren. Mit mäßigem Erfolg.

Einen Erfolg auf meiner Liste, den ich verbuchen konnte, war das Treffen mit meinen Freunden nachmittags. Natürlich nur nach Absprache mit meiner Mutter.

Und obwohl mich meine Mutter so sehr in Beschlag nahm, mich abschottete und möglichst nicht rausließ, hatten wir es geschafft unsere Freundschaft aufzubauen und zu stärken.

Mittlerweile sind wir ein eingespieltes Vierergespann, das kaum etwas ohne die anderen unternahm.

„…sein….uns….bringe…“

„Mom, du brabbelst schon wieder“

„Oh,“ aufgeschreckt sah meine Mutter von ihrer Zeitung hoch „tut mir leid, ich war schon wieder in Gedanken.“

Das Brabbeln, eine weitere Eigenart meiner Mutter, war nichts Neues. Mindestens zwei Mal die Woche brabbelte sie morgens drauf los, immer zusammenhangloses und unverständliches Zeug. Angeblich immer dann, wenn etwas in der Zeitung stand, was sie aufregte. Doch immer, wenn ich die Zeitung dann in die Hand bekam und sie durchblätterte, fand ich nichts Merkwürdiges, was mich hätte aufregen können.

Aber vielleicht erkannte ich die Dinge einfach nicht, die meine Mutter aufregten. Wie immer fand ich auch heute nichts in der Zeitung, das auch nur annähernd aufregend gewesen wäre. Schulterzuckend legte ich die Zeitung auf den Küchentisch und sah aus dem Fenster. Betrachtete die Häuser dieser Stadt.

Merkwürdigerweise passierte in dieser fast nie etwas.

Was an sich schon ein Wunder war, denn wir lebten in einer großen Stadt, die nicht nur dicht bebaut, sondern auch bewohnt war.

Durch die wenigen Mittel, die meine Mutter besaß, teilten wir uns eine 2-Zimmer Wohnung. Ihr Job war nicht ausreichend, um etwas Größeres zu finanzieren.

Als ich anbot, nebenbei arbeiten zu gehen, wäre sie mir am liebsten an den Hals gesprungen.

Aber nicht, weil sie sich freute, sondern um mich wach zu rütteln und meinen Verstand wieder auf Spur zu bringen.

Das ich arbeiten ging, war für ausgeschlossen.

So schlief sie im Wohnzimmer, während ich mein eigenes Zimmer hatte und ungestört für die Schule und, wie meine Mutter immer sagte, für eine bessere Zukunft lernen konnte.

Als wir unser Frühstück ohne viele Worte beendet hatten, ich aufstand und mein benutztes Geschirr in die Spülmaschine räumte, merkte ich ihren Blick auf mir und drehte mich zu ihr um.

In ihrem Blick langen Trauer und Bedauern. Ihre Haut wirkte noch fahler als sonst und auch die Sorgenfalten wurden von Tag zu Tag tiefer. Schnell wich sie meinem Blick aus und stand auf.

„Mom? Irgendwann wirst du mir verraten müssen, wieso du mich so ansiehst als würde ich jeden Moment Tod umfallen.

Das ergibt doch keinen Sinn! Mir geht es gut!“

„Ja irgendwann…“ flüsterte sie so leise, dass ich es kaum verstehen konnte und verließ mit herabhängenden Schultern die Küche.

Pünktlich um 7:30 Uhr klingelte es an der Tür. Eins der Rituale die ich lieben gelernt hatte. Jeden Tag holte mich Lena morgens ab und gemeinsam gingen wir zur Schule.

„Lena ist da, ich gehe jetzt los!“ rief ich meiner Mutter in Richtung Bad zu, wo sie sich um diese Uhrzeit immer befand.

Ich schlüpfte in meine Jacke und in meine Schuhe, schnappte mir mein Handy und meine Tasche und zog die Tür hinter mir zu. Immer eine Stufe auslassend rannte ich die Treppen nach unten, wo Lena schon freudestrahlend auf mich wartete.

Völlig außer Puste blieb ich vor ihr stehen und begrüßte sie.

„Na, Sam? Breite für den heutigen Tag?“ fragte Lena mit einem Funkeln in den Augen, das ich nur zu gut kannte.

Seit Wochen freute sie sich schon auf den Beginn des Kartenvorverkaufs für den Abschlussball.

Damit fiel dann auch der Startschuss für die Jungs in unserer Stufe, um uns nach einem Abschlussball- Date zu fragen.

So zumindest Lenas These.

Sie brauchte sich ja auch keine Sorgen zu machen, eventuell allein hingehen zu müssen. Immerhin war sie groß und schlank, mit Abstand das hübscheste Mädchen der Schule. Mit ihren schokobraunen Augen, den langen glatten blonden Haaren, die der Wind hin und her wirbeln ließ, ihrem perfekt geschnittenen Gesicht und ihrer makellosen Haut, verzauberte sie alle, denen sie begegnete. Sie strahlte von innen und außen. Wir bildeten einen harten Kontrast, nicht nur optisch und merkwürdigerweise – ich konnte es mir bis heute nicht erklären - mochte sie mich.

Die, die immer mürrisch in die Welt hinausblickte, die, die sich nie richtig kleiden und ihr nie in irgendwas das Wasser reichen konnte. Die, die das Leben zwischendurch echt leid war.

Eigentlich dachte ich immer, ich würde sie langweilen.

Ich verstand nie, was sie an mir fand.

Selbst ihre Euphorie konnte ich nicht teilen, denn ich hatte Angst vor dem heutigen Tag. Grundsätzlich war ich allem gegenüber eher vorsichtig eingestellt.

Vor allem zum Thema Ball hatte ich ganz klar eine andere Meinung als sie.

Denn ich hatte keine Lust, immer wieder vor Freude schreiende Mädchen ausflippen zu sehen, während ich nicht eine Einladung bekäme und am Ende sogar allein zum Ball gehen musste.

Unser Schulweg führte uns durch den einzigen Park dieser Stadt, der unmittelbar hinter dem Wohnhaus, in dem meine Mutter und ich lebten, lag. Er lag so nah daran, dass ich von meinem Zimmer aus beinahe die Bäume berühren konnte.

Jeden Morgen genossen wir das bisschen Natur, das uns damit geboten wurde und natürlich wollten wir auch nicht länger als nötig in der Schule rumhängen, warum wir also so gemütlich gingen, dass es schon fast an Slow Motion grenzte.

Währenddessen holte Lena beim Sprechen kaum Luft, sie war vollkommen in ihrem Element. Es versprach für mich also ein absolut anstrengender Tag zu werden.

Vor der Eisdiele an der Ecke, die jetzt natürlich noch geschlossen hatte, warteten bereits Elias und Julian auf uns. Zwei Jungs aus unserer Stufe, die unser Vierergespann vervollständigten.

Diesen Treffpunkt hatten wir vor etwa einem Jahr festgesetzt und seitdem war es fast Gesetzt, dass wir aufeinander warteten.

Noch so ein liebgewonnenes allmorgendliches Ritual. Von hier aus gingen wir gemeinsam zur Schule.

Noch immer hing ich meinen Gedanken an den bevorstehenden Tag nach, als Lena schon ganz aufgeregt die beiden Jungs ausquetschte. Wen sie fragen wollen würden. Mit wem sie denn am liebsten zum Ball gehen würden und mit wem zur Not, falls kein anderes Mädchen zusagte.

So quetschte sie die Jungs aus, von ihrem Plan A bis Z. Ich hörte nur mit einem Ohr zu. Wirklich interessieren tat mich das Gespräch nicht. Dennoch merkte ich, dass Elias immer schweigsamer wurde, während Julian und Lena sich lauthals ihre Erfolgsquote ausrechneten.

Ich konnte Elias schweigen verstehen. Bei Julian ist der Erfolg genauso vorauszusetzen wie bei Lena. Auch er war überdurchschnittlich. Er war groß und athletisch, war Kapitän der Fußballmannschaft unserer Schule und würde sogar ein Stipendium für eine renommierte Universität bekommen.

Sofern er seinen Abschluss bestand.

Seine markanten Gesichtszüge machten ihn nicht nur äußerst attraktiv, sie ließen ihn vor allem deutlich reifer wirken, als er war.

Mit seinen hellbrauen Haaren und den dunklen Augen, die Geheimnisvoll blitzen, strahlte er eine gewisse Gefahr aus. Eine schwer einzuschätzende Aura war sein ständiger Begleiter.

Viele Mädels fanden vor allem diesen Aspekt anziehend. Ich jedoch war froh ihn als Freund zu haben, denn als Feind hatte man gegen ihn keine Chance.

Nach einigen Minuten kamen wir an der Schule an.

Wenn man nicht wusste, dass es eine Schule war, konnte man glatt daran vorbeilaufen. Einfach, weil sie aussah wie ein Wohnhaus mit acht Etagen. Ein hohes, altes Backsteingebäude ohne Besonderheiten, ohne Merkmale, ohne Charakter. Schulen besaßen normalerweise immer etwas, dass sie als Schule kennzeichnete. Ein großer Vorplatz mit allerlei Abstellmöglichkeiten für Fahrzeuge. Einen Hof, den man zur Pause nutzen konnte oder zumindest ein Schild über dem Eingang, dass es als Schule kennzeichnete. Unsere Schule hatte nichts dergleichen.

Schüler tummelten sich zu Pausen- und Randzeiten in den Gängen oder hinter dem Gebäude auf öffentlichen Plätzen. Hinter dem Gebäude gab es einen kleinen „Garten“ der als Pausenhof genutzt werden konnte.

Und wir alle taten es so oft, wie nur möglich.

Da unsere Stadt so dicht bebaut war, riss man das ehemalige imposante, charismatische Schulgebäude ab und setzte Wohnhäuser an seine Stelle. Man sparte den Platz auf eine große Fläche verteilt und nutzte die so gewonnene Fläche, um viele neue und vor allem hohe Häuser zu bauen.

Nämlich gestapelt.

Aus diesem Grund wurde die wunderschöne Schule kurzerhand in dieses alte Haus verfrachtet.

Kaum das wir durch die Eingangstür getreten waren, hörte man die ersten Auswirkungen des Tages. Anstatt einfach zum Unterricht zu gelangen, brach das reinste Chaos aus.

Auf den Fluren tummelten sich die Schüler und tratschten was das Zeug hielt. Die ersten Karten wären schon verkauft worden und die Spekulationen über die Paarzusammenstellung ging im Fauchen und Keifen einiger Schülerrinnen unter.

Anscheinend stritt man hier bereits um die beste Partie. In dem Fall Julian, der das Geschehen amüsiert beobachtete.

Er genoss es sichtlich so im Mittelpunkt der Damenwelt zu stehen.

Auf dem Weg hierher hatte er durchsickern lassen, dass er mit seiner Entscheidung bis kurz vor dem Ball warten wollte.

Immerhin sollte man sich alle Möglichkeiten offenhalten und nicht direkt bei jemanden zusagen. Und obwohl der eigentliche Plan „Damenwahl“ war, wurden Julian auf dem Flur schon schöne Augen gemacht, er wurde mehrfach angesprochen und sprach seinerseits Mädchen an. Und das nur, weil er es genoss, wie sie zappelten und um seine Gunst bettelten.

Er verhielt sich wie ein Arsch.

- Wieso waren wir gleich nochmal mit ihm befreundet? -

Er wusste, dass sein Charme und sein Aussehen für sich sprachen und auf dieser Schule ohne Konkurrenz waren.

Natürlich wollte er sich nicht mit irgendeiner dahergelaufenen jungen Dame abgeben. Er doch nicht. Es musste schon was wirklich Tolles sein, halt so ein Mädchen wie Lena eines war.

Groß, schlank, hübsch und das Herz am rechten Fleck. Am liebsten wollte er eines, das schon ein bisschen naiver war, also nicht wie Lena. Denn sie war alles, aber nicht naiv.

Lena schien für ihn Tabu zu sein, immerhin war das Ziel dieses Balles bei den Jungs immer das gleiche und Lena sollte für sowas nicht herhalten. Für sowas würde er nicht unsere Freundschaft riskieren.

„Ich geh dann mal zu Bio“ Elias war der erste, der sich aus unserer Gruppe löste und mit gesenktem Kopf durch den überfüllten Flur Richtung Biologiesaal davonlief.

„Ich geh dann auch mal“ sagte ich schnell, um mich Elias anzuschließen. Er wirkte irgendwie geknickt und egal welche Sperenzchen ich versuchte, seine Stimmung wurde nicht besser.

„Elias, nun sag schon, was los ist. Dir macht doch der Ball nicht so viel aus, oder?“ fragend sah ich ihn an „Du weißt ganz genau das du nicht allein hingehen wirst. Bei dir stehen die Damen auch Schlange. Vielleicht nicht ganz so laut wie bei Julian, aber deine Auswahl ist doch nicht kleiner, als seine.“ Elias war nicht so offensichtlich hübsch oder athletisch wie Julian. Elias war groß und schlank, hatte schwarze Haare und strahlend blaue Augen, die je nach Lichteinfall schimmerten, als würden Wolken über den Himmel ziehen. Er war eher vom Typ verschlossen, als dass er mit sich angab, prahlte und in einer Tour erzählte. Er war ruhig und ließ nur wenige Leute an sich heran und genau das verband uns von Anfang an. Denn auch ich konnte mich Menschen immer nur sehr schwer öffnen.

„Es geht nicht um den Ball!“ Er klang verärgert.

Umso weniger verstand ich seine Laune.

„Worum geht es denn dann?“

„Ist egal!“ erwiderte er.

Oh man, und ich dachte immer Frauen waren die, mit den Stimmungsschwankungen.

„Wenn es egal wäre, würdest du nicht so ein Gesicht ziehen.“ Ich ließ nicht locker, kannte ich ihn doch gut genug, um zu wissen, dass das was ihn bedrückte schwer auf ihm lastete.

„Ok, dann nicht egal, aber nicht wichtig, …nicht jetzt!“

„Okay….“ Gespannt ob noch eine Ausführung folgen würde lief ich neben ihm her, doch Elias schwieg.

So ließ ich es auf sich beruhen.

Nachdem wir den vormittags Unterricht beendet hatten, besorgen wir uns in der Kantine etwas zu essen. Die Auswahl war Bescheiden, es gab reichlich Junkfood und Süßkram. Nach Salaten oder ähnlichem Gesunden suchte man hier vergeblich. Das „neue, gesunde“ Denken hatte hier noch nicht Einzug erhalten. Mit unserem Essen gingen wir nach draußen auf die Wiese im Garten/ Innenhof. Ich setzte mich, die Knie angezogen, das Tablett neben mir platziert und schloss die Augen. Das Gesicht in Richtung Sonne gestreckt ließ ich meinen Gedanken freien Lauf. Die Sonnenstrahlen streichelten meine Haut und hinterließen ein angenehmes Prickeln. So erlaubte ich mir Gedanken, die ich mir sonst kaum gestattete. Erlaubte mir zu Träumen.

Mit wem würde ich gern auf den Ball gehen, was sollte ich anziehen? Würden wir eine Limousine Mieten oder einfach herlaufen? Würde ich meinen ersten Kuss erhalten und auf Wolke sieben schweben?

Als sich eine Wolke vor die Sonne schob und meine Umgebung sich leicht verdunkelte, trafen mich die realistischen Gedanken, die, die ich eigentlich eher hätte haben sollen. So traf mich die Realität härter, als ich wollte.

Hatte es überhaupt einen Sinn sich vorzustellen wie es wäre, wenn? Denn die Chancen gefragt zu werden, waren verschwindend gering.

So driftete ich mit meinen Gedanken in die andere Richtung ab.

„Na, Sam? Worüber denkst du nach?“

Lena stand direkt vor mir, die Hände in die Hüften gestemmt, und sah belustigt auf mich herunter.

Röte stieg meine Wangen hinauf und ich sah beschämt nieder. Der Nachteil an „engen“ Freundschaften ist, dass die Anderen oft ahnten, dass man mit den Gedanken woanders war.

„Öhm…. Über nichts…. Ich habe nur die Sonne genossen“

„Mach dir keine Sorgen Sam, auch du wirst ein Date zum Abschlussball bekommen und wenn es soweit ist, werde ich mit dir shoppen gehen und wir werden etwas ganz Traumhaftes für dich finden.“

Ihre Einstellung ließ mich noch weiter versinken. Glaubte sie ernsthaft etwas Traumhaftes für jemanden wie mich finden zu können?

„Ich glaube ich gehe nicht zum Ball! Sowas ist einfach nichts für mich und so wie ich meine Mutter kenne, wird sie mich bestimmt eh nicht hingehen lassen.“

„Du kannst doch nicht…. Das kann doch nicht dein Ernst sein!“ Lena starrte mich Enttäuscht an. Aus ihren Augen sprühten ihre Gefühle und erschlugen mich fast.

„Das ist unser Abend und du willst nicht hin? Das will und werde ich nicht akzeptieren. Du bist meine beste Freundin!“ Sie lief vor mir auf und ab, während ich sie dabei nur stumm beobachtete.

„Meinst du, ich würde Spaß am Ball haben, wenn ich wüsste du sitzt zuhause und schmollst rum, weil du angeblich so allein bist? Niemals Sam, hörst du?“

Lena schnaubte wie ein Stier. Wut stand in ihrem Gesicht. Dann wandte sie sich abrupt ab und ging wutentbrannt mit schnellen Schritten davon.

Geschockt, über ihre Reaktion, sah ich mich um und prüfte mit unsicherem Blick, ob jemand diese Szene mit angesehen hatte. Aber außer Julian, der mich spöttisch lächelnd ansah, wirkte es nicht so als hätte jemand dem Ganzen Beachtung geschenkt. Julias Stimme drang an mein Ohr.

„Somit steht dann wohl fest das du kommst, du musst nur noch deine Mutter davon überzeugen.“

Resigniert ließ ich meinen Kopf sinken und starrte auf die Wiese zwischen meinen Füßen.

Wie sollte ich meiner Mutter erklären, dass ich gerne auf diesen Ball gehen wollte, obwohl das eigentlich nicht zutraf? Zumindest nicht unter den Umständen. In einem anderen Leben, mit einem anderen Körper und anderem Selbstbewusstsein, wäre ich unheimlich gerne auf diesen Ball gegangen.

Ich konnte meine Mutter schlecht von etwas überzeugen, wovon ich selber nicht überzeugt war.

Als es endlich an der Zeit war, zum nachmittags Unterricht zu gehen, war ich froh um die Abwechslung in meinem Kopf.

Endlich keine Gedanken über den Ball mehr machen, oder darüber, wie ich meine Mutter überreden sollte.

Langsam betrat ich den Raum und steuerte unsere Plätze in der letzten Reihe an. Als ich mich setzte, begann auch schon der Unterricht.

Bevor Herr Zimmermann seinen ersten Satz beendet hatte, riss jemand die Tür auf. Erschrocken blickten wir zur Tür, als der Schulsprecher, gefolgt von seiner Stellvertretung freudestrahlend den Klasseraum betrat. Der Stellvertreter stand schräg hinter dem Schulsprecher und hielt ein Klemmbrett in der einen und einen Stift in der anderen Hand. Er schrieb eifrig ein paar Zeilen, während die Augen des Schulsprechers einen nach dem anderen aus der Klasse ganz genau betrachteten. Nachdem er alle betrachtet hatte und -warum auch immernickte, teilte er uns mit, dass der Vorverkauf für den Ball begonnen hat und wir uns schnell ein paar Karten kaufen sollte, bevor keine mehr da waren.

„Als ob wir das noch nicht mitbekommen hättet“ flüsterte ich genervt in Lenas Richtung.

Doch ein Blick in ihre Augen verriet mir, dass sie meine Meinung nicht teilte. Natürlich spiegelte sich in ihnen die Freude über den Ball und allem was dazugehörte. Eben auch der Hype um die Karten. Bei ihr konnte ich meinen Unmut über den Ball nicht äußern. Ich konnte ihr daraus keinen Vorwurf machen, sie freute sich schon ihre ganze Schulzeit über auf diesen Tag.

Genau diese Unterschiede machten es mir schwer, zu erkennen, was sie an mir mochte. Was sie bei mir hielt.

Nachdem die beiden Störenfriede wieder verschwunden waren, hatte Herr Zimmermann, unser Mathelehrer, sichtlich Mühe die Schüler wieder zu beruhigen.

Als es ihm endlich gelungen war, rutschte Lena näher an mich heran „Mit wem würdest du denn gern zum Ball gehen?“ Sie war so neugierig, wie eh und je.

„Am liebsten allein!“ antwortete ich prompt. Natürlich kam diese Antwort für sie ein Ticken zu schnell und sie ließ sich damit nicht abspeisen. Sie bohrte nach.

„Also hast du einen Favoriten für den Ball?“ Ich verdrehte die Augen und begann in ironischen Ton zu antworten.

„Nein, Lena, ich finde nichts besser, als allein zum Ball zu gehen, um mich dann doof anglotzen zu lassen, weil…. Lass mich überlegen… weil die hässliche Dicke mal wieder keinen abbekommen hat!“

In der Hitze des Gefechts und meiner Stimmung entsprechend sind die letzten Worte leider zu laut aus mir herausgeplatzt und die ganze Klasse drehte sich zu mir um.

Ich spürte die Hitze meine Wangen hinauf wandern. Bevor ich rot wie eine Tomate werden konnte, packte ich meine Sachen zusammen und verließ gehetzt den Raum.

Die Tür schon weit aufgeschwungen hörte ich noch Herr Zimmermann nach mir rufen, doch das war mir jetzt alles egal.

Ich wollte nur noch weg.

Die ersten Schritte auf dem Flur hinter mich gebracht, beschloss ich einfach früher zu verschwinden und den Rest des Tages blau zu machen. Ich beachtete nichts und niemanden auf dem Weg nach unten.

Als ich aus dem Schulgebäude trat, vernahm ich ein Geräusch.

Jemand räusperte sich.

Bevor ich mich umdrehte, wusste ich, wer hinter mir stand und sich räusperte. Elias. Unmittelbar hinter mir und mich fragend ansehend.

„Darf ich dich ein Stück begleiten?“ fragte er nervös.

Ich bemerkte, wie er sich unruhig umsah. Gab aber nichts drauf. Vielleicht hatte er heute einen schlechten Tag. Was auch seine Stimmung von heute Vormittag erklärte.

„Eigentlich wäre ich jetzt gern allein, danke. Vielleicht kannst du mal mit Lena reden, damit sie mich in Ruhe lässt mit diesem Ball-Thema?“

Dann drehte ich mich um und lief im Jogg- Tempo los.

Meine überschüssigen Kilos machten es mir nicht leicht, lange zu rennen. Obwohl ich am liebsten dieses Tempo gehalten hätte, verfiel ich in einen schnellen Gang und setzte meinen Weg fort. Schon nach kurzer Zeit brannten meine Schienbeine und ich bereute meinen hektischen Gang.

Ich wurde ja nicht verfolgt, nur weil ich blau machte. Die Passanten sahen es mir vermutlich auch nicht an. Also bremste ich meine Schritte und ging in gemütlichem Tempo, planlos durch die Stadt. So ganz ohne Ziel.

Mein planloses Spazieren endete in einer, mir unbekannten, Gasse. Zumindest kam es mir so vor, als würde ich sie das erste Mal sehen. Das war kaum möglich, denn mit Lena, Julian und Elias war ich schon etliche Male einfach durch die Stadt gegangen um Geheime Orte zu finden, oder etwas Ähnliches.

Als wir noch kleiner waren, hatten wir immer wieder Detektiv gespielt und Leute beobachtet. Solange bis wir es wohl mal übertrieben hatten, die Polizei uns nach Hause brachte und bei unseren Eltern ablieferte. Wir wurden als Störenfriede bezeichnet, die den „Frieden der Nachbarschaft“ gestört hätten.

Es kommt wohl auf die perspektive an.

Als Kind, bzw. junger heranwachsender, gab es hier in der Stadt kaum Möglichkeiten sich zu entfalten. Langeweile war vorprogrammiert. Und was machten Teenies, wenn Langeweile aufkam? Naja, zumindest nicht unbedingt etwas Sinnvolles.

Mein Handy vibrierte und kündigte eine WhatsApp meiner Mutter an

Wo steckst du?

Ich sah auf meine Uhr. Wir hatten 15:25 Uhr. Normalerweise war ich schon seit ca. 10 Minuten zu Hause.

Da ich jedoch den Wahn meiner Mutter kannte, antwortete ich schnell und wechselte die Richtung.

Ich bin noch unterwegs

sorry, dass ich mich nicht gemeldet habe, ich komme jetzt nach Hause

Ohne Eile schlug ich den Weg nach Hause ein. Immer wieder huschten meine Gedanken zu der Gasse, die ich entdeckt hatte.

Auf den ersten Blick schien sie ganz normal zu sein.

Eben eine Gasse mit drei Backsteinwänden. Sie wirkte fast verwahrlost, was jedoch logisch war, weil sie im alten Stadtkern lag. In den Fugen zwischen den Steinen bereitete sich schon das erste Moos aus. Hier kümmerte sich wohl keiner um die Instandhaltung. Aber das ganze optische war nichts im Vergleich zu dem Gefühl, das ich in der Gasse hatte. Irgendwas war anders. Irgendwas fühlte sich in der Gasse komisch an, irgendwas lag in der Luft, dass ich nicht benennen konnte.

Hatte ich mir das nur eingebildet oder hatte die Wand am Ende der Gasse wirklich geschimmert?

In meiner Brust wuchs das Gefühl, von der Gasse angezogen zu werden. Und dieses Gefühl ließ auch jetzt nicht nach, es rückte nur weiter in den Hintergrund.

Als ich in der Gasse gestanden hatte, wollte ich nicht wieder gehen.

Ich konnte es nicht klar beschreiben, wusste aber, dass ich noch einmal hin musste.

Ich musste herausfinden, was es mit der Gasse auf sich hatte und wieso sie uns noch nie aufgefallen war.

Zu Hause angekommen, wartete meine Mutter schon mit einem Donnerwetter auf mich. Kaum das ich durch die Tür getreten war, legte sie auch schon los.

„Wie kannst du es wagen? Du weißt ganz genau, dass ich mir Sorgen machen, wenn du dich verspätest. Ich weiß, dass du Erwachsen wirst und deine eigenen Wege, irgendwann, gehen willst und dass ich dich auch dafür gehen lassen muss. Aber kannst du nicht wenigstens Bescheid sagen? Dir hätte Gott weiß was passieren können. Ich will nicht, dass du nach der Schule nochmal sowas machst. Ab morgen bist du wieder pünktlich zu Hause und mit deinen Freunden darfst du dich die nächste Zeit auch erstmal nicht treffen, bis du verstanden hast, wie viele Sorgen ich mir deinetwegen mache!!!!!“

„Mom, es waren 10 Minuten“, versuchte ich die Wogen zu glätten.

„Das tut nichts zur Sache. Du warst zu spät! Wo warst du überhaupt gewesen? Weder Lena noch Julian wussten wo du bist. Lena sagte du seist früher gegangen, genau wie Elias. Sie dachten du wärst nach Hause gegangen… ALSO, WO WARST

DU?“

Ihr Kopf wurde rot vor Wut.

„Ich musste den Kopf frei bekommen und mich abregen. Und bin einfach durch die Stadt gelaufen. Ich bin ja nicht weggelaufen. Ich wollte doch pünktlich zu Hause sein. Ich habe die Zeit nicht im Auge behalten. Ich war abgelenkt.“

Von der Gasse erzählte ich ihr lieber nicht, wer weiß, wie sie dann toben würde.

Das Klingeln an der Tür unterbrach die Diskussion zwischen uns. Sie ging zur Tür und öffnete. Wie bestellt und nicht abgeholt stand ich im Flur, traute mich kaum zu atmen und wartete.

Nachdem sie an der Tür gewesen war und sich mit einem strengen Blick wieder mir zuwandte, ging es unverändert weiter.

„Das war Elias, auch er hat sich Sorgen gemacht, weil er dich noch nie so gesehen hat. Was ist in der Schule vorgefallen, dass du so unbedingt gehen musstest?“

„Ach nichts!“

Jede andere Mutter, so glaubte ich zumindest, hätte sich fürsorglich danach erkundigt, was los gewesen war.

Mit einer anderen Mutter hätte ich vielleicht meine Sorgen geteilt, doch mit meiner Mutter war das nicht möglich.

Beleidigt und ohne ein weiteres Wort ging ich auf mein Zimmer und knallte die Tür extra laut zu.

Sollte sie doch merken wie sauer ich war, weil sie wegen 10 Minuten so einen Aufstand probte.

Sie konnte das alles ja sowieso nicht verstehen. Immerhin war sie nicht klein, dick, hässlich oder unbeliebt.

Meine Mutter war schön, hatte dunkle, fast schwarze lange Haare und grüne Augen. Ich sah ihr überhaupt nicht ähnlich, einzig ihre Augen hatte ich geerbt. Den Rest hatte ich dann wohl von meinem Vater, den ich noch nie gesehen habe.

Den ganzen Abend saß ich in meinem Zimmer und starrte abwechselnd an die Wand oder durch das Fenster.

Auch als meine Mutter zum Essen rief, blieb ich stur in meinem Zimmer auf meinem Bett sitzen. Mein Blick wurde von dem kleinen Park angezogen und letztendlich festgehalten. Der Park war ein Mysterium. Obwohl er das Bild eines ganz gewöhnlichen Parks, mit Bäumen, einem Brunnen und einigen Spazierpfaden mit Bänken vermittelte, war er doch etwas ganz Besonderes.

Für mich war er mehr. Er vermittelte mir ein gutes Gefühl, es war, als würde er leben und mir beistehen wollen.

Doch egal, wieviel Beistand ich von ihm erhalten konnte, die Schatten meiner Seele konnte auch er nicht vertreiben.

Ich hasste mein Leben. Ich hasste, dass ich das Gefühl hatte, immer nur den anderen widerfuhr etwas Gutes.

Wo war mein Glück? Wo begann mein Leben? Wo war Ich?

War es zu viel verlangt, dass ich mir ein wenig mehr Normalität wünschte.

Doch was war schon Normal?

Wir lebten hier in der Anonymität der Großstadt und meiner Mutter gefiel das gut. Damals, als wir herzogen, hatte sie mir zu erklären versucht, dass es für uns keinen besseren Ort gäbe an dem wir wohnen konnten. Wieso ihr diese Anonymität so wichtig war, erklärte sie mir nie. Aber das Leben in dieser Anonymität brachte sie mir sehr früh bei.

So hämmerte sie mir ein, Menschen auf Abstand zu halten, gegenüber anderen immer zurückhaltend zu sein und niemandem zu vertrauen. Das war schon immer so gewesen.

Und es wurde mit jedem Jahr, das ich älter wurde, schlimmer.

So kam es, dass ich den Kindergarten, die Spielgruppe, den Sportverein wechselte, sobald meine Mutter merkte, dass ich mich jemandem gegenüber öffnen wollte, jemanden an meinem Leben teilhaben lassen wollte.

Nach vielen Wechseln, hatte ich verstanden, wo das Problem lag. Seitdem ließ ich mein Umfeld nur noch soweit an mich heran, wie es meine Mutter für gut befand. Baute eine Mauer um mein Selbst, lernte mich abzukapseln und zu isolieren.

Niemand kam je zu uns zu Besuch, weder zu mir noch zu meiner Mutter. Auch das entsprang einer Vorsichtsmaßnahme meiner Mutter.

Im letzten Kindergarten, in dem ich dann auch bleiben durfte, traf ich das erste Mal auf Lena. Lena war anders, sie wollte nur spielen ohne viel zu reden und genau das wollte auch ich.

Kinder waren okay, solange sie nicht neugierig wurden, sagte meine Mutter. Doch zu den Erwachsenen sollte ich Abstand halten.

So wuchsen Lena und ich als Freundinnen zusammen, ohne dass es in den Augen meiner Mutter gefährlich wurde.

Und Lena wurde ein fester Bestandteil meines Lebens. Ich war froh sie getroffen zu haben und dass sie nie so genau nachfragte. Denn genau dieses Nachfragen war es gewesen, was meine Mutter immer stutzig gemacht hatte. Obwohl ich ihr über die Jahre hinweg tausendmal erklärt hatte, dass Neugier für Menschen ganz normal wäre, schien sie sich damit nicht abfinden zu wollen. Lena kannte mich, ohne nachgefragt zu haben. Sie sog die Informationen zwischen den Zeilen auf. Sie brauchte nicht fragen, sie sah den Menschen, wie er war und urteilte nicht über dessen Verhalten. Sie nahm es einfach hin, sie nahm mich, wie ich war.

Meine Mutter war ein sehr scheuer Mensch, ich glaube der scheuste, den ich je gesehen hatte. Sie verbarrikadiert sich zu Hause und las stundenlang irgendwelche Bücher. In den Augen der Anderen war sie eine sehr seltsame Frau.

Aber nur, weil man keinen Smalltalk mag und nicht zu jedem Kaffeeklatsch ging, war man doch nicht seltsam, oder?

Seltsam war meine Mutter in meinen Augen nur, wenn ich nach meinem Vater fragte. Dann wich sie nicht nur aus, sondern machte kryptische Bemerkungen.

Genau aus diesem Grund fragte ich seit einigen Jahren nicht mehr nach ihm. Doch es hatte eine Zeit gegeben, da hätte ich alles dafür gegeben, ihn zu sehen oder sogar kennenzulernen.

Ich wusste nicht einmal, ob er Lebte oder schon Tod war. Das Unwissen darüber zerfraß mich. Mal mehr, mal weniger.

Es gab bei uns zu Hause nicht ein Bild von ihm. Und meine Mutter erzählte nichts. Das Einzige, was sie immer und immer wieder sagte war, dass es besser wäre, wenn ich voll all dem nichts wusste. Also gab ich auf. Zumindest für sie. In mir drin wollte ich noch immer wissen wer mein Vater war.

Ab und an war sie selbst für mich nicht zu verstehen, aber ich kannte sie nur so. Und da ich es nicht ändern konnte, war es das einfachste zu akzeptieren, wie sie war.

Mit all ihren Ecken und Kanten.

„Sam, du musst damit aufhören, komm in die Küche“ dumpf drang ihre Stimme durch die geschlossene Tür.

„Womit denn? Ich lerne doch nur!“ erwiderte ich und wusste gleichzeitig, dass sie meine Lüge auch als solche erkannte.

Niemand konnte meine Mutter anlügen ohne dass sie es merkte.

„Nein, du kommst jetzt in die Küche und wir unterhalten uns“ sagte sie bestimmt. Ihr Ton ließ keine Gegenwehr zu.

Ich stellte mich dem unausweichlichen. Ewig konnte ich nicht in meinem Zimmer hocken.

Langsam ging ich durch den kleinen Flur, an dessen Wänden etliche Fotos von meiner Mutter und mir hingen, trat in die Küche und setzte mich auf meinen Platz. Ohne ein Wort zu sagen, starrte ich sie wütend an.

„Ich weiß, dass du wütend bist…“ begann meine Mutter, doch ich sprang ihr dazwischen. Das sie meinte zu Glauben, wie es mir ging, sprengte alles.

„Gar nichts weißt du, GAR NICHTS, hörst du? Du behandelst mich, als wäre ich ein kleines Kind, das beschützt werden muss.

Ich bin 16 Jahre alt und sehr wohl auch in der Lage eigene Entscheidungen zu treffen. Ich halte das nicht mehr aus. Ich fühle mich in meinem eigenen zu Hause, als wäre ich eine Gefangene und du mein Wärter. Du verhältst dich nicht wie eine Mutter.“ Meine Mutter wollte dazwischen grätschen, doch ich ließ es nicht zu. „Nein das tust du nicht. Du kommandierst mich rum und machst einen Aufstand, weil ich 10 Minuten zu spät kam. Mom, wir reden von 10 Minuten. Andere kommen einfach Stunden später nach Hause. Jaja, ich weiß, ich bin nicht die Anderen, aber versuch mich doch mal zu verstehen. Ich möchte doch nur etwas mehr so sein dürfen, wie die Anderen, die mit ihren Freunden rumhängen und nette Abende genießen. Die nicht ständig darüber nachdenken müssen, wieviel sie jemandem von sich erzählen. Ich hasse es. Es macht mich wahnsinnig nie so sein zu dürfen, wie ich bin. Ich fühle mich in mir selbst gefangen und daran ist deine Paranoia schuld. Ich verstehe es nicht und du erklärst mich nichts…“ Mein Puls raste, und Tränen stiegen mir in die Augen als ich endete. Ich hatte den Blick von ihr abgewendet und starrte nun auf den Tisch. Meine Hände hatte ich ineinander verworren und drückte sie vor Wut und Verzweiflung kräftig gegeneinander.

Einige Zeit saßen wir uns schweigend und steif gegenüber, als meine Mutter leise, fast flüsternd sprach.

„Du kannst aber nicht sein wie die Anderen, ich kann dir das nicht erklären, aber irgendwann wirst du das verstehen.

Irgendwann, wenn die Zeit gekommen ist, wirst du mir für all das danken!“

Ohne eine Erwiderung abzuwarten, stand sie auf und verließ die Küche. Sie wirkte niedergeschlagen und abgekämpft. Mit einem Mal beschlich mich das schlechte Gewissen, als ich ihr hinterher sah. Ich bereute das gesagte nicht. Also nicht den Inhalt, aber vielleicht hätte ich eine andere Wortwahl wählen sollen. Es versetzte mir einen Stich.

Trotz des aufkeimenden schlechten Gewissens, ging ich wieder auf mein Zimmer, diesmal jedoch ohne die Tür zu knallen.

Ich nahm mein Handy in die Hand, stöpselte die Kopfhörer ein und drehte die Musik so laut auf, dass ich meine Umgebung nicht mehr mitbekam. Ausgestreckt lag ich auf meinem Bett und starrte schon wieder an die Decke. Als würde ich von dort eine Antwort auf meine Fragen erhalten.

Eine Antwort darauf, was diese blöden Andeutungen wohl heißen würden und wann ich endlich Antworten auf meine Fragen bekam.

ZWEI

Am nächsten Morgen hatte sich die Stimmung noch immer nicht gelegt. Und doch saßen wir, wie jeden Morgen gemeinsam in der Küche. Doch anders als sonst, redeten wir nicht miteinander oder aßen, sondern starrten ernüchtert auf unser Frühstück. Ich stocherte lediglich darin herum.

Als es um halb acht an der Tür klingelte, fiel sämtliche Last von mir. Fast, als wäre ich aus einer Geiselnahme befreit worden.

Ich packte mir meine Tasche und rannte zur Tür.

Ein Tschüss in die Wohnung rufend, schloss ich sie und war draußen.

Endlich wieder frei atmen.

Dieser Gedanke tat mir fast körperlich weh. Sollte ich mich zu Hause nicht wohl und geborgen fühlen?

Lena stand an der Haustür und blickte mich prüfend an. Sie wog ab, was genau sie jetzt tun sollte.

„Guten Morgen Sam, was war denn gestern los mit dir?“

„Kurzschluss, denke ich“ sagte ich gespielt lächelnd.

Das aufgesetzte Lächeln auf meinen Lippen schien Lena einmal mehr zu reichen. Den Unterschied zu einem echten Lächeln konnte sie nicht ausmachen, es fiel ihr einfach nicht auf.

„Geht es dir jetzt wieder besser?“ fast besorgt fragte sie nach.

„Ja, na klar“ erwiderte ich mit einer wegwerfenden Handbewegung.

Damit war das Thema vom Tisch.

Was gestern noch zu Hause vorgefallen war und wie ich mich wirklich fühlte, gehörte genau zu den Dingen, die ich niemandem erzählen sollte. Und so hielt ich mich daran.

„Hast du deine Mutter wegen dem Ball gefragt?“

Völlig perplex starrte ich Lena an und schwieg. Wie hätte ich dieses Thema gestern bei meiner Mutter platzieren sollen?

Wann hätte ich ihr weiß machen sollen, dass ich zu einem Ball gehen wollte. Bevor oder nachdem ich sie angebrüllt und eine schlechte Mutter genannt hatte?

Nach dem, was gestern vorgefallen war, empfand ich es mehr als unpassend meine Mutter nach dem Ball zu fragen.

Lena nahm mein Schweigen als Einladung um berichten zu können, was nach meinem Abgang noch alles passiert war.

„Ich habe dich bei Herrn Zimmermann entschuldigt. Ich habe gesagt es würde dir nicht gut gehen und dass du schnell gehen musstest. Der hat mich vielleicht blöd angemacht. Der meinte du hättest dich selber entschuldigen sollen.“

Sie verdrehte die Augen.

„Ich habe dann nur gefragt, ob er es gut gefunden hätte, wenn du ihm vor die Füße gekotzt hättest. Danach ist er ruhig gewesen. Aber Elias ist auch direkt losgerannt, als du durch die

Tür warst. Er sah irgendwie besorgt aus. Läuft da was zwischen euch?“ Typisch Lena, der Gedankensprung kam in Schallgeschwindigkeit.

„WAS?“ Ich fiel aus allen Wolken „Wie kommst du denn auf sowas?“

Doch bevor sie irgendwas erwidern konnte, kamen wir an unserem Treffpunkt an der Eisdiele an und das Thema war vom Tisch. Leider wusste ich, dass ich nur eine Schonfrist bekam. Lena würde an diesem Thema dranbleiben. So viel war sicher.

Schweigsamer als gewöhnlich gingen wir gemütlich in Richtung Schule. Eine seltsame Stimmung schwang durch die Luft. Ich konnte nichts benennen, woran ich es festmachte.

Doch irgendetwas drückte die Stimmung. Und mich beschlich der Gedanke, ich könnte, durch meinen Abgang gestern, schuld daran sein.

Doch ich traute mich auch nicht es anzusprechen, um es aus der Welt zu schaffen. So lief ich schweigend weiter.

Je weiter wir der Schule kamen, wuchs in mir eine unerklärliche Anspannung und jeder einzelne Schritt verstärke das Gefühl.

Ich versuchte dieses Gefühl logisch zu erklären und nahm an, dass es die Nachwirkungen des Streits von gestern waren und mein Bedürfnis, mich für meine Worte bei meiner Mutter zu entschuldigen.

Ich versuchte es abzuschütteln indem ich ein paar Mal tief ein und ausatmete. Als das nicht funktionierte, fand ich mich damit ab. Vielleicht war ich ja nur gestresst, immerhin ließ mir das mit meiner Mutter keine Ruhe. Es wurden immer mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet. Was sollte diese Bemerkung bedeuten, dass ich irgendwann mal verstehen würde, was sie tat? Warum konnte sie nicht einfach erklären, was los war?

Diese Gedanken zogen mich tiefer und tiefer. Unwillkürlich fragte ich mich, ob das alles auch was mit meinem Vater zu tun haben konnte. Meine Mutter war in einigen Themen, naja eigentlich in fast allen, so unendlich ausweichend.

Meinen Vater verschwieg sie, weil es besser wäre, wenn ich es nicht wüsste. Ihr Verhalten mir gegenüber sollte ich irgendwann verstehen können. Doch was nutzte mir das jetzt alles? Es verwirrte mich nur immer mehr.

Ich versuchte mich auf etwas anderen zu konzentrieren, beobachtete die Umgebung, die Menschen und bemerkte dann, dass mich Elias‘ Blick immer wieder streifte. Er schien mich zu beobachten und immer, wenn unsere Blicke sich trafen schaute er ruckartig weg. Lenas Vermutung schoss mir durch den Kopf.

Was für ein Unsinn. Schulterzuckend verwarf ich den Gedanken und stieg die Treppen des Schulgebäudes empor.

Den ganzen Vormittag bekam ich nichts mit, weder vom Unterricht, noch von irgendwas rund herum. Ich hing meinen Gedanken nach und konnte mich auf nichts Konzentrieren.

Einzig das merkwürdige Gefühl erfüllte meine Gedanken.

Wo nahm es seinen Ursprung und wieso gerade heute?

Über den Tag hinweg sonderte ich mich sogar von meinen Freunden ab, und das während ich dicht neben ihnen stand, ging oder saß. Ich fand den Ausgang aus meiner Gedankenwelt nicht und irrte verloren in ihr umher.

Auch nachmittags erging es mir nicht anders.

Wie in Trace lief ich nach Schulschluss nach Hause, als mich eine innere Unruhe überkam, die mich antrieb und schneller werden ließ. Lena, Julian und Elias sahen mir skeptisch hinterher. Normalerweise hatte ich es nicht eilig nach Hause zu kommen und das wussten sie. Sie wussten zwar nicht genau, was bei mir zu Hause los war, doch mein Verhalten sprach Bände.

Während die anderen Beiden unbeirrt langsam nach Hause gingen, schloss Elias zu mir auf.

„Sam, was ist los? Warum rennst du so?“

Besorgt sah er mich an.

„Ich weiß nicht, ich habe so ein komisches Gefühl!“

Ohne es an irgendwas fest zu machen oder ihm weiter zu erklären, rannte ich los. Ich musste so schnell ich konnte nach Hause.

Noch nicht ganz angekommen, traf es mich wie ein Schlag.

Schon aus der Entfernung konnte man die Menschentraube erahnen, die sich vor dem mehrstöckigen Wohnhaus versammelte. Die Menschen wirkten geschockt und unterhielten sich eifrig. Die Unruhe verbreitete sich bis zu uns.

Ich betrachtete die Menschen genauer und entdeckte einige Polizisten. Mir wurde übel. Die Dienstwagen und mehrere riesige Löschfahrzeuge der Feuerwehr standen unmittelbar vor dem Haus. Die Blaulichter erleuchteten die gesamte Umgebung und hinterließen einen üblen Beigeschmack.

Die Luft roch und schmeckte nach Rauch und verdampftem Wasser. Asche flog in Flocken umher und legte sich sanft auf die trockene Erde. Es war, als würde ich in einen Albtraum stolpern, denn ich erkannte in diesem Moment, dass es um uns ging. Um meine Mutter und mich.

Ich sprintete an den Polizisten vorbei, hechtete so schnell ich konnte die Treppen hoch und stockte als ich sah, dass unsere Wohnungstür aufgebrochen worden war. Qualm und Rauch drangen aus der Wohnung. All meine Befürchtungen, all das, was ich bis jetzt zu verdrängen versucht hatte, prallte mit einem Mal auf mich ein. Ich keuchte.

Ein Feuerwehrmann kam aus der Wohnung und sah mich erstaunt an „Was tust du hier?“ gereizt packte er mich an den Schultern, um mich am Betreten der Wohnung zu hindern.

„Ich wohne hier!“ perplex starrte ich den Feuerwehrmann an und konnte nicht glauben, dass er wirklich aus UNSERER Wohnung gekommen war. Das Bild der Zerstörung, dass ich kurz erhaschen konnte, brannte sich in mein Gedächtnis. Der Schock fraß sich in meine Knochen. Meine Knie wollten den Dienst verweigern, doch ich kämpfte gegen den unvermeidlichen Zusammenbruch an.

Ein Beben ging durch meinen Körper, als die erste stumme Träne über meine Wange floss.

Dem Feuerwehrmann schien klar zu sein, dass ich rein ginge, wenn er sich, ohne mich, von hier entfernen wollte. Also nahm er mich kurzerhand mit nach unten und übergab mich einem Polizisten, der gerade einige Nachbarn befragte, als ich hinzukam.

„Was ist passiert?“ wollte ich außer Atem wissen

„Das klären wir noch, solange wir nichts wissen, kann ich leider keine Auskünfte geben Miss…?“ fragend sah er auf mich herunter.

„Samantha… Knox“ kam die Antwort abgehackt aus meinem Mund.

„Oh, Miss Knox. Also dann wohnen sie dort oben?“

Mit dem Zeigefinger zeigte er auf das Fenster. Auf das Fenster, das keines mehr war. Der Rahmen hing nur noch halb in der Wand und die Scheibe war kaum mehr vorhanden. Einige Scherben steckten noch im Rahmen, der Rest verteilte sich unterhalb des Fensters auf dem Weg.

„Ja genau“ ich versuchte gefestigt und der Situation gewachsen herüber zu kommen und streckte mein Kinn nach oben „also was genau ist passiert und wo ist meine Mom? Sie muss da gewesen sein, sie ist immer um diese Uhrzeit zu Hause!“

Doch egal wie sehr ich es versuchte zu verhindern, Panik schwang in meiner Stimme mit. Ich stand machtlos der Panik gegenüber. Ich wusste, dass meine Mutter da gewesen sein musste. Sie musste.

Ich hatte Angst.

„Wir haben in der Wohnung keine Person oder Anzeichen dafür gefunden, dass sich jemand hier aufgehalten hat, die Wohnung stand leer zum Zeitpunkt des Unglücks“

„Und was genau soll passiert sein?“

Meine Stimme begann zu zittern. Mit Tränen in den Augen nahm die Aussage, dass meine Mutter nicht in der Wohnung war, Form an, ballte sich in meinem Hals zu einem unüberwindbaren Knäul. Das war unmöglich.