Magische Bande - Dennis Blesinger - E-Book

Magische Bande E-Book

Dennis Blesinger

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Beschreibung

Die Familie Gindera hat seit Generationen ein wohl gehütetes Geheimnis: Magie. Die vierzehnjährige Nadja beschließt, die Ausbildung ihrer Fähigkeiten in die eigene Hand zu nehmen und ahnt nicht, dass sie damit mehr als nur ihr Leben in Gefahr bringt. Ein mächtiger und uralter Dämon sucht sie heim und ihre Geschwister müssen sie sich entscheiden - Retten sie Ihre Schwester, oder die Welt, wie sie existiert? Als Nadja plötzlich verschwindet, überschlagen sich die Ereignisse. Und das nicht zuletzt durch die ermittelnde Beamtin. Wird Nadja eine Chance haben - oder ist die Macht der Magie zu groß für die Familie?

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Dennis Blesinger

Magische Bande

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Danksagung

1

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3

4

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7

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Epilog

ENDE

Über den Autor

Impressum neobooks

Danksagung

Mein Dank geht an:

Jabbo, der sich wieder einmal die Mühe gemacht hat, den Schinken in seiner Urform zu bewerten.

Florian, der schönerweise nie mit seiner Meinung hinter dem Berg hält, auch wenn sie mal nicht das ist, was man so als Autor hören will, dafür aber ehrlich ist.

Sylvia, die es trotz Schwangerschaft im achten Monat geschafft hat, das gute Stück einmal durchzulesen und als erste sehr brauchbare Anmerkungen zu produzieren.

Marie-Katharina Wölk für die sehr entspannte und produktive Zusammenarbeit.

Vielen lieben Dank!

1

Die Tür im ersten Stock des Hauses 17 in der Fliederstraße, bewohnt von der Familie Gindera, fiel mit einem Krachen ins Schloss, gefolgt von dem Poltern hastiger Schritte, als Nadja die Treppe hinunter rannte.

»Verdammt, ich komm zu spät«, fluchte sie, während sie auf der Suche nach einem Frühstücksersatz durch die Küche fegte. Ihre Geschwister Marc und Vanessa waren große Befürworter eines ordentlichen Frühstücks, ebenso wie sie selbst auch, aber es hätte einer Zeitreise bedurft, um dies jetzt noch zu bewerkstelligen.

»Guten Morgen«, meinte Marc, während er Nadjas hektischer Suche ruhig zusah.

»Hier.« Vanessa hielt Nadja einen Apfel hin, gefolgt von einer Plastikdose mit ein paar belegten Broten und geschnittenem Gemüse. Ohne ein Wort steckte Nadja die Sachen in ihre Tasche.

»Warum habt ihr mich nicht geweckt?«, beklagte sie sich bei ihren Geschwistern, während sie sich notdürftig die Frisur richtete. Die dunkelblonde Mähne war schon unter normalen Umständen schwer zu bändigen. Im Moment sah es so aus, als ob ein Vogelnest auf Nadjas Kopf geplatzt war.

»Weil du es uns verboten hast.«

Nadja funkelte ihren großen Bruder an, der nach wie vor ruhig dasaß und seinen Kaffee trank. Schließlich erwiderte Marc den Blick und fügte hinzu:

»Du hast, gestern wohlgemerkt, gesagt, dass wir ohne deine ausdrückliche Erlaubnis dein Zimmer nicht betreten dürfen. Und das wird schwierig, wenn du schläfst. Wenn du deinen Wecker nicht stellst, können wir nichts dafür.«

»Du weißt genau, was ich gemeint habe!«

Nadja blickte sich auf der Suche nach Unterstützung zu Vanessa um, die jedoch ruhig dastand und keine Anstalten machte, in die Diskussion einzugreifen. Typisch. Wieder einmal hatten sich beide offensichtlich vorgenommen, Nadja das Leben schwer zu machen. Sie wandte sich wieder Marc zu. Die Uhr im Wohnzimmer begann zu läuten und beendete die Unterhaltung. Verdammt! Jetzt musste sie rennen, wenn sie den Bus noch erwischen wollte.

»Ich muss los«, sagte sie knapp und wandte sich zum Gehen. Sie war noch keine zwei Meter weit gekommen, als sie hinter sich einen Hustenanfall hörte.

»Stopp!« Marc brachte das Wort zwischen zwei Hustern hervor. Nadja schloss die Augen, zählte bis drei und drehte sich betont langsam um.

»Was denn jetzt noch?«, fragte sie. »Ich komm zu spät.«

Sie blickte auf Marc, der immer noch mit dem verschluckten Kaffee kämpfte und mit der Hand in der Luft hin und her wedelte. Vanessa starrte sie mit großen Augen an und versuchte allem Anschein nach ein Lachen zu unterdrücken. Schließlich hatte Marc seine Sprache wieder unter Kontrolle.

»Unter gar keinen Umständen wirst du da heute Abend hingehen«, sagte er mit einem vehementen Kopfschütteln.

Fassungslos blickte Nadja ihre beiden Geschwister an. Wie um alles in der Welt hatten die beiden davon erfahren? Aber das war nebensächlich. Sie wussten von der Party und sie durfte nicht hin.

»Was … das … «, setzte sie an, um dann einen frustrierten Schrei abzufeuern. »Ihr seid so … so scheiße!«

»Damit müssen wir wohl oder übel leben«, lautete Vanessas trockener Kommentar. »Das ändert aber nichts daran, dass du nicht auf Partys gehen wirst, bevor du fünfzehn bist. Offiziell darfst du nach acht nicht einmal alleine auf die Straße ohne Begleitperson, geschweige denn, an irgendwelchen Orgien teilnehmen.« Wieder sah es so aus, als ob Vanessa damit kämpfen musste, ein Lachen zu unterdrücken.

Es dauerte eine Weile, bis Nadja begriffen hatte, dass dieses Verbot endgültig war. Sie erkannte die Gesichtsausdrücke ihrer beiden älteren Geschwister. In Vanessas dunkelblauen Augen war deutlich zu erkennen, dass die Diskussion vorbei war, noch bevor sie überhaupt angefangen hatte. Und sie war, was Dinge wie den Zapfenstreich anging, die Flexiblere von beiden. Nadja stieß ein frustriertes Lachen aus und schüttelte den Kopf.

»Super«, meinte sie. »Toll. Verpasse ich ja auch nur die beste Party des Jahres, während meine Freunde alle hingehen dürfen.« Sie nickte. In der Geste lag nicht der leiseste Hauch einer Einsicht. Marc freute sich bereits auf den Nachmittag, wenn Nadja von der Schule nach Hause kommen, und die Diskussion mit viel Geschrei, Tränen und letztendlichem Türengeknalle fortgeführt werden würde.

»Noch was?«, erkundigte sie sich übertrieben höflich, während sie mit ihren Blicken den beiden Giftpfeile entgegen schleuderte.

»Ja.« Marc nickte. Er sah an seiner kleinen Schwester hinunter, wie sie da stand, in ihren üblichen Kleidern. Er betrachtete den aus mehreren Lagen bestehenden weiten schwarzen Tüllrock, die schwarzen Spitzenhandschuhe, die bis an die Ellbogen reichten, und Stiefel, die Absätze aufwiesen, in denen es nicht einmal professionelle Models wagen würden, mehr als zehn Meter weit zu gehen. Das Bild wurde vervollständigt von einer schwarzen Fransenlederjacke und der in aller Eile gebändigten dunkelblonden Haarmähne. Er nickte erneut.

»Weiß Stevie Nicks eigentlich, dass du ihre Klamotten geklaut hast?«

Die Blicke der beiden trafen sich über den Küchentisch hinweg. Hätte sich etwas anderes als Luft zwischen ihnen befunden, wäre es vermutlich einen schnellen Tod durch Verbrennung gestorben. Vanessa hatte sich abgewandt, um das Grinsen zu verbergen, das, hätte Nadja es gesehen, nur noch mehr Öl ins Feuer gegossen hätte. Schließlich wandte sich Nadja um und verließ, nach einem letzten giftigen Blick in Richtung Marc, kommentarlos das Haus.

»Au!«

Marc blickte sich um und rieb sich die Schulter, auf der Vanessa einen satten Treffer gelandet hatte.

»Das war unnötig und gemein«, meinte sie, während sie erfolglos versuchte, das Grinsen unter Kontrolle zu bringen.

»Ist doch wahr«, entgegnete Marc.

»Ich denke, du stehst auf Stevie Nicks?«

»Ja. Tue ich. Aber die trägt so etwas nur auf der Bühne. Die Klamotten kannst du doch nicht im Alltag tragen. Das sieht ja schlimmer aus als Madonna in den Achtzigern.«

Vanessa blickte Nadja hinterher.

»Wir müssen was unternehmen mit der Kleinen«, meinte sie schließlich ernsthaft.

»Ich weiß.« Marc nickte zur Tür, durch die Nadja soeben verschwunden war. »Das wird immer schlimmer. Demnächst fragt sie wahrscheinlich noch, ob sie die Pille nehmen darf.«

»Ich rede nicht von ihrem Liebesleben. Das ist ganz normal für eine Vierzehnjährige. Hast du eigentlich eben mitbekommen, was passiert ist? Marc, Nadja sendet!«

Zum ersten Mal, seit die Diskussion begonnen hatte, blickte Marc seine Schwester ernst und besorgt an.

»Ich bin letzte Woche drei Mal aufgewacht, weil sich Nadjas Traumbilder in meine gemischt haben«, fuhr Vanessa fort. »Und glaub mir, das, was wir eben mitbekommen haben, war ein Kindergeburtstag dagegen.«

»Wieso hab ich das bisher nicht bemerkt ?«, fragte Marc ehrlich verwirrt.

»Keine Ahnung. Aber glaub mir, das war nur eine Frage der Zeit. Und früher oder später werden das auch normale Menschen hören und fühlen. Und dann haben wir wirklich ein Problem.«

Marc dachte darüber nach, was er eben gehört hatte. Telepathie war selten, aber nicht unüblich unter magiebegabten Personen. Und es war eine der schwierigsten Begabungen, die man haben konnte. Es brauchte Wochen, wenn nicht Monate, bis man willentlich verhindern konnte, dass andere die eigenen Gedanken hören konnten. Und auch, wenn dieser Umstand oberflächlich betrachtet kein anderes Risiko barg als die eine oder andere peinliche Situation, so war Telepathie in der Vergangenheit einer der häufigsten Gründe gewesen, weshalb magisch begabte Personen ausgegrenzt worden waren. Diese Ausgrenzungen hatten nicht selten zu tätlichen Übergriffen oder, in der Neuzeit, zu Zwangseinweisungen in psychiatrische Kliniken geführt. Die Menschheit war, wie ihre Familie bereits vor mehr als dreihundert Jahren hatte lernen müssen, nicht bereit für Dinge wie Magie.

»Wovon – «

»Glaub mir, du willst es nicht wissen. Ich musste kalt duschen.«

Marc nickte. »Gut. Du hast recht. Ich will es nicht wissen.« Betont nüchtern wandte er sich wieder seinem Frühstück zu. Vanessa setzte sich neben ihn. Ein Blick auf die Uhr ließ sie verärgert den Kopf schütteln.

»Ich muss los, ansonsten komme ich zu spät in den Laden. Versprich mir, dass wir heute Abend darüber reden, okay?«

»Ja. Versprochen.« Marcs Antwort hätte nicht weniger enthusiastisch klingen können. Vanessa warf ihm einen kritischen Blick zu und nippte an ihrem Kaffee.

»Uäh!«

Sie blickte in den Becher und zog eine Grimasse. Nach einem kurzen Blick auf die Uhr blickte sie ihren Bruder an, der nach wie vor ein Loch in die Luft zu starren schien, und schob ihm langsam den Becher hinüber, einen bittenden Ausdruck im Gesicht.

»Was?« Marc schaute auf den Becher. »Oh Mann«, meinte er schließlich. »Wir haben eine Mikrowelle.«

»Da wird der Kaffee immer so bitter. Wenn du das machst, bleibt er lecker. Und ich muss gleich los. Bitte. Bittebitte. Superbitte?«

Marc grinste und nahm den Becher entgegen. Er selbst war ein entschiedener Gegner von Magie im Alltag. Früher oder später führte das dazu, dass man die Grenze zwischen notwendig und leichtsinnig überschritt und Magie vor den Augen von anderen vollführte, ohne sich dessen bewusst zu sein. Allerdings waren sie hier in den eigenen vier Wänden und er hatte seiner Schwester noch nie eine Bitte abschlagen können. Nicht, wenn sie ihren besten Bambiblick aufsetzte. Er nahm ein Feuerzeug aus einer der Schubladen und zündete die Kerze an, die auf dem Tisch stand. Dann nahm er den Becher in eine Hand und legte die andere dicht über die Flamme.

Einige Sekunden lang geschah nichts und nur ein aufmerksamer Beobachter hätte erkennen können, dass Marc sich auf etwas konzentrierte, das außerhalb der normalen Wahrnehmung passierte. Mit halb geschlossenen Augen saß er auf seinem Stuhl, bis langsam Dampf von dem Kaffee aufstieg. Dann, so als ob er gerade nichts anderes getan hätte als nachzudenken, zwinkerte er kurz und nahm die Hand aus der Flamme. Vanessa nahm den Becher mit einem dankbaren Lächeln entgegen und nahm vorsichtig einen Schluck von dem heißen Kaffee.

»Hmmm. Super. Danke. Ich muss das irgendwann auch mal richtig lernen.« Marc hatte ihr bereits mehrere Male versucht, beizubringen, wie man das machte. Alles, was sie erreicht hatte, war ein Anstieg um maximal drei Grad Celsius beim Kaffee und Brandblasen an der Hand.

»Das ist alles eine Frage des Gleichgewichts.« Marc lächelte und wischte sich den Ruß von der Hand, die keinerlei Zeichen zeigte, dass sie die letzten zehn Sekunden offenem Feuer ausgesetzt gewesen war. Er blickte auf die Uhr. Auch er musste los.

2

Das Auto hielt am Straßenrand, die Scheinwerfer erloschen. Nichts an der Gegend wies auf etwas Ungewöhnliches hin. Einfamilienhäuser mit den dazugehörigen Zäunen, Hecken und mehr oder weniger gepflegten Gärten säumten die Straße und vermittelten den Eindruck einer ruhigen und soliden Wohngegend der gehobenen Mittelklasse.

Die Türen des Wagens öffneten sich und zwei Frauen und ein Mann stiegen aus. Die kleinste und jüngste der drei Personen blickte sich nervös um, als ob sie damit rechnete, dass ihnen jemand gefolgt war.

»Entspann dich«, sagte die ältere Frau und legte ihr beruhigend eine Hand auf die Schulter. »Keiner weiß, dass wir hier sind. Wir sind zurück, bevor jemand merkt, dass du weg warst.«

»Hmmm.« Es klang nicht wirklich überzeugt. Jedoch beließ sie es dabei und folgte den beiden anderen, die bereits zielstrebig auf ein etwas abseits stehendes Haus zugingen. Äußerlich unterschied es sich kaum von den anderen, wenn es vielleicht auch weniger aufgehübscht und der allgemeine Zustand etwas mehr heruntergekommen war als der Rest der Häuser in der Gegend. Durch die Fenster waren Lichter zu sehen, die darauf hindeuteten, dass jemand zuhause war. Sie beeilte sich, zu den beiden aufzuschließen. Der schwarze Samtumhang flatterte ihr um die Beine. Insgeheim kam sie sich ein wenig albern vor in ihrer Aufmachung. Allerdings war der Umhang ein Geschenk und eines, wie sie fand, dem Anlass würdig.

»Das wird super«, meinte die ältere Frau. »Du wirst sehen.«

»Hmmm.« Trotz des skeptischen Tons war die junge Frau nervös. Dies würde es sein! Kein Kinderkram mehr hiernach. Nach heute Abend würden ihre beiden dämlichen Geschwister einsehen müssen, dass sie eine vollwertige Magierin war. Sie freute sich schon darauf, Marcs Gesichtsausdruck zu sehen.

»Was passiert heute eigentlich genau?«, fragte sie.

»Eine Séance«, lautete die Antwort. »Wir treten in Kontakt mit der Zwischenwelt.«

Nadja erinnerte sich daran, wie Marc und Vanessa über den Kontakt mit Geistern dachten. Als sie das Ouija-Board der Familie vor einem Jahr zufällig in einer Kiste entdeckt hatte, hatte Marc es sofort an sich genommen und auf dem Dachboden eingeschlossen. Vanessa hatte versucht, ihr zu erklären, wie gefährlich der Kontakt mit anderen Ebenen, wie zum Beispiel der Geisterwelt war, doch Nadjas Meinung nach waren die beiden einfach der Meinung, dass sie zu jung war für solche Übungen. Wenn doch nur ihre Eltern noch da wären. Die hätten mit Sicherheit nicht so reagiert. Ihre Eltern hätten ihr erklärt, was es mit Beschwörungen und Geistern auf sich hatte.

»Ist das sicher?«, fragte sie dennoch. Ein kleiner Teil von ihr war immer noch nicht völlig davon überzeugt, dass sie das Richtige tat. Wenn Marc oder Vanessa hiervon erführen, würden sie ihr beide den Kopf abreißen. Die ältere Frau lachte gutmütig.

»Nadja.« Sie drehte sich um und blickte die junge Frau mit einem beruhigenden Lächeln im Gesicht an. »Habe ich dich in den letzten sechs Monaten einmal in eine Situation gebracht, in der du in Gefahr warst?«

Nadja schüttelte den Kopf und blickte beschämt zu Boden. Erneutes Lachen erklang und Nadjas Kopf wurde sanft angehoben, so dass sie sich wieder anblickten.

»Alles ist gut. Samael ist eine Koryphäe auf dem Gebiet und wir haben alles an Sicherheitsmaßnahmen getroffen, was möglich ist.« Sie lächelte. »Wir wollen doch nicht, dass unserer kleinen Hexe bei ihrer Initiierung etwas zustößt, oder?«

Nadja blickte erst sie, dann den jungen Mann an, der neben ihr stand und ihr ebenfalls lächelnd zunickte. Sie schüttelte energisch den Kopf und nickte dann ebenfalls. Dies war das, weshalb sie hier waren, oder? Heute Nacht würde sie zu einer richtigen Hexe werden. Nach heute Nacht würde sie keine großen Geschwister mehr brauchen, die nicht erkannten, dass sie längst über den Punkt der magisch begabten kleinen Schwester hinausgewachsen war. Sie nickte ein letztes Mal entschlossen und schritt dann zielstrebig zwischen ihren Begleitern einher in Richtung Haus.

»Sie ist vierzehn verdammt, deshalb!«

Marc wandte sich ab und rollte frustriert mit den Augen. Er wusste, dass er diese Diskussion verlieren würde, schlicht und ergreifend, weil Vanessa recht hatte.

»Ja, genau«, stimmte Vanessa ihm zu. »Sie ist vierzehn. Nicht vier. Wann soll sie denn damit anfangen? Wenn sie zwanzig ist?«

»Nein. Natürlich nicht. Ich hatte an fünfundzwanzig gedacht.« Er stand auf und ging in Richtung Küche.

»Marc!«

Vanessa folgte ihrem Bruder. Sie hatte diese Diskussion in der Vergangenheit bereits mehrfach angestoßen, dieses Mal würde sie jedoch hartnäckig bleiben. Sie wusste, dass Marc keine Lust hatte, dieses Thema weiterzuverfolgen, speziell nach der Unterhaltung, die sie beide mit Nadja geführt hatten, als sie aus der Schule gekommen war. Das Krachen der Tür, mit dem ihre kleine Schwester die Diskussion beendet hatte, ließ darauf schließen, dass sie wenigstens 12 Stunden lang in ihrem Zimmer bleiben und schmollen würde.

Sicher, streng genommen hatte Marc das letzte Wort, was die Ausbildung von Nadja betraf, und sei es nur, weil er damals offiziell zu Nadjas Vormund ernannt worden war und nicht Vanessa. Allerdings hatten sie sich vor langer Zeit stillschweigend darauf geeinigt, dass beide gleichberechtigt an der Erziehung ihrer kleinen Schwester teilhaben würden, sowohl, was den weltlichen Aspekt anging, als auch den magischen.

Wären ihre Eltern am Leben gewesen, hätte sich die ganze Sache natürlich erheblich einfacher gestaltet. Nadja wäre mit vier magisch begabten Personen aufgewachsen und ihre Eltern hätten das Nesthäkchen der Familie ebenso behutsam an das Thema herangeführt, wie sie es bei Marc und Vanessa getan hatten, sobald sich die Begabung bemerkbar gemacht hätte. Aber diesen Luxus hatten sie nicht. Ihre Eltern waren vor knapp vier Jahren bei einem Unfall ums Leben gekommen. In den vergangenen vier Jahren hatten Marc und Vanessa sich um Nadjas Erziehung gekümmert, wohl wissend, dass dieser Tag irgendwann kommen würde.

»Marc!«

Vanessa nahm sich einen Stuhl und ließ sich ihrem Bruder gegenüber nieder, der missmutig sein Glas anstarrte.

»Marc, wir müssen etwas unternehmen. Wie lange willst du denn warten?«

»Bis sie sich ein bisschen stabilisiert hat«, knurrte er Vanessa an. Er begann an den Fingern abzuzählen. »Sie ist sprunghaft, sie ist unzuverlässig, sie macht sich nicht die leisesten Gedanken darüber, was ihre Handlungen für Folgen haben werden … «

»Ich weiß. Sie ist vierzehn. Sie ist voll in der Pubertät. Was erwartest du denn? Das ist ein ganz normales Verhalten für jemanden in ihrem Alter.«

»Toll«, meinte Marc sarkastisch. »Und so jemanden willst du darin ausbilden, mit dem Universum zu interagieren? Mit anderen Ebenen und mit Kräften, die ihre und unsere Umgebung in Schutt und Asche legen können?«

Vanessa spürte instinktiv, dass sie gewonnen hatte. Der Anblick von Marc, der sorgenvoll Löcher in die Luft starrte, ließ diesen Erfolg jedoch nichtig erscheinen.

»Wovor hast du eigentlich so eine Angst?«, fragte sie sanft. Marc blickte auf und all die Zweifel, die in ihm schlummerten, waren in seinem Blick zu sehen, zumindest für Vanessa. Er schüttelte mit dem Kopf.

»Ich wünschte nur, Nimi und Paps wären hier.«

»Das soll ein Witz sein, ja?«, fragte Vanessa ehrlich erstaunt. Es war selten, dass Marc sich auf ihre Eltern bezog. Ihr Tod war nun beinahe fünf Jahre her und auch wenn Vanessa wusste, dass Marc die beiden ebenso vermisste wie sie selbst und auch Nadja, so hätte sie nicht vermutet, dass ihr großer Bruder sich immer noch nach einer Stütze sehnte, wenn es um die Erziehung der Kleinsten in der Familie ging.

»Marc, du bist ein guter Lehrer«, meinte sie vehement. »Du bringst alles mit, was es dazu braucht. Wir kriegen das schon hin.«

»Das sagst du so einfach.« Marc warf einen Blick in Richtung Decke. »Die hört ja nicht einmal darauf, wenn wir ihr sagen, dass sie ins Bett gehen soll. Von Partys möchte ich gar nicht erst anfangen.«

»Ich darf dich daran erinnern, dass die letzte Ausbildung, die du geleitet hast, ziemlich gut gelaufen ist?«

Marc blickte seine Schwester zweifelnd an. Sicher, als ihre Eltern gestorben waren, war Vanessa siebzehn gewesen und im Grunde bereits vollständig ausgebildet. Er hatte nichts anderes zu tun gehabt, als die bereits vorhandenen Ansätze zu verfeinern. Darüber hinaus hatte sich Vanessa bereits mit zwölf dafür entschieden, eine Kräuterhexe zu werden, etwas, das Marc völlig abging. Alles, was sie auf diesem Gebiet wusste, hatte sie von ihren Eltern gelernt oder sich selbst beigebracht.

»Ja«, räumte er ein. »Aber du warst auch nicht so eine Pest damals.«

Vanessa lachte laut. »Oh doch, das war ich. Du hast es nur nicht mitbekommen.« Sie wurde wieder ernst. »Du weißt, dass ich recht habe«, meinte sie schließlich. »Und ohne dich schaffe ich das nicht.«

Eine Weile saßen sie sich schweigend gegenüber, während Marc versuchte, das Lächeln auf seinem Gesicht zu unterdrücken. Er hatte in der Sekunde, in der die Diskussion begonnen hatte, gewusst, dass er sie verlieren würde.

»Okay.«

Ein kleines Wort hatte selten zu einer derartigen Reaktion geführt. Das Grinsen drohte, Marcs Meinung nach, Vanessas Kopf zu halbieren, als sie aufsprang und ihm um den Hals fiel.

»Oh, das wird super!«, meinte sie freudestrahlend, als sie schließlich von ihm abließ und in der Küche um die eigene Achse wirbelte. Sie setzte sich wieder, dieses Mal neben ihren Bruder.

»Das wird ihr gut tun, du wirst sehen. Sie wird endlich das Gefühl haben, dazuzugehören.«

Marc blickte seine Schwester skeptisch an. Seiner Meinung nach war Nadja, auch wenn er sie wirklich lieb hatte, noch nicht reif für einen derartigen Schritt. Aber Vanessa hatte recht. Sie mussten mit der Ausbildung beginnen. Wenn sie es nicht taten, würde die kleine Göre es auf eigene Faust tun. Nadja war ein Mensch, der Beschränkungen nur eine gewisse Zeit lang befolgte. Dass sie sich früher oder später über diese Beschränkungen hinwegsetzen würde, war beiden klar. Die Frage war nicht ob, sondern wann dies passieren würde.

»Ich wünschte nur, wir könnten so lange warten, bis sie sich ein wenig gefestigt hat.«

»Ach!« Vanessa wischte den Einwand mit einer Handbewegung beiseite. Sie überlegte. »Was meinst du, sollten wir Sven anrufen?«

»Unbedingt.«

Sven war ein Freund der Familie, der ebenfalls aus einer magischen Familie stammte. Entgegen aller Wahrscheinlichkeit hatte er jedoch nie die Fähigkeit entwickelt, das Potenzial, das ihm innewohnte, aktiv zu nutzen. Als im Alter von achtzehn Jahren klar war, dass Sven der Einzige seiner Familie war, der keinerlei paranormale Fähigkeiten haben würde, hatte er dies ruhig und gefasst akzeptiert und sich stattdessen auf den theoretischen Zweig dieser Disziplin verlegt. Mittlerweile war er zu einer Autorität geworden, wenn es um Bannsprüche, Kräuterkunde und dergleichen ging. Selbst Vanessa suchte ab und zu seinen Rat, wenn sie Probleme mit ihren empfindlicheren und anspruchsvolleren Pflanzen hatte.

Marc blickte auf die Uhr. Es war gerade mal sieben Uhr durch. Wie er Sven kannte, würde er in etwa einer Stunde seinen Laden abschließen, um dann für den Rest des Abends über irgendwelchen Büchern zu brüten. Ein Blick auf Vanessas Gesicht sagte ihm, dass sie dasselbe dachte, während sie ihn mit einem erwartungsvollen Blick anschaute.

»Hey«, meinte er. »Das ist deine Idee. Ruf du ihn doch an.«

Marc blickte ihr nachdenklich hinterher, als sie zum Telefon stürmte, während er sich langsam darüber klar wurde, was für eine schwierige Zeit vor ihnen lag. Jemandem diese Art von Verantwortung zu übergeben, fähig zu sein, die Kräfte der Schöpfung zu manipulieren, war nicht ungefährlich. Er wusste um die Gefahren aus eigener Erfahrung. Die Verantwortung des Ausbilders war dabei mindestens genau so hoch wie die des Lehrlings. Zugegeben, es hatte seit mehreren Jahrzehnten keine Schwarzmagier mehr gegeben, die den Namen verdient hatten, aber es hatte welche in der Vergangenheit gegeben. Und sie waren einer der Gründe, warum das Wort Magie nach wie vor mit einem äußerst ambivalenten Ruf behaftet war. Filme wie 'Carrie' taten ihr übriges.

»Was soll denn passieren?«, fragte Vanessa, nun wieder deutlich ernsthafter, als sie die Küche erneut betrat und Marc beim Nachdenken beobachtete. Sie spürte, dass ihm mehr durch den Kopf ging, als nur das Problem des Zeitmanagements, das auf sie zukommen würde, Nadja neben der Schule in die Materie der Magie einzuweihen.

»Das wird schon«, meinte sie. »Wovor hast du denn solche Angst? Sie wird schon nicht anfangen, den Teufel anzubeten.«

3

Nur Kerzen erhellten den Raum und warfen ihr Licht gegen die dunkelroten Samtvorhänge, mit denen die Wände behangen waren.

Nadja blickte sich neugierig um. Als sie am Haus angekommen waren, hatte ihr irgendein Instinkt geraten, wieder umzukehren. Während sie noch überlegt hatte, was genau dieses Gefühl wachgerufen hatte, war die Tür des leicht heruntergekommen Hauses geöffnet worden und ein in einen schwarzen Samtumhang gekleideter Mann hatte sie nach einem prüfenden Blick eingelassen.

Die dunklen Augen waren über die drei Neuankömmlinge gewandert und, wie es Nadja schien, einen Augenblick länger auf ihr ruhen geblieben als auf den beiden anderen. Und länger, als es ihr gefallen hatte. Die blasse Hautfarbe und die schwarzen Haare, die dem Mann bis auf die Schultern fielen, gingen einher mit markanten Gesichtszügen, scharfen Linien im Gesicht und einem stechenden Blick. Nadja schätzte sein Alter auf Anfang fünfzig. Sie war sich nicht sicher gewesen, ob sie ob der Aufmachung ihres Gastgebers lachen oder beeindruckt sein sollte. Dann hatte sie sich jedoch an ihre eigene Garderobe erinnert.

Ohne viele Worte waren sie zu viert die Treppe zum Keller hinunter gestiegen. Nadja war von ihren Geschwistern einiges an okkulten Symbolen, mittelalterlicher Kleidung und dergleichen gewohnt, auch wenn die meisten dieser Gegenstände gut verschlossenen in irgendwelchen Kisten und Schubladen lagen. Marc weigerte sich penetrant, auch nur ein Pentagramm von Weitem anzusehen, nur Vanessa trug einige Schmuckstücke, die mehr an sich hatten, als auf den ersten Blick erkennbar war. Allerdings hatte Nadja immer empfunden, dass es ihrer großen Schwester irgendwie an Stil fehlte. Vanessa schaffte es, die traditionelle Kleidung einer Hexe so zu tragen, als ob es das Normalste der Welt sei.

Das hier übertraf alles, was sie bisher gesehen hatte. Überall hingen Amulette von der Decke, waren Symbole auf den Boden oder direkt auf die Vorhänge gemalt worden und ein Geruch von verbrannten Kräutern hing in der Luft, der Nadja in der Nase kitzelte. Das hier war ernst gemeint. Hier war wirklich Arbeit investiert worden. Hier wollte jemand sichergehen, dass alle Anwesenden sofort und unmissverständlich verstanden, worum es ging. Das hier war ein Ort, an dem Magie ausgeübt wurde.

Während sie hinter ihren Begleitern auf den in der Mitte des Raumes befindlichen Tisch zuschritt, bemerkte sie, dass sie nicht die einzigen Gäste waren. Fünf weitere Personen, ebenfalls in schwarze Umhänge gekleidet, saßen bereits dort und wandten die Köpfe bei ihrem Eintreten kurz zur Seite. Nadja konnte nicht erkennen, um wen es sich handelte, nicht einmal, ob es Männer oder Frauen waren. Alle hatten die Kapuze des Umhanges weit ins Gesicht gezogen, so dass die Gesichter nicht zu erkennen waren.

Sie spürte einen beruhigenden Druck auf ihrer Schulter und setzte sich an einen der freien Plätze. Dort, vor ihr, lag etwas Silbernes auf dem Tisch. Ein Blick in die Runde verriet ihr, dass vor allen anderen Teilnehmern der Versammlung ein ähnlicher, wenn nicht sogar identischer Gegenstand lag. Es war ein Ring, der, aufgesetzt, den kompletten unteren Knochen des Fingers bedecken würde. Jeder Zentimeter seiner Oberfläche war mit Symbolen und Schriftzeichen bedeckt. Manche davon waren Nadja vage vertraut, die Mehrzahl jedoch nicht. Die Beleuchtung machte es schwierig, weitere Details zu erkennen, doch sie spürte instinktiv, dass es sich bei diesen Gegenständen nicht um Zierrat handelte, sondern um echte magische Artefakte.

Ein Kribbeln durchfuhr sie, als sich ihr Gastgeber an die Stirnseite des Tisches setzte und allen Anwesenden mit einer Geste bedeutete, die Ringe vor ihnen aufzusetzen.

Kaum war dies geschehen, verblasste das Licht der Kerzen zu einem Glimmen und dunkle Schatten durchzogen den Raum, sorgten dafür, dass die ohnehin schon düstere Atmosphäre noch ernster wurde. Die Schriftzeichen und Symbole, die den Raum durchzogen, begannen in einem dunklen Rot zu glühen, ohne dabei jedoch zur Beleuchtung des Raumes beizutragen.

Während sie registrierte, wie ihre Hände links und rechts von den Händen ihrer Nachbarn ergriffen wurden und der Kreis somit geschlossen wurde, fragte Nadja sich, was von diesen Effekten, die sie sah, wirklich war und was von den Kräutern verursacht wurde, deren Dämpfe ihr zunehmend ein Gefühl der Entrücktheit verliehen.

Die Séance hatte begonnen.

4

»Das ist überhaupt nicht wahr! Gib das her!«

Marc lachte und versuchte vergeblich, Vanessa das Buch zu entreißen, in dem Sven und sie gerade lasen.

»Und du willst mir erklären, dass wir ein Problem mit Nadja haben werden?«, fragte Sven.

»Das war ein Unfall! Ich war sieben!«

Vanessa grinste und strich über die Seiten des Buches. Buchsammler hätten ihren rechten Arm für dieses Exemplar gegeben. Es war ein Unikat und die Chronik der Familie Gindera. Über Generationen hinweg war alles, was wichtig war und in den Bereich der Magie fiel, dort festgehalten worden.

Einige Seiten lasen sich wie Einträge eines klassischen Tagebuchs. Manche Autoren hatten ihre Eintragungen kurz und knapp gehalten, während andere zusätzlich Zeichnungen und Skizzen angefertigt hatten, manchmal von Familienmitgliedern, manchmal von anderen, nicht menschlichen Lebewesen. Es fanden sich Einträge, die die Verfolgung von Hexen behandelten, Grundrisse der ersten Dörfer, in denen die Vorfahren der Ginderas gelebt hatten, Rezepte für Heiltränke, Bannsprüche, und noch vieles mehr. Leider waren Marcs Eltern der Meinung gewesen, auch die ersten magischen Schritte ihrer beiden älteren Kinder festhalten zu müssen, wie sie gerade festgestellt hatten.

»Ich wusste nicht, dass du Feuer beschwören kannst«, meinte Sven beeindruckt.

»Das war ein Unfall«, wiederholte Marc. »Da hatte ich den Dreh mit dem Gleichgewicht noch nicht raus. Darüber hinaus sind Feuerbälle total albern. Ich meine, was will man denn damit erreichen? Ich glaube, es gibt in der ganzen Geschichte der Magie nicht eine einzige Situation, in der jemand einen Feuerball beschworen hat und das Ganze auch einen guten Sinn und Zweck hatte. Ich meine, wozu haben wir Feuerzeuge?« Er blickte Vanessa an, die ernst und langsam in dem Buch herumblätterte. Es handelte sich einerseits um so etwas wie eine Chronik der Familie, andererseits war es, wenn man genau las, intimer, als es die meisten Tagebücher waren. Alle Mitglieder der Familie hatten dort irgendwann etwas sehr persönliches niedergeschrieben. Ein aufmerksamer Leser hätte in dem Buch mehr über Marc, Vanessa und den Rest ihrer Familie herausgefunden, als durch eine mehrstündige Befragung mittels Lügendetektor.

Ihr Blick blieb auf einer Seite hängen, die, anders als die meisten Seiten in dem Buch, eine große Zeichnung enthielt, wohingegen der Text weniger als ein Viertel der Fläche einnahm. Marcs Lächeln verlor sich auf dem Weg zu dem Buch hin und wurde ersetzt von einem Blick, dem eindeutig etwas Melancholisches anhaftete. Sven fühlte, dass dies einer der sehr persönlichen Einträge war, und blickte absichtlich nicht weiter auf die Seite, sondern wartete, bis Marc ihm mit einem Nicken die Erlaubnis gab.

Die detaillierte Zeichnung zeigte eine junge Frau, deren Gesicht von einer lockigen Haarmähne umrahmt wurde und auf deren Gesicht ein sympathisches, wenn nicht sogar keckes Lächeln stand. Die wachen Augen und die kleine Stupsnase weckten spontan Sympathie in Sven.

»Wer ist das?«, fragte er.

Vanessa warf Marc ein Lächeln zu.

»Das ist Marcs Seelenverwandte«. Sie zeigte auf den Absatz neben dem Bild. Dort standen, wie bei einem Steckbrief, mehrere Stichpunkte. Manche bezogen sich auf den Charakter, andere auf das Erscheinungsbild. Einer der Einträge dort lautete 'rote Haare', wobei das Wort 'rote' doppelt unterstrichen war. Obwohl der ganze Absatz nicht viel Platz einnahm, war er aufgrund Marcs kleiner Handschrift sehr inhaltsreich und umfasste mehr als dreißig Punkte.

»Liest sich ein bisschen wie bei einer Datingagentur«, lautete Svens Urteil schließlich. Vanessa überlegte eine Weile und nickte dann.

»Könnte man so sagen«, entgegnete sie. »Es gibt ein Ritual, mit dem man seine … andere Hälfte finden kann, sein spirituelles Gegenstück.«

»Oder um es mal einfach auszudrücken: Die Liebe seines Lebens.« Marc nahm das Buch von Vanessa und blickte die Seite ernst an.

»Und das funktioniert?«

»Schon, ja. Das Problem ist, dass man mit der anderen Person nicht wirklich in Kontakt tritt. Man … « Vanessa suchte nach den richtigen Worten. »Es wird einem signalisiert, dass diese andere Person, nach der man sucht, auch wirklich existiert.«

»Und? Wie heißt sie?«

»Keine Ahnung. Ich hab sie noch nicht persönlich getroffen.« Marc warf Sven einen missmutigen Blick zu. »Das Problem ist, dass du zwar vermittelt bekommst, dass diese andere Person existiert und wie sie aussieht«, er tippte auf die Seite, »aber leider nicht gesagt bekommst, wo sie wohnt. Die Chance, dass sie Venezuela wohnt, ist deutlich höher als die, dass sie auf diesem Kontinent lebt.«

»Klingt nicht so effektiv.«

»Ach nee.«

»Keine Lügen sollen zischen … was?« Sven stockte, als er die kleine Handschrift zu entziffern versuchte.

»Zwischen. Zwischen uns stehen.« Marcs Tonfall gab klar zum Ausdruck, dass ihm die Sache langsam etwas peinlich wurde. Sven warf ihm einen mitleidigen Blick zu.

»Interessante Beziehung. Aber sehr romantisch.«

»Ja. Das dachte ich damals auch. Das war eine dämliche Idee.« Marc blickte auf die Zeichnung, die im Laufe der Jahre etwas verblasst war. Er hatte sich abgewöhnt, sie allzu oft anzuschauen. Jedes Mal, wenn er es in der Vergangenheit getan hatte, war die Gewissheit größer geworden war, dass die eine Person, die ihn ganz und komplett werden ließe, irgendwo da draußen war und er absolut keine Ahnung hatte, wo er mit der Suche nach ihr beginnen sollte.

Mit einem letzten Blick auf die Zeichnung klappte Marc das Buch zu. Deswegen waren sie nicht hier. Er sah die beiden Personen im Raum an. Von beiden ging eine Aura der Erwartung aus, die es ihm unmöglich machte, die ganze Angelegenheit noch abzublasen. Darüber hinaus hatte Sven eine Unmenge Bücher mitgebracht, in denen Übungen, Trainingsszenarien und dergleichen beschrieben waren. Beide waren offensichtlich ganz wild darauf, mit der Planung von Nadjas Ausbildung zu beginnen.

Sie saßen auf dem Dachboden, in dem Raum, in dem Vanessa und Marc alles aufbewahrten, was auch nur annähernd mit dem Thema Magie zu tun hatte. Mehrere Bücherregale säumten die Wände, daneben einige Kisten und drei Apothekerkommoden, die alle vollgestopft waren mit Steinen, Kristallen, Amuletten, Pergamenten, Büchern und anderen magischen Utensilien, die sich auf die eine oder andere Weise im Laufe der Jahre und Jahrzehnte angesammelt hatten. In der Mitte standen bequeme Stühle sowie ein Tisch, an dem man arbeiten konnte. Alles in allem sah der Raum wie ein durchschnittlicher ausgebauter Dachboden aus, und genau das war der Sinn der Sache. Sollte sich einmal aus Zufall jemand hierher verirren, der hier nichts zu suchen hatte, so war das Letzte, was dieser Jemand denken sollte, dass sich hier der Familienbesitz an magischen Artefakten aus den letzten dreihundert Jahren befand.

Ein weiterer Grund, warum sie ihr Treffen hier abhielten und nicht im Wohnzimmer war, dass der Raum beinahe schalldicht isoliert war. Nadja hatte irgendwann angefangen zu lauschen, wenn sie sich offen über die Belange der Magie unterhalten hatten. Darüber hinaus war die Tür des Raumes und das dazugehörige Schloss einer der wenigen Gegenstände im Haus, die mittels eines Zaubers gesichert waren.

Auch hier hieß der Grund Nadja. Selbstverständlich wusste sie um die Begabungen ihrer Geschwister und hatte sich irgendwann in den Kopf gesetzt, soviel wie möglich über das Gebiet herauszufinden, noch bevor ihre Ausbildung begann. Als Marc sie eines Tages dabei erwischt hatte, wie sie mit einem Ouija-Board herumgespielt hatte, hatten sie ihr verboten, diesen Raum wieder zu betreten, ohne vorher um Erlaubnis zu fragen. Da sie beide ihre kleine Schwester nur zu gut kannten, hatten sie die Tür kurzerhand mit einem schwachen Fluch belegt, der jedem Eindringling einen schwachen, aber dennoch schmerzhaften Schlag verpasste, der an Intensität zunehmen würde, je öfter der Eindringling es versuchen würde.

»Nur für das Protokoll«, meinte Marc, mehr um sich selbst zu beruhigen. »Ich halte das immer noch für eine dumme Idee. Ich bin der Meinung, dass sie noch nicht reif genug dafür ist.«

»Marc, ich würde auch lieber noch ein Jahr warten.« Marc blickte seine Schwester erstaunt an. »Allerdings haben wir kein Jahr mehr«, fuhr Vanessa bestimmt fort. »Was heute Morgen passiert ist, war nur ein kleiner Vorgeschmack auf das, was passieren wird, wenn wir nicht bald mit der Ausbildung anfangen.«

»Was genau hat sie denn gesendet?«, fragte Sven, der von dem Vorfall nur in Andeutungen erzählt bekommen hatte. Vanessa lachte.

»Ich bin nicht sicher, wie ich es beschreiben soll«, meinte sie. »Irgendwie eine Mischung aus La Boum, einem Outdoorfestival und einem anatomisch nicht möglichen Softporno. Das alles zusammengepresst in ungefähr anderthalb Sekunden.«

Sven dachte eine Weile darüber nach.

»Interessant«, meinte er schließlich grinsend. »Du hast recht.« Er nickte Vanessa zu. »Wir müssen was tun.«

Vanessa schickte einen 'Ich hab's dir doch gesagt'-Blick zu Marc hinüber, der sich mit erhobenen Händen geschlagen gab. Sie blickte auf den Stapel von Büchern, die Sven mitgebracht hatte.

»Was ist das?«

»Oh, nur ein bisschen Grundlagenliteratur. Ein paar Übungen und so. Nichts Spezielles. Ich weiß ja nicht, in welche Richtung sie sich entwickeln wird. Also dachte ich mir, wir gehen die Sache mal von null aus an.«

Marc nickte. Das wirklich Schwierige bei der Ausbildung von angehenden Magiern war, dass man nicht wusste, worin das eigentliche Talent oder die letztendliche Begabung lag. Nadjas offenkundiger Hang zur Telepathie war eine Sache. Diese ersten Ausbrüche von magischen Talenten waren aber oft nur der Initiator für eine Reihe von anderen, völlig unterschiedlichen Ausprägungen der Gabe, wie Vanessa es nannte. So hatte Marc als Kind gerne mit den Elementen herumgespielt, was mehrfach entweder fast zur Vernichtung der eigenen vier Wände durch Brände geführt hatte, oder dazu, dass sie den Keller, in dem Marc geübt hatte, mehrere Wochen lang als kostenlose Tiefkühlkammer hatten nutzen können.

Im Laufe der Zeit hatte er jedoch seinen eigenen, sehr persönlichen Weg gefunden, mit dieser Gabe umzugehen. Er bestand darin, dass er sie fast völlig ignorierte. Einerseits war sein Beruf als Systemadministrator nicht dazu prädestiniert, Magie auszuüben, anderseits hatte er im Laufe der Jahre eine Abneigung gegen den klassischen Aspekt der Magie entwickelt. Menschen, die sich esoterisch kleideten, nackt ums Feuer tanzten, dabei Kräuter verbrannten und aufgrund der Dämpfe irgendwann anfingen, den Bezug zur Realität zu verlieren, waren ihm zutiefst suspekt. Magie war eine feine Sache, aber leider brachte sie kein Essen auf den Tisch und die Miete bezahlen konnte man damit auch nicht.

»Wo ist Nadja eigentlich?«, fragte Sven, während er eines der Bücher durchblätterte. »Früher oder später muss sie an den Vorbereitungen teilnehmen. Ich weiß ja nicht, was sie alles kann und weiß.«

»Viel Glück dabei,« Marc lachte humorlos. »Die ist in ihrem Zimmer und schmollt, weil sie nicht feiern gehen durfte. Das ist natürlich die soziale Katastrophe schlechthin und bedeutet, wie wir alle wissen, das absolute kulturelle Aus eines jeden vierzehnjährigen Teenagers innerhalb seiner Peer Group. Sie würde nicht mal mit uns sprechen, selbst wenn wir ihr dafür Geld geben würden.«

Nadja blickte sich verstohlen um. Sie wusste immer noch nicht, ob sie lachen sollte oder ob die ganze Angelegenheit nicht vielleicht doch einen ernsthaften Hintergrund hatte. Aus den Gesprächen, die sie von ihren Geschwistern belauscht hatte, wusste sie, dass eine Menge Menschen der Meinung waren, Magier zu sein. Bei ungefähr einem von tausend war diese Selbsteinschätzung berechtigt. Von diesen wiederum war weniger als ein Prozent wirklich in der Lage, Magie auszuüben, die sichtbare Resultate nach sich zog.

Überall in der Stadt fanden regelmäßig Treffen dieser Art statt, bei denen man sich vorzugsweise in dunklen Kellern traf, mystische Runen an die Wände malte und Texte aus okkulten Werken aufsagte, deren Authentizität mehr als zweifelhaft war.

Und obwohl dies alles, oberflächlich gesehen, auch auf diese Séance zutraf, so gab es etwas, das Nadja zweifeln ließ. Niemand hatte ein Wort gesagt, seit sie sich um den Tisch herum niedergelassen hatten, und ihr Gastgeber mittels einer Geste signalisiert hatte, dass die Séance nun beginnen würde. Nun, zumindest kein Wort, das sie verstand. Samael, ihr Gastgeber und Leiter dieser Séance, der ihr gegenüber an dem runden Tisch saß, murmelte unablässig etwas vor sich hin, das wie eine Mischung aus Latein und Russisch klang, allerdings konnte sie keines der Worte wirklich verstehen, geschweige denn ihre Bedeutung.

Darüber hinaus war da dieses Kribbeln. Sie war nicht sicher, wann es begonnen hatte. Vielleicht, nachdem sie den Ring aufgesetzt hatte, so wie alle anderen im Raum, vielleicht aber schon vorher. Es war kein Kribbeln im körperlichen Sinne, eher ein Eindruck, dass die Luft um sie herum geladen war mit einer Energie, die nichts mit normalem atmosphärischen Druck oder einem sonstigen physikalisch messbaren Phänomen zu tun hatte. Bevor sie dieser Empfindung jedoch weiter nachgehen konnte, passierte etwas, das sie endgültig davon überzeugte, dass diese Séance nicht unter die Kategorie 'Hokus Pokus' fiel, wie Vanessa es immer abfällig nannte.

Über der Mitte des Tisches begann die Luft zu wabern. Erst schwach, dann, mit jeder Sekunde an Intensität gewinnend, erschien ein Leuchten in der Luft, das sich langsam ausdehnte. Das Gemurmel von Samael wurde nun lauter, allerdings nahm Nadja dies nur am Rande war. Ihre Augen waren fest auf den leuchtenden Nebel gerichtet, der sich zwischen ihnen manifestierte.

Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte sie Formen erahnen zu können, die jedoch gleich daraufhin wieder verschwanden und von anderen, ebenso undeutlichen Schemen ersetzt wurden. Irgendwie hatte Nadja das Gefühl, dass das, was vor ihr in der Luft schwebte, überlegte, wie es denn aussehen wollte, sich aber nicht wirklich für eine konkrete Form entscheiden konnte oder vielleicht auch wollte. Das Kribbeln, das sie spürte, war nun fast greifbar. Und es gefiel ihr überhaupt nicht.

»Ich hab doch gesagt, dass sie nicht rauskommt.«

Marc stand neben Sven auf dem Flur, von dem Nadjas Zimmer abging.

Obwohl er und Vanessa vorausgesagt hatten, dass genau dies passieren würde, hatte Sven sich dennoch aufgemacht und einen Versuch gestartet, Nadja aus ihrer selbst auferlegten Isolationshaft zu befreien. Weder auf das erste, noch auf das zweite Klopfen war eine Antwort erklungen und auch die freundliche Bitte Svens, doch einmal kurz die Tür zu öffnen, war ignoriert worden. Bevor einer von beiden einen weiteren Versuch starten konnte, kam Vanessa den Flur entlang geschlendert, ein mitleidiges Lächeln auf den Lippen.

»Die kommt da nicht raus. Und wenn ihr euch – «

»Was ist?«

Vanessas Mimik hatte innerhalb weniger als einer Sekunde alles an Gutmütigkeit verloren. Ihr Blick wurde für einen Augenblick lang unscharf, dann fokussierte sie ihn wieder und sah die beiden Männer konsterniert an.

»Sie ist nicht da drin.«

Weder Marc noch Sven fiel es ein, Vanessas Aussage infrage zu stellen. Eine der Fähigkeiten, die sie besaß, war festzustellen, ob sich jemand in der näheren Umgebung befand. Wenn die betreffende Person nah genug war, war es Vanessa sogar möglich, die Stimmung ihres Gegenübers, beziehungsweise ihre Aura zu lesen. Sie setzte diese Fähigkeit jedoch so gut wie nie aktiv ein, speziell nicht, um Nadja zu überwachen. Andernfalls hätten sie ihr auch gleich einen Peilsender einpflanzen können. Privatsphäre war etwas, das sowohl Marc als auch Vanessa sehr wichtig war. Allerdings war es Vanessa fast unmöglich, die Anwesenheit ihrer Schwester nicht zu bemerken, wenn sich diese weniger als zehn Meter von ihr entfernt in ihrem Zimmer befand. Wenn Vanessa also sagte, dass Nadja nicht dort drin war, dann war dies eine Tatsache.

»Vielleicht ist sie in der Küche?«, schlug Sven vor. Vanessa drehte den Kopf, als ob sie auf etwas lauschen würde. Dann schüttelte sie den Kopf.

»Nein«, sagte sie schließlich. »Sie ist nicht hier. Sie ist nicht im Haus.«

Einige Sekunden später standen sie in Nadjas Zimmer und blickten sich in dem leeren Raum um. Eine rasche Durchsuchung ergab, dass nichts Übernatürliches für Nadjas Verschwinden verantwortlich war. Sie war schlicht und ergreifend aus dem Fenster geklettert.

»Ich bring sie um«, meinte Marc grimmig, während er in die Nacht hinaus blickte. Mit einem Ruck schloss er das Fenster.

5

Als Nadja realisierte, dass etwas nicht stimmte, war es bereits zu spät. Obwohl sie bisher nicht aktiv an Séancen teilgenommen hatte, so wusste sie aus den Gesprächen ihrer Geschwister, die sie belauscht hatte, dass man bei einer Séance den Kreis auf gar keinen Fall unterbrechen durfte, solange der Geist, den man beschworen hatte, noch anwesend war. Andernfalls konnte es passieren, dass, wenn man Glück hatte, sich der Geist aus dem Staub machte und in dem Haus, in dem er beschworen wurde, fortan sein Unwesen trieb. Wenn man Pech hatte, handelte es sich nicht um einen potenziellen Poltergeist, sondern um einen ausgewachsenen Dämon, den man erst recht nicht in den eigenen vier Wänden haben wollte.

Samael ließ die beiden Hände seiner Nachbarn gleichzeitig los und reckte sie dem Etwas entgegen, das sich in der Mitte des Raumes befand und nach wie vor keine feste Form angenommen hatte. Er rief ein Wort, das Nadja nicht verstand, und bevor sich irgendjemand im Raum von der überraschenden Wendung der Ereignisse hatte erholen können, war das Ding, das über dem Tisch schwebte, zielstrebig auf Samael zugeschossen, und in ihn hinein.

Verblüfftes Schweigen machte sich um den Tisch herum breit, als auch der Rest der Gruppe die Hände der anderen losließ und den Mann betrachtete, der immer noch dort stand, den Kopf beinahe auf die Brust gesenkt, und langsam und tief atmete. Die Köpfe aller Anwesenden wandten sich um, fragende Blicke in den Augen, und in nicht wenigen davon war Angst zu sehen, wie Nadja erkannte.

Samael hob den Kopf und das Leuchten in seinen Augen war der letzte Beweis, den Nadja brauchte, um zu realisieren, dass sie alle in echten Schwierigkeiten steckten. Ohne ein Wort von sich zu geben, wandte sich ihr Gastgeber zur Seite, legte seine Hände links und rechts an den Kopf seines Nachbarn und drehte ihn mit einer raschen Bewegung beider Hände zu sich hin. Es knackte widerwärtig laut in dem ansonsten stillen Raum, als das Genick brach und nach etwa einer halben Sekunde, die sich für Nadja wie Stunden anfühlte, sank der Oberkörper des soeben Getöteten langsam nach vorne und krachte auf die Tischplatte, wo er still liegen blieb.

Bevor einer der Anwesenden realisieren konnte, was soeben geschehen war, wandte sich Samael zur anderen Seite. Jetzt allerdings war der Bann gebrochen, der sie alle auf den Sitzen hielt. Wie durch einen Dunst realisierte Nadja, dass die verbliebenen Personen aufsprangen und sich gegenseitig etwas zuriefen. Was, konnte sie nicht verstehen. Alles, was sie sah und begriff, war, dass auch der zweite Teilnehmer der Séance einen schnellen und brutalen Tod starb, als Samael auch ihm das Genick brach. Der Umstand, dass der unbekannte Tote sich so gut er konnte wehrte – wenn auch vergebens – hatte den anderen im Raum wertvolle Sekunden verschafft.

Nadjas Stuhl wurde zur Seite geschleudert und sie schlug hart auf dem Boden auf, als sich eine der schwarz gekleideten Personen an ihr vorbei drängelte, auf den Ausgang zu, dicht gefolgt von einer zweiten und dritten. Nadjas Blick huschte hektisch durch den Raum.

Irgendetwas flog durch die Luft, verursachte dabei ein pfeifendes Geräusch, das durch den Raum schoss, bevor es mit einem nassen Klatschen zwischen den Schulterblättern derjenigen Person auftraf, die gerade verzweifelt versuchte, die Treppe zu erreichen. Wie ein Baum, der langsam den Halt verlor, kippte die schwarz gekleidete Gestalt nach vorne um. Eine kleine Wurfaxt ragte ihr aus dem Rücken.

Die Person, die vor Nadja stand, machte den kapitalen und letzten Fehler, sich umzublicken und auf die Leiche zu starren. Die Kapuze war der jungen Frau, die Nadja nicht kannte, in der Hektik vom Gesicht gerutscht. Der Gesichtsausdruck, als das Messer ihre Brust traf, war etwas, das Nadja so schnell nicht würde vergessen können. Blut sickerte der Frau durch die Lippen, während sie fassungslos auf das Messer blickte, das bis zum Heft in ihrem Körper steckte. Dann kippte sie zur Seite, schlug hart gegen die Wand und rutschte, während das Leben aus ihren Augen wich, langsam nach vorne, wo sie, wie ihr Vorgänger, reglos liegen blieb.

Noch bevor Nadja einen klaren Gedanken fassen konnte, hörte sie ein gurgelndes Stöhnen von dort, wo die Kellertreppe begann. Ein Schrei, der Nadja durch Mark und Bein ging, war zu hören. Es krachte und polterte einige Male, durchsetzt mit dem charakteristischen Knacken und Brechen von Knochen, danach herrschte Stille.

Sterne begannen vor ihren Augen zu erscheinen, als Nadja sich dazu zwang, nicht in hysterische Panik zu verfallen und ihre Atmung unter Kontrolle zu bekommen.

Wo waren Jan und Sybille? Waren sie unter den Toten? Sie konnte sich nicht erinnern, wo die beiden gesessen hatten. Die Kapuzen, die den Toten über das Gesicht gerutscht waren, machten es unmöglich, die beiden, die zuerst gestorben waren, zu identifizieren, ohne sie näher zu untersuchen. Das allerdings war das Letzte, was Nadja vorhatte.

Schwer atmend wagte sie es, den Kopf über die Tischplatte zu heben, dabei den Stuhl fest umklammernd, um ihn notfalls als Schild nutzen zu können. Sie richtete sich vorsichtig auf und blickte in die Augen von dem, was vor wenigen Minuten einmal ihr Gastgeber gewesen war. Die Augenfarbe war nicht das Einzige, was sich verändert hatte. Innerhalb der kurzen Zeit, die seit dem Öffnen des Kreises vergangen war, hatte sich das Äußere des Mannes drastisch verändert.

Blasen waren auf seiner Haut zu sehen, als sich das Gewebe verformte, um Platz für etwas zu schaffen, das dort eigentlich nichts zu suchen hatte. Die vormals schwarzen Haare hatten sich innerhalb der wenigen Sekunden fast vollständig weiß verfärbt und die Haut hatte einen gräulichen Ton angenommen. Nichts deutete darauf hin, dass das, was sich auf der anderen Seite des Raumes befand, noch menschlich war.

Mit mehr Selbstkontrolle, als sie dachte zu besitzen, schob Nadja sich vorsichtig um den Tisch herum in Richtung Treppe, dabei darauf bedacht, den Tisch als Deckung auszunutzen und den Stuhl nicht loszulassen.

Mit einer lässigen Handbewegung ergriff Samael die Tischplatte und schleuderte das Möbelstück zur Seite, wo es mit einem lauten Krachen gegen die Wand schlug und zerbrach. Dann, unerwarteterweise, hielt er inne und wandte sich zu den beiden Leichen um, die zu seinen Füßen lagen. Ohne eine Mine zu verziehen, beugte er sich hinunter, nahm die Hand eines der Toten und biss einen der Finger ab. Das Geräusch von brechenden Knochen und zerreißendem Gewebe hallte unnatürlich laut in dem Raum. Nadja konnte den leisen Schrei nicht unterdrücken, der ihr entfuhr, und sie brauchte eine Sekunde, um ihren Würgereiz unter Kontrolle zu bringen. Das Blut tropfte Samael vom Mund, während er sich, ohne dabei den Blick von Nadja abzuwenden, dem anderen Leichnam zuwandte, um ihn ebenso zu verstümmeln wie den ersten.

Den Umstand nutzend, dass ihr Gegner gerade beschäftigt war, wog sie den Stuhl in ihren Händen, warf ihn mit aller Kraft auf das Ding vor sich, und rannte los.

6

Marc starrte ein Loch in die Luft, während Vanessa in der Küche herumwerkelte. Sie wusste, dass es keinen Sinn hatte, ihren Bruder in seiner momentanen Laune auch nur anzureden. Sven, der bei familiären Situationen nicht ganz so viel Erfahrung mit Marc hatte, versuchte es dennoch.

»Hast du als Kind nie gegen Regeln verstoßen?«, fragte er. »Ich will euch nicht in die Erziehung von Nadja reinreden«, meinte mit erhobenen Händen, als er Marcs Blick bemerkte, »aber glaubst du nicht, dass du vielleicht ein wenig überreagierst?«

»Ach ja? Ich will dir mal was sagen. Als meine Eltern mich dabei erwischt haben, dass ich gegen eine ihrer Regeln verstoßen habe, haben die mir sechs Wochen Hausarrest aufgebrummt und mir einen Fluch angehängt, der sechs Monate lang meine Fähigkeiten unterdrückt hat. Und da war ich zehn!«

»Ähm, da mag ja richtig sein«, erklang Vanessas Stimme vom Türrahmen her. »Aber du hast damals fast jemanden in Brand gesteckt. Das ist ein bisschen was anderes, als sich unerlaubt auf eine Party zu schleichen.«

»Ich schwöre bei Gott, wenn die Kleine hier auftaucht, dann reiße ich ihr dermaßen – «

Das Brummen und Klingeln seines Handys verhinderte, dass Marc sich in ausführlichen Darstellungen der Bestrafung seiner kleinen Schwester erging. Mit einem missgelaunten Blick schaute er auf das Display. Gleich darauf verschwand seine schlechte Laune und wurde von ehrlicher Überraschung ersetzt.

»Du hast echt Nerven, hier anzurufen!«, beantwortete er den Anruf und legte das Telefon vor sich auf den Tisch, so dass Sven und Vanessa mithören konnten. »Kannst du mir vielleicht mal – «

»Marc, es tut mir leid!«, erklang Nadjas gehetzte Stimme aus dem Lautsprecher. »Ihr müsst mir helfen! Ich bin … ich glaub', ich hab echt Mist gebaut. Hier ist ein Dämon und der hat … der hat Leute umgebracht! Ich … oh scheiße!«

Irgendetwas schepperte und krachte im Hintergrund. Ein spitzer Schrei war zu hören, von dem alle wussten, dass er von Nadja stammte. Ein Grunzen oder vielleicht auch ein Knurren war zu hören und andere Geräusche, aus denen keiner der drei Zuhörer schlau wurde.

»Nadja, was ist los?«, rief Vanessa. »Wo bist du?«

»Hat sie gerade Dämon gesagt?« Marcs Mimik spiegelte sowohl Unglaube als auch Entsetzen wider. Die Kampfgeräusche hielten an, während sie versuchten, Nadja dazu zu bringen, ihnen zu sagen, was los war und wo sie sich befand. Keine Antwort war zu hören, nur weiteres Poltern und das wiederholte Grunzen von etwas, das keiner der drei einordnen konnte.

»Ich weiß, wo sie ist.«

Marc und Sven drehten sich zu Vanessa um, die mit geschlossenen Augen da stand und sich scheinbar auf etwas konzentrierte, das sich nicht im Raum befand. Einige Sekunden vergingen, als plötzlich ein kleiner grüner Funke vor Vanessa erstrahlte. Einen Augenblick lang hing er in der Luft, dann schwebte er langsam von ihr weg in Richtung Haustür. Vanessa öffnete die Augen und blickte dem Licht hinterher, das gerade dabei war, durch die Tür zu verschwinden.

»Sie ist ganz in der Nähe«, meinte sie und schritt entschlossen dem Licht hinterher. Marc und Sven brauchten eine Sekunde, um sich von ihrer Überraschung zu erholen, dann folgten sie ihr.

Bei jeder Fahrprüfung wäre Marc mit Pauken und Trompeten durchgefallen, so wie er den Wagen schließlich halb auf der Straße zum Stehen brachte. Sie waren dem grünen Licht weniger als fünf Minuten lang gefolgt, als es schließlich vor einem leicht heruntergekommenen Einfamilienhaus zu Stehen gekommen und dann erloschen war. Dass andere das Licht hätten sehen können, interessierte weder Vanessa noch Marc. Sie standen vor dem Grundstück und blickten auf das Haus, in dem sich, Vanessas Findezauber zufolge, Nadja aufhalten musste.

Marc steckte das Handy ein, das er die ganze Zeit über angeschaltet gelassen hatte. Er wusste, dass die andauernde Präsenz des Lichtes besagte, dass Nadja zumindest noch lebte, andernfalls wäre es bereits auf dem Weg hierher erloschen. Die Geräusche und die andauernden panischen Rufe von Nadja, die aus dem kleinen Lautsprecher drangen und nach wie vor auf eine Art Kampf hindeuteten, trugen jedoch zusätzlich zu ihrer aller Beruhigung bei.

»Was machen wir jetzt?«, fragte Vanessa ratlos. »Was ist, wenn da drin wirklich sowas wie ein Dämon ist?«

Anstatt einer Antwort ging Marc um den Wagen herum, öffnete den Kofferraum und holte ein Brecheisen hervor, das er kurz in der Hand wog. Sie nickten, dann schritten sie nebeneinander auf die Tür zu. Dort angekommen, legte Vanessa kurz die Hand an den Türrahmen. Noch bevor die Haut das Holz vollständig berührt hatte, sprang sie entsetzt einen halben Meter zurück und blickte mit großen Augen auf die Tür.

»Ich weiß nicht, ob das reicht«, meinte sie mit einem Blick auf das Brecheisen in Marcs Hand. »Ich habe noch nie so viel negative Aura auf einem Fleck erlebt.«

Vorsichtig öffnete Marc die Tür.

Ein Blick in den Flur und das daran angrenzende Wohnzimmer offenbarte, dass der Kampf sich nicht weiter auf den Keller beschränkte. Überall lagen zerbrochene und zersplittere Teile der Einrichtung herum, Spiegelscherben bedeckten den Boden und ein metallischer Geruch hing in der Luft, der unangenehm in der Nase stach.

Ein Scheppern erklang aus dem Wohnzimmer, gefolgt von dem schon bekannten Knurren. Dann hörten sie Nadjas Stimme.

»Ich hab noch mehr davon, pass bloß auf!«

Wieder schepperte es und Splitter flogen durch die Gegend, als Nadja ihre Geschosse durch den Raum warf und, der Reaktion nach zu urteilen, mindestens einen Treffer landete.

Für einen Augenblick erhaschten sie einen Blick auf das, was Nadja sich vom Leib zu halten versuchte. Mit viel Fantasie hätte man es als Mensch bezeichnen können, allerdings waren die graue Farbe der Haut, die durchgehend roten Augen und die sich windenden Verformungen, die mittlerweile sogar durch die Kleidung hindurch sichtbar waren, für alle ein deutliches Zeichen dafür, dass sie es hier nicht mit einem normalen Menschen zu tun hatten. Marc spürte, wie sich Vanessa neben ihm versteifte und ihr ein entsetztes Keuchen entfuhr. Wortlos drehte sie sich zu ihm um und schüttelte den Kopf. Was immer dieses Ding auch war, es haftete ihm nichts menschliches an.

Vielleicht hatte das Ding Vanessas Keuchen gehört, vielleicht hatte es ihre Gegenwart auf einer anderen Ebene wahrgenommen. Auf jeden Fall hielt es plötzlich in der Bewegung inne und drehte sich langsam zu ihnen um. Marc entspannte sich und trat einen Schritt in den Raum hinein, jetzt, da die Notwendigkeit der Heimlichkeit nicht mehr gegeben war.

Ein kurzer Blick zeigte ihm, dass Nadja sich hinter einem Tisch verschanzt hatte und alles, was sich in der Vitrine neben ihr befand, als Wurfgeschoss verwendete, um sich ihren Gegner vom Leib zu halten. Mehrere Kratzer und kleinere Wunden waren auf ihren Armen und im Gesicht zu sehen, jedoch schien sie nicht ernsthaft verletzt zu sein.

Ihr Gegner sah weniger intakt aus. Mehrere klaffende Wunden zeugten davon, dass Nadja bei ihren Wurfgeschossattacken mehrere Treffer gelandet hatte. Allerdings wurde Marc das Gefühl nicht los, dass keine der Wunden, so offensichtlich sie auch waren, irgendeine Wirkung zeigte. Er hatte den vagen Eindruck, als ob das Ding mit Nadja spielte. Der Blick, den Nadja ihnen zuwarf und die darin liegende Erleichterung ließen ihn für eine Sekunde vergessen, wie wütend er auf sie war. Er nickte ihr beruhigend zu und bedeutete ihr, wieder in Deckung zu gehen.

Ohne ein Wort miteinander zu wechseln, betraten Vanessa und Sven das Zimmer und stellten sich in einem lockeren Halbkreis neben ihn.

Jetzt, wo sie Zeit und einen freien Blick hatten, war es noch offensichtlicher, dass dieses Ding, das vor ihnen stand, kein Mensch war. Blasen schlängelten sich unter der Haut entlang, liefen den Körper auf und ab, als ob etwas Fremdes innerhalb des Körpers versuchte, einen geeigneten Platz zu finden.

»Verpiss dich«, rief Marc seinem Gegenüber zu. »Du bist hier nicht erwünscht. Geh dahin zurück, wo du hergekommen bist.«

Die Schnelligkeit, mit der ihr Gegner die wenigen Meter überbrückte, war ebenso unmenschlich wie der Rest an ihm. Noch ehe Marc mit dem Brecheisen zum Schlag ausgeholt hatte, schloss sich eine Hand um seine Kehle und er wurde mit Wucht gegen die Wand geschmettert. Unfähig, auch nur einen Laut von sich zu geben, kämpfte Marc gegen den Griff an. Er fühlte, dass er gleich ohnmächtig werden würde. Er konnte nicht atmen und der Griff schnürte ihm die Blutzufuhr ab. Dann, als er bereits begann, Sterne vor den Augen zu sehen, schleuderte der Kopf seines Gegners ruckartig zur Seite, und der Griff löste sich. Keuchend rappelte Marc sich auf und sah, wie Sven auf den am Boden liegenden Dämon blickte, in der Hand das Brecheisen, das Marc entglitten war.

Trotz der klaffenden Kopfwunde, die sein Schlag verursacht hatte, begann sich der Körper auf dem Boden wieder zu regen. Ohne dass er die Verletzung in irgendeiner Art und Weise zu bemerken schien, stand der Dämon langsam auf und wandte sich nun Sven zu, der mit einem erschrockenen Aufschrei zurückwich, während er das Eisen wie ein Schild fest umklammerte und vor sich hielt. Ebenso wie bei Marc war er jedoch nicht auf die Geschwindigkeit vorbereitet, mit der ihr Gegner angriff. Noch bevor er eine Bewegung machen konnte, traf ihn der Schlag mit voller Wucht gegen den Oberkörper und ließ ihn mehr als einen Meter durch die Luft fliegen, bevor er hart auf dem Fußboden landete.

Jetzt jedoch waren zwei der Gegner im Rücken des Dämons. Vanessa, die gerade aus der Küche kam und eine gusseiserne Bratpfanne in den Händen hielt, hielt kurz inne und orientierte sich. Dann warf sie Marc die Pfanne zu und hob den Kuhfuß auf, der Sven aus der Hand gefallen war. Gleichzeitig und ohne ein weiteres Wort gingen sie zum Angriff über.

Erschöpft ließ Marc die Pfanne auf den Boden fallen, wo sie mit einem schmatzenden Geräusch aufschlug. Neben ihm wandte Vanessa sich ab, um das Ergebnis der letzten dreißig Sekunden nicht länger ansehen zu müssen.