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Bei OMMYA - der Organisation für Magische und Mystische Angelegenheiten - ist der Alltag eingekehrt. Übergänge in fremde Welten wie Narnia, Shan-Gri-La und Nimmerland, magische Artefakte wie Dorothys rote Schuhe, Rotkäppchens Umhang und Neptuns Dreizack müssen katalogisiert werden. Die Quartalsinventur steht an. Mitten in diese ungeliebte Aktivität hinein verschafft sich eine Gruppe Unbekannter Zutritt zu den Gewölben von OMMYA und macht sich auf und davon, bevor sie jemand stoppen kann. Als ob das nicht genug ist, haben Renés Vorgesetzte offensichtlich ein Auge auf die gefährlichen Artefakte und Gegenstände im Lager geworfen und sind willens, sie zu benutzen. Die Gruppe um René, Jochen, Sahra und Rebecca muss sich entscheiden, auf welcher Seite sie steht. Ach ja. Und sie müssen Alice nach Hause bringen. Beide.
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Seitenzahl: 442
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Dennis Blesinger
OMMYA - Freund und Feind
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Danksagung
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ENDE
Über den Autor
Impressum neobooks
Mein Dank geht an:
Roland, Nicole und Eileen für das Testlesen und die dazugehörigen Anmerkungen und Kritiken.
Und erneut Marie-Katharina Wölk für die sehr entspannte und produktive Zusammenarbeit, was das Cover angeht.
Vielen lieben Dank!
»Wendy, ich weiß, dass du dich langweilst, aber du bringst mir die Ablage durcheinander.«
René drückte die Seiten auf den Tisch und wartete, bis der Feenstaub seine Wirkung verlor. Die kleine Fee flog einen kleinen Bogen um den Schreibtisch herum und entschuldigte sich leise. René lächelte ihr zu.
»Du brauchst dich nicht entschuldigen.« Als er sicher war, dass die Seite nicht wieder davon schweben würde, arbeitete er sich weiter durch den Stapel Formulare, der vor ihm lag. Er war erfreulich klein. Noch vor einem Jahr wären es mindestens zehnmal so viele Seiten gewesen, aber das war, bevor er sich dazu entschlossen hatte, André Hansen die Sache auf's Auge zu drücken. Anfangs als Notlösung gedacht, hatte sich die Entscheidung als Glücksgriff herausgestellt.
Hansen war vor knapp zwei Jahren zu OMMYA – der Organisation für Magische und Mystische Angelegenheiten – gestoßen, jedoch hatte sich schnell gezeigt, dass er für den Außeneinsatz nicht zu gebrauchen war. Selbst der Anblick einer der Feen oder Pixies, wie Wendy eine war, hatten ihn lange Zeit aus dem Konzept gebracht. Da er auch noch leicht asthmatisch veranlagt war und Allergien gegen Substanzen hatte, die in keiner medizinischen Abhandlung vorkamen, hatten sie ihn ebenfalls nicht für die Pflege der mystischen Geschöpfe einsetzen können. Schwere körperliche Arbeiten schieden ebenfalls aus. René war sich immer noch nicht sicher, wie Hansen den abschließenden körperlichen Eignungstest bestanden hatte. Also war René als Leiter der Abteilung gezwungen gewesen, sich eine Beschäftigung für den Mann zu suchen, oder ihn still und heimlich verschwinden zu lassen. Als die letzte regelmäßige Inventur angestanden hatte und sowohl Jochen, Renés direkter Stellvertreter, als auch Christopher, die Nummer drei in der Kette, krank gewesen waren, hatte sich jedoch eine Seite an dem schmächtigen blassen Mann gezeigt, die – zumindest für René – nicht mit Gold aufzuwiegen war.
Was René an seinem Job hasste wie die Pest, schien Hansen geradezu mit einer stillen Glückseligkeit zu erfüllen. Der Mann war imstande, den ganzen Tag nichts anderes zu tun, als Formulare und Listen zu prüfen, auszufüllen, abzulegen und somit die komplette bürokratische Last von Renés Schultern zu nehmen. Nur die Formulare, die René persönlich unterschreiben musste, landeten auf seinem Schreibtisch und mittlerweile war er imstande, diesen Teil seiner Arbeit innerhalb von weniger als einer Stunde zu erledigen und sich den Rest des Tages um seinen eigentlichen Job zu kümmern. Und dieser Job hatte es in sich.
Wenn sein Privatleben jetzt auch noch so entspannt laufen würde, oder er überhaupt eines gehabt hätte, wäre er zum ersten Mal seit Jahren dazu gekommen, sich wirklich entspannen zu können. Aber irgendwas war ja immer.
Er setzte seine Unterschrift unter die letzte Seite und wandte sich an die kleine Fee, die nach wie vor im Zimmer schwebte und ihm über die Schulter blickte. Einerseits fand er die kleinen Wesen, so wie es bei fast allen anderen Mitarbeitern von OMMYA der Fall war, sehr niedlich und er musste über die Neugier, die die insgesamt acht Pixies für die Arbeit innerhalb der Zentrale entwickelt hatten, regelmäßig lächeln. Auf der anderen Seite taten sie ihm mit jedem Tag etwas mehr leid. Nach wie vor herrschte Krieg in der Welt, aus der sie stammten, und es war nicht abzusehen, dass dieser Krieg über kurz oder lang enden würde. Die Orks und die Elfen hatten sich in eine Art Patt hinein manövriert und keine der beiden Seiten schien gewillt, nachzugeben. Solange dieser Zustand andauerte, hatten die acht kleinen Feen hier inoffiziell Asyl erhalten.
Normalerweise hätte René nicht für Geld noch gute Worte einer anderen Lebensform Asyl gewährt. Allein die Unterbringung würde die Abteilung vor unlösbare Probleme stellen. Doch die kleinen Wesen hatten etwas in ihm berührt. Seit mehr als vier Jahren waren sie nun schon hier und mittlerweile empfand sie jeder als festen Bestandteil von OMMYA.
»Du kannst Hansen sagen, dass er die Sachen abholen kann. Sofern er sich denn von seinen anderen Aktivitäten losreißen kann.«
Ein kaum zu erkennendes Lächeln erschien auf dem winzigen Gesicht und die Fee schwebte langsam aus dem Raum.
'Die anderen Aktivitäten' von Hansen bestanden in regelmäßigen Sitzungen mit Sahra, einer MIT-Absolventin und der IT-Expertin von OMMYA. Sahra war der wohl intelligenteste Mensch der Abteilung und eine der wenigen Personen, die hier angefangen hatten, ohne dazu mehr oder weniger gezwungen worden zu sein.
Den wenigsten Menschen war bekannt, dass OMMYA überhaupt existierte. Vor circa neunzig Jahren hatte ein Vermessungstrupp der Stadt mehrere Entdeckungen gemacht. Zum einen befand sich unter der Stadt ein Kavernensystem, das jeglicher geologischen Logik widersprach. Mitten in diesem System hatte die kleine Gruppe darüber hinaus ein Tor entdeckt, das zu einer anderen Welt führte. Die dominierende Lebensart dort waren feuerspeiende Drachen und bisher war die einzige Form der Kommunikation mit diesen sagenhaften Echsen die gewesen, dass sie alles und jeden, der die Tür auch nur berührte, in ein Häuflein Asche verwandelt hatten.
Im Laufe der Zeit hatten sie mehrere dieser Tore entdeckt, fast alle innerhalb der weitläufigen Höhlenanlage. Jeder dieser Übergänge führte in andere Welten, andere Dimensionen, die allesamt ihren Ursprung in der Phantasie der Menschheit hatten. Avalon, das Wunderland, Shan-Gri-La und viele weitere Welten lagen nur einen Schritt entfernt, und mit ihnen all die Gegenstände, die in diesen Geschichten auftauchten. Im Lager von OMMYA wimmelte es von Artefakten, die sorgsam vor der Öffentlichkeit geheim gehalten wurden. Keiner vermochte sich vorzustellen, was passieren würde, wenn zum Beispiel die Büchse der Pandora in falsche Hände geriete.
Sahra hatte ihren Abschluss in Informatik cum laude bestanden und hatte beim MAD gearbeitet, als sie schließlich während ihrer Arbeit auf das Netzwerk von OMMYA gestoßen war. Anstatt es ihren Vorgesetzten zu melden, hatte sie auf eigene Faust Nachforschungen angestellt und schließlich drei Wochen vor dem Eingang des Bürogebäudes campiert, das der Zentrale von OMMYA als Tarnung diente, bis René sie schließlich reingelassen und umgehend rekrutiert hatte.
Im Moment war Sahra damit beschäftigt, Gleichungen zu entwickeln, die das Wie und Warum der interdimensionalen Übergänge entschlüsseln sollten. Zwar befanden sich mittlerweile über fünfzig dieser Übergänge in den Gewölben, aber nach wie vor wusste niemand so richtig, wie diese wirklich funktionierten und was sie dazu brachte, zu entstehen. Hansen hatte eines Tages aus Zufall einen Blick auf diese Gleichungen geworfen und wider Erwarten einen Teil davon verstanden. Seitdem hatten er und Sahra das Projekt zusammen weiterentwickelt. René gab nicht einmal vor, zu begreifen, was die beiden da machten. Alles, was über Integralrechnung hinausging, ignorierte er und Begriffen wie Quantenphysik misstraute er zutiefst. Für ihn bedeutete die Verwendung von solchen Wörtern, dass die andere Partei nicht wirklich wusste, worum es gerade ging und anfing, zu raten.
Über die letzten Wochen hinweg hatte er ein unbestimmtes Gefühl entwickelt, dass sich das Miteinander der beiden über die berufliche Ebene hinaus erstreckte, aber das war ihm, im Gegensatz zu vielen anderen Unternehmensleitern, egal. Solange die Ergebnisse stimmten, konnte die Belegschaft seinetwegen regelmäßig Orgien feiern. Jedoch ließ ihn der reine Gedanke an Sahra und Hansen regelmäßig schmunzeln. Während Sahra einem hochklassigen Bademodenkatalog hätte entsprungen sein können, wies Hansen alle äußerlichen Merkmale eines Geeks oder Nerds auf. Manchmal war Mutter Natur zum Glück für die jeweils Beteiligten einfach unlogisch.
So ziemlich alle anderen Mitarbeiter von OMMYA hatten mehr oder weniger unfreiwillig Kontakt mit anderen Welten gemacht und die, die dabei nicht ums Leben gekommen waren, wie zwei der drei Entdecker des ersten Überganges – Drachen waren schon im besten Falle leicht reizbar – oder einen hysterischen Anfall erlitten hatten, waren vor die Wahl gestellt worden, für den Rest ihres Lebens eingesperrt zu werden, oder offiziell vom Erdboden zu verschwinden und eine neue Stelle bei OMMYA anzutreten.
Da es sich bei OMMYA um eine militärische Abteilung handelte, bedeutet dies, dass alle, die hier arbeiteten und eine leitende Position innehatten, einen Offiziersrang besaßen. Niemand hätte dies je vermutet, da keiner hier Uniform trug und Salutieren als schlechter Scherz angesehen wurde. René hatte seine Uniform das letzte Mal getragen, als sie Besuch von einem der wenigen offiziellen hochrangigen Vertreter des Militärs bekommen hatten, der über die Einrichtung Bescheid wusste. Aus diesem Grund hätte ein Außenstehender leicht denken können, bei OMMYA handelte es sich um ein privates und – oberflächlich gesehen – erstaunlich lax geführtes Unternehmen mit einer ungewöhnlichen Spezialisierung: Die Sicherung und Verwaltung von magischen und mystischen Artefakten.
René selbst hatte es vor mehr als 12 Jahren hierher verschlagen, nachdem er einen ungeplanten dreimonatigen Urlaub auf Shan-Gri-La verbracht hatte. Der Baum, in dem sich der Übergang befand, stand seitdem in den Kellergewölben, damit niemand, der ebenfalls zufällig dorthin gelangte, auf die Idee kam, dort Jagen zu gehen.
René blickte auf die Uhr. Es war schon 17 Uhr durch, was bedeutete, dass er rein theoretisch gesehen Feierabend hatte.
Das war hier allerdings so eine Sache für sich. Vierundzwanzig Stunden am Tag trafen Meldungen in der Zentrale ein, die von überall auf der Welt stammten. Diese Meldungen beinhalteten Sichtungen von Zwergen, Feen, Außerirdischen, Monstern und dergleichen, und sofern sich hinter einer dieser Meldungen nicht ein geistig Verwirrter oder jemand im LSD-Rausch befand, war es die Aufgabe aller Mitarbeiter, dafür zu sorgen, dass dieser Meldung nachgegangen wurde. Der Tag war allerdings einigermaßen ruhig verlaufen und Halloween war erst morgen. Entsprechend hatte René die Gunst der Stunde genutzt und sich mit Rebecca Schäfer verabredet. Wenn das Schicksal ihnen beiden hold war, würden sie vielleicht sogar noch einen Film ansehen können, bevor die nächste Katastrophe über sie hereinbrach.
Besagte Freundin, Rebecca Schäfer, war einer der wenigen OMMYA-Mitarbeiter, die weder einen Offiziersrang besaßen, noch überhaupt hier angestellt waren. Genaugenommen war sie die erste und wahrscheinlich auch letzte freie Mitarbeiterin der Abteilung. Als vor anderthalb Jahren eines der Artefakte kurzfristig abhanden gekommen war, hatte es keine zehn Minuten gebraucht, bis die Polizistin Rebecca Schäfer es in die Finger bekommen und aus Versehen den Weltuntergang eingeleitet hatte.
Die Ereignisse von damals hatten eine Bindung zwischen ihr und René entstehen lassen, die allerdings ein wenig Zeit gebraucht hatte, um sich zu entwickeln. Keiner der beiden hatte jemals ernsthaft eine Beziehung mit dem anderen in Betracht gezogen, und in den Wochen nach dem abgewendeten Weltuntergang hatten sie mehr Zeit damit zugebracht, sich zu streiten, als mit etwas anderem. Alle anderen in der Abteilung waren gerade wegen der Streitigkeiten lange Zeit der Meinung gewesen, dass die beiden seit den Geschehnissen von damals ein Paar wären. Als Jochen René eines Tages auf diesen Sachverhalt angesprochen hatte, war René in schallendes Gelächter ausgebrochen.
»Bist du nicht ganz dicht?«, hatte seine Antwort gelautet. »Nicht mal ich würde mit mir zusammen sein wollen.« Bevor Jochen seine Überraschung überwunden hatte, war René fortgefahren. »Als wir uns kennengelernt haben, hatte sie gerade ihren Mann verloren. Das ist schon mal ein denkbar schlechter Zeitpunkt, um etwas Neues anzufangen.«
»Gut, aber – «
»Nichts aber. Danach habe ich sie mehreren traumatischen Erlebnissen ausgesetzt, die darin gegipfelt haben, dass sie dachte, ihr würde der Schädel bei einem Zweikampf zerschmettert werden. Von der weißen Tür will ich gar nicht reden.«
Die Traumata, um die es ging, hatten alle ihre Berechtigung gehabt, da sie seinerzeit unter Zeitdruck gestanden hatten. Bis zum Ende des Universums waren es weniger als vierundzwanzig Stunden gewesen und eine einfühlsame Herangehensweise an die Dinge hätte deutlich länger gedauert. Dennoch blieb die Tatsache, dass es eine lange Zeit gebraucht hatte, bis Rebecca René voll und ganz verziehen hatte, was er damals alles mit ihr angestellt hatte. Und René konnte dies verstehen. Er hatte immer noch ein schlechtes Gewissen, wenn er an die Geschehnisse von damals dachte.
»Glaub mir«, hatte er die Diskussion damals beendet, »wenn wir uns unter anderen Bedingungen kennengelernt hätten, hätte da vielleicht was draus werden können. Aber so, wie die Sache gelaufen ist, kann ich froh sein, dass sie mich nicht hinterrücks niedergeschossen hat, als die ganze Geschichte vorbei war.«
Es bestand definitiv ein Art Verbindung zwischen René und Rebecca, aber nach den ersten Wochen war Rebecca schließlich zu der Überzeugung gekommen, dass es für beide besser wäre, wenn sie nicht zusammen arbeiten würden, speziell nicht, wenn René ihr Vorgesetzter war. Früher oder später wäre es wahrscheinlich zu ernsthaften Handgreiflichkeiten gekommen.
Eigentlich war ein derartiges Beschäftigungsverhältnis nicht möglich, aber da Rebecca bereits einen Job bei einer Behörde hatte, waren sie überein gekommen, sie zu einer inoffiziellen Verbindungsoffizierin zu machen, ohne allerdings der Polizei an sich oder ihren Vorgesetzten im Speziellen etwas davon zu sagen. Auch das Militär hatte bis heute nichts von dieser Vereinbarung erfahren. Entsprechend tat sie nach wie vor ihren Job als Kriminalkommissarin und hatte nebenher ein Auge und ein Ohr auf alles, was unter die Kategorie 'Ungewöhnlich' fiel. Die Entscheidung hatte allen gut getan.
Seit den Geschehnissen von damals waren fast neunzehn Monate vergangen und René und Rebecca hatten, wider Erwarten, eine Freundschaft entwickelt, die René wichtiger war als eine Beziehung.
René stand auf, verließ sein Büro und schlenderte langsam durch die Zentrale in Richtung Lager. Das Lager bestand aus mehreren Ebenen von Höhlen und Kavernen, die im Laufe der Jahre ausgebaut und befestigt worden waren. Mittlerweile brauchte man eine Karte, um sich dort zurechtzufinden. René hätte seinen Weg jedoch mit verbundenen Augen durch das Labyrinth gefunden. Seit Jahren bestand seine letzte Amtshandlung des Tages darin, einen Rundgang durch eben dieses Lager zu machen. Der Rundgang hatte mehrere Gründe, aber einer davon war, dass er nach einem Rundgang durch die stillen Hallen immer ausgeglichener war als vorher.
Ein Klangkonglomerat schlug ihm entgegen, als er durch das Tor schritt, das das Lager von der Zentrale trennte. Es erinnerte ihn daran, dass die Quartalsinventur lief. Offensichtlich war dieser Teil des Lagers jedoch schon bearbeitet worden. Zumindest waren die Artefakte mehr oder weniger wieder dort abgestellt worden, wo sie vorher gestanden oder gelegen hatten und nichts verstellte den Gang, weder Menschen noch Gegenstände.
Er bog um die Ecke und wäre beinahe gegen das Holzgestell eines Bettes gelaufen. Er wusste, dass es hier stand, allerdings war es normalerweise etwas weiter am Rand platziert. Dornröschens Bett und die dazu gehörige Spindel waren nur zwei der vielen Gegenstände, die urplötzlich in den Hallen von OMMYA aufgetaucht und dann hier eingelagert worden waren.
Mit einem Grummeln schob René das Bett an den Rand, vergewisserte sich, dass die Spindel sicher verkorkt war, und war drauf und dran, weiterzugehen, als etwas Schwarzes seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Er machte einige Schritte zur Seite und zog das betreffende Etwas langsam unter der Bettdecke hervor. Er betrachtete es ein paar Sekunden lang fasziniert. Eine kurze Suche unter der Bettdecke ergab keine weiteren Funde, wofür er dankbar war. Er faltete das schwarze Stück Stoff sorgsam zusammen, steckte es in die Innentasche seiner Jacke und ging weiter. Ein kurzer Blick nach oben zeigte eine der Überwachungskameras, die überall im Lager installiert waren. Er merkte sich die Nummer der Kamera, schlenderte um die nächste Ecke und verzog das Gesicht.
Gabelstapler fuhren herum und bewegten Kisten, Truhen und dergleichen, während ein Dutzend Mitarbeiter den Inhalt von allen Vitrinen, Schränken und Regalen katalogisierte und das Ergebnis mit den Daten im System abglich. Was um diese Uhrzeit normalerweise ein ruhiges und friedliches Umfeld darstellte, war ein einziges lautes und hektisches Durcheinander.
Missmutig beobachtete er einige Personen dabei, wie sie vor mehreren Kisten standen, die mit einem Strichcode versehen waren und rätselten, was nun genau drin war und ob es gefährlich war, sie hochzuheben. Die Sorge war berechtigt. Einige der Artefakte, die hier eingelagert waren, waren mit Vorsicht zu genießen. Normalerweise waren alle Artefakte, Gegenstände und Übergänge mit einer eigenen autarken Alarmanlage gesichert, die es beinahe unmöglich machte, sich ohne vorherige Genehmigung an den entsprechenden Objekten zu schaffen zu machen, oder sich ihnen – bei gefährlichen Gegenständen – auch nur zu nähern. Während der Inventur, die vier Mal im Jahr erfolgte, waren diese Sicherheitsmaßnahmen jedoch aus praktischen Gründen deaktiviert.
»Darf ich fragen, was das hier werden soll?«, fragte René, während er auf die Gruppe Arbeiter zuging, die um eine Kiste herumstanden und offensichtlich beratschlagten, wie sie mit ihr verfahren sollten. Vier Personen drehten sich um und blickten ihn verwirrt an.
»Ähm, wir haben ein Problem«, meinte einer von ihnen schließlich. René wartete geduldig. »Der Strichcode ist zerkratzt und wir sind am überlegen, ob wir die Kiste aufmachen sollen.«
»Sind Sie nicht ganz dicht?«, entfuhr es René, der genau wusste, was sich in der unscheinbaren Holzkiste befand.
»Naja, aber wir müssen doch sichergehen, dass der Inhalt der Kiste mit dem übereinstimmt, was auf der Liste steht.«
»Ja«, entgegnete René ungehalten. »Das weiß ich. Aber vielleicht sollten Sie mal gucken, was denn genau darin sein sollte. Ich meine, dafür haben wir ja diesen blöden Ausdruck gemacht.«
Der Ausdruck der Inventur umfasste etwas mehr als 3000 Seiten und war genau für Fälle wie diese gedacht. Jedes Artefakt, das eingelagert war, war dort aufgelistet. Ebenfalls war dort eine kurze Beschreibung der Folgen zu lesen, die das Benutzen, Öffnen, Tragen oder Schief-Angucken des Stückes zur Folge haben konnte. In diesem Fall stammte der Eintrag von René persönlich und lautete: Gemeingefährlich! Finger weg! Unter gar keinen Umständen öffnen!
Der Mitarbeiter blickte auf die Liste, dann zu René. »Hier steht … ähm … hier steht: 'Das Übel der Welt'. Dann steht hier noch – «
»Ja.« René nickte. »Das ist eine ziemlich akkurate Übersetzung der Hieroglyphen, die auf der kleinen Kiste stehen, die sich da drin befindet.« Er zeigte auf die große Holzkiste. »Das ist die Büchse der Pandora. Also nicht die Holzkiste. Die Büchse ist da drin. Und wenn Sie sich mal die Mühe machen, den Text bis zum Ende zu lesen, dann werden Sie merken, dass der besagt, dass das Ding nur halbleer ist. Darüber hinaus werden Sie ihr blaues Wunder erleben, wenn sie die Kiste aufbrechen. Oder glauben Sie, dass wir darauf vertrauen, dass niemand in Versuchung kommt, sich an dem Ding zu schaffen zu machen?«
Vor langer Zeit waren René und Jochen zu dem Entschluss gekommen, dass früher oder später jemand genau dies tun würde, und sei es aus schierer Langeweile. Entsprechend hatten sie die Büchse nicht nur in ein spezielles, feuerfestes und nahezu unzerstörbares Epoxidharz gegossen und dann in eine mit Zement gefüllte Holzkiste verfrachtet, sondern besagte Kiste auch mit einer Sprengfalle versehen. Dem unautorisierten Neugierigen würden einerseits die Arme abgerissen, andererseits würden die Büchse und der Schutzmantel darum herum nicht beschädigt werden. Dies war jedoch erst dann der Fall, wenn jemand auf die Idee kommen würde, alle einhundertdreiundvierzig Nägel zu entfernen, mit denen der Deckel der Kiste vernagelt war.
»Ja, aber – «
»Nichts aber«, unterbrach ihn René schroff. »Sind hier vielleicht alle tot?« Der Mitarbeiter blickte ihn verwirrt an.
»Nein. Wieso?«
»Dann ist die Büchse auch da drin und geschlossen. Benutzen Sie ihr Hirn, verdammt!«
»Wieso halbleer?«, erkundigte sich einer der anderen Männer vorsichtig. »Was ist mit der anderen Hälfte passiert?«
René stieß ein Schnauben aus. »Im Umlauf, wenn man so will. Was glauben Sie, woher Ebola und Aids kommen?«
Es hatte Jahre gebraucht, der Öffentlichkeit weiszumachen, dass das eine natürlichen Ursprunges und das andere höchstwahrscheinlich auf illegale biologische Tests an Affen zurückzuführen war. Sollten die falschen Personen Wind davon bekommen, dass Pandoras Büchse wirklich existierte und sich nach wie vor etwas darin befand, so hätten sie hier Selbstschussanlagen mit Gatlings und Railguns installieren müssen.
»Also: Abhaken und weitermachen.« Er wandte sich ab und ging den Gang hinunter, bis er ein bekanntes Gesicht sah. Jochen, seines Zeichens offiziell Brigadegeneral und Renés Stellvertreter, koordinierte gerade den Transport von mehreren Truhen. Als er René erkannte, warf er ihm einen müden Blick zu. Sein sonst so heiterer Gesichtsausdruck hatte sich gerade irgendwohin verzogen, um sich scheinbar einmal ordentlich auszuruhen.
»Ich mach drei Kreuze, wenn das hier vorbei ist.«
»Wo ist das Problem?«, fragte René.
»Ich weiß auch nicht.« Jochen, sonst die gute Laune in Natur, schüttelte genervt den Kopf. »Alles, was schieflaufen kann, geht schief. Wir liegen zwei Tage hinter dem Zeitplan zurück.« Er blickte sich um. Dann fragte er, ehrlich erstaunt: »Wo kommt eigentlich dieses ganze Zeug her? Alleine in den letzten drei Monaten haben wir dreiundvierzig neue Artefakte rein bekommen. Ist irgendwas nicht in Ordnung?«
»Ich glaube, das liegt an dem Rhythmus der Tore«, erklang eine Stimme von hinten. Sahra und Hansen kamen auf die beiden zu. Auch sie sahen müde aus. René ließ seinen Blick über die beiden wandern und behielt sein Grinsen gerade noch unter Kontrolle.
»Was?«
»Die Übergänge nähern sich ihrer Hochzeit«, fuhr Sahra fort, während sie sich um einen Schrank herum schlängelte, den jemand mitten im Gang abgestellt hatte. Ein großer Löwenkopf war auf der Vorderseite zu sehen, sowie weitere Schnitzereien, unter anderem die Abbildungen von vier Menschen, die mit Kronen auf den Häuptern auf Thronen saßen. Andere Fabelgestalten wie Faune, Zentauren und dergleichen vervollständigten das Bild.
»Da sind sie aktiver als sonst«, erklärte Sahra auf Renés fragenden Blick hin. »Das heißt wohl auch, dass mehr Zeug von anderen Welten in unsere gelangt.«
»Na super«, kommentierte René. Das war genau das, was er brauchte. Bevor er die entsprechende Frage stellen konnte, hielt Sahra grinsend einen kleinen Gegenstand hoch, nicht größer als ein Smartphone.
»Das ist ein Prototyp«, meinte sie, sichtlich stolz. »Es zeigt das Niveau der Tore an.« Sie bedeutete dem Rest, ihr zu folgen. Zusammen entfernten sie sich von dem allgemeinen Durcheinander und gingen zu einem Baum, der am Rande der Halle stand und durch den René vor all den Jahren unbeabsichtigterweise nach Shan-Gri-La gelangt war. Damals hatte sich der Baum in einem Wald befunden, war dann jedoch kurzerhand umgesiedelt worden. Die Eiche und die Waldnymphe, die darin wohnte, hatten den Umzug beide gut überstanden. Sahra hielt das Gerät kurz vor die ovale Höhlung, die den Übergang darstellte, und zeigte René dann das Display des Gerätes.
»Eins Komma Sieben«, las René gehorsam ab. »Was bedeute das?«
»Auf einer Skala von was auch immer bis keine Ahnung ist das Portal jetzt auf dem Niveau Eins Komma Sieben«, erklärte Sahra. Offensichtlich handelte es sich bei dieser Information um etwas Atemberaubendes, denn das Grinsen drohte, ihren Kopf in zwei Hälften zu teilen.
»Eins Komma Sieben was?«, fragte Jochen. Sahras Grinsen verschwand zum Teil.
»Äh, keine Ahnung, da sind wir noch am überlegen. Wir haben noch keinen Namen für die Einheit. Aber vor drei Monaten waren es Eins Komma Sechs Neun Neun.«
»Es steigt?«, fragte René. »Was heißt das?«
»Gute Frage«, meinte Sahra gutgelaunt. »Aber es steigt jetzt langsamer als in den vergangenen Monaten. Was bedeutet, dass wir wahrscheinlich irgendwann ein Maximum erreichen werden.«
»Und dann?«
»Keine Ahnung«, gab die Blondine offen zu. »Ich nehme an, dass es dann wieder fällt. Und ich habe auch keine Ahnung, was was bedeutet. Das Ganze ist ziemlich experimentell. André und ich haben Monate gebraucht, um überhaupt herauszufinden, in welchem Frequenzbereich wir suchen müssen, um die Werte zu erhalten.«
»Wozu?«
»Wir glauben«, schaltete sich nun André Hansen ein, »dass die Übergänge einem bestimmten Rhythmus unterliegen. Was das genau heißt, wissen wir noch nicht, aber wir vermuten, dass die Menge an Artefakten, die durchkommen und auf dieser Seite erscheinen, etwas damit zu tun hat. Ebenso wie die Übergänge, die entstehen.«
»Erklärt das auch, warum wir mittlerweile Gegenstände aus Welten erhalten, die gar nicht mehr existieren?«, fragte René spitz und nickte in Richtung des Wandschrankes, der nach wie vor den Gang blockierte.
»Kann sein«, gab Sahra zu. »Ich habe keine Ahnung. Dafür müssen wir die Sache ein wenig beobachten. Ist sozusagen eine Langzeitstudie.«
René nickte. Solange es langfristig dazu beitrug, das organisierte Chaos der Abteilung ein wenig mehr berechenbar zu machen, war es ihm recht. Etwas schepperte im Hintergrund, woraufhin Jochen die Augen verdrehte und sich mit grimmigem Gesichtsausdruck davon machte. René blickte ihm kurz hinterher, wandte sich dann wieder Sahra und André Hansen zu.
»Hüpf mal«, meinte er zu Sahra.
»Was?«
»Hüpf mal auf der Stelle.«
Einen Augenblick schien Sahra zu überlegen, dann zuckte sie mit den Schultern und tat, wie geheißen.
René nickte. Er war kurz davor, Sahra die Übung wiederholen zu lassen, allerdings wurde aufgrund ihres Gesichtsausdruckes deutlich, dass sie den Sinn der Aktion erraten hatte. Nachdem er sichergestellt hatte, dass ihnen niemand zusah, fischte er den BH, den er eben in Dornröschens Bett gefunden hatte, aus seiner Jackentasche und reichte ihn seiner Kollegin.
»Hier«, meinte er so ernst wie möglich. Weder er noch Sahra warfen einen Blick zur Seite, um Hansen, dessen Gesicht die Farbe einer überreifen Tomate angenommen hatte, nicht noch weiter in Verlegenheit zu bringen.
»Was mich an etwas erinnert.« René holte einen Notizblock hervor, den er immer dabei hatte und las einige Augenblicke lang konzentriert. »Ja. Hier. Könntest du dich bei Gelegenheit mal um die Überwachungskamera Nummer 37 kümmern? Im Gegensatz zu den meisten anderen Kameras, die hier alles überwachen und aufnehmen, unter anderem Nummer 7, die sich direkt über dem Bett befindet«, er machte eine Pause und deutete in Richtung Decke, an der ein kleiner schwarzer Kasten in ca. 10 Metern Höhe hing und durch eine kleine blinkende Diode andeutete, dass die im Inneren befindliche Kamera arbeitete. Sahras Blick folgte seinem Finger. René konnte förmlich die Gedanken rattern hören. So ernst wie möglich fuhr er fort: »Im Gegensatz zu den anderen funktioniert Nummer 37 aus irgendwelchen Gründen andauernd nicht. Die Technik hat schon alles mögliche ausgetauscht, aber das Ding zeigt einfach weder Bild noch Ton an. Muss an der Software liegen.«
Einige Sekunden lang verschränkten sich die Blicke von René und Sahra ineinander. Botschaften wurden ausgetauscht, Absprachen getroffen und Versprechen gegeben. Schließlich nickte Sahra ernst.
»Kamera 37?«, fragte sie.
»Ja, das ist der Lagerraum da hinten.« René wedelte mit der Hand unbestimmt in eine Richtung. »Da haben wir die Feldbetten und ein paar alte Spinde eingelagert. Ich weiß, die Chance, dass sich da mal jemand hin verirrt, ist gleich Null, aber wenn du mal Zeit hast, wär's nett, wenn du dich drum kümmerst.«
»Feldbetten.«
»Ja.«
»Alles klar. Wenn ich Zeit habe.«
»Ist nicht dringend.«
Eine weiterer Blickkontakt folgte. Bevor jedoch jemand ein weiteres Wort von sich geben konnte, ertönte ein leiser Knall hinter ihnen, gefolgt von einem surrenden Zischen. Dann war ein gurgelndes Geräusch zu hören, danach ein dumpfer Aufprall. Alarmiert setzten sich alle drei in Bewegung, Hansen zuletzt. Als sie um die Ecke bogen, bot sich ihnen ein Anblick, der René aufstöhnen ließ.
Auf dem Boden lag eine Gestalt, die alle vier sofort als Hexe identifizierten. Die Frau trug schwarze Kleidung, schwere schwarze Stiefel, hatte langes, strähniges weißes Haar, eine krumme Nase, auf der eine dicke fette Warze saß, und auf dem Kopf einen spitzen und selbstverständlich auch schwarzen Hut. Zitternd lag sie auf dem Boden und war die Ursache für das gurgelnde Geräusch. Wenige Meter entfernt befand sich ein Besen, der auf etwa einem halben Meter Höhe in der Luft schwebte. Aus der Brust der Hexe ragten zwei kleine Pfeile, die durch Kabel mit einem Taser verbunden waren, der wiederum in der Hand eines Wachmannes lag.
Ein Grummeln erklang aus Jochens Mund, als er mit grimmiger Miene auf den Wachmann zuging.
»Brakovic, Sie Pfeife! Was habe ich Ihnen über den Taser gesagt?« Noch während er dies sagte, entfernte er vorsichtig die beiden Projektile von dem Opfer und half der Frau, sich aufzurichten.
Bevor der Wachmann etwas erwidern konnte, schrie die Hexe in seine Richtung: »Bist du nicht ganz dicht, oder was?«, und zog sich die Maske vom Kopf. »Du kannst doch nicht immer auf alles ballern, was dir in die Quere kommt!«
»Was würdest du denn tun, wenn dir hier jemand auf einem Besen reitend entgegen kommt und dabei laut gackert?«, verteidigte sich der Wachmann, jedoch mit deutlichen Anzeichen von schlechtem Gewissen im Gesicht. Nachdem Jochen sich davon überzeugt hatte, dass es der Kollegin gut ging, wandte er sich an den Wachmann.
»Sie wissen ganz genau, dass es einen Alarm gibt, wenn etwas durch die Tore kommt. Sie sollen aufhören, hier andauernd Leute außer Gefecht zu setzen. Früher oder später kriegt jemand noch einmal einen Herzinfarkt von dem Ding.« Ohne eine Erwiderung abzuwarten, drehte er sich um und meinte zu der immer noch sitzenden Mitarbeiterin: »Und darf ich Sie mal fragen, was das sollte?«
»Ich wollte mein Kostüm für morgen ausprobieren«, lautete die kleinlaute Antwort. »Ich konnte ja nicht ahnen, dass der Typ mich ohne Vorwarnung vom Besen holt.«
»Wie haben Sie den Besen zum Fliegen gebracht?«, erkundigte sich René, der die Antwort bereits erahnte.
»Ich habe eine der Pixies gefragt, ob sie mir vielleicht helfen könnte.«
René nickte. Der Feenstaub, den die kleinen Wesen absonderten, hatte viele Eigenschaften. Die bekannteste war, dass Gegenstände, die damit in Berührung kamen, für kurze Zeit schwerelos, oder zumindest sehr viel leichter wurden. Er musste sich ein Lächeln verkneifen. Auch wenn der Einfall gut war, so war es streng genommen ein Verstoß gegen die Vorschriften, die besagten, dass Gegenstände aus anderen Welten nur nach ausdrücklicher Genehmigung verwendet werden durften. René hielt von diesen Vorschriften nicht allzu viel, unter anderem deshalb, weil sie meistens dreiseitige Formulare beinhalteten. Dann wiederum war auch die Beziehung zwischen zwei Angestellten wider die Vorschriften. Er konnte schlecht das eine bestrafen und das andere heimlich unterstützen.
»Gehen Sie auf die Krankenstation und lassen Sie sich von Sophia untersuchen«, wies er die Hexe an, während er ihr aufhalf. »Und kein Feenstaub mehr. Das ist kein Spielzeug.« Die letzte Bemerkung war so leise, dass nur die Mitarbeiterin es hören konnte. Mit einem Nicken wandte sie sich ab und ging langsam, nicht ohne Wachmann Brakovic einen letzten giftigen Blick zuzuwerfen, den Gang hinunter. René folgte ihrem Blick und wandte sich ebenfalls dem Wachmann zu.
»Darf ich fragen, wen sie noch alles getasert haben?«
»Einen Werwolf, einen Vampir und ein Mitglied der imperialen Sturmtruppen«, erklang eine weibliche Stimme hinter ihm. Blaue Augen blitzten ihn an, eingerahmt von braunen Haaren, die mittels eines Pferdeschwanzes zurückgehalten wurden. Die offizielle Ärztin der Abteilung stellte die jetzige Verbindungsoffizierin zum Militär dar.
So sehr die Abteilung im Laufe der Jahre auch ihren militärischen Charakter verloren hatte, so hatte es sich eingebürgert, dass immer ein Mitarbeiter direkt vom Militär gestellt wurde und Bericht darüber erstattete, was in den Räumlichkeiten vom OMMYA vor sich ging. Ebenso hatte es sich eingebürgert, dass nichts in diesen Berichten der Wahrheit entsprach. Das Letzte, was sie gebrauchen konnten, waren neugierige Militärs, die sich darüber informieren wollten, was genau in den Katakomben eingelagert war.
Der letzte Verbindungsoffizier war Sebastian Siefert gewesen, ein pedantischer Bürokrat, der bis zum Schluss nicht begriffen hatte, dass die strengen militärischen Regeln nicht auf eine Abteilung wie diese anwendbar waren und aufgrund Renés und Jochens stellenweise sehr freizügiger Interpretation der Vorschriften mehrfach damit gedroht hatte, beide unter Arrest stellen zu lassen.
Nach den Ereignissen von vor knapp zwei Jahren hatte jedoch selbst Siefert eingesehen, dass er vielleicht nicht der Richtige für die Stelle war und hatte um seine vorzeitige Versetzung gebeten. Seit sechs Wochen war nun Sophia Simonsen bei ihnen.
Da sie bei OMMYA immer mal wieder mit medizinischen Notfällen zu tun hatten, hatte René einen ausgebildeten Arzt angefordert. Das hatte zwar den Nachteil, dass man der Offizierin nicht irgendetwas vormachen konnte und ihr reinen Wein einschenken musste – schließlich mussten sie ihr erklären, woher die jeweiligen Verletzungen stammten – aber im Gegensatz zu Sebastian Siefert hatte sie sich mehr als bereit gezeigt, den Ablauf innerhalb der Abteilung nicht zu behindern, und sogar reges Interesse an den internen Vorgängen gezeigt. Sophia war die Einzige, die ihren Dienst in ihrer offiziellen Uniform absolvierte, was aber seinen Vorteil hatte. Auf diese Weise wusste man immer sofort, wo die Ärztin war.
»Bitte?«, erkundigte René sich verwirrt.
»Ihre Leute sollten sich abgewöhnen, ihre Kostüme zu testen oder sie vorzeitig vorzuführen.« Die Ärztin schlenderte mit einem missbilligenden Blick in den Augen auf sie zu. »Ich weiß, dass ich das nicht anordnen kann, aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass das hier nicht der richtige Ort für Halloweenkostümierungen ist. Vor allem«, sie nickte vielsagend in Richtung des deutlich zerknirschten Brakovic, »wenn der Wachmann einen derart nervösen Zeigefinger hat.«
Renés Blick zum Wachmann ließ dessen gerade im Entstehen begriffene Erwiderung ersterben und seinen Blick wieder reumütig gen Boden wandern. Allerdings waren nicht die Unfälle der Grund für Renés Unmut.
»Verdammt«, meinte er schließlich. »Ich hatte so ein schönes Kostüm. Aber Sie haben recht.« Er wandte sich an Jochen. »Halloween ist abgeblasen. Dekoration ist okay, aber keine Kostüme. Sorg' dafür, dass die Leute das mitkriegen, sonst haben wir hier wirklich noch Tote. Und mach Feierabend.« Er blickte in die Runde. Auch wenn die Inventur eigentlich längst hätte beendet sein müssen, so war klar, dass sie heute nicht mehr fertig werden würden, und keinem war damit geholfen, unnötig Überstunden zu schieben.
»Morgen ist auch noch Zeit, das zu Ende zu bringen.« Mit einem Nicken verabschiedete er sich von der Ärztin, die mit einem amüsierten Kopfschütteln in Richtung der medizinischen Abteilung davon wanderte. Jochen gab das entsprechende Zeichen an den Schichtleiter. Wenige Sekunden später erklang das akustische Signal, das den Feierabend für die Mitarbeiter der unteren Ebenen einläutete.
»Als was wolltest du gehen?«, fragte Jochen, nachdem auch Sahra und Hansen verschwunden waren.
»Als Pinhead«, entgegnete René missmutig. Es hatte ihn Wochen gekostet, die künstlichen Nägel auf der Maske gegen echte auszutauschen.
»Bist du nicht ganz dicht?«, fragte Jochen, ehrlich überrascht. »Da würde sogar ich dich tasern!«
»Meine Fresse. Ich weiß gar nicht, warum ihr alle so nervös seid«, entgegnete René. »Die Würfel liegen schließlich gesichert in der Kammer. Da kommt keiner ran, selbst wenn man es versuchen sollte.«
Mit der 'Kammer' war ein spezieller Raum gemeint, der nach dem Vorfall mit Loki und dem Buch eingerichtet worden war, und in der alle Artefakte gelagert wurden, die als zu gefährlich eingestuft wurden, um auch nur die Möglichkeit in Erwägung zu ziehen, dass sie in falsche Hände gerieten. Die Kammer verfügte nicht nur über ein dreifaches Zahlenschloss, sondern auch noch über Abwehrmaßnahmen, die laut Genfer Konventionen lange verboten waren. Nicht einmal René kannte alle Codes, um in den Raum zu gelangen.
»Jetzt muss ich mir 'ne Halloweenparty suchen, um das Ding tragen zu können. Rebecca wird begeistert sein.«
»Mag sie Halloween nicht?«
»Nicht mehr seit der Sache mit dem Buch.«
»Kann ich irgendwie nachvollziehen.«
Einer der Umstände, mit denen sie damals aufgrund von Rebeccas unbeabsichtigtem Beschwören der Apokalypse zu tun gehabt hatten, war, dass die Toten ihre Gräber verlassen hatten und munter durch die Gegend spaziert waren. Alle waren in dem Zustand aufgetaucht, den die Verwesung seit ihrem Ableben herbei geführt hatte. Die Welt war kurze Zeit mit einigen Milliarden friedlichen Zombies bevölkert gewesen, deren reiner Anblick viele Personen in Angst und Schrecken versetzte hatte. Rebecca hatte immer noch Schwierigkeiten, Kinder in Bettlaken mit ausgeschnittenen Löchern für die Augen zu sehen, ohne zu hyperventilieren oder instinktiv nach ihrer Waffe zu greifen.
»Soll ich dich rausbringen, oder bleibst du noch?«, fragte Jochen unvermittelt. René blickte ihn erstaunt an.
»Nein, brauchst du nicht.« Er nestelte kurz in der Brusttasche seines Hemdes herum und beförderte eine kleine weiße Karte ans Licht, die er grinsend hoch hielt.
»Ist heute gekommen. Ich existiere offiziell wieder.«
Bei der unscheinbaren Karte handelte es sich um den elektronischen Schlüssel, den alle Mitarbeiter brauchten, um die Gewölbe der Abteilung zu betreten und auch wieder zu verlassen. Vor etwas mehr als drei Wochen hatte René seine Karte verloren. Sie hatten alles auf den Kopf gestellt, aber es war schnell klar gewesen, dass sie verschwunden war. Schweren Herzens hatte René einen Antrag auf eine Ersatzkarte gestellt.
Während der vergangenen drei Wochen hatte er notgedrungen auf Jochen oder einen der anderen Mitarbeiter warten müssen, um die Zentrale betreten zu können. Obwohl sie sich seit Jahren kannten und René der Leiter der Abteilung war, hatte Honk, der Chef der Sicherheitsabteilung, und einer der wenigen Außenweltler, die hier arbeiteten, darauf bestanden, dass René jeden Tag eine Besucherkarte erhielt, mitsamt allem Papierkram, der dazugehörte.
Es mochte paradox klingen, aber das Sicherheitssystem der Abteilung war vorwiegend darauf ausgelegt, zu kontrollieren, wer und was das Gebäude verließ und nicht so sehr, wer es betrat. Nur mit den entsprechenden Ausweisen und Honks Zustimmung war das Verlassen der Abteilung möglich. Und auch wenn der Wachmann ein friedliches Wesen hatte, so war er imstande, eine Handfeuerwaffe mit der bloßen Hand zu einem kleinen unförmigen Metallklumpen zu zerquetschen.
Heute war die neue Karte endlich eingetroffen. René konnte nun wieder kommen und gehen, wann er wollte. Er hasste es, sich dem Tagesrhythmus anderer Leute anpassen zu müssen.
»Großartig«, meinte Jochen. Er wusste, dass René von nun an wieder bis tief in die Nacht in der Zentrale sein würde. René war, anders als er selbst, ein ausgesprochener Nachtmensch. Es hatte Zeiten gegeben, da Jochen ihn fast schon mit Gewalt dazu hatte bringen müssen, nach Hause zu gehen und so etwas wie ein Privatleben zu haben. Seit etwas mehr als einem Jahr hatte sich dieses Verhalten allerdings deutlich gebessert. Es gab sogar Tage, an denen René vor acht Uhr abends das Büro verließ. »Was hat denn da so lange gedauert?«
»Siefert.« Die Antwort war genug, um allen Humor zu vertreiben, der in der Luft gelegen hatte. Auch wenn ihr letzter Verbindungsoffizier nicht mehr vor Ort war, so war er doch immer noch Teil des Verwaltungsapparates und ihre Beziehung war nicht eben herzlich gewesen, als sich ihre Wege getrennt hatten. Allen bei OMMYA war klar, dass Siefert noch zu Problemen führen könnte, sollte er einmal herausfinden, dass sie so ziemlich alle Berichte, die er in seiner Zeit hier verfasst hatte, abgefangen und umgeschrieben hatten. Renés Meinung nach war die letzte Gruppe von Personen, die detailliertes Wissen über die Artefakte haben sollte, die hier eingelagert waren, ihre Vorgesetzten. Allein die Büchse der Pandora hätte mit Sicherheit dazu geführt, dass ein Geschwader von Wissenschaftlern darüber hergefallen wäre, um herauszufinden, was genau sich darin befand, und wie man es – selbstverständlich rein zu Forschungszwecken – vervielfältigen könnte.
Jochens Blick wanderte durch den sich rapide leerenden Raum. Es war schwer vorstellbar, dass in all den unscheinbaren Kisten und Regalen, die mit Kelchen, Amuletten und anderen Dingen voll gestellt waren, Gegenstände lauerten, die einerseits die Hölle auf Erden Wirklichkeit werden lassen konnten, andererseits aber auch Wunder vollbringen, von denen die Menschheit wahrlich einige brauchen konnte. Aber das eine war nicht möglich, ohne das andere zu offenbaren. Entsprechend hatten sie es sich zur Aufgabe gemacht, den Status Quo der Geheimhaltung solange aufrecht zu erhalten, bis die Menschheit reif war, das eine zu schätzen, ohne das andere in Erwägung zu ziehen. Bis dahin würde Gaias Füllhorn ebenso hier verstaut werden wie auch das Necronomicon. Bis sich an diesen Umständen etwas änderte, hatte die Kantine zumindest immer ausreichend frisches Obst und keiner beschwerte sich.
»Gewöhn dir nicht wieder an, in dem Bett zu schlafen.«
»Keine Sorge. Werde ich nicht tun.« Nicht, bevor das Bett neu bezogen worden war, fügte er in Gedanken hinzu.
»Dann bis morgen«, meinte Jochen.
René war bereits einige Meter weit gegangen, als er fragte: »Als was wolltest du gehen?«
»Darth Vader.«
Renés Lachen hallte von den Wänden wider.
»Ich mach mich gleich auf den Weg«, meinte René ins Telefon, während er die Ruhe genoss, die jetzt im Lager herrschte. Rebecca hatte sich gemeldet und erklärt, dass sie ihre Verabredung etwas verschieben mussten, was ihm ganz recht war. Er ließ den Tag gerne mit einem Rundgang durch das Lager ausklingen. Nicht so sehr, um zu kontrollieren, ob alles in Ordnung war. Das war es nicht. Das würde es auch nie sein. Und genau dies war wichtig. Es erinnerte ihn daran, dass sie hier genau einen halben Schritt vom Chaos entfernt waren. Unbekümmertheit war etwas, das bei OMMYA absolut fehl am Platz war.
»Entschuldige nochmal«, meinte Rebecca. Sie klang verärgert. Halloween warf seine Schatten voraus und auch wenn es hierzulande nicht so populär war wie in anderen Ländern, so war die Anzahl der Vorfälle, die kostümierte Kinder und Jugendliche beinhaltete, während der letzten Jahre stetig gestiegen.
Gerade als sie sich dazu bereitgemacht hatte, das Büro zu verlassen, war die erste Gruppe Minderjähriger eingetroffen, verkleidet als Teenage Mutant Ninja Turtles. Auch wenn die Sache eigentlich nicht in ihre Zuständigkeit fiel, schließlich arbeitete sie offiziell bei der Mordkommission, so war sie dennoch dageblieben, um sicherzustellen, dass es sich bei den vier Individuen um Jugendliche, und nicht wirklich um mutierte Schildkröten handelte. René hatte alles, was er an Selbstbeherrschung besaß, gebraucht, um nicht laut loszulachen. Es brauchte ein wenig, um ein Gefühl dafür zu bekommen, welche Meldungen als normal einzustufen waren und welche einer besonderen Beobachtung bedurften.
»Du musst dich nicht entschuldigen«, versuchte er sie zu beruhigen. »Was haben die Jungs ausgefressen?«
»Michelangelo hat mit seinen Nunchacku herumgespielt und einem Passanten dabei fast den Schädel eingeschlagen. Wir mussten auf die Eltern warten.«
»Wenigstens hat er keine Wurfsterne benutzt.« Ein humorloses Lachen erklang aus dem Lautsprecher.
»Halbe Stunde?«
»Alles klar. Bis gleich.«
René steckte das Telefon ein und ließ seinen Blick ein letztes Mal über das Meer von Artefakten gleiten, die auf dem halben Quadratkilometer um ihn herum gelagert waren. Alles war ruhig, selbst der Phönix hatte sich zur Ruhe gelegt und schlief in seinem Käfig. Er schob sich an einem Regal vorbei, das die Lagerarbeiter halb im Gang hatten stehen lassen, und wanderte gemächlichen Schrittes in Richtung Ausgang. Er blickte auf die Uhr. Zehn nach neun. Fast pünktlich. Ein silberner Funkenstrahl war in einiger Entfernung zu erkennen, den er als den Schweif von einer der Pixies identifizierte.
»Gute Nacht, Wendy«, rief er halblaut in den Raum hinein, dann wandte er sich der Tür zu und verließ das Lager.
* * *
Christopher blickte auf seine Uhr. Halb eins. Er gähnte ausgiebig. Auch wenn er bereits seit mehreren Tagen die Nachtschicht hatte, so konnte er sich nicht daran gewöhnen, mitten in der Nacht wach zu sein. Hier machte es eigentlich keinen Unterschied, wie er wusste. Die gesamte Anlage von OMMYA befand sich zwanzig Meter unter dem Erdboden und kein Tageslicht drang jemals nach hier unten. Dennoch weigerte sich etwas ihn ihm, den natürlichen Schlafrhythmus komplett auf den Kopf zu stellen. Darüber hinaus war die Beleuchtung der Zentrale der Tageszeit angepasst, was bedeutete, dass nachts ein Dämmerlicht herrschte, was die Müdigkeit bei ihm nur noch verstärkte.
Langsam arbeitete er sich durch die Listen der Inventur. Sie lagen deutlich hinter dem Zeitplan, und er hatte keine Lust, morgen Abend noch an der Sache zu sitzen.
In seine Arbeit vertieft, entging ihm die Bewegung, die am anderen Ende der Zentrale stattfand, ebenso wie das leise Summen, als sich das Handy von Honk meldete, der wie üblich am Eingang stand. Der Wachmann brauchte quasi keinen Schlaf, war imstande, sich im Stehen auszuruhen und damit zufrieden, mehrere Tage hintereinander seinen Job zu erledigen, ohne auch nur eine Miene zu verziehen.
Die Nachricht, die Honk auf dem Display las, führte jedoch zu einer dieser wenigen Gelegenheiten. Erstaunt runzelte er die Stirn und blickte sich um. Nur wenige Schreibtische waren besetzt, alle Mitarbeiter waren jedoch mit irgendwelchen Arbeiten beschäftigt. Der große Bildschirm, der die Zentrale dominierte, spulte stumm und langsam die eingehenden Daten und Meldungen ab. Am anderen Ende der Halle saß Christopher in dem kleinen Büro, das tagsüber von René und Jochen benutzt wurde, und starrte abwechselnd auf drei Bildschirme und die Papiere, die vor ihm lagen. Alles war ruhig. Er überlegte eine Weile, dann trat er zu dem Mitarbeiter, der am nächstgelegenen Tisch saß.
»Ich muss mal kurz weg«, ertönte seine tiefe Stimme. Der Mitarbeiter sah verwirrt auf. Honk blickte ernst, aber ruhig auf ihn herab.
»Stimmt was nicht?« Es war ungewöhnlich, dass Honk seinen Posten verließ. Der Wachmann schüttelte den Kopf.
»Nein. Nachricht von der Ärztin.« Er hielt sein Handy hoch. In der Hand eines anderen hätte es als Tablet-PC durchgehen können. Sie hatten Monate gebraucht, um ein Modell zu finden, das Honks außerirdischer Physis entgegenkam.
»Wird nicht lange dauern.«
»Alles klar.« Der Blick des Angestellten glitt hinüber zu der schweren Tür, dann zu dem muskelbepackten Außenweltler, der sich langsam in Richtung Krankenstation entfernte. Offiziell war es nicht gestattet, dass der Hauptein- und -ausgang unbewacht blieb. Jedoch war es mitten in der Nacht und sollte jemand auf die Idee kommen, sich ohne Autorisierung Zutritt zu verschaffen, würden diverse Alarme losgehen, noch bevor die erste Sicherheitsabfrage beendet sein würde. Vom Verlassen der Anlage ganz zu schweigen. Nichtsdestotrotz behielt er die Tür im Blick, nur für den Fall der Fälle. Als er nach etwa zwei Minuten erneut aufblickte, ging das Licht aus.
Christopher brauchte eine Sekunde, bis er sich von der Überraschung erholt hatte. Im Stockdunkeln saß er da und zählte langsam bis zehn. Er konnte nicht fassen, dass so etwas schon wieder passierte, während er das Kommando hatte.
Vor knapp zwei Jahren hatte der Phönix den Feueralarm ausgelöst und die komplette Zentrale war unter Wasser gesetzt worden. Es hatte mehr als einen Tag gebraucht, alles trocken zu legen und die Geräte wieder zum Laufen zu bringen. Just zu diesem Zeitpunkt war René aufgrund eines Trauerfalls abwesend gewesen und Jochen hatte Urlaub gehabt. Alle waren sich einig gewesen, dass Christopher die Situation so souverän wie nur möglich gemeistert hatte, was in der gegenwärtigen Situation jedoch nicht im Geringsten half.
Im Gegensatz zu damals war keinerlei Alarm zu hören, nur das leise Fluchen der anderen Mitarbeiter, die, wie er, plötzlich vor schwarzen Bildschirmen saßen. Glücklicherweise hatte Sahra seinerzeit eine Routine installiert, die die Daten alle dreißig Sekunden speicherte. Der Schaden würde also überschaubar sein.
* * *
Es war dunkel. Die Tür bewegte sich einige Millimeter, stand anschließend still. Kein Geräusch ertönte. Schließlich schwang die Tür wie in Zeitlupe ganz auf und verharrte. Dann, unsichtbar in der Dunkelheit, betraten mehrere Gestalten die dunklen und stillen Gewölbe der Halle 1 des Lagers von OMMYA.
Nachdem der Letzte der Truppe das Tor durchschritten hatte, erklangen die Geräusche einer kurzen geflüsterten Unterhaltung, die jedoch schnell beendet wurde. Schritte von schweren Stiefeln hallten durch die weitläufige Halle. Wieder kehrte Ruhe ein, das Scharren von Holz auf Stein war zu hören, das Knarren von Scharnieren, das Knistern von Papier, dann ein Zischen, das vielleicht ein Seufzer hätte sein können. Dann wieder Schritte. Das stählerne Tor ragte in der Dunkelheit auf wie ein Berg in der Nacht, ebenso hoch wie undurchdringlich. Das Rascheln von Papier erklang erneut, gefolgt von dem charakteristischen Piepen einer Konsole, auf der Zahlen eingegeben wurden. Dem leisen Knirschen von Zahnrädern folgte das donnernde Rumpeln der Tür, die sich in den Angeln bewegte.
* * *
Christopher suchte im Schein seines Handys in der Schublade nach der Taschenlampe, als das rumpelnde Geräusch des sich öffnenden Tores erklang, das zum Lager führte. Im Dunkeln schien es ihm, als ob das Geräusch doppelt so laut erklang.
Wenigstens funktionieren die Türen noch, dachte er, als er sich mit der Taschenlampe auf den Weg machte. Das Gemurmel der Mitarbeiter ging in dem andauernden Rumpeln der Tür beinahe unter. Im Dunkeln sah Christopher mehrere Gestalten, die aus dem Lagerbereich in die Zentrale vordrangen. Er grunzte missvergnügt, während er sich der Gruppe näherte.
»Wirklich witzig, Jungs«, meinte er, ohne jeglichen Humor in der Stimme. »Ihr wisst ganz genau, dass Halloween abgesagt worden ist. Wenn René oder Jochen das mitbekommen, reißen sie euch den Kopf ab.«
Noch während er sich dem Vordersten aus der Gruppe näherte, änderte sich seine Meinung. Die Kostüme waren wirklich gut. Im Schein der Taschenlampe sah es fast so aus, als ob es sich wirklich um lederne Rüstungen handelte, und so, wie es aussah, hatten die Jungs eine Menge Arbeit in die Masken gesteckt. Die grün-graue Haut sah beinahe echt aus.
Noch während er überlegte, wie er die Angelegenheit regeln konnte, um den Mitarbeitern möglichst wenig Schwierigkeiten zu bereiten, fuhr der Kopf desjenigen herum, der ihm am nächsten war. Die gelben Augen waren das erste Indiz, das Christopher daran zweifeln ließ, dass es sich hier um eine Gruppe Mitarbeiter handelte, die einen Halloweenstreich spielten. Der Streitkolben, der ihn seitlich am Kopf traf, das zweite.
* * *
»Sachte.«
Die Stimme klang schwammig in seinen Ohren. Als er die Augen öffnete, drohte der Schmerz seinen Schädel zu spalten, also schloss er sie wieder.
»Wsn?«, nuschelte er.
»Bleib liegen«, sagte die Stimme, die Christopher als die von Sahra identifizierte. Etwas Kaltes berührte seinen Kopf und sorgte dafür, dass die Schmerzen kurzfristig abebbten. »Sophia ist unterwegs.«
Dreißig Minuten später war die Ärztin zu dem Schluss gekommen, dass Christopher ungeheures Glück gehabt hatte. Sein Kopf war da anderer Meinung, aber der Streifschlag hatte ihn nur ins Land der Träume geschickt, wenn auch äußerst unsanft. Wäre der Treffer zehn Zentimeter näher an der Mitte des Schädels gelandet, würde er jetzt im Koma liegen.
»Was zum Teufel ist passiert?«, fragte er Sahra, die ihn aufmerksam beobachtete und nach Anzeichen Ausschau hielt, die über die einer normalen Gehirnerschütterung hinaus gingen. Ein verwirrtes Kopfschütteln war die Antwort.
»Keine Ahnung«, meinte sie. »Das Licht ist ausgegangen. Ich war auf dem Weg zum Sicherungskasten, als es wieder angegangen ist. Dann bin ich hierher gekommen und hab euch gefunden.«
Christopher blickte sich um. Mehrere Mitarbeiter lagen auf dem Boden oder saßen zusammengesunken in ihren Sesseln, während Sophia ihren letzten Patienten untersuchte. Schließlich, nachdem sie auch ihm einen Eisbeutel auf die Kopfwunde gedrückt hatte, erhob sie sich und kam langsam auf die beiden zu.
»Es grenzt an ein Wunder, dass niemand wirklich verletzt wurde.« Christopher warf ihr einen Blick zu, der klar aussagte, dass er ihre Einschätzung der Lage nicht teilte. Sie nickte entschuldigend. »Lebensgefährlich, sollte ich vielleicht sagen. Wir haben drei Kopfwunden, von denen eine genäht werden muss, und einen Schlüsselbeinbruch. Können Sie mir mal sagen, was hier passiert ist?«
Anstatt einer Antwort wanderte Christophers Blick zum anderen Ende des Raumes, wo Honk stand. Der Hüne machte einen unglücklichen Eindruck. Zugleich glaubte Christopher zu erkennen, dass er unglaublich wütend war. Das, was Christopher jedoch am meisten beunruhigte, war der Umstand, dass die Tür, vor der er wieder seinen Posten bezogen hatte, offen stand. In kurzen und knappen Worten berichtete er den beiden Frauen, an was er sich erinnern konnte. Bevor einer der drei ein weiteres Wort sagen konnte, ertönte ein schriller Alarm. Verwirrt schossen mehrere Blicke durch den Raum. Nichts gab Anlass zu vermuten, dass ein weiterer Zwischenfall bevorstand.
»Was ist mit – ?«
Das Zischen der Eingangstür, neben der Honk stand, mischte sich mit dem Rumpeln der Stahlschotts, die das Lager von der Zentrale trennten. Als sich die Türen mit einem leisen Rumms geschlossen hatten, wanderten die Blicke allesamt zu Christopher, der die Augen geschlossen hatte und ein leises Stöhnen von sich gab.
»Ich will nach Hause.« Mehr brachte er nicht zustande. Zumindest, so ging es ihm durch den Kopf, während er vorsichtig aufstand und langsam in Richtung Büro ging, war die Sprinkleranlage nicht aktiviert worden. Er blickte auf die Uhr. Ein Uhr siebzehn. René und Jochen würden begeistert sein.
»Es tut mir leid, aber – «
»Wenn du dich nochmal entschuldigst, streiche ich dir deinen Urlaub.« René wusste, dass Christopher es nicht böse meinte, aber das Letzte, was er gerade brauchte, war eine weitere Entschuldigung. Nicht die Tatsache, dass Renés Handy um halb zwei Uhr nachts geklingelt hatte, war für seine schlechte Laune verantwortlich. Es war vielmehr der Umstand, dass er sich wirklich eingeredet hatte, so etwas wie ein paar normale Tage verbringen zu können.
»Was genau ist passiert?« Christopher hatte versucht, die Sache am Telefon zu erklären, allerdings hatte René nur halb zugehört, weil sich Christopher nach jedem zweiten Satz entschuldigt hatte. Darüber hinaus war es René lieber, sich die Sache vor Ort anzusehen.
»Ich habe keine Ahnung.« Christopher war das schlechte Gewissen deutlich anzusehen. Die Kompresse auf seinem Kopf hielt René davon ab, eine pampige Bemerkung abzufeuern. Keiner hatte sich dies hier ausgesucht. Er kniete sich hin und betrachtete die Tür des Bürogebäudes. Die Scheibe war zertrümmert und Glasscherben lagen über den kompletten Gehweg verteilt.
»Was ich nicht verstehe«, meinte er, »warum hat wer auch immer die Tür eingeschlagen? Ich meine, sie haben es ja irgendwie geschafft, aus der Zentrale rauszukommen und den Fahrstuhl zu holen.« Für beides brauchte man sowohl eine Karte, als auch einen Code. Beides war nicht eben leicht zu beschaffen.
»Vielleicht hatten Sie keinen Schlüssel für die Tür?«, erklang eine Stimme von hinten. René blickte sich um und sah Jochen, der vom Parkplatz aus mit müdem Gesicht auf sie zu schritt. Auch wenn René nicht erfreut über die nächtliche Störung war, so wusste er, dass Jochen mindestens eine Stunde brauchen würde, um richtig wach zu werden. Jochen war alles, nur kein Nachtmensch.
»Hi.« René nickte ihm zu und betrachtete erneut die Tür. Sie war eindeutig von innen heraus zerschlagen worden. Fast alle Splitter befanden sich außerhalb des Gebäudes. Er bezweifelte, dass irgend jemand etwas gehört hatte. Das Gebäude, unter dem sich die Zentrale von OMMYA befand, lag in einem kleinen Industriegebiet, in dem nach Feierabend so gut wie nichts los war. Er blickte sich um. Es gab Überwachungskameras in der Gegend, aber die nächste war mehr als einhundert Meter entfernt und hatte die Straßen vor dem Gebäude und den Parkplatz im Blick, nicht die Eingangstür. Darüber hinaus war es stockdunkel. Er bezweifelte, dass sie irgendetwas würden erkennen können.
Schweigend fuhren sie zu dritt hinunter, während Christopher erneut versuchte, die Vorfälle zu beschreiben.