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Es sollte ein romantischer Urlaub zu zweit werden: Endlich wollte Magnus Bane, der charismatische Hexenmeister von Brooklyn, etwas traute Zweisamkeit mit seiner großen Liebe, dem Schattenjäger Alec Lightwood, genießen. Aber kaum in Paris angekommen, erfahren die beiden, dass ein dunkler Dämonenkult die Welt ins Chaos zu stürzen droht. Um dessen mysteriösem Anführer das Handwerk zu legen, begeben sie sich auf eine gefährliche Jagd quer durch Europa, bei der Freund und Feind kaum noch auseinanderzuhalten sind. Magnus und Alec müssten einander blind vertrauen – doch dunkle Geheimnisse stellen die Beziehung der beiden auf eine harte Probe …
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Seitenzahl: 574
Buch
Magnus Bane, der charismatische Oberste Hexenmeister von Brooklyn, wollte eigentlich nur mal ganz normal in Urlaub fahren. An seiner Seite der junge Schattenjäger Alec Lightwood, dessen Herz er endlich gegen alle Widerstände erobert hat. Aber kaum haben sie in Paris ihr erstes Quartier bezogen, erreichen Magnus beunruhigende Nachrichten über einen dunklen Kult namens »Die Blutrote Hand«, der Dämonen verehrt und mit schwarzer Magie die Welt ins Chaos zu stürzen droht. Ein Kult, den Magnus einst selbst gegründet hatte – aus einem Scherz heraus. Doch aus Scherz wurde bitterer Ernst, und auf einem Wettlauf quer durch Europa müssen Magnus und Alec dem neuen Anführer der Blutroten Hand nun das Handwerk legen. Eine gefährliche Jagd, bei der Freund und Feind kaum noch auseinanderzuhalten sind. Magnus und Alec müssten einander eigentlich blind vertrauen – doch dunkle Geheimnisse stellen die Beziehung der beiden auf eine harte Probe …
Weitere Informationen zu Autorin und Autor
sowie zu den lieferbaren Titeln von Cassandra Clare im Goldmann Verlag finden Sie am Ende des Buches.
Cassandra ClareWesley Chu
Die roten Schriftrollen
Die Ältesten Flüche
BUCHEINS
Roman
Deutsch von Franca Fritz und Heinrich Koop
Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »The Red Scrolls of Magic« bei Margaret McElderry Books, an imprint of Simon & Schuster Children’s Publishing Division, New York.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.Deutsche Erstveröffentlichung März 2020Copyright © der Originalausgabe 2019 by Cassandra Clare, LLCCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenRedaktion: Waltraud HorbasUmschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München, unter Verwendung eines Entwurfs von Nicholas Sciacca, © 2020 by Simon & Schuster, Inc.Umschlagmotiv: © 2020 by Cliff NielsenTH · Herstellung: ikSatz: Mediengestaltung Vornehm GmbH, MünchenISBN: 978-3-641-25101-7V002www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz
Denn jeder verdient eine fantastische Liebesgeschichte
C. C.
Für die Liebe – das größte Abenteuer
W. C.
Unsterblichkeit der Individualität verlangen heißt eigentlich einen Irrtum ins Unendliche perpetuieren wollen.
Arthur Schopenhauer
Nun ahn ich das Rätsel deiner Einsamkeit.
William Shakespeare
TEIL I
Stadt der Liebe
In Paris kann man der Vergangenheit nicht entkommen.
Allen Ginsberg
1
Kollision in Paris
Von der Aussichtsplattform des Eiffelturms aus breitete sich die Stadt wie ein Geschenk zu Magnus Banes und Alec Lightwoods Füßen aus. Die Sterne funkelten, als wüssten sie, dass sie Konkurrenz hatten. Die Kopfsteingassen schimmerten, als wären sie aus purem Gold, und die Seine wand sich wie ein silbernes Band um eine elegante Pralinenpackung: Paris, Stadt der Boulevards und der Boheme, der Liebenden und des Louvre.
Paris war auch der Schauplatz von Magnus’ peinlichsten Pannen, planlosesten Projekten und einiger katastrophaler Romanzen. Doch die Vergangenheit spielte jetzt keine Rolle.
Denn dieses Mal beabsichtigte Magnus, alles richtig zu machen. Während seiner vierhundert Jahre langen Streifzüge durch die Welt hatte er eines gelernt: Wohin auch immer die Reise führte, die Reisebegleitung war von entscheidender Bedeutung. Er blickte über den kleinen Tisch hinweg zu Alec, der das Glitzern und den Glanz der Stadt ignorierte und stattdessen Ansichtskarten an seine Familie schrieb. Der Anblick entlockte Magnus ein Lächeln.
Jedes Mal wenn er eine Karte geschrieben hatte, setzte Alec Wünschte, du wärst hier darunter. Und jedes Mal schnappte Magnus sich die Karte und krakelte schwungvoll Eigentlich nicht! daneben.
Alec beugte sich über den Tisch und verfasste die nächste Karte. Über seine muskulösen Arme erstreckten sich Runenmale, von denen eines an seiner Kehle, direkt unterhalb des markanten Kiefers, bereits zu verblassen begann. Eine Locke seiner ständig zerzausten schwarzen Haare fiel ihm in die Augen, und Magnus verspürte den Drang, den Arm auszustrecken und die Strähne beiseitezuschieben. Doch er hielt sich zurück. Gelegentlich reagierte Alec auf den Austausch von Zärtlichkeiten in der Öffentlichkeit mit Verlegenheit. Zwar mochten hier keine anderen Schattenjäger anwesend sein, aber die Irdischen akzeptierten solche Gesten ebenso wenig – auch wenn Magnus sich noch so sehr wünschte, dass es anders wäre.
»Und, bist du mit tiefgründigen Gedanken beschäftigt?«, fragte Alec.
Magnus lachte spöttisch. »Ich bemühe mich, das zu vermeiden.«
Es war wichtig, das Leben zu genießen – doch manchmal musste man selbst dafür zunächst Arbeit investieren. Die Planung ihrer Europareise hatte einige Herausforderungen mit sich gebracht, und Magnus war gezwungen gewesen, ganz allein eine Reihe brillanter Ausflüge zu organisieren. Er konnte sich nur ansatzweise ausmalen, wie ein Telefonat mit einer Reiseagentur ausgefallen wäre, der er seine ziemlich einzigartigen Anforderungen schilderte.
»Wohin soll’s denn gehen?«, würde die Reisebüroangestellte das Gespräch beginnen.
»In den ersten Urlaub mit meinem neuen Freund«, würde Magnus erwidern, da es für ihn noch immer ungewohnt war, der Welt von seiner Beziehung zu Alec erzählen zu können. Außerdem gab er gern an. »Ganz neuer Freund. So neu, dass uns noch dieser typische Neuwagengeruch anhaftet.«
So neu, dass sie noch immer den Rhythmus des anderen lernten – jeder Blick und jede Berührung ein Schritt in ein Territorium, das wundervoll und zugleich fremd war. Manchmal ertappte Magnus sich dabei, dass er Alec betrachtete, oder dass Alec ihn ansah, mit einer Mischung aus Aufregung und Erschrecken – so als hätten sie etwas entdeckt, das unerwartet, aber unendlich begehrenswert war. Noch waren sie einander nicht sicher, aber sie sehnten sich sehr danach.
Zumindest galt das für Magnus.
»Es handelt sich um eine klassische Liebesgeschichte«, würde er der Angestellten erklären. »Ich habe ihn auf einer Party angemacht, er hat mich zum Essen eingeladen, danach haben wir Seite an Seite in einer gewaltigen magischen Schlacht zwischen Gut und Böse gekämpft, und jetzt sind wir urlaubsreif. Das Problem ist nur, dass er ein Schattenjäger ist.«
»Er ist was, bitte?«, würde seine imaginäre Gesprächspartnerin fragen.
»Ach, Sie wissen schon: Vor vielen, vielen Jahren, als die Welt von Dämonen überrannt wurde … Am besten stellen Sie sich ein Szenario wie am Schwarzen Freitag vor, nur mit mehr Blut und ein paar Verzweiflungsschreien weniger. Und wie es den Edlen und Wahrhaftigen so oft in Zeiten der Not widerfährt – also mir natürlich nie –, stieg ein Engel vom Himmel herab. Dieser Engel verlieh seinen auserkorenen Kriegern und deren Nachfahren himmlische Kräfte, um die Menschheit zu schützen. Außerdem spendierte er ihnen ein geheimes Heimatland – schließlich war der Erzengel Raziel immer schon ziemlich großzügig. Und seine Krieger, die Schattenjäger, tragen diesen Kampf bis heute aus: unsichtbare Beschützer, heilig und rechtschaffen. Quasi der Inbegriff von ›Edel sei der Mensch, hilfreich und gut‹. Und das ist unglaublich nervig, glauben Sie mir. Denn sie sind tatsächlich hilfreich und gut. Jedenfalls hilfreicher und besser als ich, der ich mich mit Fug und Recht als Dämonenbrut bezeichnen darf.«
Nicht einmal Magnus konnte sich vorstellen, was die Reisebüroangestellte darauf antworten würde. Vermutlich würde sie nur noch ein verwirrtes Wimmern von sich geben.
»Und ich hatte noch etwas anderes vergessen zu erwähnen, glaube ich«, würde Magnus fortfahren. »Es gibt neben den Schattenjägern noch diverse andere Lebewesen, zum Beispiel Schattenweltler. Alec ist das Kind eines Engels und der Sohn einer der ältesten Familien in Idris, dem Heimatland der Nephilim. Ich bin mir sicher, dass seine Eltern nicht begeistert gewesen wären, wenn er New York mit einem Elben, Vampir oder Werwolf unsicher gemacht hätte. Und ich bin mir genauso sicher, dass sie jeden dieser Schattenweltler einem Hexenmeister bei Weitem vorgezogen hätten. Meinesgleichen gilt als die gefährlichste und fragwürdigste Gruppe in der Schattenwelt. Wir sind die Kinder von Dämonen, und ich bin der unsterbliche Sohn eines berühmt-berüchtigten Dämonenfürsten – auch wenn ich diese Tatsache meinem Freund gegenüber möglicherweise noch nicht erwähnt habe. Achtbare Schattenjäger sollten jemanden wie mich nicht mit nach Hause bringen und Mom und Dad vorstellen. Denn ich habe eine Vergangenheit. Ich habe sogar mehrere Vergangenheiten. Und davon abgesehen sollten anständige Schattenjägerjungs überhaupt keinen festen Freund haben oder mit nach Hause bringen.«
Aber genau das hatte Alec getan. Er hatte in der Halle seiner Vorfahren und vor den Augen aller dort versammelter Nephilim Magnus mitten auf den Mund geküsst. Die größte und beste Überraschung in Magnus’ langem Leben.
»Vor Kurzem haben wir in einem gewaltigen Krieg gekämpft und dadurch den Untergang der Menschheit verhindert. Nicht dass die Menschen uns dafür danken würden. Denn sie ahnen nichts von unserer Existenz. Wir haben weder Ruhm geerntet noch irgendwelche finanziellen Ausgleiche dafür erhalten, aber Verluste erlitten, die sich mit Worten nicht beschreiben lassen. Alec hat seinen Bruder verloren und ich einen sehr guten Freund. Und jetzt könnten wir beide wirklich eine kleine Auszeit brauchen. Ich fürchte allerdings, Alecs Vorstellung davon, sich selbst etwas zu gönnen, besteht darin, sich ein neues Wurfmesser zuzulegen. Ich möchte etwas Schönes für ihn organisieren, das wir gemeinsam genießen können. Am liebsten möchte ich ihn für eine Weile aus unserem chaotischen Leben herausholen, damit wir gemeinsam erkunden können, ob und auf welche Weise wir in der Lage sind, wirklich zusammen zu sein. Hätten Sie da vielleicht ein paar geeignete Reiseziele im Angebot?«
Selbst in Magnus’ Vorstellung war das der Moment, in dem die Reisebüroangestellte den Hörer auflegte.
Nein – Magnus war gezwungen gewesen, eine ausgesprochen romantische Europareise ganz allein auf die Beine zu stellen. Aber schließlich war er Magnus Bane, glamourös und geheimnisvoll. Selbstverständlich konnte er einen derartigen Trip auf stilvolle Weise organisieren. Ein von Engeln auserwählter Krieger und ein distinguierter Dämonensohn, die sich liebten und sich auf eine Abenteuerreise durch Europa machen wollten – was konnte da schon schiefgehen?
Apropos stilvoll: Magnus veränderte den Sitz seiner purpurroten Baskenmütze, sodass sie verwegen auf seinem Kopf thronte. Bei dieser Bewegung schaute Alec auf … und starrte ihn an.
»Möchtest du nicht vielleicht doch eine Baskenmütze haben?«, fragte Magnus. »Ein Wort genügt, da ich zufälligerweise eine ganze Auswahl an Baskenmützen bei mir trage. Das gesamte Farbenspektrum. Ich bin ein wandelnder Baskenmützenladen, sozusagen.«
»Auch dieses Mal passe ich, was die Baskenmütze betrifft«, antwortete Alec. »Trotzdem danke für das Angebot.« Seine Mundwinkel zuckten, und auf seinem Gesicht breitete sich ein schüchternes, aber aufrichtiges Lächeln aus.
Magnus stützte das Kinn auf die Hände. Er wollte diesen Augenblick mit Alec genießen – diesen Moment unter dem funkelnden Sternenhimmel, der so voller Verheißungen war – und ihn sich später, viele Jahre in der Zukunft, liebevoll ins Gedächtnis rufen. Zumindest hoffte er, dass ihm die Erinnerung an diesen Abend keinen Kummer bereiten würde.
»Woran denkst du?«, fragte Alec. »Ich meine, jetzt mal im Ernst.«
»Im Ernst?«, erwiderte Magnus. »Ich denke an dich.«
Alec wirkte verblüfft angesichts der Vorstellung, dass Magnus tatsächlich an ihn denken könnte. Er war sowohl leicht als auch extrem schwer zu überraschen. Schließlich durfte man das Sehvermögen und die Reflexe der Nephilim nicht unterschätzen. Alec kam Magnus immer zuvor – egal ob es darum ging, dass irgendjemand um eine Ecke bog, oder um eine Situation im Bett, das sie miteinander teilten … nur zum Schlafen, zumindest vorläufig, bis oder falls Alec jemals mehr wollte. Und dennoch konnte etwas so Geringes wie das Wissen, dass Magnus an ihn dachte, ihn völlig überrumpeln.
Es war höchste Zeit für eine richtige Überraschung für Alec, dachte Magnus. Und zufälligerweise hatte er eine parat.
Paris war der erste Zielort ihrer Reise. Möglicherweise war es ja ein Klischee, einen romantischen Urlaub in Europa in der Stadt der Liebe zu beginnen. Aber Magnus war davon überzeugt, dass ein Klassiker nicht umsonst ein Klassiker war. Alec und er hatten inzwischen fast eine Woche hier verbracht, und Magnus hatte das Gefühl, dass es Zeit wurde, der Reise ihr ganz persönliches gewisses Etwas zu verleihen.
Nachdem Alec die letzte Ansichtskarte geschrieben hatte, streckte Magnus die Hand danach aus, ließ sie dann aber sinken. Er las, was Alec geschrieben hatte, und musste lächeln, entzückt und überrascht.
Auf der Karte an seine Schwester hatte Alec Wünschte, du wärst hier geschrieben und dann selbst hinzugefügt: Eigentlich nicht! Jetzt schenkte er Magnus ein kurzes Grinsen.
»Bereit für das nächste Abenteuer?«, fragte Magnus.
Alec machte zwar einen interessierten Eindruck, doch er erwiderte: »Du meinst den Besuch im Cabaret? Unsere Eintrittskarten sind für die Show um neun Uhr. Wir sollten herausfinden, wie lange wir brauchen werden, um von hier zum Moulin Rouge zu kommen.«
Es war offensichtlich, dass Alec nie zuvor eine richtige Urlaubsreise unternommen hatte. Er versuchte ständig, jede Minute ihres Aufenthalts so zu planen, als würden sie in einen Kampf ziehen.
Lässig wedelte Magnus mit der Hand, als wollte er eine Fliege verscheuchen. »Im Zweifelsfall bleibt genügend Zeit für die Spätvorstellung. Aber dreh dich mal um.«
Er deutete über die Schulter des Schattenjägers, und Alec folgte seiner Aufforderung.
Ein violett-blau gestreifter Heißluftballon trieb auf den Eiffelturm zu und schwankte im Seitenwind. Statt des Korbes hing unter dem Ballon eine hölzerne Plattform an vier Seilen, auf der ein Tisch und zwei Stühle standen. Der Tisch war für zwei Personen gedeckt, und in der Mitte ragte eine Rose in einer schmalen Vase auf, flankiert von einem dreiarmigen Kerzenständer. Allerdings blies der starke Wind die Kerzen ständig aus. Genervt schnippte Magnus mit den Fingern, woraufhin alle drei Kerzen sofort wieder entzündet wurden.
»Äh«, setzte Alec an, »kannst du denn einen Heißluftballon fliegen?«
»Selbstverständlich!«, verkündete Magnus. »Hab ich dir denn noch nicht erzählt, wie ich damals einen Heißluftballon gestohlen habe, um die französische Königin zu retten?«
Alec grinste, als hätte Magnus einen Scherz gemacht. Magnus erwiderte das Lächeln. Ehrlich gesagt hatte Marie Antoinette sich als ziemliche Nervensäge entpuppt.
»Es ist nur so …«, setzte Alec nachdenklich an. »Ich habe dich noch nie ein Auto fahren sehen.«
Er stand auf, um den Ballon zu bewundern, der dank Zauberglanz für die Augen der Irdischen unsichtbar war. Sie hätten lediglich sehen können, wie Alec ernst in die Luft starrte.
»Selbstverständlich kann ich Auto fahren. Ich kann sogar fliegen und darüber hinaus jedes andere denkbare Fahrzeug steuern. Ich werde den Ballon ganz bestimmt nicht gegen einen Schornstein krachen lassen«, protestierte Magnus.
»Aha«, erwiderte Alec stirnrunzelnd.
»Du machst einen gedankenverlorenen Eindruck«, bemerkte Magnus. »Denkst du darüber nach, wie glamourös und romantisch dein Freund ist?«
»Ich überlege gerade, wie ich dich retten kann, wenn wir mit dem Ballon gegen einen Schornstein krachen«, antwortete Alec.
Während er an Magnus vorbeiging, hielt er kurz inne und schob ihm eine einzelne Haarsträhne aus der Stirn. Seine Berührung war leicht und sanft und eher beiläufig, als wäre er sich seiner Geste überhaupt nicht bewusst. Und Magnus war gar nicht bewusst gewesen, dass ihm die Haare in die Stirn gefallen waren.
Magnus senkte den Kopf und lächelte. Es war ein seltsames Gefühl, dass sich da jemand auf einmal um ihn kümmerte, aber er konnte sich durchaus vorstellen, sich daran zu gewöhnen.
Mithilfe von Magie lenkte er die Aufmerksamkeit der Irdischen von ihnen ab, nutzte dann seinen Stuhl als Tritt und kletterte auf die hin und her schwingende Plattform. In dem Moment, in dem er sie betrat, fühlte es sich an, als hätte er festen Boden unter den Füßen. Er streckte Alec die Hand entgegen. »Vertrau mir.«
Alec zögerte einen Augenblick, nahm dann aber Magnus’ Hand. Seine Finger waren kräftig, und er schenkte ihm ein hinreißendes Lächeln. »Das tue ich.«
Er folgte Magnus und schwang sich leichtfüßig über das Geländer hinweg hinauf auf die Plattform. Gemeinsam ließen sie sich an dem gedeckten Tisch nieder, während der Ballon sich wie ein Ruderboot auf rauer See ungesehen vom Eiffelturm entfernte. Wenige Sekunden später schwebten sie hoch über der Skyline der französischen Hauptstadt, die sich in jede Richtung unter ihnen erstreckte.
Magnus beobachtete, wie Alec Paris aus dreihundert Meter Höhe betrachtete. Magnus hatte sich schon zuvor verliebt, und nicht jede seiner Beziehungen hatte glücklich geendet. Man hatte ihn verletzt, doch er hatte gelernt, den Kummer zu überwinden. Nicht nur einmal, sondern viele Male.
Manche Liebhaber hatten ihm mitgeteilt, dass sie ihn einfach nicht ernst nehmen könnten, dass er furchterregend sei, dass er zu überwältigend sei, dass er nicht genug sei. Möglicherweise würde Magnus Alec enttäuschen. Sehr wahrscheinlich sogar.
Doch falls Alecs Gefühle für ihn nicht von Dauer waren, dann wollte Magnus wenigstens dafür sorgen, dass er sich später gern an diese Reise zurückerinnerte. Er hoffte, ihre gemeinsame Zeit würde vielleicht das Fundament einer festen Beziehung bilden. Aber wenn dieser Europaausflug das Einzige war, was ihnen blieb, dann würde Magnus alles Erdenkliche tun, damit jeder Augenblick die Erinnerung wert war.
Der glitzernde Schein des Eiffelturms verschwand am Horizont. Bei seiner Errichtung hatte niemand angenommen, dass dieses Bauwerk besonders lange bestehen würde. Und dennoch stand es bis heute – ein strahlendes Wahrzeichen der Stadt.
Plötzlich ergriff eine kräftige Windbö die Plattform, woraufhin sie in Schräglage geriet und der Ballon fünfzehn Meter in die Tiefe sackte. Die Plattform drehte sich unkontrolliert im Kreis, bis Magnus eine weit ausholende Handbewegung machte und der Ballon sich fing.
Alec schaute mit leicht gerunzelter Stirn zu ihm hinüber, die Hände um die Armlehnen seines Stuhls geklammert. »Und, wie bedient man dieses Ballonding nun?«
»Keine Ahnung!«, erwiderte Magnus fröhlich. »Ich habe vor, ihn mithilfe von Magie zu steuern!«
Der Heißluftballon strich mit wenigen Zentimetern Abstand über den Triumphbogen, bog scharf ab und steuerte dann auf die Gebäude des Louvre zu, denen sie gefährlich nahe kamen.
Magnus fühlte sich keineswegs so sorglos, wie er sich gern gegeben hätte. Es war ein ziemlich windiger Tag, und es kostete ihn sehr viel mehr Mühe, als er zugeben wollte, den Ballon aufrecht in die gewünschte Richtung zu steuern und ihn dazu auch noch vor den Augen der Irdischen zu verbergen. Außerdem musste er nebenher noch das Abendessen servieren. Und die Kerzen ständig wieder entzünden.
Romantik war verdammt viel Arbeit.
Unter ihnen hingen dunkle Blätter von den Ziegelsteinmauern am Seineufer, und Straßenlaternen warfen ihr blaues, rosa- und orangefarbenes Licht auf die weiß gestrichenen Gebäude und engen Kopfsteingassen. Auf der anderen Seite des Ballons befanden sich die Tuilerien, deren rundes Wasserbecken wie ein Auge zu ihnen hochstarrte, und die Glaspyramide des Louvre, aus der ein roter Lichtstrahl hervordrang. Magnus musste plötzlich an die Pariser Kommune denken, die die Tuilerien niedergebrannt hatte. Er erinnerte sich an die aufsteigende Asche und das Blut an der Guillotine. Paris war eine Stadt, in der lange Jahrhunderte und großes Leid ihre Spuren hinterlassen hatten. Doch Magnus hoffte, durch Alecs unverfälschten Blick die Metropole wieder mit neuen Augen betrachten zu können.
Er schnippte mit den Fingern, woraufhin eine Flasche in einem Eiskübel neben dem Tisch auftauchte. »Champagner?«
Alec sprang von seinem Stuhl hoch. »Magnus, siehst du die Rauchwolke dort unten? Ist das ein Feuer?«
»Dann möchtest du also keinen Champagner?«
Der Schattenjäger zeigte auf eine Straße, die parallel zur Seine verlief. »Dieser Rauch hat irgendetwas Merkwürdiges an sich: Er treibt gegen den Wind.«
Magnus wedelte mit seinem Champagnerglas. »Nichts, was die pompiers nicht löschen könnten.«
»Und jetzt springt der Rauch über die Dächer. Da, gerade ist er nach rechts abgebogen … und versteckt sich hinter einem Schornstein.«
Magnus hielt inne. »Wie bitte?«
»Der Rauch ist gerade über die Rue des Pyramides gesprungen.« Alec spähte in die Ferne.
»Du erkennst die Rue des Pyramides von hier oben?«
Alec warf Magnus einen überraschten Blick zu. »Ich habe mir vor unserer Reise den Stadtplan sorgfältig eingeprägt«, erklärte er. »Zur Vorbereitung.«
Seine Worte erinnerten Magnus wieder daran, dass Alec sich auf seinen Urlaub so vorbereitet hatte wie auf eine Schattenjägermission. Denn dies war nun mal sein erster Urlaub. Nachdenklich betrachtete Magnus den dichten schwarzen Rauch, der sich vor dem Abendhimmel abzeichnete, und hoffte, dass Alec sich irrte und sie wieder zu ihrem romantischen Abendessen zurückkehren konnten. Aber leider hatte Alec sich nicht getäuscht: Die Rauchwolke war zu schwarz und zu kompakt. Außerdem flatterten ihre Rauchfahnen wie riesige Tentakel im Wind und ignorierten dabei die Tatsache, dass der Wind sie eigentlich fortwehen und auflösen müsste. Und plötzlich sah Magnus, wie innerhalb des Rauchs etwas aufleuchtete.
Alec stand am Rand der Plattform und lehnte sich beunruhigend weit hinaus. »Da sind zwei Personen, die das Rauch… ding jagen. Ich glaube, sie haben Seraphklingen in den Händen. Das sind Schattenjäger.«
»Hurra, Schattenjäger«, murmelte Magnus. »Anwesende sind von meinem sarkastischen Hurra natürlich ausgenommen.«
Er stand auf und ließ den Ballon mit einer entschlossenen Geste rasch, aber kontrolliert sinken.
Trotz seiner Enttäuschung war ihm bewusst, dass sie sich die Sache näher ansehen mussten. Seine Augen waren zwar nicht so gut wie Alecs runenverstärktes Sehvermögen, aber unter dem Rauch konnte er zwei dunkle Gestalten erkennen, die über die Dächer von Paris liefen, dem Rauchwesen dicht auf den Fersen.
Magnus machte das Gesicht einer Frau aus, das zum Himmel hochblickte und wie eine Perle schimmerte. Ein langer Zopf wippte beim Laufen gegen ihren Rücken wie eine goldene und silberne Schlange. Die beiden Schattenjäger liefen extrem, fast schon verzweifelt schnell.
Der Rauch waberte an einer Reihe von Bürogebäuden vorbei, überquerte eine enge Gasse und verteilte sich dann über das Dach eines Mietshauses, wobei er den Oberlichtern, Lüftungsschächten und Leitungen sorgfältig auswich. Gleichzeitig setzten ihm die Schattenjäger noch immer nach und durchtrennten jeden schwarzen Fangarm, der ihnen zu nahe kam. Im Inneren des Rauchwirbels leuchteten zahlreiche gelbe Lichter wie Glühwürmchen, die nur im Duo flogen.
»Iblis-Dämonen«, murmelte Alec, griff nach seinem Bogen und nockte einen Pfeil ein. Als Magnus wenige Stunden zuvor erkannt hatte, dass Alec seine Waffe zu ihrem Diner mitnehmen wollte, hatte er gestöhnt. »Was kann es am Eiffelturm schon geben, das du unbedingt mit Pfeil und Bogen erlegen musst?«, hatte er gefragt. Doch Alec hatte nur sanft gelächelt und die Waffe mit kurzem Achselzucken festgeschnallt.
Magnus würde sich hüten, Alec vorzuschlagen, diese ärgerliche, potenziell katastrophale Dämonenangelegenheit den Pariser Schattenjägern allein zu überlassen. Alec war von Natur aus nicht in der Lage, sich von einer Notsituation abzuwenden – und das war schließlich eine seiner attraktivsten Eigenschaften.
Der Ballon kam den Dächern immer näher, und die Plattform schwankte gefährlich, während Magnus Schornsteine, Oberleitungen und Aufzugaufbauten umschiffte.
Der Wind war erschreckend stark. Magnus hatte das Gefühl, als würde er gegen den gesamten Himmel kämpfen. Der Ballon wackelte, und die Plattform schwang von einer Seite zur anderen, sodass der Eiskübel umkippte. Magnus gelang es gerade noch, einen Zusammenstoß mit einem hohen Schornsteinkasten zu vermeiden, als er aus dem Augenwinkel sah, wie die Champagnerflasche über den Rand rollte … und Sekunden später auf dem Dach unter ihnen in einer Fontäne aus Glasscherben und Schaum explodierte.
Er öffnete den Mund, um die traurige Verschwendung des edlen Getränks zu beklagen.
»Tut mir leid um den Champagner«, sagte Alec in diesem Moment. »Ich hoffe, das war nicht eine deiner hochpreisigsten Flaschen.«
Magnus lachte. Alec war ihm ein weiteres Mal zuvorgekommen.
»Nein, für den Genuss auf einer baumelnden Plattform in dreihundert Meter Höhe bringe ich nur die mittelpreisigen Flaschen mit.«
Bei der nächsten Bö glich er den Windstoß zu sehr aus, woraufhin die Plattform gefährlich in die andere Richtung schwang, wie ein Pendel, und fast ein Loch in eine riesige Reklametafel gerissen hätte. Hastig justierte er den Ballon und warf dann einen Blick nach unten.
Der Dämonenschwarm hatte sich aufgeteilt und die beiden Schattenjäger auf dem Dach umzingelt. Die beiden Unglücksraben saßen in der Falle, obwohl sie mutig weiterkämpften. Die blonde Frau bewegte sich wie ein in die Enge getriebener Blitz. Der erste Iblis-Dämon, der sie angriff, wurde von ihrer Seraphklinge niedergemetzelt – genau wie der zweite und dritte. Aber es waren einfach zu viele. Magnus sah, wie ein vierter Dämon mit glühenden Augen auf die Schattenjägerin zustürmte.
Rasch warf er Alec einen Blick zu, und Alec nickte. Es kostete Magnus fast all seine magischen Kräfte, den Heißluftballon absolut ruhig zu halten, wenigstens für einen kurzen Moment. Alec schoss den ersten Pfeil ab.
Der Iblis-Dämon erreichte die Schattenjägerin nicht mehr. Der Glanz verschwand aus seinen glühenden Augen, während sein rauchiger Körper sich auflöste und nichts außer einem Pfeil zurückließ, der sich in die Dachpappe gebohrt hatte. Drei weitere Dämonen erlitten ein ähnliches Schicksal.
Alecs Hände schossen Pfeil um Pfeil so schnell in den Schwarm unter ihnen, dass seine Finger fast zu verschwimmen schienen. Jedes Mal, wenn sich ein glühendes Augenpaar einem der beiden Schattenjäger näherte, wurde der dazugehörige Dämon bereits von einem Pfeil getroffen, bevor er sie erreichte.
Es war ein Jammer, dass Magnus seine Aufmerksamkeit auf die Steuerung des Ballons im Kampf gegen die Elemente konzentrieren musste, statt seinen Freund zu bewundern.
Nach wenigen Minuten wandte sich die Nachhut des Dämonenschwarms der neuen Bedrohung am Himmel über ihnen zu. Drei Iblis beendeten ihren Angriff auf die Schattenjäger und schwärmten stattdessen in Richtung Ballon aus. Zwei wurden von Pfeilen getroffen, bevor sie auf die Plattform gelangen konnten, aber der dritte war selbst für Alec zu schnell. Der Dämon stürzte sich mit weit aufgerissenem Maul und scharfen schwarzen Zähnen auf Magnus’ Freund.
Doch Alec hatte den Bogen bereits beiseitegeworfen und eine Seraphklinge gezückt. »Puriel«, flüsterte er, woraufhin Engelsmacht die Waffe aufleuchten ließ. Die Runenmale auf seinem Körper schimmerten, als er dem Dämon die Klinge in den Rumpf rammte und ihm anschließend den Kopf abtrennte. Sofort zerfiel der Iblis zu schwarzer Asche.
Eine weitere Dämonengruppe erreichte die Plattform und erlitt innerhalb von Sekunden das gleiche Schicksal. Das war nun einmal Alecs Essenz als Schattenjäger … der Zweck seines Daseins. Sein Körper glich einer Waffe, anmutig und schnell – ein Instrument zur Vernichtung von Dämonen und zum Schutz seiner Lieben. Und er war in beidem sehr gut.
Magnus’ Fähigkeiten lagen eher im Bereich Magie und Mode. Er fing einen Dämon in einem Stromnetz ein und hielt einen anderen Iblis mit einer unsichtbaren Barriere aus Wind auf Abstand. Alec jagte einen Pfeil in die zweite Kreatur und sandte danach den noch verbliebenen Dämon in seine Dimension zurück. Die blonde Schattenjägerin und ihr Begleiter standen auf dem Dach, in einer Wolke aus Asche, und schauten sich etwas verloren um – sämtliche Dämonen waren erledigt.
»Gern geschehen!«, rief Magnus ihnen von der Plattform aus zu und winkte. »Und noch dazu vollkommen kostenlos!«
»Magnus«, sagte Alec. »Magnus!«
Der ernsthaft beunruhigte Ton in Alecs Stimme machte Magnus bewusst, dass sich der Wind seiner Kontrolle entzogen hatte – noch bevor er spürte, wie die Plattform unter seinen Füßen schlingerte. Magnus versuchte noch eine letzte verzweifelte Geste mit der Hand, doch vergebens. Alec stürmte zu ihm und schlang seinen Körper schützend um ihn.
»Bereithalten für den Aufpra…«, brüllte Alec ihm ins Ohr, als der Ballon auch schon in die Tiefe stürzte und in eine Theatermarkise krachte, auf der mit gelben Glühbirnen der Name des Stücks prangte: CARMEN.
Magnus legte in allen Aspekten seines Lebens großen Wert darauf, stets einen spektakulären Eindruck zu hinterlassen.
Und das war ihm mit diesem Absturz definitiv gelungen.
2
Dein Name am Sternenhimmel
Genau in dem Moment, als die Plattform in den Buchstaben R zu krachen drohte, packte Alec Magnus am Ärmel, riss ihn fast grob an sich und stürzte sich mit ihm zusammen über den Rand. Der glitzernde Himmel und die glitzernde Stadt tauschten ihre Plätze, als Magnus’ Welt auf den Kopf gestellt wurde. Er verlor vollkommen die Orientierung, wusste nicht mehr, wo oben und unten war – bis das Unten sich durch einen heftigen Aufprall bemerkbar machte. Einen Moment wurde alles um ihn herum dunkel … und dann fand er sich auf einem Rasen wieder, in Alecs Armen.
Magnus blinzelte gegen die Sternchen in seinen Augen an und sah gerade noch, wie der Ballon in die Markise krachte und eine gewaltige Explosion aus Funken und Splittern auslöste. Die Gasflamme, die den Ballon in der Schwebe gehalten hatte, flackerte, woraufhin die Ballonhülle darüber zusammensackte und die Markise Feuer fing.
Inzwischen liefen bereits Leute von allen Seiten heran und gafften. Das charakteristische Miii-Uuuu der Pariser Polizeisirenen ertönte und wurde rasch lauter. Manche Dinge ließen sich nun mal nicht mit Zauberglanz kaschieren.
Kräftige Hände zogen Magnus auf die Beine. »Alles in Ordnung?«
Überraschenderweise war er tatsächlich unversehrt. Ein Sturz aus absurder Höhe, ohne sich zu verletzen, zählte offenbar zu den zahlreichen Fähigkeiten eines Schattenjägers. Der besorgte Ausdruck auf Alecs Gesicht traf Magnus mehr als der eigentliche Sturz. Und er verspürte den Drang, über seine Schulter zu schauen, um herauszufinden, wem dieser Blick wirklich galt – irgendwie konnte er kaum glauben, dass Alec ihn so ansah.
Magnus hatte dem Tod im Lauf der Jahrhunderte immer wieder von der Schippe springen können – aber er war es nicht gewöhnt, dass sich jemand wegen dieser Sprünge solche Sorgen machte.
»Kein Grund zur Klage«, antwortete er und zupfte seine Manschetten zurecht. »Wenn ich mich beschweren würde, dann nur, um die Aufmerksamkeit eines gewissen attraktiven Gentlemans zu erregen.«
Zum Glück wurde Carmen an diesem Abend nicht aufgeführt, daher hatte es keine Verletzten gegeben. Magnus und Alec rappelten sich auf und starrten auf das Chaos um sie herum. Dankenswerterweise waren sie für die versammelte Menge unsichtbar, die sich bereits über den scheinbar unbemannten Heißluftballon zu wundern begann. Plötzlich herrschte einen Moment Stille, dann kippte die Markise und stürzte quietschend zu Boden, da das Feuer sich durch die Stützträger gefressen hatte. Funken und eine neue Rauchwolke stiegen in die Luft. Einige Zuschauer wichen vorsichtig zurück, hielten aber weiterhin ihre Kameras auf das Geschehen gerichtet.
»Ich muss zugeben, dass dieser Abend nicht ganz nach Plan verlaufen ist«, räumte Magnus ein und zog sein zerrissenes T-Shirt gerade.
Alec wirkte niedergeschlagen. »Tut mir leid, dass ich uns den Abend verdorben habe.«
»Unsinn, du hast gar nichts verdorben. Der Abend ist noch lange nicht vorbei«, erwiderte Magnus. »Das Theater wird eine großzügige Geldsumme von einem unbekannten Spender erhalten, um die Schäden nach diesem wunderlichen Unfall zu beheben. Wir sind im Begriff, einen nächtlichen Spaziergang durch eine der romantischsten Städte der Welt zu unternehmen – das scheint mir ein Plan für einen ganz hervorragenden Abend zu sein. Außerdem wurde das Böse bekämpft und geschlagen, was auch nicht so schlecht ist.«
Alec runzelte die Stirn. »Eine solche Menge von Iblis-Dämonen an einem Ort ist ziemlich ungewöhnlich.«
»Wir müssen auch an das Pariser Institut denken: Schließlich sollen sie auch noch ein paar Dämonen haben, mit denen sie sich amüsieren können. Es wäre taktlos, alles Böse mit Beschlag zu belegen. Nicht zu vergessen: Wir sind im Urlaub. Carpe diem. Genieße den Tag, nicht die Dämonenjagd.«
Alec reagierte darauf mit einem Achselzucken und einem knappen Lächeln.
»Außerdem bist du einfach großartig im Umgang mit Pfeil und Bogen – was sehr, sehr anziehend wirkt«, fügte Magnus hinzu. Seiner Meinung nach musste Alec unbedingt mehr Komplimente bekommen. Bei diesen Worten zog Alec zwar eine erstaunte Miene, wirkte aber nicht unangenehm berührt. »Also gut. Als Erstes brauchen wir neue Kleidung. Wenn eines der Pariser Feenwesen mich in diesem Zustand sieht, ist mein Ruf auf Jahrhunderte ruiniert.«
»Ach, ich weiß nicht recht«, erwiderte Alec schüchtern. »Mir gefällt, wie du aussiehst.«
Magnus strahlte, ließ sich aber nicht von seinem Vorhaben abbringen. Als er sich in seiner Fantasie ausgemalt hatte, wie ihm während dieser Reise die Kleider vom Leib gerissen wurden, hatte er nicht unbedingt einen Ballonabsturz vor Augen gehabt. Also dann: Auf zur Rue Saint-Honoré, für eine schnelle Auffrischung der Garderobe.
Gemeinsam durchstöberten sie mehrere Geschäfte, die zu dieser späten Stunde noch nicht geschlossen waren oder für einen alten Kunden gern ihre Pforten öffneten. Magnus entschied sich für einen roten Samtblazer mit Paisleystickereien über einem rostroten Rüschenhemd, wohingegen Alec nicht überredet werden konnte, etwas Eleganteres anzuziehen als eine dunkel gestreifte Kapuzenjacke unter einer weiten Lederjacke mit etwas zu vielen Reißverschlüssen.
Nachdem dies erledigt war, tätigte Magnus ein paar Telefonate und konnte Alec kurz darauf voller Freude mitteilen, dass für sie im »Sommernachtstraum« – dem angesagtesten Elbenrestaurant der Stadt – ein VIP-Tisch reserviert war.
Von außen wirkte das Lokal mit seiner hübschen Fassade aus Ziegelstein und Putz eher unauffällig. Dagegen erinnerte das Interieur an eine Feengrotte: Üppiges smaragdgrünes Moos bildete eine Art Teppich unter Magnus’ und Alecs Füßen, während die unbehauenen Steine der Wände und Decke den Eindruck einer Höhle erzeugten. Ranken schlängelten sich von den Bäumen um die Tische herum, und mehrere Gäste jagten ihren Speisen nach, die sich von ihren Tellern erhoben und in Richtung Ausgang flohen.
»Ich finde es immer merkwürdig, in einem Elbenrestaurant zu essen«, erklärte Alec, während sie ihren Salat bestellten. »Ich meine, in New York mach ich das zwar andauernd, aber die dortigen Lokale kenne ich auch schon seit Ewigkeiten. Im Schattenjäger-Codex steht, dass man Elbengerichte unter gar keinen Umständen anrühren soll.«
»In diesem Lokal hier sind wir hundertprozentig sicher«, erwiderte Magnus und kaute schnell ein Salatblatt, das aus seinem Mund zu krabbeln drohte. »Oder zu neunundneunzig Prozent. Solange wir für das Essen bezahlen, gilt es nicht als Feengeschenk, sondern als ganz normale Transaktion. Und darin besteht der entscheidende Unterschied. Natürlich bewegt man sich dabei auf einem schmalen Grat, aber gilt das nicht für alles, was Feenwesen betrifft? Pass auf, dein Caprese will gerade vom Teller fliehen!«
Alec lachte und stocherte mit der Gabel auf seinen Elbensalat ein. Wieder diese schnellen Schattenjägerreflexe, dachte Magnus beeindruckt.
Magnus war bei seinen irdischen Geliebten immer vorsichtig gewesen und hatte darauf geachtet, ihre Kontakte zur Schattenwelt auf ein Minimum zu reduzieren – zu ihrer eigenen Sicherheit und für ihren Seelenfrieden. Er selbst hatte immer angenommen, dass auch die Schattenjäger ihre Kontakte zur Verborgenen Welt auf das Nötigste beschränken würden. Sie hielten sich oft abseits und bezeichneten sich weder als Irdische noch als Mitglieder der Schattenwelt – eher als eine dritte Klasse, die sich von anderen distanzierte und sich vermutlich sogar für etwas Besseres hielt. Doch Alec machte den Eindruck, als wäre er gern hier und als könnten weder Paris noch Magnus’ Welt ihn aus der Fassung bringen. Vielleicht war es ja möglich, dass Alec genauso glücklich darüber war wie Magnus, einfach mit ihm zusammen sein zu können.
Beim Verlassen des Restaurants hakte Magnus sich bei Alec unter und spürte die harte Muskulatur des Schattenjägerarms an seinem Arm. Im Gefahrenfall wäre Alec innerhalb eines Sekundenbruchteils einsatzbereit, aber in diesem Augenblick wirkte er einfach nur entspannt. Magnus drängte sich enger an ihn.
Gemeinsam bogen sie auf den Quai de Valmy, wo ihnen ein kräftiger Wind entgegenblies. Alec schlug die Kapuze hoch, schloss den Reißverschluss seiner Jacke und zog Magnus noch enger an sich. Magnus führte ihn durch das Viertel, das sich neben dem Canal Saint-Martin erstreckte. Einige Pärchen spazierten am Ufer des Kanals entlang, und direkt am Wasser hatten sich kleine Gruppen auf Picknickdecken niedergelassen. Unter die plaudernden Pariser hatte sich auch ein Wassermann mit Filzhut gemischt. Magnus und Alec schlenderten unter einer blauen Fußgängerbrücke hindurch, während auf der anderen Seite des Kanals Geigentöne erklangen, die von Trommeln begleitet wurden. Die irdischen Bewohner der Stadt würden den Perkussionisten hören können, doch nur Personen wie Magnus und Alec waren in der Lage, die Feengeigerin wahrzunehmen, die mit funkelnden Blüten im Haar um den Trommler herumhüpfte.
Kurz darauf führte Magnus Alec vom belebten Kanal fort und durch eine ruhigere Straße. Der Mond verlieh einer Gruppe gedrungener grauer Reihenhäuser einen matten Glanz, der von den Zweigen der windgepeitschten Bäume in ein Kaleidoskop von Silbertönen verwandelt wurde. Magnus überließ es dem Zufall, in welche Richtung sie bei den nächsten Kreuzungen abbogen. Er spürte, wie das Blut durch seine Adern rauschte, und fühlte sich lebendig und hellwach, wie elektrisiert. Und er hoffte, dass Alec das Gleiche empfand.
Eine kalte Bö strich über Magnus’ Nacken und bereitete ihm eine Gänsehaut. Einen Moment lang fühlte er etwas Seltsames. Ein Prickeln, ein eigenartiges Drängen, eine fremde Gegenwart. Abrupt hielt er inne und blickte über die Schulter in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
Schweigend beobachtete er die Passanten, die an ihnen vorbeiströmten. Das Gefühl war noch immer da: Augen, die ihn beobachteten, Ohren, die ihn belauschten, oder möglicherweise Gedanken, die sich auf ihn konzentrierten.
»Alles in Ordnung? Stimmt was nicht?«, fragte Alec.
Magnus erkannte, dass er sich von Alec gelöst hatte, um sich einer potenziellen Gefahr stellen zu können. Nach einem Moment schüttelte er das beklemmende Gefühl ab.
»Was sollte denn nicht in Ordnung sein?«, erwiderte er. »Schließlich bin ich mit dir zusammen.«
Er streckte die Hand aus und verschränkte seine Finger mit Alecs, wobei er dessen schwielige Handfläche fest gegen seine presste. Nachts wirkte Alec entspannter als tagsüber, vielleicht weil er sich dann besser vor den Blicken anderer verbergen konnte. Möglicherweise fühlten sich ja alle Nephilim in den Schatten wohler.
Kurz hinter dem Eingang zum Parc des Buttes-Chaumont blieb Magnus stehen. Der Lichtschein der Stadt verlieh dem Horizont einen sanften Braunton, der sich mit dem Schwarz des Nachthimmels mischte, nur durchbrochen vom Mond und einzelnen Sternen. Magnus zeigte auf eine schwach schimmernde Sternengruppe rechts von ihnen. »Das ist Bootes, der Bärenhüter, und daneben leuchten die Sternbilder Nördliche Krone und Herkules.«
»Was ist eigentlich so romantisch daran, jemandem die Sterne zu zeigen?«, fragte Alec, allerdings mit einem Lächeln. »Sieh mal, das da ist … Dave … der Jäger … und dort drüben ist der … Frosch … und … der Hubschrauber. Tut mir leid, aber ich kenne mich mit Sternbildern nicht aus.«
»Es ist deshalb so romantisch, weil man sein Wissen teilt«, sagte Magnus. »Derjenige, der die Sterne kennt, bringt demjenigen, der sie nicht kennt, etwas bei. Das ist romantisch.«
Alec sah ihn an. »Ich glaube nicht, dass es irgendetwas gibt, das ich dir beibringen könnte.« Obwohl er noch immer lächelte, versetzten seine Worte Magnus einen Stich.
»Doch, ganz bestimmt«, widersprach er. »Was beispielsweise ist das da auf deinem Handrücken?«
Alec hob seine Hand und betrachtete sie, als hätte er sie noch nie gesehen. »Das ist ein Runenmal. Diese Runen musst du doch schon zuvor gesehen haben.«
»Ich bin mit dem Grundprinzip vertraut: Du trägst eine Rune auf deine Haut auf, die dir daraufhin Kraft verleiht«, antwortete Magnus. »Aber ich habe keine Ahnung, was die Details betrifft. Klär mich mal auf. Das Runenmal auf deiner Hand ist das erste, das ein Nephilim erhält, richtig?«
»Ja«, bestätigte Alec gedehnt. »Die Voyance-Rune. Dabei handelt es sich um das erste Runenmal, das Schattenjägerkindern aufgetragen wird. So findet man heraus, ob sie Runen generell vertragen können. Außerdem bewirkt diese Rune, dass man Zauberglanz durchschauen kann. Was immer sehr nützlich ist.«
Magnus betrachtete die dunklen Konturen des Runenmals, das an ein weit geöffnetes Auge erinnerte. Zauberglanz diente zum Schutz der Schattenweltler. Aber die Nephilim mussten in der Lage sein, diesen Zauberglanz zu durchschauen, weil die Schattenwesen eine potenzielle Bedrohung darstellten.
Dachte Alec beim Anblick dieser Rune auf seiner hellen Haut nicht jedes Mal genau daran? Oder war er einfach nur zu freundlich, um es zu erwähnen? Um Magnus zu schützen, so wie beim Sturz von der Ballonplattform? Seltsam, dachte Magnus. Seltsam, aber süß.
»Und was ist mit der hier?«, fragte er und fuhr mit dem Zeigefinger über Alecs gewölbten Bizeps. Dabei bemerkte er, wie Alec angesichts der unerwartet intimen Berührung erschauderte.
Alec sah Magnus direkt in die Augen. »Eine Genauigkeitsrune«, erklärte er.
»Dann habe ich ihr also deine Fähigkeiten im Umgang mit Pfeil und Bogen zu verdanken?« Er hielt Alecs Hand noch immer und zog ihn jetzt zu sich heran, sodass sie sich in der Mitte des Parkwegs im sanften Mondlicht trafen. Dann beugte er sich vor und hauchte einen leichten Kuss auf Alecs Arm.
»Danke«, flüsterte Magnus. »Und wofür ist dieses Runenmal?«
Sein Finger strich jetzt über Alecs Hals. Alec schnappte unwillkürlich nach Luft – der einzige Laut in der Stille des Parks. Er schlang einen Arm um Magnus’ Taille und presste ihre Körper fester zusammen. Magnus konnte Alecs wild pochendes Herz durch sein Hemd spüren.
»Gleichgewicht«, brachte Alec atemlos hervor. »Diese Rune sorgt dafür, dass ich das Gleichgewicht nicht verliere.«
Magnus senkte den Kopf und berührte die silbrig helle Rune, die auf Alecs glatter Haut schon fast verblasst war, sanft mit den Lippen. Alec sog scharf die Luft ein.
Langsam fuhr Magnus mit dem Mund über die warme Haut, bis er Alecs Ohr erreichte, und murmelte: »Ich glaube nicht, dass sie funktioniert.«
»Das will ich auch gar nicht«, erwiderte Alec, ebenso leise.
Er drehte das Gesicht, sodass sein Mund auf Magnus’ Lippen traf. Und dann küsste er ihn so, wie er alles im Leben tat: so hingebungsvoll und von ganzem Herzen, dass es Magnus den Atem raubte. Magnus krallte die Finger in das weiche Leder von Alecs Jacke und sah zwischen seinen Wimpern hindurch, dass weitere Haut zum Vorschein kam. Mit einer anderen Rune, die so filigran wie eine Musiknote war und sich unter Alecs Schlüsselbein befand.
»Und was verleiht diese Rune?«, raunte er mit gedämpfter Stimme.
»Ausdauer«, krächzte Alec.
Magnus starrte ihn an. »Im Ernst?«
Ein Grinsen breitete sich auf Alecs Gesicht aus. »Ja.«
»Äh, das möchte ich jetzt ganz genau wissen«, sagte Magnus. »Du sagst das nicht nur, um sexy zu wirken?«
»Nein«, erwiderte Alec heiser und schluckte dann. »Aber es freut mich, wenn es sexy klingt.«
Magnus legte seine beringten Finger auf die nackte Haut unter Alecs Schlüsselbein und sah, wie dieser bei der Berührung mit dem kalten Metall erbebte. Dann schob er die Hand in Alecs Nacken und zog ihn wieder zu sich heran.
Und flüsterte: »Gott, ich liebe Schattenjäger.«
»Das freut mich«, sagte Alec erneut.
Sein Mund war weich und warm – ein Widerspruch zu seinen starken Händen, bis sich der Gegensatz auflöste … bis der Kuss sowohl allumfassende Wärme als auch drängende Leidenschaft versprach. Irgendwann rückte Magnus keuchend von ihm ab, weil ihm sonst keine andere Wahl geblieben wäre, als Alec mit sich hinunter ins dunkle Gras zu ziehen.
Aber das konnte er nicht machen. Alec hatte so etwas noch nie zuvor getan. Während ihrer ersten Übernachtung in Paris war Magnus in den frühen Morgenstunden aufgewacht und hatte Alec entdeckt, der hellwach im Zimmer auf und ab gelaufen war. Magnus wusste, dass Alec sich manchmal Sorgen machte, worauf er sich da eingelassen hatte. Deshalb musste die Entscheidung, ob sie weitergehen sollten, allein bei Alec liegen.
In diesem Moment fragte Alec mit angespannter Stimme: »Meinst du, wir können auf den Besuch des Cabarets verzichten?«
»Cabaret? Welches Cabaret?«, erwiderte Magnus.
Hastig liefen sie los, aus dem Park hinaus und in Richtung von Magnus’ Wohnung. Dabei hielten sie zweimal inne, weil sie sich in den engen Gassen der Stadt verlaufen hatten, und zwei weitere Male, um in anderen, schwach beleuchteten Straßen zu knutschen. Wenn Alec nicht so einen hervorragenden Orientierungssinn gehabt hätte, hätten sie bestimmt noch viel öfter umkehren müssen. Schattenjäger waren auf Reisen äußerst nützlich, dachte Magnus – in Zukunft würde er nie mehr ohne einen das Haus verlassen.
In seiner Pariser Wohnung hatte er unter anderem als Revolutionär gelebt und als schlechter Maler. Und im achtzehnten Jahrhundert hatte man ihn hier um all seine Ersparnisse gebracht. Damals war er zum ersten Mal zu Wohlstand gekommen und hatte anschließend alles verloren. Doch das war nicht das letzte Mal gewesen: Im Laufe seines Lebens hatte Magnus noch mehrfach alles verloren.
Gegenwärtig lebte er in Brooklyn, und die Pariser Wohnung stand die meiste Zeit leer. Er behielt sie jedoch, aus sentimentalen Gründen, und weil die Suche nach einem Hotelzimmer während der Pariser Modewoche schlimmer war als jede Art von Höllenqual.
Statt mühsam nach dem Hausschlüssel zu suchen, schnippte Magnus jetzt nur mit den Fingern und nutzte seine letzten Magiereserven, um sie aufschwingen zu lassen. Noch immer in einen leidenschaftlichen Kuss versunken drängten Alec und er in den Eingangsbereich, stützten sich an den Wänden ab und strauchelten vier Treppen hinauf. Die Wohnungstür flog mit einem Knall auf, woraufhin sie gemeinsam hindurchtorkelten.
Allerdings schaffte es der Samtblazer nicht mehr in die Wohnung: Alec hatte ihn Magnus schon vor der Eingangstür von den Schultern gezerrt und beiseitegeworfen. Beim Betreten des Flurs riss er ihm das Hemd auf, sodass Magnus’ Manschetten- und Perlmuttknöpfe leise klirrend auf die Holzdielen fielen. Ungeduldig öffnete Magnus den Reißverschluss an Alecs Jacke, während er ihn gegen die Sofalehne drückte und ihn in die Kissen schubste. Mit der Anmut eines Schattenjägers fiel Alec auf den Rücken und zog Magnus zu sich hinunter.
Begierig küsste Magnus die Gleichgewichtsrune und dann das Ausdauersymbol. Alecs Körper wölbte sich ihm entgegen, und seine Hände schlossen sich fester um Magnus’ Schultern.
Seine Stimme klang eindringlich, während er irgendetwas irgendetwas »Magnus« irgendetwas irgendetwas murmelte.
»Alexander«, raunte Magnus und spürte, wie dessen Körper unter ihm reagierte, sich bewegte. Dann packten Alecs Hände seine Schultern, und Magnus betrachtete ihn mit plötzlicher Sorge.
Alec blickte mit großen Augen zur Seite. »Magnus. Da drüben.«
Magnus folgte Alecs Blick und erkannte, dass sie Gesellschaft hatten. Eine Gestalt saß auf dem violetten Zweiersofa auf der anderen Seite des Couchtischs. Im Schein des schimmernden Stadtlichts, das durch die Fenster ins Zimmer fiel, konnte Magnus eine Frau ausmachen, mit einer Fülle brauner Haare, erstaunten grauen Augen und einem vertrauten, leicht amüsierten Lächeln.
Magnus räusperte sich. »Tessa?«
3
Die Blutrote Hand
Magnus, Alec und Tessa saßen gemeinsam im Wohnzimmer; im Raum herrschte eine unbehagliche Stille.
Alec war an das andere Ende des Sofas gerutscht, weit weg von Magnus – an diesem Abend lief aber auch gar nichts nach Plan.
»Tessa!«, sagte Magnus erneut, noch immer verwundert. »Welch unerwarteter Besuch! Und so ungelegen.«
Tessa setzte sich auf und nippte an ihrem Tee – ein Abbild der Ruhe und Ausgeglichenheit. Da sie zu Magnus’ besten und ältesten Freunden zählte, hätte er sich gewünscht, dass sie wenigstens ein bisschen zerknirscht wirken würde. Doch das war nicht der Fall.
»Du hast mir einmal gesagt, dass du es mir niemals verzeihen würdest, wenn wir uns in derselben Stadt aufhalten und ich dich nicht besuche.«
»Oh, ich hätte dir verziehen«, erwiderte Magnus im Brustton der Überzeugung. »Ich hätte dir dafür sogar gedankt.«
Tessa warf Alec einen Blick zu, der daraufhin errötete. Ein Lächeln umspielte Tessas Mundwinkel, aber sie versteckte es gnädigerweise schnell hinter ihrer Teetasse.
»Ich würde sagen, dann sind wir jetzt quitt«, erklärte Tessa. »Schließlich hast du mich auch mal in einer peinlichen Situation mit einem Gentleman in einem Bergverlies überrascht.«
Bei diesen Worten wurde ihr halb verstecktes Lächeln etwas unsicher. Erneut schaute sie zu Alec, der seine Haar- und Augenfarbe von längst verstorbenen Schattenjägern geerbt hatte – Schattenjäger, die Tessa einst geliebt hatte.
»Du solltest nicht zu oft daran zurückdenken«, riet Magnus ihr.
Tessa war genau wie er selbst ein Hexenwesen und daran gewöhnt, traurige Erinnerungen zu überwinden – Erinnerungen an Personen, die sie einst geliebt und verloren hatte. Sie beide hatten sich schon so oft gegenseitig getröstet. Jetzt trank Tessa noch einen Schluck Tee, und ihr Lächeln kehrte zurück, als wäre es nie weg gewesen.
»Das tue ich auch nicht«, versicherte sie. »Also …«
Alec, der das Hin und Her ihres Gesprächs verfolgte, als säße er bei einem Tennisturnier, hob die Hand. »Entschuldigt, aber wart ihr beiden mal zusammen?«
Diese Frage sorgte für eine abrupte Unterbrechung des Gesprächs. Sowohl Tessa als auch Magnus starrten Alec mit bestürzten Mienen an.
»Dich scheint die Vorstellung mehr zu schockieren als mich«, wandte Magnus sich an Tessa, »und irgendwie fühle ich mich zutiefst gekränkt.«
Tessa schenkte Magnus ein winziges Lächeln und wandte sich dann an Alec. »Magnus und ich sind seit über einhundert Jahren befreundet.«
»Okay«, sagte Alec. »Dann ist das also ein Freundschaftsbesuch?«
Seine Stimme hatte einen scharfen Unterton, der bewirkte, dass Magnus eine Augenbraue hochzog. Alec fühlte sich in Gegenwart von Fremden manchmal unbehaglich; vermutlich erklärte das seinen Tonfall. Schließlich war Magnus so offensichtlich – und fast schon peinlich – bis über beide Ohren verknallt, dass Alec doch nun wirklich keinen Grund zur Eifersucht hatte.
Tessa seufzte. Der belustigte Glanz in ihren grauen Augen erlosch. »Ich wünschte, es wäre so«, sagte sie leise. »Doch das ist leider nicht der Fall.«
Sie verlagerte ihr Gewicht, rutschte ungeschickt auf dem Zweiersofa hin und her. Magnus kniff die Augen zusammen.
»Tessa, bist du verletzt?«, fragte er.
»Nein. Nichts, was nicht von allein verheilen würde«, antwortete sie.
»Steckst du in Schwierigkeiten?«
Sie warf ihm einen langen, undurchdringlichen Blick zu.
»Nein, ich nicht – aber du«, erwiderte sie.
»Was meinst du damit?«, hakte Alec sofort in eindringlichem Ton nach.
Tessa biss sich auf die Lippe. »Magnus, kann ich mit dir unter vier Augen reden?«
»Du kannst mit uns beiden reden«, sagte Magnus. »Ich vertraue Alec.«
»Und vertraust du ihm auch mit deinem Leben?«, fragte Tessa sehr leise.
Bei jedem anderen hätte Magnus diese Frage als melodramatische Übertreibung abgetan. Aber so war Tessa nicht gestrickt. Sie meinte in der Regel das, was sie sagte.
»Ja«, bestätigte Magnus. »Mit meinem Leben.«
Trotz Magnus’ Versicherung hätten die meisten Schattenweltler in Gegenwart eines Schattenjägers niemals ein Geheimnis preisgegeben. Doch Tessa war anders. Sie hob eine abgewetzte Ledertasche vom Boden auf, holte eine mit Siegellack versehene Schriftrolle hervor und entrollte sie. »Das Spiralkollegium hat die formale Anordnung erlassen, nach der du, Magnus Bane, Oberster Hexenmeister von Brooklyn, den menschlichen Dämonenkult namens Die Blutrote Hand auflösen musst. Und zwar umgehend.«
»Ich verstehe natürlich, dass das Spiralkollegium den besten Mann für diese Aufgabe möchte«, sagte Magnus bescheiden. »Aber ich muss sagen, dass mir der Tonfall nicht gefällt. Ich habe schon von der Blutroten Hand gehört. Diese Gruppe ist eine Lachnummer. Ein Haufen Menschen, die gern mit Dämonenmasken auf dem Gesicht feiern. Sie interessieren sich mehr für Body Shots als für die Anbetung von Dämonen. Ich bin im Urlaub und werde mich jetzt nicht mit diesem Unsinn befassen. Richte dem Spiralkollegium aus, dass ich keine Zeit habe, weil ich meinen Kater – den Großen Vorsitzenden Miau Tse-tung – baden muss.«
Auch wenn das Spiralkollegium einem Verwaltungsrat der Hexenwesen am nächsten kam, handelte es sich dabei eher um eine geheimnistuerische und ganz und gar nicht offizielle Einrichtung. Generell hatten viele Hexenwesen ein Problem mit Autoritätspersonen – und das traf auf Magnus stärker zu als auf fast alle anderen.
Ein Schatten huschte über Tessas Gesicht. »Magnus, ich musste das Kollegium anflehen, mich zu dir zu schicken. Du hast recht: Die Blutrote Hand war schon immer ein Witz. Doch allem Anschein nach haben diese Leute ein neues Oberhaupt. Jemanden, der sie perfekt organisiert hat. Dieser Kult hat sehr viel Macht erlangt, verfügt über reichlich Geld und hat in letzter Zeit etliche neue Mitglieder angeworben. Inzwischen ist es zu mehreren Toten und zahlreichen Vermissten gekommen. Und in Venedig hat man eine tote Elfe aufgefunden, neben einem Pentagramm, das mit ihrem Blut auf den Boden gezeichnet wurde.«
Magnus zuckte zusammen und zwang sich, einen Moment reglos dazusitzen. Tessa musste nicht noch deutlicher werden: Sie wussten beide, dass Feenblut zur Beschwörung von Dämonenfürsten genutzt werden konnte – Herrscher der Hölle, die einst zu den hochrangigsten Engeln gehört hatten, aber tief gefallen waren.
Und Tessa und Magnus wussten auch voneinander, dass sie beide Nachkommen unterschiedlicher Dämonenfürsten waren. Dadurch empfand Magnus eine gewisse Seelenverwandtschaft mit Tessa, denn es gab nur sehr wenige Kinder dieser Höllenfürsten.
Magnus hatte Alec noch nicht verraten, dass sein Vater ein Fürst der Finsternis war – eine Tatsache, die jeder frischen Beziehung einen Knacks verleihen konnte.
»Tatsächlich?«, fragte Magnus, um einen neutralen Tonfall bemüht. »Wenn dieser Kult versucht, einen Dämonenfürsten zu beschwören, dann ist das in der Tat sehr gefährlich. Für den Kult und potenziell für viele weitere Opfer.«
Tessa nickte und beugte sich vor. »Die Blutrote Hand ist offensichtlich darauf aus, für Chaos in der Schattenwelt zu sorgen. Deshalb hat das Spiralkollegium mich losgeschickt, um ihnen das Handwerk zu legen. Also habe ich mich eine Weile als einer ihrer Anhänger in ihrem Hauptquartier in Venedig ausgegeben, um herauszufinden, wer ihr Oberhaupt ist und was sie vorhaben. Doch während eines ihrer Rituale hat man mir einen Trank verabreicht, der mir meine Gestaltwandlungsfähigkeiten nahm. Ich bin nur knapp mit dem Leben davongekommen. Und bei meiner Rückkehr wenige Tage später musste ich feststellen, dass der Kult sein Hauptquartier aufgegeben hatte. Du musst diese Leute unbedingt finden.«
»Wie sage ich immer so schön: Warum ich?«, bemerkte Magnus.
Tessas Lächeln war verschwunden. »Ich halte es zwar nicht für sehr glaubwürdig, aber es geht das Gerücht, dass das neue Oberhaupt der Blutroten Hand gar nicht so neu ist. Es heißt, der ursprüngliche Gründer dieses Kults sei zurückgekehrt.«
»Und wer ist dieser Gründer, wenn ich fragen darf?«
Tessa holte ein Foto hervor und knallte es auf den Sofatisch. Die Aufnahme zeigte ein Wandgemälde, das sehr amateurhaft, fast wie von Kinderhand gezeichnet wirkte. Darauf waren verschiedene Szenen zu sehen, die einen Mann mit dunklen Haaren auf einem Thron zeigten. Neben dem Mann standen zwei Personen. Sie fächerten ihm mit Palmwedeln Luft zu, während eine dritte Gestalt vor ihm kniete. Diese Person schien sich nicht nur ehrfürchtig zu verbeugen, sondern ihm die Füße zu massieren.
Trotz der unbeholfenen Maltechnik waren die pechschwarzen Haare des Kultbegründers gut zu erkennen, genau wie seine hohen Wangenknochen und goldgrünen, katzenartigen Augen.
»Sie bezeichnen den Gründer als ›der Große Grimm‹«, sagte Tessa. »Kommt dir der Mann bekannt vor? Magnus, es heißt, dass du der ursprüngliche Gründer und das neue Oberhaupt der Blutroten Hand bist.«
Ein eisiger Schauer fuhr durch Magnus’ Körper. Dann erfasste ihn Empörung.
»Tessa, ich habe ganz bestimmt keinen Kult begründet!«, protestierte er. »Ich kann Dämonenanbeter nicht einmal leiden. Es sind langweilige Idioten, die langweilige Dämonen anbeten, nichts weiter.« Er schwieg einen Moment und fuhr dann fort: »Solche Dinge würde ich eher zum Spaß vorschlagen.« Ein weiteres Mal hielt er inne. »Nicht dass ich das je tun würde. Nicht mal als einen Scherz. Ich würde niemals …« Er verstummte.
»Du würdest zum Spaß die Gründung eines Dämonenkultes vorschlagen?«, fragte Alec.
Magnus winkte hilflos ab. »Ich würde alles Mögliche zum Spaß vorschlagen.«
Die Irdischen hatten eine Redensart, wenn sie sich an etwas Bestimmtes nicht erinnern konnten: Bei mir klingelt da nichts. Doch diese Situation hier war das glatte Gegenteil: Ein Kult namens die Blutrote Hand … ein vor langer Zeit im Spaß geäußerter Vorschlag. Das ließ durchaus etwas bei ihm klingeln …
Plötzlich erinnerte er sich an einen Witz, den er vor Jahrhunderten gerissen hatte. Ragnor Fell war damals dabei gewesen, da war er sich ziemlich sicher. Magnus erinnerte sich an einen heißen Tag und an eine sehr lange, schwüle Nacht. Aber damit endete die Erinnerung.
Er holte tief Luft und zwang sich zur Ruhe. Sein alter Freund Ragnor war inzwischen tot, ein Opfer des jüngsten Kriegs. Magnus hatte versucht, nicht allzu oft daran zu denken. Doch jetzt musste er eine Lücke in seinen eigenen Erinnerungen feststellen. Natürlich fiel es nicht leicht, jeden Moment seines jahrhundertelangen Lebens klar und deutlich im Gedächtnis zu behalten, aber Magnus kannte den Unterschied zwischen Erinnerungen, die getrübt waren, und Erinnerungen, die jemand gezielt beschnitten hatte. Schließlich hatte er selbst oft genug Erinnerungen mithilfe von Magie gelöscht. Und manchmal halfen Hexenwesen sich auf diese Weise gegenseitig, um ihren Freunden die Schicksalsschläge zu erleichtern, die mit ihrer Unsterblichkeit einhergingen.
Doch warum sollte jemand versucht haben, ihm die Erinnerungen an einen Dämonenkult zu nehmen? Wer sollte das getan haben? Magnus wagte nicht, in Alecs Richtung zu blicken.
»Tessa«, setzte er vorsichtig an, »bist du dir auch ganz sicher, dass dich nicht nur das attraktive Gesicht und verwegene Auftreten des Großen Grimms verwirrt haben?«
»Dort drüben hängt ein Gemälde«, sagte Alec, in ruhigem, sachlichem Ton. »Du trägst auf beiden Bildnissen denselben Frack.«
Statt zu Alec schaute Magnus nun zu dem Gemälde an seiner Wand, das ihn und seine Hexenfreunde Ragnor Fell und Catarina Loss zeigte. Ein befreundeter Werwolf hatte das Bild gemalt, sodass ihre Lilithmale nicht durch Zauberglanz kaschiert waren. Catarina trug ein Kleid mit tiefem Ausschnitt, das ihre wunderschöne blaue Haut zur Geltung brachte. Und Ragnors elegant gezwirbelte Hörner ragten aus einer Fülle mit Pomade gebändigter Haare auf, wobei seine weiße Krawatte einen Kontrast zu seinem grünen Gesicht bildete – wie grüne Blätter vor einer Schneelandschaft. Kleine Lachfältchen zeichneten sich an Magnus’ Augenwinkeln ab und betonten seine glühenden Katzenaugen. Er hatte dieses Bildnis immer sehr gemocht.
Und er trug tatsächlich auf beiden Gemälden denselben Frack.
Einen Moment überlegte er, ob der Große Grimm vielleicht zufälligerweise den gleichen Frack besessen hatte, doch dann verwarf er den Gedanken wieder. Das Kleidungsstück hatte der Hofschneider des russischen Zaren als Zeichen der Dankbarkeit für ihn persönlich angefertigt. Es war unwahrscheinlich, dass Dmitri einen identischen Frack für irgendein Kultoberhaupt geschneidert hatte.
»Ich kann mich an nichts erinnern, was mit der Blutroten Hand zusammenhängt«, sagte Magnus. »Aber Erinnerungen lassen sich manipulieren. Möglicherweise ist das mit meinem Gedächtnis passiert.«
»Magnus«, sagte Tessa, »ich weiß, dass du nicht das Oberhaupt eines Dämonenkults bist. Aber nicht alle im Spirallabyrinth kennen dich so gut wie ich. Sie glauben, dass du dafür verantwortlich sein könntest, und wollten sich schon an die Schattenjäger wenden. Ich konnte sie gerade noch davon überzeugen, dir die Chance zu geben, den Kult zu beenden und deine Unschuld zu beweisen, bevor die Institute eingeschaltet werden. Ich wünschte, ich könnte mehr tun, aber leider …«
»Ist schon in Ordnung«, sagte Magnus. Er wollte Tessa nicht beunruhigen, deshalb verlieh er seiner Stimme einen bemüht entspannten Ton, obwohl der Aufruhr in ihm tobte. »Ich bekomme das hin.«
Er traute sich jetzt schon eine ganze Weile nicht, Alec in die Augen zu sehen, und fragte sich, ob er dafür je wieder den Mut aufbringen würde. Gemäß allen Abkommensgesetzen hätten die Schattenjäger über den Dämonenkult, die Morde und den tatverdächtigen Hexenmeister sofort informiert werden müssen.
Tessa war diejenige, die sich schließlich an Alec wandte.
»Magnus ist dafür nicht verantwortlich«, versicherte sie ihm.
Alec nickte. »Das brauchst du mir nicht zu sagen.«
Bei diesen Worten entspannten sich Tessas Schultern sichtlich. Sie stellte die Tasse auf den Sofatisch und erhob sich. Mit einem warmen, liebevollen Lächeln betrachtete sie Alecs Gesicht, und Magnus wusste, dass sie darin nicht nur Will erkannte, sondern auch Cecily, Anna und Christopher – vertraute Gesichter geliebter Personen, die schon lange von ihr gegangen waren. »Es war mir eine Freude, dich kennenzulernen, Alexander.«
»Alec«, sagte Alec. Er musterte Tessa eindringlich.
»Alec, ich wünschte, ich könnte hierbleiben und bei der Suche helfen«, sagte Tessa. »Aber ich muss umgehend ins Spirallabyrinth zurückkehren. Man wird gleich ein Portal für mich öffnen. Bitte pass gut auf Magnus auf.«
»Wie bitte?«, fragte Magnus verblüfft.
»Selbstverständlich«, bestätigte Alec. »Tessa, noch eine Frage, bevor du gehst. Du kommst mir so … bekannt vor. Sind wir uns schon einmal begegnet?«
Tessa blickte auf ihn hinab. Ihr Gesicht wirkte ernst, aber gütig.
»Nein«, antwortete sie. »Aber ich hoffe, dass wir uns eines Tages wiedersehen.«
Dann wandte sie sich der Rückwand zu, wo sich gerade ein Portal öffnete und ein unheimliches Licht auf die Möbel, Lampen und Fenster warf. Auf der anderen Seite des schimmernden Lichtbogens konnte Magnus die für ihre unbequemen Sitzflächen berüchtigten Stühle im Empfangsraum des Spirallabyrinths erkennen.
Tessa ging darauf zu und drehte sich noch einmal um. »Wer auch immer das neue Oberhaupt dieses Kults sein mag, sei bitte äußerst vorsichtig«, mahnte sie. »Ich denke, dass es sich dabei um ein Hexenwesen handeln muss. Obwohl ich nicht viel in Erfahrung bringen konnte, bin ich in ihrem Hauptquartier sehr mächtigen Schutzschranken begegnet und habe gesehen, wie Zaubersprüche einfach so beiseitegefegt wurden. Der Kult besitzt ein heiliges Buch, Die Roten Schriftrollen der Magie. Leider ist es mir nicht gelungen, davon eine Ausgabe in die Hände zu bekommen.«
»Ich werde mich mal auf dem Pariser Schattenmarkt umhören«, sagte Magnus.
»Die Kultmitglieder halten Ausschau nach magischen Aktivitäten, deshalb solltest du am besten auf Portalreisen verzichten«, warnte Tessa.
»Aber du wirst dich jetzt gleich teleportieren. Frei nach dem Motto: ›Tu, was ich sage, aber nicht, was ich tue!‹«, erwiderte Magnus belustigt. »Wie sieht es denn mit deiner Sicherheit aus?«
Tessa war über einhundert Jahre alt, aber dennoch sehr viel jünger als Magnus. Außerdem kannte er sie schon fast ihr ganzes Leben lang, sodass er ihr gegenüber immer einen Beschützerinstinkt empfunden hatte.
»Ich teleportiere mich zum Spirallabyrinth, wo ich in Sicherheit bin. Du dagegen wirst vermutlich zu deutlich gefährlicheren Orten reisen. Viel Glück. Und es tut mir leid, dass ich dir den Urlaub verdorben habe.«
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, erwiderte Magnus. Tessa warf ihm noch eine Kusshand zu und trat durch das Portal, woraufhin sie und der leuchtende Lichtschein aus Magnus’ Wohnzimmer verschwanden.
Magnus stand reglos da. Er konnte sich noch immer nicht dazu überwinden, Alec direkt anzusehen – er fürchtete sich zu sehr vor dem, was sich womöglich auf dessen Miene spiegelte. Hier stand er nun, in seiner Pariser Wohnung, mit dem Mann, den er liebte, und fühlte sich dennoch schrecklich allein.
Dabei hatte er so große Hoffnungen auf ihren Europatrip gehegt. Doch kaum hatten sie ihre Reise angetreten, tauchte schon ein schreckliches Geheimnis auf, das Magnus zusammen mit einer Schattenweltfreundin vor den Nephilim bewahren musste. Schlimmer noch: Er hätte Alec noch nicht einmal schwören können, dass er vollkommen unschuldig war. Denn sein Gedächtnis ließ ihn im Stich.
Magnus konnte es Alec nicht verübeln, wenn der ihre gesamte Beziehung infrage stellte. Sei mit mir zusammen, Alec Lightwood, auch wenn deine Eltern mich hassen, ich nicht in deine Welt passe und dir die meine nicht gefällt und wir noch nicht einmal eine romantische Reise unternehmen können, ohne dass meine dunkle Vergangenheit einen Schatten auf unsere gemeinsame Zukunft wirft.