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Der zwölfjährige Außenseiter Callum kommt aus einer alten Magierfamilie. Dennoch hat der aufmüpfige Junge mit dem lahmen Bein und dem frechen Mundwerk mit Magie rein gar nichts am Hut. Denn seit dem Tod seiner Mutter hat sein Vater der magischen Welt komplett den Rücken gekehrt und Call voll Ablehnung gegen alles Magische großgezogen. Trotzdem muss Call eines Tages in das Magisterium und an der Aufnahmeprüfung der unterirdischen Schule für Zauberei teilnehmen. Der Junge gibt sich alle Mühe durchzufallen. Doch trotz seines sensationell schlechten Ergebnisses wird er an der Schule bei Meister Rufus aufgenommen. Was steckt dahinter? Was ist der wirkliche Grund für die Ablehnung seines Vaters und wer ist der "Feind des Todes"? Für Call beginnt mit dem ersten Band der Magisterium-Reihe von Holly Black und Cassandra Clare ein aufregendes Leben voller Magie, neuer Freundschaften und unheimlicher Geheimnisse.
Holly Black, Jahrgang 1971, ist bekannt durch ihre international erfolgreiche Fantasy-Reihe "Die Spiderwick-Geheimnisse", die 2008 auch verfilmt wurde.
Cassandra Clare, Jahrgang 1973, feierte große Erfolge mit ihrer Jugendbuch-Reihe "Chroniken der Unterwelt". Der erste Teil der Reihe wurde 2013 verfilmt.
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Zeit:7 Std. 12 min
Holly Black & Cassandra Clare
Der Weg ins Labyrinth
Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch von Anne Brauner
Für Sebastian Fox, den niemand mit Inschriften im Eis bedroht hat
PROLOG
Aus der Ferne wirkte der Mann, der mühsam die weiße Wand des Gletschers erklomm, wie eine Ameise, die langsam seitlich an einem flachen Teller hochkrabbelte. Weit unter ihm lag wie ein Flickenteppich die Barackenstadt La Rinconada. Der Wind wurde mit jedem Meter stärker, wehte dem Mann Pulverschnee ins Gesicht und gefror seine feuchten schwarzen Locken. Trotz der gelben Schutzbrille schmerzte der grelle Widerschein des Sonnenuntergangs in seinen Augen.
Obwohl der Kletterer weder angeseilt noch anderweitig gesichert war und nur Steigeisen und eine Axt benutzte, hatte er keine Angst zu fallen. Er hieß Alastair Hunt und war Magier. Unterwegs formte und gestaltete er das Gletschereis mit seinen eigenen Händen, sodass er sich an den selbst gemachten Griffen nach oben hangeln konnte.
Als er auf halber Höhe die Höhle erreicht hatte, war er fast erfroren und vollkommen erschöpft. Er war an die Grenzen seiner Willenskraft gegangen, um den Elementen zu trotzen. Es kostete ihn unendlich viel Energie, seine Magie unaufhörlich zu fordern, doch er hatte nicht gewagt, langsamer zu klettern. Die Höhle, die wie ein Schlund die Flanke des Berges aufriss, war weder von unten noch von oben zu erkennen. Alastair Hunt hievte sich keuchend über den Rand und verfluchte sich, weil er nicht eher gekommen war und sich derart hatte täuschen lassen. Die Einwohner von La Rinconada hatten die Explosion gesehen und im Flüsterton gerätselt, was es zu bedeuten hatte, dieses Feuer im Eis.
Feuer im Eis. Es musste ein Notsignal sein … oder sie waren angegriffen worden. In der Höhle waren nur Magier untergekommen, die zu alt oder zu jung zum Kämpfen waren, Verwundete und Kranke, Mütter, die ihre kleinen Kinder nicht allein lassen konnten – wie Alastairs Frau mit ihrem Sohn. Sie hatten sich dort versteckt, an einem der entlegensten Orte der Welt.
Master Rufus hatte darauf bestanden, weil sie sonst zu angreifbar waren, Geiseln des Schicksals, und Alastair hatte ihm vertraut. Erst als der Feind des Todes nicht auf dem Schlachtfeld erschienen war, um sich dem Makarmädchen zu stellen, auf das sie all ihre Hoffnungen gesetzt hatten, war Alastair klar geworden, dass etwas nicht stimmte. So schnell er konnte, war er nach La Rinconada zurückgekehrt und hatte fast die gesamte Strecke auf dem Rücken eines Luftelementariers zurückgelegt. Von dort war er zu Fuß weitergegangen, da der Feind eine starke Kontrolle über die Elementarier ausübte, die man nicht vorhersehen konnte. Je höher er gestiegen war, umso mehr Angst hatte er bekommen.
Lass es ihnen gut gehen, dachte er beim Betreten der Höhle. Bitte, lass es ihnen gut gehen.
Eigentlich hätte man das Weinen von Kleinkindern hören müssen. Oder das Wispern nervöser Gespräche und das Summen unterdrückter Magie. Stattdessen heulte nur der Wind, der um den trostlosen Gipfel fegte.
Das weiße Eis der Höhlenwände war rot und braun gefleckt, dort, wo das Blut hingespritzt und es stellenweise geschmolzen hatte. Alastair nahm die Brille ab, ließ sie fallen und drängte tiefer in die Höhle. Nur mit dem letzten Rest seiner magischen Kraft ließ sich das hier durchstehen.
Die Höhlenwände glühten unheimlich phosphoreszierend. Weiter entfernt vom Eingang war das die einzige Lichtquelle – was vielleicht erklärte, warum Alastair die erste Leiche erst bemerkte, als er über sie stolperte und beinahe hingefallen wäre. Mit einem lauten Aufschrei wich er zurück und zuckte zusammen, als ihm das Echo um die Ohren flog. Die gefallene Magierin war bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, doch sie trug ein Armband mit einem großen gehämmerten Kupfersplitter, der sie als Schülerin des zweiten Lehrjahrs im Magisterium auswies. Sie war höchstens dreizehn geworden.
Allmählich solltest du dich an den Tod gewöhnt haben, ermahnte er sich. Seit zehn Jahren lagen sie nun schon im Krieg mit dem Feind, und es fühlte sich wie ein Jahrhundert an. Erst war es ganz und gar unmöglich erschienen, dass ein junger Mann, auch wenn er zu den Makaris zählte, den Tod selbst besiegen wollte. Doch je mehr Macht der Feind an sich gerissen hatte, je stärker seine Armee aus Chaosbesessenen geworden war, umso fürchterlicher hatte die Bedrohung über ihnen gehangen … und im erbarmungslosen Abschlachten der Hilflosesten, der Unschuldigsten ihren Höhepunkt erreicht. Alastair zwang sich, die Leichen älterer Lehrer aus dem Magisterium und dem Kollegium liegen zu lassen, wie auch die toten Kinder von Freunden, Bekannten oder Magiern, die in vergangenen Schlachten verwundet worden waren. Zwischen ihnen lagen die dahingestreckten Chaosbesessenen, deren Wandelaugen für immer erloschen waren. Obwohl sie überrumpelt worden waren, hatten die Magier offenbar bis zum Letzten gekämpft und die feindlichen Truppen empfindlich geschwächt. Vor Entsetzen drehte sich Alastairs Magen um, seine Finger und Zehen waren taub, und doch wankte er weiter … bis er sie sah.
Sarah.
Sie lag im hintersten Winkel der Höhle an einer nebligen Eiswand. Ihre offenen Augen starrten ins Leere, die Iris trüb, Raureif in den Wimpern. Alastair bückte sich und strich über ihre kalte Wange. Sein Schluchzen zerriss die Luft.
Doch wo war sein Sohn? Wo war Callum?
Sarah hielt einen Dolch in der rechten Hand. Sie hatte es im Schmieden des Eisens, das aus den Tiefen der Erde kam, zu großer Meisterschaft gebracht. Diesen Dolch hatte sie in ihrem letzten Schuljahr im Magisterium selbst angefertigt. Er hatte sogar einen Namen: Semiramis. Alastair wusste, wie sehr er ihr am Herzen gelegen hatte. Wenn ich einmal sterbe, dann mit meiner eigenen Waffe in der Hand, hatte sie stets gesagt. Doch für Alastair hätte sie nie sterben dürfen.
Er streichelte ihr eisiges Gesicht.
Ein Schrei ließ ihn herumfahren. In dieser Höhle des Todes und der Grabesstille, ein Schrei.
Ein Kind.
Alastair ließ verzweifelt den Blick schweifen. Es hörte sich an, als läge das Kind mit dem dünnen Stimmchen näher am Eingang der Höhle. Er lief zurück, wankte über die Leichen, die zu starren Statuen gefroren waren – bis er in dem Gemetzel noch ein bekanntes Gesicht entdeckte.
Declan, Sarahs Bruder, war in der letzten Schlacht verwundet worden. Anscheinend war er an besonders grausamer Luftmagie erstickt; sein Gesicht war blau angelaufen, die Augen rot, weil die Adern geplatzt waren. Unter seinem ausgestreckten linken Arm lag Alastairs winziger Sohn, eine Wolldecke schützte ihn vor dem Eis. Als er ihn fassungslos ansah, öffnete der Junge den Mund und heulte erneut, schwach und dünn.
Wie in Trance und vor Erleichterung zitternd, bückte sich Alastair und nahm das Kind auf den Arm. Sein Sohn sah mit aufgerissenen grauen Augen zu ihm hoch und schrie. Als die Wolldecke zu Boden fiel, begriff Alastair auch, warum. Das linke Bein des Babys hing in einem scheußlichen Winkel wie ein abgebrochener Ast herunter.
Alastair rief die Erdmagie zu Hilfe, um sein Kind zu heilen, doch ihm blieb gerade noch genug Kraft, um ihm die Schmerzen zu nehmen. Mit klopfendem Herzen wickelte er seinen Sohn wieder in die Wolldecke und ging noch einmal zu Sarah zurück. Er hielt ihr das Baby hin, als könnte sie es sehen, und ging neben ihrer Leiche in die Knie.
»Sarah«, flüsterte er mit tränenerstickter Stimme. »Ich werde ihm erzählen, dass du gestorben bist, als du ihn beschützen wolltest. Er soll nie vergessen, wie mutig du warst.«
Ihre starren Augen waren bleich und ausdruckslos. Er drückte das Kind fester an sich und nahm ihr Semiramis aus der Hand. Plötzlich fiel ihm auf, dass das Eis neben ihrer Hand sonderbar gemustert war, als hätte sie sterbend darauf eingestochen. Doch es waren keine beliebigen Stiche, wie Alastair erkannte, als er näher hinsah, sondern Worte – Worte, die seine Frau mit der letzten Kraft einer Sterbenden ins Eis der Höhle geritzt hatte.
Als er die Inschrift verstand, waren es drei harte Schläge in den Magen.
TÖTET DAS KIND.
ERSTES KAPITEL
Callum Hunt war in seinem kleinen Wohnort in North Carolina stadtbekannt, was in diesem Fall nichts Gutes verhieß. Er war berüchtigt dafür, Vertretungslehrer mit ironischen Kommentaren rauszuekeln, und Schulleiter, Aufsichtsschüler sowie die Damen von der Essensausgabe gleichermaßen zu ärgern. Die Vertrauenslehrer, die ihm anfangs zur Seite stehen wollten (schließlich war die Mutter des armen Jungen früh verstorben), hofften irgendwann, dass er nie wieder vor ihrer Tür auftauchen würde. Gab es etwas Peinlicheres, als wenn man einem wütenden Zwölfjährigen nichts entgegenzusetzen hatte?
Calls mürrische Miene, sein unordentliches schwarzes Haar und die misstrauischen grauen Augen waren auch seinen Nachbarn wohlbekannt. Er fuhr gerne Skateboard, obwohl es eine Weile gedauert hatte, bis er es rausgehabt hatte; von seinen ersten Versuchen zeugten noch Dellen in einigen Autos. Oft traf man ihn vor dem Schaufenster des Comic-Shops, der Spielhalle und des Videospielgeschäfts an. Sogar der Bürgermeister kannte ihn. Es wäre auch schwer gewesen ihn zu vergessen, nachdem er sich während der Parade am 1. Mai an dem Verkäufer des Tiergeschäfts vorbeigedrückt und einen Nacktmull mitgenommen hatte, der eigentlich an eine Boa constrictor verfüttert werden sollte. Das blinde, runzlige Tier hatte ihm leidgetan, weil es sich nicht wehren konnte – gerechterweise sollte erwähnt werden, dass er auch die weißen Mäuse befreit hatte, die als Nächste auf der Speisekarte der Schlange gelandet wären.
Call hätte nie gedacht, dass die Mäuse zwischen den Beinen der Paradeteilnehmer Amok laufen würden, doch Mäuse sind nicht sonderlich schlau. Er hätte allerdings auch nicht erwartet, dass die Zuschauer vor den Mäusen flüchten würden, aber auch die Menschen sind nicht die Schlauesten, wie sein Vater ihm später erklärt hatte. Es war nicht Calls Schuld, dass die Parade danach vorbei war, doch alle – vor allem der Bürgermeister – taten so. Und dann hatte Calls Vater ihn auch noch gezwungen, den Nacktmull zurückzugeben.
Calls Vater hielt nichts vom Stehlen.
Seiner Meinung nach war es fast so schlimm wie Magie.
Callum zappelte auf dem harten Stuhl vor dem Sekretariat und fragte sich, ob er am nächsten Tag noch zur Schule gehen und ob ihn andernfalls überhaupt jemand vermissen würde. Unaufhörlich ging er die verschiedenen Methoden durch, mit deren Hilfe er durch die Magierprüfung rasseln wollte – am besten so spektakulär wie möglich. Sein Vater hatte seine Ratschläge gebetsmühlenartig wiederholt: Denk an gar nichts. Oder konzentrier dich auf das Gegenteil dessen, was diese Ungeheuer von dir verlangen. Oder konzentrier dich auf den Test eines anderen Kandidaten. Call rieb sein Schienbein, das schon den ganzen Morgen krampfte und wehtat; so war das manchmal. Je größer er wurde, umso mehr tat es weh. Immerhin würde es ihm deswegen leichtfallen, den körperlichen Teil der Prüfung zu verhauen – wie immer der aussah.
Weiter vorne im Gang hörte er die anderen Schüler, deren Turnschuhe im Sportunterricht auf dem polierten Holzboden quietschten und die sich lauthals gegenseitig herausforderten. Call wünschte, er dürfte nur ein einziges Mal mitspielen. Auch wenn er nicht so schnell war wie die anderen und schlechter das Gleichgewicht halten konnte, hatte er doch Energie für zwei. Wegen seines Beins hatte er ein Attest für den Sportunterricht, und schon in der Grundschule war sofort ein Lehrer herbeigeeilt, sobald er in der Pause rennen, springen oder klettern wollte. Ständig musste er sich anhören, dass er langsamer machen musste, weil er sich sonst wehtat. Wenn er nicht auf sie hörte, würden sie ihn reinschicken.
Als gäbe es nichts Schlimmeres als ein paar blaue Flecke. Als könnte es seinem Bein noch schlechter gehen.
Seufzend starrte Call durch die Glastüren der Schule auf den Parkplatz, wo sein Vater gleich vorfahren würde. Sein Auto konnte man nicht verfehlen – er fuhr einen silbern glänzenden Rolls Royce Phantom von 1937. So etwas gab es in der ganzen Stadt nur einmal. Calls Vater betrieb das Antiquitätengeschäft Now and Again auf der Main Street und konnte sich nichts Schöneres vorstellen, als kaputte Dinge anzunehmen und ihnen neuen Glanz zu verleihen. Um den Rolls am Laufen zu halten, musste er fast jedes Wochenende daran herumfrickeln. Außerdem bat er Call ständig, den Wagen zu waschen und mit einem sonderbaren alten Autowachs zu polieren, damit er nicht rostete.
Der Rolls Royce hielt sich prächtig – ganz im Gegensatz zu Call. Er betrachtete seine Sneakers, mit denen er auf den Fußboden tippte. Wenn er wie heute Jeans trug, fiel es nicht auf, dass mit seinem Bein etwas nicht stimmte, doch sobald er aufstand und den ersten Schritt machte, war es nicht mehr zu übersehen. Seit der Babyzeit hatte er eine Operation nach der anderen und tausend Physiotherapien über sich ergehen lassen, die alle nicht geholfen hatten. Er humpelte immer noch leicht, als balancierte er auf einem Schiff, das auf dem Meer schaukelte.
Als er jünger war, hatte er oft Pirat gespielt oder sich als tapferen Seemann mit Holzbein ausgegeben, der nach einem langen Kanonengefecht mit dem sinkenden Schiff unterging. Call hatte Piraten und Ninjas gespielt, Cowboys und Alien-Forscher.
Doch Magie war in keinem seiner Spiele vorgekommen.
Das nicht, niemals.
Jetzt hörte er einen brummenden Motor und stand auf; doch dann setzte er sich ärgerlich wieder hin. Es war doch nicht sein Dad, nur ein blöder roter Toyota. Kurz darauf eilte Kylie Myles, die auch in seiner Stufe war, in Begleitung einer Lehrerin an ihm vorbei.
»Viel Glück bei deinem Ballett-Casting«, sagte Ms Kemal zu Kylie und machte sich wieder auf den Weg in den Klassenraum. »Danke«, erwiderte Kylie und warf Call einen komischen, irgendwie abschätzigen Blick zu. Normalerweise würdigte Kylie ihn keines Blickes. Das war eines ihrer Hauptmerkmale, wie die glänzenden blonden Haare und ihr Rucksack mit dem Einhorn drauf. Wenn sie sich im Flur begegneten, sah sie an ihm vorbei, als wäre er unsichtbar.
Call kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, als sie ihm auch noch halbherzig zuwinkte, bevor sie zu dem Toyota ging. Vorne saßen ihre Eltern und wirkten nervös.
Fuhr sie etwa auch dorthin? Unmöglich, dass sie auch an der Eisernen Prüfung teilnahm. Und wenn doch …
Er hievte sich aus dem Sessel. Wenn sie das wirklich vorhatte, musste sie gewarnt werden.
Viele Kinder glauben, es wäre etwas Besonderes, hatte Calls Vater mit unverkennbarem Widerwillen gesagt. Von ihren Eltern ganz zu schweigen. Das gilt vor allem für Familien, die seit Generationen magische Fähigkeiten haben. In anderen Familien, in denen die Magie fast ausgestorben ist, setzt man darauf, dass ein magisches Kind sie wieder an die Macht bringen kann. Aber die Kinder ohne magische Verwandte können einem am meisten leidtun. Die denken, es geht dort zu wie im Film.
Doch es ist überhaupt nicht wie im Film.
In diesem Augenblick fuhr Calls Dad mit quietschenden Bremsen vor der Schule vor, sodass Call Kylie nicht mehr sehen konnte. Er humpelte durchs Schultor nach draußen, doch als er endlich an dem Rolls Royce angekommen war, bog der Toyota der Myles bereits um die Ecke und war bald außer Sicht.
Aus der Warnung wurde offenbar nichts.
»Call.« Sein Vater war ausgestiegen und lehnte an der Beifahrertür. Sein schwarzer Schopf – das dichte schwarze Haar hatten sie gemeinsam – wurde an den Schläfen grau, und trotz der Hitze trug er ein Tweedjackett mit Lederflicken an den Ellbogen. Call fand, sein Vater sah oft wie Sherlock Holmes in den alten BBC-Filmen aus; hin und wieder war jemand richtiggehend überrascht, dass er keinen englischen Akzent hatte. »Bist du so weit?«
Call zuckte die Achseln. Wie sollte man für etwas bereit sein, das einem angeblich das ganze Leben versauen konnte, wenn man es falsch anging? Oder richtig, in seinem Fall. »Kann man sagen.«
Sein Vater hielt ihm die Tür auf. »Gut. Steig ein.«
Innen war der Rolls ebenso makellos wie außen. Call war überrascht, als er seine alten Krücken auf der Rückbank entdeckte. Er hatte sie nicht mehr benutzt, seit er vor Jahren von einem Klettergerüst gefallen war und sich den Fuß verstaucht hatte – an seinem guten Bein. Nachdem sein Vater eingestiegen war und den Motor angelassen hatte, fragte er: »Wieso hast du die mitgenommen?«
»Je schlimmer du aussiehst, umso größer ist die Chance, dass sie dich ablehnen«, sagte sein Vater mit grimmiger Miene und warf einen Blick nach hinten, als er vom Parkplatz fuhr.
»Das grenzt an Pfuschen«, entgegnete Call.
»Call, man pfuscht, um zu gewinnen. Man kann nicht pfuschen, um zu verlieren.«
Call verdrehte die Augen und ließ seinen Vater glauben, was er wollte. Er würde nur im äußersten Notfall auf Krücken gehen, doch er hatte keine Lust, sich zu streiten. Jedenfalls nicht heute, nachdem sein Vater bereits beim Frühstück den Toast hatte anbrennen lassen und Call angeherrscht hatte, als er sich beschwerte, dass er zur Schule gehen musste, obwohl er gleich wieder abgeholt werden würde. Das sah seinem Vater nicht ähnlich.
Jetzt beugte er sich über das Lenkrad und umklammerte mit der Rechten die Gangschaltung, um mit viel zu viel Wucht in einen anderen Gang zu schalten.
Call betrachtete die Bäume, an denen sie vorbeifuhren, mit ihren Blättern, die sich gerade gelb färbten, und rief sich ins Gedächtnis, was er über das Magisterium wusste. Als sein Vater erstmals über die Lehrer und die Art, wie sie ihre Lehrlinge aussuchten, gesprochen hatte, musste Call in seinem Arbeitszimmer in einem der großen Ledersessel sitzen. Damals hatte er einen Verband am Ellbogen und eine aufgeplatzte Lippe gehabt, weil er sich in der Schule geprügelt hatte – und nicht die geringste Lust, sich eine Strafpredigt seines Vaters anzuhören. Außerdem war sein Vater so ernst gewesen, dass Call es mit der Angst bekommen hatte. Und er hatte auch so mit Call geredet, als würde er ihm gleich mitteilen müssen, dass er eine bösartige Krankheit hatte. Wie sich herausgestellt hatte, handelte es sich bei der Krankheit um mögliche magische Fähigkeiten.
Call hatte sich bei dieser Rede seines Vaters im Sessel ganz kleingemacht. Er war es gewohnt, gehänselt zu werden, weil andere Kinder ihn wegen seines Beins für eine gute Zielscheibe hielten. Normalerweise konnte er sie schnell vom Gegenteil überzeugen. An diesem Tag waren es jedoch ältere Jungen gewesen, die ihn auf dem Heimweg hinter den Schuppen in der Nähe des Klettergerüsts gedrängt hatten. Wie üblich hatten sie ihn herumgeschubst und beleidigt. Da Callum die Erfahrung gemacht hatte, dass die meisten Leute aufhörten, sobald er sich wehrte, nahm er sich den größten Jungen vor. Das war der erste Fehler gewesen. Kurz darauf hatten sie ihn niedergerungen. Einer saß auf seinen Knien, während ein anderer ihm ins Gesicht schlug und forderte, er solle sich entschuldigen und zugeben, ein behinderter Spasti zu sein.
»Tut mir leid, dass ich so toll bin, ihr Loser«, hatte Call gesagt und war in Ohnmacht gefallen.
Er konnte nur ungefähr eine Minute bewusstlos gewesen sein, denn als er die Augen wieder aufschlug, sah er noch, wie die Jungen davonliefen. Er hätte nicht gedacht, dass seine Bemerkung eine derart durchschlagende Wirkung haben würde.
»Super«, hatte er gesagt, als er sich mühsam aufrichtete. »Haut bloß ab.«
Bei näherem Hinsehen stellte Call fest, dass der Asphalt auf dem Spielplatz gesprungen war. Ein langer Riss führte von den Schaukeln zur Schuppenwand und spaltete das niedrige Gebäude.
Call lag genau in der Mitte dessen, was wie ein Mini-Erdbeben aussah.
So etwas Fantastisches hatte er noch nie erlebt. Sein Vater war anderer Meinung.
»Magie wird vererbt«, erklärte er. »Nicht an alle, aber dich hat es anscheinend getroffen. Leider. Es tut mir schrecklich leid, Call.«
»Soll das heißen, dass ich den Boden aufgerissen habe?« Call war hin- und hergerissen zwischen Freude und Entsetzen, doch die Freude überwog. Er merkte, wie er lächelte, und ließ es gleich wieder sein. »Das tun Magier also?«
»Magier bedienen sich der Elemente – Erde, Luft, Wasser, Feuer, sogar des Nichts, das die Quelle der mächtigsten und schlimmsten Magie, der Chaosmagie ist. Magier nutzen ihre Fähigkeiten für alle möglichen Dinge, zum Beispiel eben auch dazu, die Erde aufzureißen, so wie du es getan hast.« Sein Vater hatte diese Erklärung mit einem Nicken betont. »Anfangs, wenn die Magie einsetzt, ist sie sehr intensiv. Rohe Kräfte … Doch mit Balance bekommt man seine magischen Fähigkeiten in den Griff. Man muss sehr viel lernen, um so viel Macht zu erlangen wie ein neu erweckter Magier, aber jungen Magiern fehlt es eben auch noch an Kontrolle. Du musst dagegen ankämpfen, Call. Du darfst deine Magie nie wieder nutzen. Sonst verschleppen die Magier dich in ihre Tunnel.«
»Liegt da diese Schule? Ist das Magisterium unterirdisch?«, hatte Call gefragt.
»In der Erde vergraben, wo niemand es finden kann«, hatte sein Vater verbissen geantwortet. »Da unten gibt es kein Licht. Keine Fenster. Das Ganze ist ein Labyrinth. Man kann sich in den Höhlen verlaufen und sterben, ohne dass jemand es merkt.«
Call leckte seine Lippen, die plötzlich trocken waren. »Aber du bist doch auch ein Magier, nicht wahr?«
»Ich habe der Magie abgeschworen, als deine Mutter gestorben ist. Ich werde sie nie wieder nutzen.«
»Und Mom war auch da? In den Tunneln? Echt?« Call wollte alles über seine Mutter erfahren. Viel wusste er nicht über sie. In einem alten Album hatte er vergilbte Fotos von einer hübschen Frau gefunden, die Calls pechschwarze Haare hatte und deren Augenfarbe er nicht erkennen konnte. Seinem Vater stellte er lieber nicht zu viele Fragen, denn der sprach nur über Calls Mutter, wenn es unbedingt nötig war.
»Echt«, hatte sein Vater erwidert. »Und die Magie ist schuld an ihrem Tod. Wenn Magier in den Krieg ziehen, was oft der Fall ist, scheren sie sich nicht um die Menschen, die darin umkommen. Auch darum darfst du keinesfalls ihre Aufmerksamkeit erregen.«
In jener Nacht war Call schreiend aufgewacht, weil er träumte, dass er in die Tunnel verschleppt und Erde auf ihn geschüttet wurde, als würde er lebendig begraben. Er konnte noch so viel um sich treten, er bekam keine Luft. Danach träumte er, er würde vor einem Ungeheuer davonlaufen, das aus Rauch bestand und in dessen Augen tausend böse Farben wirbelten … aber wegen seines Beins war er nicht schnell genug. In seinen Träumen zog er es nach wie ein totes Gewicht, bis er zusammenbrach und den heißen Atem des Monsters im Nacken spürte.
Seine Mitschüler hatten Angst vor der Dunkelheit, Ungeheuern unterm Bett, Zombies oder Mördern mit Riesenäxten. Call dagegen fürchtete sich vor Magiern und hatte noch mehr Angst, selbst einer zu werden.
Und jetzt würde er ihnen begegnen – denselben Magiern, die den Tod seiner Mutter zu verantworten hatten und die schuld daran waren, dass sein Vater fast nie lachte und keine Freunde hatte. Lieber saß er in der Werkstatt, die er sich in der Garage eingerichtet hatte und reparierte schadhafte Möbel, Autos und Schmuckstücke. Call fand, man musste kein Genie sein, um zu begreifen, warum sein Vater wie ein Besessener kaputte Dinge wieder zusammenfügte.
Sie rasten an einem Verkehrsschild vorbei, das sie in Virginia willkommen hieß. Alles sah gleich aus. Er wusste nicht, was er erwartet hatte, doch er war nur selten aus North Carolina herausgekommen. Sie verließen Asheville nur hin und wieder, um zu Tauschbörsen für Autoersatzteile oder auf Antikmessen zu fahren, wo Call sich zwischen Bergen ungeputzten Silbers, Sammlungen von Baseballkarten in Plastikhüllen und sonderbaren ausgestopften Yakköpfen herumtrieb, während sein Vater um langweilige Antiquitäten feilschte.
Call fiel plötzlich ein, dass er vielleicht nie wieder zu einer Tauschbörse gehen würde, wenn er die Prüfung bestand. Er bekam Magenschmerzen und eine Gänsehaut, und er dachte an den Plan, den sein Vater ihm eingeschärft hatte: Denk an gar nichts. Oder konzentrier dich auf das Gegenteil dessen, was diese Ungeheuer von dir verlangen. Oder konzentrier dich auf den Test eines anderen Kandidaten.
Er atmete geräuschvoll aus. Sein Vater hatte ihn mit seiner Nervosität angesteckt. Alles würde gut gehen. So schwer konnte es wirklich nicht sein, durch eine Prüfung zu fallen.
Sein Vater bog vom Highway auf eine schmalere Straße ab. Nur ein einziges Straßenschild mit einem Flugzeug-Symbol und den Worten FLUGHAFEN WEGEN RENOVIERUNG GESCHLOSSEN hatte auf die Abfahrt hingewiesen.
»Wohin fahren wir? Fliegen wir etwa?«
»Das will ich nicht hoffen«, murmelte sein Vater. Die asphaltierte Straße war unvermittelt in eine Schotterpiste übergegangen. Als sie die nächsten hundert Meter weiterrumpelten, musste Call sich am Türrahmen festhalten, um nicht hochzuhüpfen und sich den Kopf zu stoßen. Ein Rolls Royce war für unbefestigte Straßen nicht geeignet.
Auf einmal wurde die Straße breiter, und die Bäume machten einer weitläufigen Lichtung Platz, in deren Mitte ein riesiger Hangar aus Wellblech stand. Drumherum parkten bereits etwa hundert Autos von schäbigen Pick-ups bis zu Sedans, die fast so luxuriös waren wie der Phantom und dabei sehr viel neuer. Aus allen Richtungen eilten Eltern und Kinder in Calls Alter zu dem Hangar.
»Ich glaube, wir sind spät dran«, sagte Call.
»Umso besser.« Sein Vater klang zufrieden. Er parkte das Auto, stieg aus und scheuchte auch Call nach draußen, der froh war, dass sein Vater die Krücken vergessen hatte. Es war heiß, und die Sonne knallte Call in seinem grauen T-Shirt auf den Rücken. Er wischte die schweißnassen Hände an der Jeans ab, während sie über den Parkplatz auf den breiten hohen Eingang des Hangars zuliefen.
Drinnen ging die Post ab. Es wimmelte von Jugendlichen, deren Stimmen laut durch das ansonsten leere Gebäude hallten. An einer Wellblechwand stand eine Tribüne, die in dem ungeheuer weiten Raum winzig wirkte, obwohl sie vielen Menschen Platz bot. Auf dem Betonboden waren mit neonblauem Klebeband zahlreiche X und Kreise markiert.
An den Hangartoren gegenüber, aus denen wahrscheinlich früher die Flugzeuge auf die Startbahn ausgerollt waren, standen die Magier.
ZWEITES KAPITEL
Sie waren nur zu sechst und doch allgegenwärtig. Call hatte sich keine genaue Vorstellung von ihnen gemacht– schließlich war sein Vater ebenfalls Magier und sah eigentlich ganz normal aus, wenn er auch eine Vorliebe für Tweed hatte. Er hätte jedenfalls gedacht, dass die anderen Magier sehr viel seltsamer aussahen. Mit spitzen Hüten vielleicht. Oder mit Umhängen, die mit silbernen Sternen besetzt waren? Grüne Haut hätte ihn auch nicht gewundert.
Doch zu seiner Enttäuschung sahen sie alle vollkommen normal aus. Die drei Frauen und drei Männer trugen weite langärmelige Tuniken in Schwarz sowie Gürtel und Hosen aus dem gleichen Material. An den Handgelenken hatten sie Manschetten aus Leder und Metall, doch Call konnte nicht erkennen, ob sie etwas Besonderes oder reine Mode-Accessoires waren.
Der größte Magier, ein breitschultriger Mann mit Hakennase und wirren Haaren mit silbernen Strähnen, trat vor und wandte sich an die Familien auf den Tribünen.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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