Map of Magic – Das Mysterium der sinkenden Stadt (Bd. 2) - Carrie Ryan - E-Book

Map of Magic – Das Mysterium der sinkenden Stadt (Bd. 2) E-Book

Carrie Ryan

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Beschreibung

Eine magische Landkarte, unzählige Welten, die über einen magischen Strom verbunden sind, und zwei Kinder, die deren Untergang verhindern müssen! Für Fin aus der Welt des magischen Stroms und Marrill, die aus unserer Gegenwart kommt, gibt es nichts wichtigeres, als in den Besitz aller Teile der magischen Landkarte zu kommen: Nur so können sie verhindern, dass der finstere Zauberer Serth die Karte benutzt, um sämtliche Welten vollständig zu zerstören. Um Serth aufzuhalten, müssen Fin und Marrill zunächst die legendäre Stadt Monerva ausfindig machen, in der ein besonderer Schatz verborgen liegt. Doch der Weg dorthin bringt die beiden in größte Gefahr – und kostet sie beinahe ihre Freundschaft … Der zweite Band der vierteiligen Serie. Weitere Titel: »Map of Magic - Die Karte der geheimen Wünsche« (Band 1) »Map of Magic - Das Rätsel des leuchtenden Orakels« (Band 3) Pressestimmen zu »Map of Magic«: »Hier ist alles möglich: eine intelligente Mischung aus Humor und Phantasterei!« Kirkus Reviews »Schwindelerregende Welten voller bizarrer Kreaturen, verschränkter Zeitebenen und faszinierender Schauplätze!« Booklist »Ein herrlich dicker, toll geschriebener Schmöker für Freunde von Abenteuergeschichten, in dem es nicht immer zimperlich zugeht.« Norddeutscher Rundfunk »Mega spannend!« Westfalen-Blatt

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Seitenzahl: 423

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Carrie Ryan | John Parke Davis

Map of Magic – Das Mysterium der sinkenden Stadt

Aus dem Amerikanischen von Wolfram Ströle

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungMein Freund FinKapitel 1 Die Nachricht auf dem StoppschildKapitel 2 Der ewige blinde PassagierKapitel 3 Fangzähne und andere AutopannenKapitel 4 Piraten ahoiKapitel 5 Das Zwiegespräch des Knülle GrützKapitel 6 Verloren und gefundenKapitel 7 Verquere SchwerkraftKapitel 8 Ab hier keine Garantie auf AnschlussKapitel 9 Die schlimmste AchterbahnfahrtKapitel 10 Das Moderloch und die große StadtKapitel 11 Ein Wiedersehen (Über die Zeit)Kapitel 12 Was man tun kann, während Zauberer die Welt rettenKapitel 13 Das größte Vergnügen: an einer Schnecke zu hängenKapitel 14 Der Traum, in dem man fälltKapitel 15 Von Wellen umtostKapitel 16 FunkenflugKapitel 17 Das hätte wirklich besser klappen könnenKapitel 18 Die Stadt der brennenden LeiternKapitel 19 Ein neuer Verbündeter (Flammen mögen seinen Namen tilgen)Kapitel 20 Feuerflüchter entfliehen flink dem FeuerKapitel 21 Der Salz-und-SandkönigKapitel 22 Eine Figur auf dem SpielbrettKapitel 23 Der Turm der FlatterlingeKapitel 24 Alles will etwasKapitel 25 TIEFER … Tiefer … tieferKapitel 26 Der Siphon von MonervaKapitel 27 Endlich vereintKapitel 28 SonnenaufgangKapitel 29 Eine Frage des BlickwinkelsKapitel 30 Das Vermächtnis des Salz-und-SandkönigsKapitel 31 In der FalleKapitel 32 Die Eiserne FlutKapitel 33 Der Kreis schließt sichKapitel 34 Versprochen ist versprochenDanksagung

Für Esmé und AudreyKeine Mauer ist zu hoch

Kapitel 1Die Nachricht auf dem Stoppschild

Karnelius J. Mausington gehörte nicht zu den Katzen, die sich so einfach ignorieren ließen. Er zog an seiner Leine, die sich daraufhin fester um Marrills Arm wickelte und sie aus ihren Gedanken riss. Marrill machte eine ungeduldige Handbewegung. Karni sollte Ruhe geben. Ihr Blick blieb unverwandt auf die drei kleinen Jungs gerichtet, die vor ihr standen. Der Kleinste von ihnen hielt einen Gegenstand in der Hand, den es eigentlich gar nicht gab.

Zumindest nicht in ihrer Welt.

»So was hab ich noch nie gesehen«, sagte Tim und gab ihn ihr. Dabei wurde er rot.

Marrill musste das Zittern ihrer Finger unterdrücken, als sie den Gegenstand in ihren Händen wendete. Es handelte sich um eine Art Netz oder besser um eine Art Spinnwebe aus Seifenfilm, die mit einem einzelnen Faden an einem dünnen Stab aus Glas befestigt war. Das Gebilde wirkte so zart, dass sie fürchtete, es könnte sich auflösen, wenn sie es zu fest anfasste. Dabei hielt es sogar der Gewalt eines Hurrikans stand, hatte Fin einmal gesagt.

Die Hatch-Jungs blickten erwartungsvoll zu ihr auf. Sie hatten Marrill an diesem Tag schon zum dritten Mal zu dem leeren Grundstück am Rand der Wohnsiedlung gerufen, weil sie angeblich die bei der jüngsten Überschwemmung angespülten Schätze von Atlantis gefunden hatten. Bisher hatten diese »Schätze« allerdings nur aus der Hälfte eines alten Reifens, zwei Glasflaschen und einem Stein bestanden, der zwar stärker glänzte als andere Steine, aber auch wieder nicht so viel stärker.

Meist dachte Marrill sich für die Jungs eine entsprechende Geschichte aus – dass der alte Knochen einer Kuh in Wirklichkeit von einem Drachenbaby stammte oder eine verrostete Kaffeedose der Antrieb eines abgestürzten außerirdischen Raumschiffs war.

Diesmal brauchte sie nichts zu erfinden.

»Das ist ein Wolkenfängernetz«, erklärte sie.

Sie kaute auf ihrer Lippe. Auf dem Piratenstrom wäre ein solcher Fund nichts Ungewöhnliches. Im Gerümpelturm des Griesgrams in der Eiswüste hatte sie einen ganzen Haufen davon entdeckt.

Der Piratenstrom war allerdings auch ein mit reiner Magie gefüllter, endloser Fluss voller phantastischer magischer Gegenstände und verrückter magischer Orte. Aber hier war Arizona – und wohl kein anderer Ort hatte so wenig mit Magie zu tun. Entsprechend selten waren Wolkenfängernetze.

Marrill starrte das Gespinst an, und eine unbehagliche Mischung aus Aufregung, Furcht und Verwirrung stieg in ihr auf. »Wo genau habt ihr das gefunden?«, fragte sie.

»Unten in der Schlucht. Da liegen jede Menge tolle Sachen rum. Komm, wir zeigen sie dir!« Der mittlere Hatch marschierte über das leere Grundstück, dicht gefolgt von seinen Brüdern.

Es hatte erst vor ein paar Stunden geregnet, für Wüstenverhältnisse eine Menge, und der Boden war noch mit Pfützen übersät. Marrill nahm Karnelius auf den Arm und eilte den anderen über die feuchte Erde nach.

Die fragliche »Schlucht« war in Wirklichkeit eher ein großer, tiefer Graben, der am Ende des Grundstücks entlangführte und in einen schmalen Abzugskanal unter der Straße mündete. Meist war er knochentrocken, doch nach dem morgendlichen Regen schlängelte sich als letzter Rest der Überschwemmung ein dünnes Rinnsal über den Boden.

Die Hatch-Brüder führten Marrill zu einigen rostigen Metalltrümmern, die sich am Eingang des Kanals quergestellt hatten. Ted streckte die Hand aus. »Dort haben wir es gefunden. Sieh mal, was da noch alles ist!«

»Hm …« Marrill setzte Karni ab, ohne seinen Protest zu beachten, und stocherte vorsichtig in dem Metallschrott. Was sie entdeckte, verwirrte sie noch mehr: einen gesprungenen Schild gegen Albträume, der immer noch die Zähne bleckte, um die bösen Träume fernzuhalten; eine abgebrochene Angelrute, in die eine Möggelkrabbe geschnitzt war, und einen Gegenstand, der verdächtig wie ein Hoffnungskristall aussah. Alles Dinge, die es nur auf dem Piratenstrom gab.

Marrill begann, tiefer zu wühlen, und ihr Herz schlug schneller. Ein Klumpen, der aussah wie der wabbelige Schirm einer Qualle, rutschte zur Seite und plumpste hinunter, und darunter kam die untere Hälfte eines eingedellten Stoppschilds zum Vorschein, das sich im Kanal verkantet hatte. Das Schild trug eine Aufschrift in dicken, schwarzen Buchstaben:

Du wirst auf dem Piratenstrom gebraucht, Marrill

»Was um alles in der Welt …« Sie räumte einen sperrigen Ast zur Seite, zog das Schild heraus und las den Text noch einmal. Dann drehte sie es um. Auf die Rückseite hatte jemand mit denselben dicken, schwarzen Strichen ein Bild gezeichnet: einige gezackte Dreiecke in einem Kreis und darunter einen Drachen.

Marrill spürte einen Knoten im Magen. Jemand hatte ihr eine Botschaft geschickt: Sie wurde auf dem Piratenstrom gebraucht!

Aber sie konnte nicht zum Strom zurückkehren, das hatte Ardent ihr beim Abschied klargemacht. In ihrer Welt gab es Regeln, in der Zauberwelt des Stroms hingegen keine. Zu viel Kontakt zwischen den beiden Welten konnte ihre Welt zerstören.

Marrill schluckte. Ihr Hals war wie zugeschnürt. Sie musste an Ardents letzte Worte denken. Der Strom wird deine Welt wieder berühren. Der Zauberer hatte todernst geklungen. Sollte er deiner Welt so nahe kommen, dass du praktisch über ihn stolperst, ist etwas ziemlich schiefgegangen.

»Was ist der Piratenstrom?«, fragte Tim und blickte ihr über die Schulter. »Kennst du Piraten? Von denen musst du uns erzählen.«

Marrill schüttelte langsam den Kopf. »Äh, nein … das ist nur eine Nachricht von Remy.« Sie sagte einfach den ersten Namen, der ihr einfiel.

»Deine Babysitterin schickt dir eine Nachricht auf einem Stoppschild?«, fragte Tom.

Marrill lachte, aber es klang künstlich. »Ich weiß schon, sie ist manchmal ziemlich schräg drauf! Aber sie will mich nur an meine Hausaufgaben erinnern. Über Piraten.«

Sie klemmte sich das sperrige Schild mit einiger Mühe unter den Arm und zog mit der freien Hand an Karnis Leine. Doch der war inzwischen im Tunnel verschwunden, um sich dort umzusehen. »Komm schon, Tigerchen«, rief sie in das dunkle Loch und zog erneut.

Die einzige Antwort war ein tiefes Knurren. Marrill seufzte, legte das Schild weg, kniete sich hin und kroch in den Tunnel, um den Kater zu holen.

Die Schwärze dort überraschte sie. Es war so dunkel, dass sie kaum Karnis Umrisse vor sich erkennen konnte. Er hatte Schwanz- und Nackenhaare gesträubt und fauchte.

Eine Gänsehaut überlief Marrill. Etwas stimmte hier nicht.

»Karni?«, flüsterte sie. Vorsichtig legte sie ihm die Hand auf den Rücken. »Alles okay?«

Da ertönte plötzlich die Stimme einer Frau – so laut und nah, dass Marrill zusammenzuckte. »Die Eiserne Flut kommt. Ihr müsst sie aufhalten! Haltet die Ei– MMMPFFF!«

Karni drückte sich ab und sprang. Es folgte ein kurzer Kampf mit einem Wesen, das Marrill nicht sehen konnte. Dann Stille.

»Hallo?«, flüsterte Marrill.

Ein unbestimmter Laut antwortete ihr, dann streifte Fell an ihrem Handgelenk vorbei. Fell und etwas Kaltes. Sie packte Karni am Nacken, hob ihn hoch und schleppte ihn nach draußen ins Licht.

Karni hing schlaff an ihrem Arm und starrte sie mit seinem einen Auge böse an. In seinem Maul hing genauso schlaff ein aufgedunsenes, weißbraunes Geschöpf.

»Igitt, ein Frosch!«, rief einer der Hatch-Jungs.

Es handelte sich tatsächlich um einen Frosch. Sein dicker, weißer Bauch glänzte und zeigte in der Mitte ein seltsames Muster aus schwarzen Linien.

»Ach, Karni«, seufzte Marrill. Sie befreite das arme Tier aus dem Maul des Katers und hoffte gegen alle Wahrscheinlichkeit, dass es nicht schwer verletzt war und sie ihm helfen konnte.

»Wer war da drin?«, fragte ein anderer Hatch. Bei dem Gedanken an die Stimme überlief Marrill ein Schauder, und sie blickte zu der Kanalöffnung zurück. Vielleicht war da ja noch jemand drinnen. Gesehen hatte sie allerdings niemanden.

Doch lag etwas Vertrautes in der Luft, ein salziger, belebender Geruch und das Gefühl, dass alles möglich sei. Eine plötzliche Sehnsucht stieg in ihr auf. Was sie roch, war der Piratenstrom – der Geruch von Magie.

»Niemand«, erwiderte sie. »Ich habe nur Karni angeschrien.«

Sie nahm das Stoppschild und Karnis Leine in die eine Hand und behielt den Frosch in der anderen. »Ich glaube, ich muss diesen Burschen verarzten.«

Der jüngste Hatch stellte sich auf die Zehenspitzen, und seine Augen begannen zu leuchten. »Au ja, können wir dir helfen?«

»Äh … hat nicht gerade eure Mutter gerufen?«, fragte Marrill. Der phantastischen Welt des Stroms wollte sie die Hatches lieber nicht aussetzen.

Die Jungs sahen sie enttäuscht an. »Aber jetzt wird es doch gerade erst richtig spannend!«, protestierte der Älteste. Marrill zuckte in gespieltem Mitgefühl die Schultern. Mit hängenden Köpfen stiegen die drei die Böschung hinauf und machten sich auf dem Heimweg.

Auch Marrill ging nach Hause. Der Frosch auf ihrem Handteller zuckte. Sie kannte sich mit Amphibien nicht aus, hatte aber schon einige verletzte Tiere gerettet und verarztet und wusste deshalb, dass sein Bein gebrochen war. »Du Armer«, sagte sie tröstend, »das bringen wir gleich in Ordnung.« Der Frosch öffnete das Maul, um zu quaken, aber kein Laut kam heraus.

Es war gar nicht so einfach, eine wütende Katze, einen verletzten Frosch und ein Stoppschild nach Hause zu tragen, aber irgendwie schaffte Marrill es schließlich doch. So leise wie möglich schlüpfte sie durch die Haustür.

Remy schien allerdings die Ohren einer Fledermaus zu besitzen. »Marrill, bist du das?«, rief sie über den Lärm des Fernsehers in der Küche hinweg.

Marrill zuckte zusammen. »Ja, ich bin wieder da!« Sie schlich in den Flur. Ihre Babysitterin sollte sie möglichst nicht sehen.

»Dein Vater hat angerufen.«

Marrill erstarrte, und ihr Herz setzte einen Schlag aus. »Ach ja?« Ihre Fingerspitzen wurden taub, und sie musste das Schild fest gegen die Hüfte drücken, damit es nicht hinunterfiel. Der Frosch öffnete wieder das Maul. Diesmal war Marrill froh, dass er noch nicht wieder quaken konnte.

Der Lärm des Fernsehers wurde leiser. »Er sagte, die Besuchszeit sei um sieben zu Ende, falls du deine Mutter noch vor der Operation morgen anrufen willst.«

Marrill warf einen Blick auf die Uhr an der hinteren Wand. Zehn vor fünf, also noch viel Zeit, um den Frosch zu versorgen und …

»Bostoner Zeit!«, fügte Remy hinzu.

Marrill hätte sich für ihre Dummheit ohrfeigen können. Wenn es in Arizona zehn vor fünf war, war es in Boston zehn vor sieben. Ihr blieben nur zehn Minuten! Sie rannte in ihr Zimmer. Obwohl sie mit ihren Eltern viel gereist war, war sie doch nie mit den verschiedenen Zeitzonen zurechtgekommen. Es war ja auch wirklich seltsam, dass etwas so Elementares wie die Zeit von Ort zu Ort verschieden sein sollte.

»Die Pizza kommt in einer halben Stunde!«, rief Remy noch, bevor Marrill die Tür zu ihrem Zimmer zuknallte. Sie lehnte das Schild an das Bett und befreite Karni von seinem Laufgeschirr. Dann schnappte sie sich ein Kissen, rannte zum Schreibtisch und klappte den Laptop auf. Mit der einen Hand öffnete sie den Videochat, mit der anderen bettete sie den Frosch behutsam auf das Kissen. Anschließend schob sie das Kissen außer Sicht hinter den Laptop.

Ihr Vater antwortete fast sofort, und sein Bild füllte den Bildschirm. Er saß auf einer Bettkante und hielt den Computer im Schoß. Im Hintergrund sah Marrill die verschiedenen Apparaturen eines Krankenhauszimmers: leuchtende Monitore mit Schläuchen und Kabeln. Und dazwischen ihre Mutter. Ihr wurde schwer ums Herz.

»Hallo!« Sie winkte und zwang sich zu einem Lächeln. Ein zentnerschweres Gewicht hatte sich auf ihre Brust gelegt. »Wie geht’s bei euch?«

Ihr Vater drückte die Hand ihrer Mutter, bevor er antwortete, und sofort wusste Marrill, dass etwas nicht stimmte. Das Gewicht wurde noch schwerer, und sie bekam keine Luft mehr.

Karnelius sprang auf den Schreibtisch, spazierte zu ihr und stupste mit dem Kopf an ihr Kinn. Sie drückte ihn zur Seite.

»Es ist alles in Ordnung, Schatz, wirklich.« Ihre Mutter lächelte. Doch dann begannen ihre Lippen zu zittern, und Marrill spürte, wie etwas in ihr zu zerreißen drohte. Ihre Mutter warf ihrem Vater einen Blick zu.

Und dann kam es. »Die Operation morgen wird etwas umfangreicher sein, als wir erwartet hatten«, sagte ihr Vater. »Das ist anscheinend nicht ungewöhnlich, und den Ärzten zufolge müssen wir uns keine Sorgen machen. Aber sie wollen sie … etwas länger hierbehalten, als wir gedacht hatten.«

»Ja?« Aus Marrills Stimme klang Panik. »Wie lange? Warum?« Ihre Augen begannen zu brennen, und sie wischte ungeduldig mit der Hand darüber, mit der sie Karnelius zurückgehalten hatte.

Karnelius spazierte über die Tastatur und setzte sich genau zwischen Marrill und den Bildschirm.

»Du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen, Schatz«, sagte ihr Vater, während sie den Kater zur Seite schob. »Es ist nur eine Vorsichtsmaßnahme. Aber wir müssen mit mindestens einer Woche rechnen.«

Eine Woche?! Auf einmal schnürte ihr panische Angst den Hals zu. »Kann ich …« Sie musste schlucken, damit ihre Stimme nicht brach. »Kann ich nicht zu euch kommen?«

Ihre Eltern wechselten einen Blick, und Marrill wusste bereits, was sie antworten würden. »Du sollst dir keine unnötigen Sorgen machen, Liebes«, sagte ihre Mutter.

»Und wir wollen auch nicht, dass du Unterricht versäumst und in der Schule zurückfällst«, ergänzte ihr Vater.

»Aber so viel würde ich doch gar nicht versäumen«, protestierte Marrill. »Es kommt sowieso ein langes Wochenende.«

»Und das solltest du zu Hause verbringen, mit Freundinnen«, fügte ihr Vater sanft hinzu.

Marrill wusste, was das in Wirklichkeit bedeutete. Ihre Mutter durfte sich nicht aufregen. Eine ängstliche und überdrehte Marrill hätte alles nur schlimmer gemacht.

Deshalb musste sie hierbleiben, im langweiligen Arizona. Getrennt von ihrer Mutter. Sie biss sich in die Wange.

Karni saß geduckt an der Schreibtischkante und starrte unverwandt auf den verletzten Frosch. Sein Schwanz fuhr zuckend hin und her. Marrill schob ihn energisch weg, und er miaute wütend und sprang auf ihr Bett.

»Ich habe schon mit Remy und ihren Eltern gesprochen«, fuhr ihr Vater fort. »Sie wird sich weiter um dich kümmern.«

Ihre Mutter beugte sich vor, und ihr lächelndes Gesicht füllte den Bildschirm. »Ich verspreche dir, wir springen schon früher, als du denkst, wieder von den Klippen.«

Marrill blickte ihrer Mutter forschend in die Augen. Meinte sie das ernst? Ein Rascheln neben ihr lenkte sie ab. Sie blickte zum Bett. Dort saß Karnelius, der böse auf sie war, weil sie ihm die Beute weggenommen hatte, die doch ganz klar ihm zustand. Verächtlich stand er auf, stolzierte zum Nachttischchen und fegte mit der Pfote einen Stift auf den Boden.

»Karni!«, schimpfte Marrill. Dann wandte sie sich wieder dem Computer zu. In der oberen Ecke des Bildschirms leuchtete die Uhr. Es war fast fünf – in Boston sieben. Die Besuchszeit war gleich zu Ende. Und damit das letzte Gespräch mit ihrer Mutter vor der Operation.

»Mom …« Wieder war ihre Kehle wie zugeschnürt, und sie suchte krampfhaft nach den richtigen Worten. Wenn sie dort im Krankenhaus wäre, könnte sie ihren Kopf in den Schoß ihrer Mutter betten und sich von ihr über die Haare streichen lassen. Schon das würde sie trösten. Nur die Augen zu schließen und die beruhigende Gegenwart ihrer Mutter zu spüren. Einfach so zu tun, als würde alles gut werden.

Aber dazu war die Entfernung zwischen ihnen zu groß. Marrill konnte sich nirgendwo festhalten. Sie umklammerte die Kanten ihres Stuhls und wünschte, sie könnte etwas tun, damit es ihrer Mutter besserging. Am liebsten wäre sie zum Piratenstrom zurückgekehrt, wo sie nicht so hilflos und unbedeutend war.

»Ich habe Angst, Mom«, flüsterte sie. Sosehr sie sich auch dagegen sträubte, sie konnte nicht verhindern, dass ihr die Tränen über die Wangen liefen.

Ihre Mutter beugte sich mit ernstem Gesicht vor. »Ich auch, Kleines«, sagte sie leise. »Aber ein wenig Angst zu haben macht nichts. Man darf sich nur nicht davon überwältigen lassen. Und du musst daran glauben, dass alles gut wird.« Sie lächelte. »Aber jetzt erzähl doch erst mal, was hast du heute alles erlebt?«

Marrills Blick wanderte zu dem Schild auf ihrem Bett, dann zu der Himmelsseglerjacke, die Fin ihr geschenkt hatte und die an einem Haken hinter der Tür hing. Ein Lächeln zuckte um ihre Lippen. Also, dachte sie, vielleicht berührt ja wieder ein Fluss aus reiner Magie unsere Welt …

Laut sagte sie: »Nichts Besonderes.« Bevor sie noch etwas hinzufügen konnte, hörte sie ein Krachen.

Sie fuhr herum und wollte Karni schon von dem Frosch wegscheuchen. Aber Karni saß nicht mehr auf dem Nachttisch. Und der Nachttisch stand nicht mehr neben dem Bett, sondern in der Ecke. Geduckt und mit einer vor Angst klappernden Schublade.

Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu, dachte Marrill und öffnete und schloss die Augen ein paarmal. Dann erstarrte sie.

Auf dem Boden vor dem Nachttisch lag neben einem entkorkten und fast leeren Fläschchen ein nasses, zerknittertes Stück Pergament, über das mit Tinte gezeichnete Bilder wirbelten.

»Alles in Ordnung, Schatz?«, fragte ihr Vater.

»Äh … ja …« Ihr Herz begann zu hämmern. Das mit Zauberwasser aus dem Piratenstrom gefüllte Fläschchen war Fins letztes Geschenk an sie gewesen. Der Nachttisch, der bis zu diesem Tag keinerlei Anzeichen von Leben gezeigt hatte, schien drauf und dran, zur Tür zu stürzen und zu fliehen. Und bei dem Pergament, das fast ein halbes Jahr leer gewesen war, handelte es sich um die legendäre Überallkarte.

Marrill drehte den Laptop rasch so, dass ihre Eltern das auf Zehenspitzen durch das Zimmer eilende Nachtkästchen nicht sehen konnten. Dann zwang sie sich zu einem Lächeln. »Karni hat ein Glas Wasser umgeworfen. Ich wische es lieber auf, bevor es noch Flecken gibt! HabeuchbeideliebguteBesserungMomtschüs!«

»Wasser macht keine Flecken«, rief ihre Mutter.

Marrill hatte das Programm schon schließen wollen, doch sie konnte sich nicht überwinden. Die Stimme ihrer Mutter brach ihr das Herz. »Du weißt, dass ich dich lieb habe, Mom, ja?«

Ihre Mutter lachte. Es war vermutlich das schönste Geräusch auf der ganzen Welt. »Ich habe dich noch viel lieber. Gute Nacht, mein Schatz!«

Die Verbindung wurde beendet. Sofort stürzte Marrill zu der Karte, die seit ihrer Rückkehr vom Piratenstrom nur ein nutzloses, leeres Stück Pergament gewesen war, auch wenn Marrill sich noch so oft gewünscht hatte, darauf mehr zu sehen.

Aber jetzt … jetzt züngelten von unten schwarze Linien zur Oberfläche hinauf, ähnlich den aus der Tiefsee wachsenden Tentakeln eines Seeungeheuers. Marrill legte den Kopf schräg und suchte nach einer Bedeutung der Linien. Und dann begriff sie plötzlich und bekam große Augen. Sie sah eine Karte ihres Viertels, mit einem leuchtend roten Kreuz einige Kilometer entfernt. Auf dem verlassenen Parkplatz, auf dem sie damals der Unternehmungslustigen Krake begegnet war.

Sie wollte sich gar nicht ausmalen, was das womöglich bedeutete, aber schon beim kleinsten Gedanken daran schwebte sie unvermutet im siebten Himmel wie ein Himmelssegler hoch über Khaznot Quay.

Weil es eigentlich nur eins bedeuten konnte: Sie durfte zurückkehren. Wieder betrachtete sie das am Fußende des Betts lehnende Schild.

Du wirst auf dem Piratenstrom gebraucht, Marrill

Ihr Herz raste. Sie musste sogar zurück. Was für eine Wahl hatte sie? Die Warnung der Frau aus dem Kanal ging ihr durch den Kopf:

Die Eiserne Flut kommt! Ihr müsst sie aufhalten!

Zugleich meldeten sich allerdings Bedenken. Bei ihrem letzten Aufenthalt auf dem Strom hatte sie es fast nicht mehr nach Hause geschafft. Wenn sie jetzt erneut aufbrach, kehrte sie vielleicht nie wieder zurück.

Der Nachttisch kroch langsam näher und stupste mit einer Ecke gegen ihr Knie wie ein Hund, der an der Hand seines Herrchens schnüffelt. Abwesend strich sie mit den Fingern über die Oberfläche. Als sie die Ränder eines Astknotens berührte, zuckte eins seiner Beine.

Aber war das Risiko wirklich so groß? Das letzte Mal hatten die Koordinaten der Karte sie am Ende auch nach Hause geführt. Und was einmal funktioniert hatte, sollte doch wieder funktionieren, solange der Strom ihre Welt berührte. Wenn der Strom ihr so nahe war, dass sie zu ihm gelangen konnte, dann konnte sie auch umgekehrt hierher zurückkehren, richtig? Sie könnte also zum Strom aufbrechen, in Ordnung bringen, was in Ordnung gebracht werden musste, und wieder zu Hause sein, bevor jemand sich übermäßig Sorgen machte. Zumal ihre Eltern ja gar nicht da waren!

Sie holte tief Luft. Seit ihrer Rückkehr vom Strom hatte sie versucht, ein ganz normales Leben zu führen. Sie war zum ersten Mal ganz normal zur Schule gegangen. Sie hatte im Haushalt geholfen und sogar zusätzliche Arbeiten übernommen, um ihre Mutter zu entlasten. Sie hatte sich nicht beklagt, als ihre Eltern ohne sie nach Boston aufgebrochen waren, wo ihre Mutter behandelt werden sollte. Sogar einige Freundschaften hatte sie geschlossen. Allerdings war darunter kein Freund wie Fin. Oder Ardent oder Coll.

Und jetzt brauchte der Strom sie. Sie mussten die Eiserne Flut aufhalten, was immer das war.

Sie blickte auf die Bilder, die an der Wand ihres Zimmers hingen, und biss sich auf die Lippen. In der Mitte hing ihr Lieblingsfoto. Es zeigte, wie sie und ihre Mutter Hand in Hand von einer Klippe in kristallblaues Wasser sprangen. Davor hatte ihre Mutter noch gesagt, dass man sich manchmal ins kalte Wasser stürzen müsse.

Marrill stieß sich vom Bett ab und hob die Überallkarte vom Boden auf. »Das wäre also beschlossen«, erklärte sie mit einer entschiedenen Handbewegung. »Karnelius, nimm deine Leine. Frosch, pack deine Sachen. Himmelsseglerjacke, mach dich bereit, wieder zu fliegen. Wir kehren zum Piratenstrom zurück!«

Kapitel 2Der ewige blinde Passagier

Fin landete mit einem schmatzenden Geräusch auf der Straße. Ihm war, als sei er auf einen alten Schwamm gefallen, und er ruderte mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten. Über ihm neigten sich Pilztürme, die in der modrig riechenden Brise schwankten. Feuchtkalte Nässe durchweichte seine Schuhe und Socken.

Er verabscheute Tiefenstadt. Für einen Dieb war es hier schrecklich. Aufgrund des Schleims, den die Pilztürme ständig absonderten, konnte man nicht an ihnen hinaufklettern, wie er soeben festgestellt hatte. Ganz zu schweigen von der kränklich grünen Sonne dieser Welt, die alles in ein böses Licht tauchte (ganz buchstäblich: Er war seit seiner Ankunft am Morgen mit keinem einzigen »unschuldigen Missverständnis« durchgekommen). Wenigstens konnte er immer hinter dem Hut eines Pilzes verschwinden und vergessen werden, sonst säße er bestimmt schon in einem Schleimpilzgefängnis.

Und dazu kam noch die Feuchtigkeit.

Die »berühmte« Feuchtigkeit von Tiefenstadt war ausgesprochen … aggressiv. Fin spürte, wie ständig Tropfen an seinen Beinen hinaufliefen, sich in den Kniekehlen sammelten und von dort den Hosenbund bedrohten. Er rieb sich fortwährend die Waden und war insgeheim froh, dass er bald wieder draußen auf dem Strom sein würde. Müde marschierte er weiter in Richtung des schlammigen Teichs, in dem die Krake ankerte, und schüttelte dabei immer wieder Batzen klebrigen Schleims von seinen Händen.

Wieder einmal hatte er keine Spur von seiner Mutter gefunden. Auch Tiefenstadt war eine Sackgasse, genau wie alle anderen Orte, an denen die Krake im vergangenen halben Jahr gehalten hatte. Zwar wollte er nicht aufgeben, schließlich ging es um etwas sehr Wichtiges, nämlich darum, herauszufinden, wer er war und warum er von den anderen ständig vergessen wurde. Doch allmählich beschlichen ihn Zweifel, ob er seine Mutter überhaupt je finden würde.

Er war so mit seinen Gedanken beschäftigt, dass er das Mädchen nicht kommen sah. Eben war er noch durch den quatschenden Morast gestapft, der hier als Marktplatz galt, und hatte notgedrungen ein Tänzchen aufgeführt, um seine Achselhöhlen trocken zu halten. Im nächsten Moment lag er schon rücklings auf dem nassen Boden, das Wasser stieg in seinem Hemd hinauf und sammelte sich an den Schultern.

»He, Vorsicht«, schimpfte er. Ein ungefähr gleichaltriges Mädchen rappelte sich neben ihm auf. Es schien sich genauso erschreckt zu haben wie er. Was nicht weiter ungewöhnlich war, schließlich wurde er ständig übersehen. Er wäre schon längst zu Tode getrampelt worden, wenn er nicht so gut darin gewesen wäre, anderen auszuweichen.

Und das war nun wirklich seltsam – dass er mit dem Mädchen zusammengestoßen war. Anderen auszuweichen war ihm zur zweiten Natur geworden, selbst wenn er nicht aufpasste. Kopfschüttelnd sprang er auf. Liegt bestimmt am Licht, dachte er und musterte das Mädchen kurz.

Sie war ohne Frage ein Dieb wie er, auch wenn sie sich – sogar nach den Maßstäben von Khaznot Quay – gut verkleidet hatte. Von den meisten wäre sie mit ihren schwarzen, verfilzten Haaren, dem dreckverschmierten Gesicht und den nicht zusammenpassenden Schuhen lediglich für ein Straßenkind wie viele andere gehalten worden. Es waren Kleinigkeiten, die sie verrieten: Sie hatte saubere Nägel und Ohrlöcher, in denen sie offenbar Ohrringe getragen hatte. Und unter der Manschette eines zerknitterten Ärmels blitzte etwas silbern auf. Eine Bettlerin war sie nicht, das stand fest.

Wie um seinen Eindruck zu bestätigen, wurden unter den Marktbesuchern die Rufe »Diebin!« und »Ihr nach!« laut. Das Mädchen wollte in eine Gasse fliehen, aber ein Wust aus Farnzäunen und herunterhängendem Moos versperrte ihr den Weg. Besorgt blickte sie sich um.

Drei wütend aussehende Wächter, denen der Schweiß über die Schnauzengesichter strömte, bahnten sich einen Weg durch die Menge. Die ersten Schaulustigen blieben stehen.

Fin grinste. Wie oft war er selbst in der selben Situation des Mädchen gewesen. Es war bestimmt interessant, einmal einem anderen Profi bei der Arbeit zuzusehen. Dabei konnte er etwas lernen. Und wer weiß, wenn sie ihn inspirierte, würde er ihr vielleicht sogar helfen.

Er an ihrer Stelle würde natürlich einfach auf einen ahnungslosen Passanten zugehen, ihn als Dieb beschuldigen und im anschließenden Durcheinander verschwinden. Wenn sich dann alles aufgeklärt hatte, würden seine Verfolger sich schon nicht mehr an ihn erinnern. Fin verschränkte die Arme.

Doch da tat das Mädchen etwas überaus Merkwürdiges. Sie erwiderte seinen Blick und zwinkerte ihm zu.

Fin erschrak darüber so sehr, dass er sich nur mühsam beherrschen konnte. Sonst sah ihn nie jemand an. Er wurde ja gar nicht bemerkt. Es sei denn, er tat etwas besonders Schlimmes. Was in diesem Moment aber ausnahmsweise einmal nicht der Fall war.

»Da ist er, Leute!«, schrie sie und zeigte mit dem Finger auf ihn, während die Wachen sie umzingelten. »Das ist der Dieb!«

»Was?«, rief Fin fassungslos. Das sagte doch sonst er!

Ein Wächter musterte die beiden Kinder misstrauisch. »Dieser hier der Dieb ist?«, fragte er in der umständlichen Sprechweise der Tiefenstädter.

»Na klar«, sagte das Mädchen. »Erinnern Sie sich nicht? Ich stand doch neben Ihnen, als Sie ihn gesehen haben.«

»Ach so, ja«, sagte ein zweiter Wächter. »Mir kommt bekannt vor sie.« Er trat von einem Bein auf das andere, was ein hässlich schmatzendes Geräusch verursachte. »Wie darauf komme ich, dass der Dieb war ein Mädchen?«

»Moment mal, Leute«, protestierte Fin. »Das ist ein Missverständnis. Ich habe nichts geklaut!« Er straffte sich. »Noch mal zum Mitschreiben«, fügte er hinzu. »Ich habe das, was ihr sucht, nicht gestohlen. Das wollte ich nur sagen.«

Das Mädchen runzelte die Stirn und schürzte die Lippen. »Neee«, sagte sie gedehnt. »Es war ganz bestimmt ein Junge. Erinnern Sie sich nicht an seine schwarzen Haare?« Sie sah Fin mit einem Blick an, als wollte sie sagen: Gib’s doch endlich zu.

Fin hob die Hände. »Also ich war’s nicht.«

Der erste Wächter näherte sich ihm. »Dieb«, knurrte er.

Fin wich einen Schritt zurück. Sein Herz hämmerte. Er konnte nicht glauben, was da geschah. »Moment«, rief er und fuchtelte mit den Händen. »Sie war das! Nicht ich!«

»Netter Versuch«, sagte das Mädchen und zwinkerte ihm wieder zu. »Aber die Wächter haben den Dieb ganz deutlich erkannt. Und ich kann es nicht gewesen sein, weil sie mich nämlich noch nie in ihrem Leben gesehen haben.«

Fin schluckte. War das, was sich auf seiner Stirn sammelte, Angstschweiß oder nur Tiefenstädter Moder? »Aber das ist doch vollkommen …« Unmöglich, hatte er sagen wollen, doch das Wort blieb ihm im Hals stecken. Weil es eben doch möglich war. Vollkommen möglich. Hatte er nicht eben erst daran gedacht, wie oft er selbst diese Nummer schon aufgeführt hatte?

Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. Das Mädchen war … »vergessbar«, genau wie er. Plötzlich passte alles zusammen. Deshalb hatte er sie nicht bemerkt und war mit ihr zusammengestoßen. Weil sie nicht auffiel, genauso wenig wie er.

Er holte Luft. In seinem ganzen Leben war er so jemandem noch nicht begegnet. Jemandem, der auch vergessbar war. Er hatte nicht einmal daran gedacht, dass es das überhaupt geben könnte.

»He, warte!«, rief er, als der Wächter ihn am Arm packte, doch zu spät. Das Mädchen war bereits die aufgeweichte Straße entlanggerannt und verschwunden. Als ob sie das schon zigmal getan hätte, genau wie er.

Fin steckte die freie Hand in seine Diebestasche und blickte zu den Wächtern auf. Er musste dem Mädchen folgen und diese Schwachköpfe deshalb schleunigst loswerden. Tief unten aus der Tasche holte er einen kleinen Stein aus Glas, den er genau für einen solchen Anlass dabeihatte, und zerdrückte ihn zwischen den Fingern. Rauch stieg auf und verdichtete sich zur Gestalt eines Riesen.

»Hilfe!«, rief ein Wächter. »Ein Nebelmann das ist!«

Die Schaulustigen sahen mit zurückgelegten Köpfen ehrfürchtig zu, wie der Gigant aus Rauch immer größer wurde. Das heißt mit Ausnahme von Fin. Er entwand sich dem Griff des Wächters so mühelos, wie er sich aus den Gedanken der Anwesenden stahl. Es war sein allerletzter Rauchköder, und er verbrauchte ihn nur ungern, aber so war ihm der Erfolg wenigstens sicher.

Er folgte dem Mädchen zwischen den Zuschauern hindurch in Richtung Hafen. Jetzt ging es nicht mehr um Heimlichkeit, sondern nur noch um Schnelligkeit. Der Morast zog schmatzend an seinen Schuhen.

Außer Atem kam er am Pier an. Er fand schnell heraus, wohin das Mädchen verschwunden war. Ein Schiff hatte gerade abgelegt und fuhr nach draußen, dorthin, wo der große Strom sich in diese Welt ergoss. Und tatsächlich stand das Mädchen am Heck und blickte zum Ufer zurück.

Fin hatte das Schiff bei seiner Ankunft nicht bemerkt, er hätte es sonst sofort erkannt. Seine Silhouette war unverkennbar, auch wenn es viel kleiner und schlanker war als die große Galeone, die einmal vor seinen Augen als Tintenzeichnung über die Überallkarte gefahren war.

Nein, es bestand kein Zweifel. Dieses Schiff sah genauso aus und gehörte vielleicht sogar zur selben Flotte wie das Schiff, das die Karte ihm gezeigt hatte. Das Schiff mit seiner Mutter.

»Halt!«, schrie er, so laut er konnte.

Das Mädchen sah ihn, winkte und grinste breit. »Danke für die Ablenkung, Bruder Phantom!« Er hörte ihre Stimme aufgrund der Entfernung nur ganz leise, aber sie schien es ernst zu meinen. Glaubte sie etwa, er habe ihr absichtlich geholfen?

Hastig sah er sich nach der Unternehmungslustigen Krake um und fand sie ganz in der Nähe. Er rannte zu ihr. Der Steg wackelte unter seinen Füßen wie alte Gelatine.

»Alle Segel setzen, Tauknochenmann!«, rief er in die Takelage hinauf und sprang an Deck. »Anker lichten, Piratten!« Er beugte sich vor, darauf gefasst, dass das Schiff gleich losfahren würde.

Doch nichts geschah. Die Krake schaukelte sanft, legte aber nicht ab. Drei Nager, die im Schatten des Vordecks saßen und mit kleinen Zähnen auf eine Kupfertasse warfen, blickten auf.

»Wir müssen losfahren!«, rief Fin ihnen zu. Er stampfte mit den Füßen auf, um sie aufzuscheuchen. Doch die drei gähnten nur und hüpften weg, um anderswo zu faulenzen.

Fin begann vor Ungeduld, Verzweiflung und Enttäuschung am ganzen Leib zu zittern. Es hatte keinen Zweck. Natürlich folgten sie seinem Befehl nicht. Er war ja ein Fremder für sie. Die Besatzung der Krake hatte ihn schon wieder vergessen, wie alle anderen auch.

Er ließ einen langen, zittrigen Atemzug entweichen und ging mutlos nach achtern. Flüsterlianen schlangen sich um die Heckreling und wiederholten seine Worte, während er dem Schiff des Mädchens nachsah, das sich immer weiter entfernte.

»Wer bist du?«, fragte er, an niemanden gerichtet. Die Lianen echoten:

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Er schloss resigniert die Augen. Das Mädchen war die einzige andere vergessbare Person, der er je begegnet war, und sie fuhr auf einem Schiff wie dem, das die Karte ihm gezeigt hatte. Das Schiff war die Spur, auf die er so lange gewartet hatte, und jetzt fuhr es vor ihm davon.

Es näherte sich in diesem Moment dem offenen Wasser des Piratenstroms und wandte Fin seine Breitseite zu. Darauf prangte ein gezacktes Symbol aus Metall, das in dem grünlichen Licht fahl leuchtete. Fin kniff die Augen zusammen. Vielleicht konnte er erkennen, was es bedeutete. Doch bevor er es noch genauer betrachten konnte, schluckte der Horizont das Schiff. Es hatte den Strom erreicht, und das Mädchen war endgültig verschwunden.

Auch die fahlgrüne Sonnenscheibe näherte sich dem Horizont, und das Licht ihrer Strahlen wirkte noch kränklicher. Der Tag neigte sich dem Ende zu. Die Lianen um Fin nahmen sein Schniefen auf, bis es klang, als weine das ganze Schiff. In ihm kämpften die gegensätzlichsten Gefühle – die Freude darüber, jemanden getroffen zu haben, der war wie er, und der Kummer, dass er nicht wusste, wie er das Mädchen wiederfinden sollte.

In dem Moment ging mit einem Knall die Luke der Krake auf, und Licht fiel auf Deck. Ein Schatten trat heraus und schlurfte schwerfällig näher. Er hatte einen eidechsenähnlichen Kopf, vier Arme und einen dicken Schwanz, der hinter ihm über die Planken schleifte. Der Griesgram rülpste geräuschvoll, steckte sich einen Finger ins Ohr und kratzte sich mit den Fingern einer anderen Hand den Rücken. An der dritten Hand hing eine Gießkanne, an der vierten eine halb gegessene Möggelkrabbe.

Als das Ungetüm sich dem Heck näherte, runzelte es die Stirn. »Schluss mit dem Gejammer«, sagte er und schwang die Gießkanne. »Ich komme, um euch zu gießen.«

gejammerschlussjetztgießen

echoten einige der wie Münder geformten Knospen.

Fin wischte sich mit dem Ärmel über die Nase. »Das bin nur ich«, sagte er.

Der Griesgram tat einen überraschten Schrei, den die Lianen vergnügt nachäfften. Er starrte sie böse an und wandte sich dann Fin zu. »Wer bist du noch mal?«

»Der, den man immer vergisst«, sagte Fin traurig.

»Das schränkt die Auswahl nicht gerade ein«, grunzte der Griesgram unwirsch. »Probier doch mal was Neues, und mach dich nützlich.« Er drückte Fin die Gießkanne in die Hände und ging wieder.

Seufzend hob Fin den Blick und suchte am dämmrigen Himmel nach einem Stern. Genauer nach dem Stern, den seine Mutter ihm gezeigt hatte und der bedeutete, dass jemand an ihn dachte. Doch an diesem Abend wurden die Sterne von Wolken verdeckt.

Er hob die Gießkanne und stieß dabei gegen seine Diebestasche. Etwas darin klirrte, und auf einmal erinnerte er sich wieder. Er grinste. Richtig, da war ja noch was!

Vorsichtig steckte er die Hand in die Tasche und holte einen silbernen Reif heraus. Den Armreif des Mädchens, den sie unter dem Ärmel versteckt hatte. Er hatte ihn ihr unbemerkt abgenommen, als er versucht hatte, sie festzuhalten.

Fin kicherte in sich hinein, warf den Reif in die Luft und fing ihn wieder auf. Das Mädchen mochte selbst eine hervorragende Diebin sein, aber niemand konnte es mit dem Meisterdieb aufnehmen. Zumindest nicht, ohne dabei Federn zu lassen.

Er hielt den Reif in das letzte Licht des zur Neige gehenden Tages. In der Mitte war dasselbe Symbol eingraviert, das er an der Seite des Schiffs gesehen hatte. Und diesmal konnte er es in aller Ruhe betrachten. Es zeigte einen Drachen unter einem Kreis, in dem eine Art Gebirge zu sehen war.

Und auf einmal spürte er trotz allem Hoffnung. Zum ersten Mal seit Marrill den Strom verlassen hatte, hatte er wieder eine Spur.

Kapitel 3Fangzähne und andere Autopannen

Am Anfang lief Marrills Plan wie am Schnürchen. Sie wartete, bis ihr Vater anrief und sagte, ihre Mutter sei operiert worden und die Ärzte seien optimistisch (puh!). Dann erzählte sie, sie sei über das lange Wochenende zu einer Campingfahrt eingeladen worden – natürlich an einen Ort, an dem es keinen Handyempfang gab. Aber weil ihren Eltern so viel daran lag, dass sie Freunde kennenlernte, konnte ihr Vater schlecht nein sagen.

Danach hatte sie auf einen Zettel geschrieben, dass es ihr gutgehe und sie bald wieder zurück sei. Zwar rechnete sie fest damit, dass sie den Zettel gar nicht brauchen und rechtzeitig zurück sein würde, aber nur für den Fall …

Jetzt musste sie nur noch an Remy vorbeikommen. Von Natur aus misstrauisch und auf ihren Ruf als beste Aufpasserin des Schulbezirks bedacht, hatte das ältere Mädchen es sich zur Aufgabe gemacht, eine Wiederholung des »Wüstenvorfalls«, wie Marrills wochenlange Abwesenheit im Sommer inzwischen genannt wurde, zu verhindern. Marrill war überzeugt, dass ihre Eltern Remy vor allem deshalb engagiert hatten, auch wenn sie es nicht zugaben.

Trotzdem machte sie sich keine Sorgen. Remy konnte ihr nicht verbieten, was ihr Vater ihr erlaubt hatte. Sie brauchte nur zu dem alten Parkplatz zu laufen, an dem sie »für den Ausflug abgeholt« wurde, und schon war sie wieder auf dem Piratenstrom unterwegs!

»Moment … warst du nicht auch damals vor dem Wüstenvorfall auf diesem Parkplatz?«, fragte Remy. Und ab da ging alles schief.

Zehn Minuten später bog Remy mit ihrem Auto auf den Parkplatz des verlassenen Einkaufszentrums ein. Marrill saß auf dem Beifahrersitz. »Lass mich einfach da drüben raus«, sagte sie und zeigte auf den rissigen Gehweg, der an der Ladenfront entlanglief. »Die anderen Kinder kommen sicher gleich.«

Die Runzeln auf Remys Stirn vertieften sich, und sie wurde langsamer. »Sind wir hier auch ganz bestimmt richtig?« Sie klang skeptisch.

Marrill nickte und tat ganz unbefangen. »Wir sollen uns hier treffen, und Mrs Mullen holt uns dann ab.«

Das Auto kam knirschend zum Stehen, und Marrill vergewisserte sich, dass Karnis Laufgeschirr gut befestigt war. Mit der anderen Hand packte sie den Rucksack, der zwischen ihren Füßen auf dem Boden stand. In ihm befanden sich Fins Jacke, Wechselwäsche und ein alter, mit Gras gepolsterter Meerschweinchenkäfig, in dem der Frosch saß.

Remy glaubte ihr nicht. »Und warum willst du eigentlich Karni mitnehmen?«

»Na ja, damit du ihn nicht zu füttern brauchst?« Marrill drückte die Tür auf, und ein Windstoß fuhr herein. »Danke fürs Bringen! Dann bis nächste Woche!« Sie stieg hastig aus.

»Warum die Eile?« Beeindruckend reaktionsschnell schnappte Remy nach Marrills Rucksack, während sie noch den Parkgang einlegte. Kurz darauf standen sie beide auf dem leeren Parkplatz und starrten sich an. In der Ferne donnerte es. Am Horizont waren Gewitterwolken aufgezogen, die rasch näher kamen.

»Mrs Mullen kommt bestimmt bald, Ehrenwort. Du kannst ruhig schon fahren«, drängte Marrill. »Wirklich.«

Der Wind warf Remys langen, blonden Pferdeschwanz hin und her. »Ich lasse dich auf keinen Fall allein hier warten, auf gar keinen Fall.« Wieder grollte Donner, wie um ihre Aussage zu unterstreichen.

Bei den ersten Regentropfen zuckte Marrill zusammen. Ein Schauer prasselte auf den Parkplatz nieder. Karni fauchte und stellte die Schwanzhaare auf. Marrill hob ihn hoch und legte schützend die Arme um ihn. »Ups, das dauert womöglich noch«, sagte sie. »Fahr du doch schon mal nach Hause. Ich warte da drinnen auf die anderen.« Sie zeigte mit dem Daumen auf einen leeren Laden. Hinter dem schmutzigen Schaufenster hing noch der Name ROSEBERGS in verblichenen roten Buchstaben.

Remy schüttelte den Kopf so heftig, dass er ihr fast von den Schultern sprang. »Du spinnst, wenn du glaubst, dass ich dich bei einem Gewitter in einer solchen Todesfalle zurücklasse. Der Laden kann blitzschnell mit Wasser volllaufen, Marrill, blitzschnell!«

Die brodelnden schwarzen Wolken über ihnen ließen Remys Furcht als nicht unbegründet erscheinen. Andererseits hoffte Marrill genau auf eine solche Sturzflut.

»Das ist doch nicht schlimm.« Marrill musste die Stimme heben, um den Wind zu übertönen. »Nur ein paar Tropfen! Als wir in Costa Rica gewohnt haben, hat es jeden Tag so geregnet!« Ein dicker Tropfen traf sie ins Auge, und sie musste zwinkern.

Doch Remy wollte davon nichts hören. »Marrill Aesterwest, du kommst jetzt sofort …« Sie sprach den Satz nicht zu Ende. Stattdessen starrte sie mit aufgerissenen Augen und offenem Mund über Marrills Schulter. »Ach du grüne Neune!«

Marrill drehte sich um. Jede Faser ihres Körpers war zum Zerreißen gespannt, und sie hatte die Lippen zu einem Lächeln verzogen, halb in der Erwartung, dass die Unternehmungslustige Krake in diesem Augenblick wieder auf den Behindertenparkplatz fuhr.

Doch statt eines Schiffs kam eine drei Stockwerke hohe Wand aus Wasser auf sie zu, deren oberes Ende schäumte und golden leuchtete, erfüllt von einer mächtigen, tödlichen Magie.

»Das ist der Strom!«, rief sie erschrocken.

»Sofort ins Auto!«, brüllte Remy. Sie packte Marrill am Rucksack, schob sie und Karni auf den Beifahrersitz und stieg hastig ebenfalls ein. Sie konnte die Tür gerade noch schließen, bevor die Welle sie traf.

Der Aufprall fühlte sich an, als hätte ein Riese das Auto aufgehoben und in einen See geworfen. Metall knirschte unter der Gewalt des Wassers. Remy schlang die Arme um Marrill und drückte sie auf den Sitz. Marrill ihrerseits drückte Karni an die Brust. Jetzt konnten sie nur abwarten.

»Uns passiert schon nichts«, versicherte Remy ihr. »Das ist nur eine Sturzflut. Das Wasser versickert so schnell, wie es gekommen ist. Wir müssen einfach ruhig bleiben und, äh, positiv denken.« Sie versuchte zu lachen, aber ihre Stimme zitterte.

Marrill wusste, dass im Wasser unterzugehen ihre kleinste Sorge war. Denn das Wasser, das sie umgab, hatte diesen vertrauten goldenen Schimmer, der bedeutete, dass das Auto jeden Moment in Flammen aufgehen, zu singen anfangen oder sich in ein Holzscheit, eine Wolke, ein Sandwich oder alles drei zugleich verwandeln könnte.

In Marrills Nacken breitete sich ein Kribbeln aus, das Gefühl des Möglichen – der reinen Magie. Karni fauchte und seine Schwanzspitze zuckte. Er befreite sich aus ihren Armen und sprang auf das Armaturenbrett.

»Findest du auch, dass es hier drin nach Donnerstag schmeckt?«, fragte Remy. »Warum schmeckt es nach Donnerstag?« Plötzlich klang Panik aus ihrer Stimme. »Wie kann Donnerstag überhaupt einen Geschmack haben?«

Marrill richtete sich auf und sah sich um. Sie schwammen jetzt, zum Glück. Aber die Wüste war verschwunden. Stattdessen umgab sie eine endlose Fläche goldenen Wassers. Eine kleine Welle schwappte über die Kühlerhaube und um den Fuß der Antenne. Die Aluminiumstange explodierte mit einem Lichtblitz und setzte einen Schwarm kleiner, wie Tintenfische geformter Vögel frei, die wie zwitschernde Kolibris um das Auto schwirrten. Karni schlug mit der Pfote nach ihnen, traf aber nur das Fenster.

Remy fiel der Unterkiefer herunter. Sie zitterte am ganzen Leib und umklammerte das Lenkrad, als könnte das helfen. »W-was war das?«

Marrill breitete hilflos die Arme aus. »Willkommen auf dem Piratenstrom.«

Remy starrte sie mit großen Augen an. »Wo ist der Parkplatz und alles?«, flüsterte sie.

»Okay«, sagte Marrill und überlegte angestrengt. »Die gute Nachricht ist: Wir leben noch. Und sind noch Menschen.« Im selben Augenblick begann das Auto heftig zu schwanken. Die Karosserie ächzte, und aus der Kühlerhaube vor ihnen wuchsen durchsichtige Schuppen. »Die schlechte Nachricht ist, dass wir das vielleicht nicht bleiben …«

Über ihnen faltete sich das Schiebedach zu einer Spitze auf, die verdächtig einer Haifischflosse ähnelte. Marrill nahm Karni und drückte ihn an sich. Dann sah sie Remy an. »Egal, was passiert, pass auf, dass du nicht mit dem Wasser in Berührung kommst! Und halt dich fest!«

Die Kühlerhaube sprang auf, und lange, krumme Fangzähne wuchsen heraus. Im Auto wurden die Matten unter ihren Füßen ganz weich und schwammig. Entlang des Türrahmens erschienen lange Reihen schmaler Zähne. Offenbar verwandelte das Auto sich gerade in ein Meeresungeheuer, und sie saßen in dessen Maul.

Die Kotflügel wölbten sich und wurden immer durchscheinender, je mehr das Metall sich streckte und je dünner es wurde. Das eigenartige Geschöpf blähte sich auf, bis es größer war als ein Heißluftballon und auf den Wellen des Stroms auf und ab hüpfte.

Remy schrie. Marrill konnte sich noch einen Augenblick länger beherrschen, dann schrie sie ebenfalls. Von irgendwo hinter ihnen kam aus dem aufgedunsenen Rumpf des Ungeheuers, vormals bekannt als Remys Auto, ein tiefes, hohlklingendes Stöhnen.

Das Stöhnen ging Marrill durch und durch, und um sie begann sich alles zu drehen. Es klang so verzweifelt und einsam, dass in Marrill Mitgefühl erwachte.

Allerdings nur für einen kurzen Moment. Dann wurden sie gründlich durcheinandergeschüttelt, und sie fiel auf den Rücken. Eine dicke, widerwärtig stinkende Flüssigkeit bedeckte ihre Arme und verklebte ihre Haare. Remy wurde gegen sie geschleudert und traf sie mit dem Ellbogen in die Hüfte. Marrill stöhnte schmerzerfüllt auf.

»Wir gehen unter«, schrie Remy. »Halt dich an mir fest, Marrill!«

»Ich kann dich ja gar nicht loslassen!«, schrie Marrill zurück. Sie lagen jetzt auf einer großen, schwammigen Zunge. Das Ungeheuer bewegte sich. Sie tauchten in den Piratenstrom ein!

»Alles wird gut«, sagte Marrill, um sowohl sich selbst als auch Remy zu beruhigen. Sie befanden sich gleichsam im Leib einer riesigen Qualle. Einer Qualle mit einem Gebiss voller hässlich krummer Zähne. Aber solange das Wesen sein Maul geschlossen hielt, konnte ihnen eigentlich nichts passieren. »Coll sagt, der Tiefstrom bestehe in Wirklichkeit aus mehreren verschiedenen, einander überlappenden Flüssen. Wenn wir untertauchen, bedeutet das also vielleicht nur, das wir einer anderen Abzweigung folgen.«

»Ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon du sprichst«, erwiderte Remy unwirsch.

Karnelius wand sich in Marrills Armen und miaute laut. Sie drückte ihn beruhigend an ihre Schulter. »Ist ja gut, Karni«, flüsterte sie und küsste ihn auf den Kopf.

»Natürlich, alles ist ganz prima«, sagte Remy. Marrill sah sie an und musste grinsen. Die Panik stand Remy ins Gesicht geschrieben, und die blonden Haare klebten von der Spucke des Ungeheuers an ihrer Stirn. »Oder eben überhaupt nicht«, murmelte sie.

Marrill reckte das Kinn. »Ich finde, du bist mir eine Entschuldigung wegen meiner Matheaufgabe schuldig.«

»Finde ich nicht«, erwiderte Remy streng. »Mathe ist Mathe, Marrill. Aber gut, das mit diesem Zauberfluss hat wohl gestimmt. Wie kommen wir von hier weg?«

Das Ungeheuer drehte den Kopf zuerst in die eine und dann in die andere Richtung, aber Marrill sah durch die durchsichtige Haut nur die goldenen Strudel des Wassers, durch das sie glitten.

Ein heftiger Ruck warf sie unvermutet zurück, und Karni rutschte von ihrem Schoß. Das Ungeheuer stieg zappelnd in die Höhe. Das goldene Wasser wich blauem Himmel, und Marrills Ohren gingen zu. Die Kreatur tauchte aus dem Strom auf, und ließ ein lautes Rülpsen hören.

»Halt dich an mir fest!«, schrie Remy und zog Marrill an sich. Das Ungeheuer blieb in der Luft stehen. Es schwang hin und her, stieg aber nicht weiter auf.

»So was mussten die Kinder in Narnia nicht aushalten«, stellte Remy fest. »Konntest du uns nicht einen schönen Kleiderschrank zum Durchgehen suchen?«

Das Maul ging auf, und sie stürzten auf das harte hölzerne Deck eines Schiffs.

»Auaaaa«, jammerte Marrill und rollte auf den Rücken. Das Geschöpf schwang über ihnen hin und her. Es hing mit einem seltsamen Flossenfuß an einem Netz, das seinerseits an einem Mast hing, der hoch über ihnen aufragte. Und noch darüber flatterte eine schwarze Flagge. Eine schwarze Piratenflagge.

»Na prima«, ächzte Marrill.

Im nächsten Moment wurden sie von einer Gruppe bedrohlich aussehender Gestalten umzingelt – von Menschen, menschenähnlichen Wesen und Wesen, die eher keine Ähnlichkeit mit Menschen hatten. Ihre Haut war tief von der Sonne gebräunt, wenigstens bei denen, die eine Haut hatten. Einige hatten auch ein Fell oder Schuppen oder was immer diese pinkfarbenen stachligen Dinger waren. Ihre Kleider waren von der harten Arbeit auf See an den Säumen verschlissen, und alle hielten Waffen in den Händen. Und kein Einziger lächelte.

»Hallo?«, sagte Marrill zögernd. »Schön, euch kennenzulernen.«

Die Piraten wichen zur Seite, und ein Mann trat vor und blickte finster auf sie herunter. Er war hochgewachsen und mager, seine knielange Hose und seine Weste bestanden aus glänzendem Leder. So gut wie jeder Zentimeter der sichtbaren Haut war mit Narben oder Tätowierungen bedeckt.

»Der gehört vermutlich euch«, sagte er und hielt Karni am Nacken hoch. Sogar der sonst immer so grantige Kater schien sich in sein Schicksal ergeben zu haben.

»Bitte tötet uns nicht«, redete Remy drauflos. »Ich mache in, äh, einem Monat die Zulassungsprüfung zur Universität und wollte mir gerade verschiedene Colleges ansehen …«

Da musste Marrill plötzlich lächeln. Weil vor ihnen nicht irgendein beliebiger böser Piratenkapitän stand.

»Stavik!«, rief sie und sprang auf. Und bevor er sich wehren konnte, hatte sie sich schon an den in Drachenleder gekleideten Piratenkönig geworfen.

 

»Also …« Marrill legte die Finger aneinander, eine Geste, die sie sich bei Ardent abgeschaut hatte. Er tat das immer, wenn er über etwas Wichtiges nachdachte. Hoffentlich sah es bei ihr auch so aus.

Sie verstummte, in der Hoffnung, dass einer der Piraten einsprang und sie nicht zugeben musste, dass sie keine Ahnung hatte, was sie sagen oder wo sie anfangen sollte. Sie saßen um einen verschrammten Holztisch in Staviks Kajüte, Marrill Stavik gegenüber. Die anderen Piraten waren auch anwesend, saßen aber etwas weiter hinten als ihr Chef. Jeder hielt ein Glas in der Hand, das mit einer bernsteingelben, stark riechenden Flüssigkeit gefüllt war. Marrill hielt stattdessen einen Becher mit warmer Milch. Remy saß neben ihr. Sie hatte die Arme verschränkt und zitterte ein wenig.

»Er sieht fies aus«, flüsterte sie Marrill ins Ohr.

»Er ist der Piratenkönig«, erwiderte Marrill. »Da muss er fies aussehen. Aber innerlich ist er ein Kätzchen.«

Stavik schnaubte. »Kätzchen haben scharfe Krallen und spitze kleine Zähne.« Die Piraten wechselten unruhige Blicke. »Der Erste von euch, der mich Kätzchen nennt, verliert einen Finger«, warnte Stavik. Die Piraten starrten auf ihre Becher.

»Keine Sorge, er ist mir was schuldig«, flüsterte Marrill Remy zu. »Schließlich habe ich seine Leute von einem Zauber befreit und von einem sinkenden Schiff gerettet. Piraten haben ein ausgeprägtes Ehrgefühl.« Glaube ich zumindest, fügte sie stumm hinzu.

Remy kniff die Augen zusammen und musterte Stavik mit ihrem Wehe-du-tust-mir-was-Blick, sagte aber nichts.

»Also …«, setzte Marrill erneut an. »Die Purpurrote Schlange ist ein schönes Schiff.« Sie sah sich um. »Ist sie neu?«

Im Raum wurde es totenstill, und die Blicke aller Piraten wandten sich Stavik zu. Marrill fragte sich, ob der Piratenkönig den Verlust seines letzten Schiffes, des Schwarzen Drachen, womöglich noch nicht ganz verkraftet hatte.

Sie räusperte sich und machte einen neuen Anlauf. »Ich meine, äh, wie … läuft es mit der Arbeit?« Die Piraten wechselten Blicke, und sie meinte von irgendwo her ein »nicht schlecht« zu hören, aber Stavik schwieg. Er starrte sie nur mit seinen kalten Augen unverwandt an und hatte das Gesicht zu einer verächtlichen Grimasse verzogen.

Marrill trank einen großen Schluck Milch und nahm ihren ganzen Mut zusammen. »Habt ihr zufällig die Unternehmungslustige Krake irgendwo in der Nähe gesehen? Mit Kapitän Coll, dem Zauberer Ardent und noch einem Jungen, den ihr wahrscheinlich vergessen habt?«

Einige Piraten schienen sich zu erinnern, aber Stavik tat keinen Mucks. Er zwinkerte nicht einmal mit den Augenlidern.

»Weil ich die nämlich suche«, fuhr Marrill fort. »Aus einem wichtigen Grund.«