Map of Magic - Die Karte der geheimen Wünsche (Bd. 1) - Carrie Ryan - E-Book

Map of Magic - Die Karte der geheimen Wünsche (Bd. 1) E-Book

Carrie Ryan

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Beschreibung

Eine magische Landkarte, unzählige Welten, die über einen magischen Strom verbunden sind, und zwei Kinder, die deren Untergang verhindern müssen! Der zwölfjährige Fin aus Khaznot Quay scheint ein ganz normaler Junge zu sein: dunkle Haare, zwei Augen, keine scharfen Kanten. Doch er ist »magisch vorbelastet« – wer ihn sieht, vergisst ihn sofort wieder. Außer dem Mädchen Marrill, das versehentlich in Fins Welt des magischen Stroms geraten ist. Genau wie Fin ist sie auf der Suche nach einer sagenumwobenen Landkarte, die jeden Menschen an den Ort führt, wo er sich hinwünscht. Aber auch andere, finstere Zeitgenossen machen Jagd auf die Karte, und Fin und Marrill geraten in ein Abenteuer voller Rätsel und halsbrecherischer Gefahren! Der erste Band der vierteiligen Serie. Weitere Titel: »Map of Magic - Das Mysterium der sinkenden Stadt« (Band 2) »Map of Magic - Das Rätsel des leuchtenden Orakels« (Band 3) Pressestimmen zu »Map of Magic«: »Hier ist alles möglich: eine intelligente Mischung aus Humor und Phantasterei!« Kirkus Reviews »Schwindelerregende Welten voller bizarrer Kreaturen, verschränkter Zeitebenen und faszinierender Schauplätze!« Booklist »Ein herrlich dicker, toll geschriebener Schmöker für Freunde von Abenteuergeschichten, in dem es nicht immer zimperlich zugeht.« Norddeutscher Rundfunk »Mega spannend!« Westfalen-Blatt

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Seitenzahl: 443

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John Parke Davis | Carrie Ryan

Map of Magic - Die Karte der geheimen Wünsche (Bd. 1)

Aus dem Amerikanischen von Wolfram Ströle

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungKantsys Waisenanstalt am HafenKapitel 1 Der Geist aus dem PfützenwegKapitel 2 Das Piratenschiff auf dem ParkplatzKapitel 3 Diebe in der PastetenbäckereiKapitel 4 Die Seepocken bitte nicht berührenKapitel 5 Wachehalten und andere erfolglose TätigkeitenKapitel 6 Marrill wachsen FedernKapitel 7 Tot ist tot ist totKapitel 8 Ardent erklärt alles (ziemlich schlecht)Kapitel 9 Der Meisterstreich eines MeisterdiebesKapitel 10 Was machst du denn hier?Kapitel 11 Ein Tentalo umsonstKapitel 12 Zauberei, Tattoos und mehrKapitel 13 Jemand, der sich an dich erinnertKapitel 14 Abenteuer in Khaznot QuayKapitel 15 Jetzt musst du rennenKapitel 16 Ein merkwürdiger FremdenführerKapitel 17 Die WindroseKapitel 18 Der blinde PassagierKapitel 19 Keine SpurenKapitel 20 Krake gegen KrakeKapitel 21 Fin spricht mit einem BaumKapitel 22 Gerüchte und GeheimnisseKapitel 23 Giftiges FeuerKapitel 24 TeamworkKapitel 25 Der PlapperhainKapitel 26 Ein unerwarteter SiegKapitel 27 Die weinenden BäumeKapitel 28 SchlappKapitel 29 Es sinkt das SchiffKapitel 30 Die meressianische ProphezeiungKapitel 31 Eine Wüste aus Eis und SchattenKapitel 32 Eis auf der ZungeKapitel 33 Der GriesgramKapitel 34 Dinge fallen auseinanderKapitel 35 Eine Frage des MaßstabsKapitel 36 Ein Schiff aus Eisen mit einer Mannschaft aus SchattenKapitel 37 Die Karte zeigt den WegKapitel 38 Der Schlüssel öffnet das TorKapitel 39 Die ProphezeiungKapitel 40 Die ÜberallkarteKapitel 41 Ausblick auf künftige EreignisseKapitel 42 Wohin du gehen musstKapitel 43 Wo du sein musstKapitel 44 Das FreundschaftszeichenEpilogDanksagung

Für Jason, ohne den der große Strom nicht leuchten würde – JPD

 

 

Für meinen Dad, der meine Phantasien ertragen hat – CR

Kantsys Waisenanstalt am Hafen

Personalbogen – bitte nicht aufessen!

Name des Waisen:VNU NNU

Alter:vier (ungefähr)

Geschlecht:xmännlich

Haare/Fell/Schuppen:schwarz

Augen:2

Art (bei Bedarf zusätzliche Blätter beifügen):Mensch

Hat der Waise Krallen, Hörner, Stacheln oder scharfe Kanten? xnein

Ist der Waise magisch veranlagt oder in dieser Richtung vorbelastet:xja

Wenn ja, bitte Erläuterung:

Bleibt nicht im Gedächtnis haften, fällt nicht auf. »Unscheinbar«, aber so sehr, dass Magie im Spiel sein muss. Man vergisst ihn, sobald er das Zimmer verlassen hat. Habe schon dreimal vergessen, warum ich diesen Bericht überhaupt schreibe – der Junge steht in diesem Moment vor mir, damit ich den blöden Bogen endlich fertigkriege und nicht gleich wieder abschweife. Ursprung des Leidens unbekannt.

 

 

Geschichte des Waisen:

Vor zwei Tagen hatte die Anstalt Besuch von einer merkwürdigen Dame. Die Dame hat sich als Nichta Richtigename ins Gästebuch eingetragen, als Geburtsort gab sie die ausländisch klingende Hafenstadt Gansweitweck an, eingetroffen ist sie um Punkt 10.00 Uhr mit Kind, gegangen eine Stunde und drei Minuten später ohne dasselbe. Dem weiteren Eintrag zufolge hat Nichta Richtigename die Waisenanstalt exakt eine Stunde besichtigt. Laut Mr Gubbens, unserem obersten Waisenhirten, ist sie in dieser Zeit allein durch die Anstalt gelaufen und hat an niemanden gerichtet und aus keinem ersichtlichen Grund laut die Anstaltsregeln vor sich hin gesagt. Die verbleibenden drei Minuten ihres Besuchs sind nicht dokumentiert.

Kurz darauf wurde in einem der Stockbettzimmer eine zusätzliche Garnitur Jungenkleider aufgefunden. Gerüchte über einen kuschelbedürftigen, hungrigen Geist, der Essen aus der Küche stehle, machten die Runde. Entsprechende Ermittlungen führten zur Auffindung eines Kindes, das Mrs Canaly Parsnickle, der Erzieherin der Drei- bis Sechsjährigen, zur Betreuung übergeben wurde.

Der Junge befindet sich gegenwärtig in Obhut von Mrs Parsnickle, die sich offenbar als Einzige längere Zeit an ihn erinnern kann. Solange sie ihn nicht vergisst, wird es ihm bestimmt gutgehen.

Kapitel 1Der Geist aus dem Pfützenweg

Fin duckte sich hinter ein Regal mit schwarzgebrannten Aromatropfen und ignorierte krampfhaft den Gestank nach Rattenfell und Brokkolisaft, der aus den schmuddeligen Flaschen drang. Erst zehn Minuten zuvor hatte der Besitzer des heruntergekommenen kleinen Ladens, ein fies aussehendes, graugeschupptes Monster namens Haifischzahn, ihn hereingelassen, damit er sich vor Ladenschluss noch ein wenig umsehen konnte. Anschließend hatte Haifischzahn ihn sofort vergessen.

Es gab viele Einbrecher, dachte Fin mit einem Grinsen, aber nur wenige Ausbrecher.

Während Haifischzahn den Riegel an der Ladentür vorschob, blieb Fin in seinem Versteck – er war zwar unscheinbar, aber nicht unsichtbar. Mit den Augen folgte er Haifischzahn ins Nebenzimmer, wo der alte Gauner sich schlafen legte. Anschließend wartete er noch, bis es draußen in den verwinkelten Gassen von Khaznot Quay vollends dunkel war und die Windböen, die unablässig pfeifend vom Berg zur Bucht niederfuhren, ihre abendliche Lautstärke erreicht hatten.

Jetzt war es so weit.

Vorsichtig richtete Fin sich auf, rieb sich die taub gewordenen Beine und schlich an den mit allem möglichen Trödel gefüllten Regalen entlang zu der alten Vitrine hinter dem Ladentisch. Das Objekt seiner Begierde war nicht zu übersehen: eine goldene Brosche mit einem Smaragd, der hinter der verschmierten Glasscheibe blitzte und funkelte wie die Sonne. Aufgeregt leckte Fin sich die Lippen.

Mit einem Finger tastete er nach den versteckten Drähten an der Vitrinentür und fuhr an ihnen entlang zu den Gegenständen, mit denen die Tür gesichert war: einem Handfänger und einigen Säurespritzen. Standardware – sie zu deaktivieren war kinderleicht.

»So was von läppisch, Haifischzahn«, murmelte Fin. Er löste die Fallen mit einem leisen Ploppen ab und hebelte das Türschloss auf. »Lass dir für das nächste Mal etwas Schwierigeres einfallen.« Grinsend streckte er die Hand nach dem Türgriff aus. Er würde mit der Brosche über alle Berge sein, noch bevor der alte Vollhonk richtig schlief.

Die Hoffnung erlosch in dem Augenblick, als er die Türflügel aufzog. Ein schrilles Quietschen zerriss die Luft. Fin erstarrte. Die perfekte Aktion, zunichtegemacht durch ein rostiges Scharnier!

Der alte Haifischzahn kam aus seinem Schlafzimmer gerannt. »Wer kriegt diesmal die Fresse poliert?«, brüllte er und schwang einen dicken Prügel.

»Danke für das Angebot!«, rief Fin und riss die Brosche aus der Vitrine. Haifischzahn stürzte sich auf ihn, aber ein guter Dieb reagiert instinktiv – und Fin war der beste. Im selben Moment, in dem der Prügel durch die Luft sauste, sprang Fin auf den Ladentisch. Der Prügel krachte in die Vitrine, und Glassplitter flogen in alle Richtungen.

Junge und Schuppentier starrten sich an und warteten darauf, wer den ersten Zug machen würde. Fin hatte sich geduckt und hielt die Arme vor sich, bereit, jederzeit wegzurennen. Haifischzahn durchbohrte ihn mit Augen wie schwarzen Löchern. Darunter mahlten seine mit schartigen Zähnen besetzten Kiefer.

Dann griff er mit einem wütenden Knurren erneut an. Fin täuschte einen Ausfallschritt nach links vor, sprang auf den Boden und rannte zum Ausgang. »Zu langsam!«, schrie er, als das alte Monster ihm schwerfällig hinterherpolterte und dabei kaputte Ohrflöten und verrostete Sonnentrichter aus den Regalen fegte.

Fin drehte sich nicht um. Er riss den Türriegel zurück und stürzte in die Nacht hinaus. Der Laden lag in einem kurzen Tunnel, gebildet von zwei vornübergeneigten Häusern, die wahrscheinlich eines Tages genau zur selben Zeit in dieselbe Gasse stürzen würden. Nur zwei Wege führten nach draußen. Fin nahm aufs Geratewohl einen und rannte los.

»Elendes Junggemüse!«, brüllte Haifischzahn und nahm die Verfolgung auf.

Das Trampeln seiner Füße war von dem Heulen des Windes im Hintergrund deutlich zu unterscheiden. Fin schluckte. Er wusste, dass er schneller rennen konnte als die meisten, er hatte es oft genug tun müssen. Wer allerdings so viel Dreck am Stecken hatte wie Haifischzahn, hatte ebenfalls einige Übung im Weglaufen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er Fin vom Haiköder in Haifutter verwandeln würde.

Zum Glück hatte Fin für solche Situationen Plan B. Es war für einen Dieb ein großer Vorteil, wenn man sich nicht an ihn erinnerte. Das Gedächtnis der Leute ließ zwar nicht ganz so schnell nach, wenn sie ihn dabei erwischten, wie er, äh, zum Beispiel Schmuck aus einer abgeschlossenen Vitrine klaute, aber eins hatte sich in seinem Leben als unumstößliche Tatsache herausgestellt: Auch sie vergaßen ihn.

Er bog flink in eine Nebengasse und drückte sich in den nächsten Hauseingang. Schon kam Haifischzahn schlingernd um die Ecke und stürmte an ihm vorbei. Nach einigen Schritten blieb er stehen, sah sich suchend um und hob witternd die Nase.

Fin setzte sein unschuldigstes Gesicht auf, trat hinter ihn und zupfte ihn am Ärmel. »Suchen Sie das Mädchen, das gerade mit einer Halskette hier durchkam?«

Haifischzahn fuhr herum. »Was? Ein Mädchen? Nein …« Er brach ab und strich sich mit der Hand nachdenklich über das grobgeschuppte Kinn. Der Wind, der über ihre Köpfe hinwegfuhr, ließ das Licht der Laternen in seinen kohlschwarzen Augen tanzen. »Könnte schwören, dass es ein Junge war … ich habe ihn deutlich gesehen … aber jetzt, wo ich darüber nachdenke, erinnere ich mich eigentlich doch nicht so genau …«

Fin zuckte gelangweilt mit den Schultern, wie er es in solchen Situationen immer tat. »Na ja, hier kam jedenfalls ein Mädchen durch. Dunkelrote Haare, etwas kleiner als ich?«

Haifischzahn legte den Kopf schief. »Dunkelrote Haare, doch, das klingt vertraut. Und klein war sie auch …«

»Dann war sie es!«, rief Fin. »Kam eben hier durchgesaust wie der Wirbelwind und rannte in diese Gasse hinein.« Er streckte den Arm aus. »Schätze, sie wollte ins Hafenviertel.«

Haifischzahn nickte. »Danke, mein Junge.« Er grinste höhnisch. »Glaub nicht, dass du die je wiedersiehst.« Er trabte in der Richtung weiter, in die Fin gezeigt hatte, und schwang seinen Stock durch die Nacht.

»Bestimmt nicht«, kicherte Fin, als Haifischzahn ihn nicht mehr hören konnte. Er wartete noch ein paar Minuten, bis er ganz sicher war, dass der alte Gauner ihn vergessen hatte. Dann zog er die Hand aus der Tasche. Darin lag neben der funkelnden Smaragdbrosche die samtene Geldbörse, die er Haifischzahn vom Gürtel gezogen hatte.

Mit dem Daumen strich er über die Oberfläche der Brosche. Der Meisterdieb von Khaznot Quay hatte wieder einmal erfolgreich zugeschlagen. Pfeifend schlenderte er weiter und zählte dabei die Münzen in der Börse. Wie sich herausstellte, hatte der alte Haifisch an diesem Tag saftig verdient!

Fin gelangte zur Seufzerhöhe, dem Stadtteil, in dem sich die Behausungen der Armen an den steilsten Teil der Bergflanke klammerten. Er bog um einige scharfe Ecken und eilte ein paar steile Gassen hinauf, bis er in ein modriges Gässchen namens Pfützenweg gelangte. Sein Ziel war das siebzehnte Haus auf der rechten Seite, ein klappriges Gebäude am äußersten Rand der Klippe. Vom Dach ragte ein hoher Turm auf, der im Wind schwankte und jeden Moment in die Bucht darunter zu stürzen drohte.

Fin ging langsamer und hörte auf zu pfeifen. Niemand hatte das Licht für ihn brennen lassen oder daran gedacht, die Tür nicht abzusperren. Aber er hatte auch gar nichts anderes erwartet. Hier war sein einziges Zuhause, seit er vor fünf Jahren mit gerade mal sieben die Waisenanstalt verlassen hatte. Doch niemand wusste es, nicht einmal Mr und Mrs Parsnickle, die ebenfalls hier wohnten.

Er nahm ihnen das allerdings nicht übel.

Mit der Leichtigkeit jahrelanger Übung sprang er von der Eingangstreppe zur Regenrinne hoch und hangelte sich daran zum Küchenfenster. Er sorgte immer dafür, dass es gut geölt war, und es ließ sich auch jetzt geräuschlos öffnen. Gleich hinter dem Fenster stand der alte Brotkasten, in dem die Parsnickles ihr Geld aufbewahrten.

Vorsichtig hob Fin den Deckel an, blickte hinein und schüttelte den Kopf. Leer. Die Parsnickles waren zu freigebig. Wenn er nichts dagegen tat, gaben sie den letzten Driller dafür aus, dass ein Fremder etwas zu essen bekam, und mussten dann selbst hungern.

Er schüttete den Inhalt der Börse in den Kasten und legte die Brosche obendrauf. Mrs Parsnickle hatte sie erst am Morgen bei Haifischzahn verpfändet, für eine Summe, die selbst für den alten Gauner unverschämt niedrig war. Anschließend hatte sie im nächsten Geschäft Schuhe für die Drei- bis Sechsjährigen der Waisenanstalt gekauft.

Fin hatte nicht die geringsten Skrupel gehabt, die Brosche zurückzustehlen. Für Mrs Parsnickle hätte er, wenn es möglich gewesen wäre, die ganze Welt gestohlen, so viel hatte sie ihm, dem damals Drei- bis Sechsjährigen, bedeutet. Mit Ausnahme seiner Mutter war Mrs Parsnickle die einzige Person, die sich tatsächlich an ihn erinnert und deshalb ein ganz besonderes Verhältnis zu ihm gehabt hatte. Es war nicht ihre Schuld, dass sie ihn schließlich auch vergessen hatte. Irgendwann taten das alle.

Und Fin wusste ja, dass sie nur Augen für die Drei- bis Sechsjährigen hatte. An ihn hatte sie sich vermutlich nur deshalb erinnert, weil die Kleinen ihr so am Herzen lagen. Und eines Tages war er eben zu alt gewesen.

Wenigstens hatte es auch Vorteile, von allen vergessen zu werden. Fin musste lächeln. Es war jetzt schon das dritte Mal in diesem Monat, dass er die Brosche von Haifischzahn zurückgeholt hatte! Obwohl die arme Mrs Parsnickle immer an ihrem Verstand zweifelte, wenn sie die Brosche im Brotkasten entdeckte.

Ein warmes Gefühl breitete sich in Fins Brust aus. Er legte den Deckel wieder auf den Kasten, zog das Fenster von außen zu und kletterte am Fallrohr zum Dachturm hinauf. Dabei mied er morsche Vorsprünge, und wenn der Wind zu stark wurde, hielt er sich besonders gut fest. Oben angekommen, schlüpfte er durch ein kaputtes Fenster. Erleichtert seufzte er auf. Es war schön, wieder zu Hause zu sein.

Mit eingezogenem Kopf stakste er durch das vertraute Chaos auf dem Boden. In Bergen von Wolkenfängernetzen hingen von selbst zurückkehrende Bälle, alte Landkarten und der ganze andere Kram, den er über die Jahre zusammengeklaut, aber nie wirklich verwendet hatte. Die Dinge bezeugten sein Talent als Dieb. Der deutlichste Beleg dafür war allerdings sein Schlafplatz.

Obwohl ihm niemand zusah, zog er die leere Samtbörse von Haifischzahn mit einer dramatischen Geste aus der Tasche. »Die Letzte!«, rief er und warf sie auf den Haufen von Samtbörsen, der ihm als Bett diente. Dann ließ er sich mit dem Gesicht voraus selbst darauf fallen. Was für ein Triumph! Sein Meisterwerk war vollendet.

In nur drei Jahren hatte er 462 Taschen um 462 Geldbörsen erleichtert. Der weiche Samt kitzelte ihn an Handflächen und Armen, und es machte ihm auch gar nichts aus, als aus einer Börse eine Kakerlake kroch. Seit er unter dem Dach wohnte, mochte er Käfer. Und Kakerlaken bissen wenigstens nicht wie die Zwickerlinge in den ledernen Geldbörsen, auf denen er früher geschlafen hatte.

»Das war ein guter Tag«, sagte er leise und rollte auf den Rücken. Er malte sich noch aus, wie überrascht und froh Mrs Parsnickle sein würde, wenn sie am nächsten Morgen die Brosche fand, dann schlief er ein.

 

»EIN GEIST, HIIIIIIIIIILFE!« Mr Parsnickles Geschrei drang durch die losen Bodendielen der Dachkammer und gellte Fin in den Ohren. Draußen heulte wie gewöhnlich der Morgenwind, doch selbst der konnte Mr Parsnickles Hilferufe nicht übertönen. Sie waren Fins morgendlicher Weckruf. Wahrscheinlich hatte der Alte den fehlenden Käse bemerkt, den Fin gestern als Abendessen stibitzt hatte.

Finn rollte vorsichtig von seinem provisorischen Bett herunter und steckte einige herausgefallene Börsen in den Haufen zurück. Er zog den Kopf ein, um nicht gegen einen Balken zu knallen, und schlängelte sich durch die Dachkammer. Auf der Klapptür, dem Zugang zum Haus darunter, stand eine mit Saphiren und Opalen besetzte Statue. Fin schob sie zur Seite und öffnete die Tür. Mit einem gedämpften Plumps landete er in der kleinen Kammer, die die Parsnickles nie renoviert hatten (oder zumindest nicht mehr, seit der »Geist« die dazu benötigten Werkzeuge von Mr Parsnickle versteckt hatte), und stieg lautlos die Treppe hinunter.

»Du meine Güte, Arler«, sagte Mrs Parsnickle gerade, als Fin auf dem Flur zur Küche angelangt war, »ich habe heute keine Zeit für den Quatsch mit dem Geist! Ich bin sowieso schon spät dran, und wenn ich mich nicht beeile, haben die Sechser die Fünfer schon in die Trockenkörbe am Badeteich gesteckt.«

Beim Gedanken an den Gestank des Badeteichs schüttelte es Fin. Wenigstens brauchte er den nicht mehr zu ertragen.

»Aber der Käse, Canaly, der Käse!«, jammerte Mr Parsnickle vom Ende des Flurs. »Der verflixte Geist hat den Käse versteckt!«

Fin schlich sich näher. In einem Spiegel sah er Mrs Parsnickle, die gerade den Dutt aus blaugrauen Haaren über ihrem schmalen Gesicht zurechtrückte, und daneben das große, rote Gesicht von Mr Parsnickle. Die feisten Wangen um seine weißen Stoßzähne zitterten.

»Du bist mir ein unmöglicher Ork!« Mrs Parsnickle lachte, und die beiden begannen sich abzuküssen. Fin würgte. Erwachsene waren so widerlich.

Er spähte um den Türpfosten. Wenige Meter vor ihm durchstöberte Mr Parsnickle den Vorratsschrank und holte einen Brotlaib und ein Stück Krötenbutter heraus, die Fin von allen Dingen am wenigsten mochte. Mrs Parsnickle schnappte sich rasch eine Scheibe Brot, gerade noch rechtzeitig, bevor Mr Parsnickle den zähen, grauen Schleim draufstreichen konnte, und ging zur Tür. Fin wollte schon an ihr vorbei in die Küche schlüpfen und den knusprigen Brotkanten klauen, da blieb Mrs Parsnickle zögernd stehen.

»Arler?« Sie bückte sich und hob etwas von den morschen Bodendielen auf. Als sie sich wieder aufrichtete, hielt sie ein sorgfältig zusammengefaltetes weißes Blatt Papier zwischen ihren dünnen Pinzettenfingern.

»Was denn?«, fragte Mr Parsnickle und bestrich eine weitere Scheibe Brot mit der klebrigen Masse. Er steckte sich die Scheibe zur Hälfte in den Mund und blickte seiner Frau über die Schulter.

»Sieht aus wie ein Brief«, verkündete Mrs Parsnickle.

Fin lehnte sich weiter in die Küche vor, als er es unter anderen Umständen getan hätte. Die Bewohner dieses Viertels bekamen in der Regel nie Briefe. Gelegentlich schickte die Anstalt eine Nachricht mit der Froschpost, oder ein Plapperkurier brachte eine Nachricht von Mr Parsnickles Verwandten an der Küste-die-man-besser-nicht-besucht. Aber nie einen richtigen Brief.

Mrs Parsnickle las mit gerunzelten Brauen. »Ist an einen gewissen M-Dieb adressiert.«

»Meisterdieb!«, platzte Fin heraus, bevor er es sich verkneifen konnte. Der Brief war für ihn!

Mr Parsnickle machte einen solchen Satz, dass er mit dem Kopf gegen die Decke stieß. Morsches Holz und Mörtel regneten auf ihn herunter. Mrs Parsnickle drückte den Brief an die Brust. Ihre Augen waren so groß wie Monde im Hochsommer.

Einen Moment lang sagte niemand etwas. Fin hätte sich ohrfeigen können. Er sah bestimmt merkwürdig aus, wie er da halb in der Tür hing – mit seinem schwarzen Haarschopf, der olivfarbenen Haut und den schmutzstarrenden Kleidern, die vor Dreck standen. Unwillkürlich ging er ein paar Schritte in die Küche hinein.

Mr Parsnickle löste das Rätsel. »Ein Landstreicher!«, rief er, griff nach einem Besen mit einem dicken Stiel und schwang ihn wie eine Keule über dem Kopf.

Fin hielt erschrocken an. »Mrs Parsnickle?«, sagte er leise, obwohl er wusste, dass es zwecklos war. »Ich bin’s, Fin.«

Mrs Parsnickle musterte ihn mit schräggelegtem Kopf und misstrauisch zusammengekniffenen Augen. Verzweifelt suchte er in ihrem Gesicht nach einem Hinweis darauf, dass sie sich an ihn erinnerte. Ihr Mund öffnete sich. Fin schöpfte Hoffnung, und sein Herz begann schneller zu schlagen.

»T-tut mir leid, junger Mann«, stotterte sie. »Kennen wir uns?«

Die Hoffnung erlosch, und Fin seufzte. Natürlich nicht. Mr Parsnickle richtete die Borsten des Besens auf ihn und machte eine langsame Kehrbewegung in Richtung Tür.

Er musste verschwinden. Wieder einmal.

Mit hängenden Schultern wandte er sich zum Gehen. Heute Morgen musste er also ohne Frühstück auskommen. Etwas anderes war ihm allerdings noch wichtiger als ein mit Krötenbutter bestrichener Kanten Brot. An der Tür drehte er sich zu Mrs Parsnickle um. Sie sah ihn immer noch verständnislos und ein wenig ängstlich an.

»Tut mir leid«, sagte er leise.

Ihre Augenlider zuckten, und sie runzelte die Stirn. »In fremde Häuser einzubrechen, gehört sich nicht«, erklärte sie empört. Mr Parsnickle hinter ihr schnaubte und hielt den Besen in Bereitschaft.

Fin zuckte mit den Schultern. »Ich meine nicht das«, sagte er. »Sondern das!« Er sprang mit einer schnellen Bewegung an ihr hoch und riss ihr den Brief aus der Hand.

Mr Parsnickle schwang brüllend den Besen und schlug zu. Der Besen verfehlte Fin nur um wenige Zentimeter und knallte auf den Boden.

»Vielen Dank auch!«, rief er und rannte los, durch die Tür nach draußen, in die enge Gasse. Die Pflastersteine unter seinen Füßen taten weh. Das war knapp gewesen.

Aber die Parsnickles würden ihn bald vergessen, und kein Schloss konnte ihn aus dem Haus aussperren. Und am wichtigsten war, dass er den Brief hatte. Seinen Brief.

Kapitel 2Das Piratenschiff auf dem Parkplatz

»Von einem Dinosaurier stammt er jedenfalls nicht«, sagte Marrill. Sie drehte den alten, verwitterten Knochen in der Hand hin und her und wischte sich mit dem Handrücken über die nasse Stirn. Drei siebenjährige Jungen blickten erwartungsvoll zu ihr auf. Die Sonne brannte heiß vom Himmel Arizonas herunter, und die Sohlen ihrer Flipflops schienen zu schmelzen. »Ich tippe auf eine Kuh«, fügte sie hinzu.

Schlagartig hörten die Jungen auf zu lächeln und runzelten die Stirn.

»Woher willst du das wissen?«, fragte der Älteste, Tim (oder Ted?). Sie standen auf der berühmten archäologischen Grabungsstätte der Hatch-Drillinge, besser bekannt als leerer Parkplatz am hintersten Ende des Viertels mitten im Nirgendwo.

Die Drillinge hatten sich an Marrill gewandt, weil die sich mit solchen Dingen auskannte. Schließlich hatte sie im vergangenen Jahr zusammen mit ihren Eltern drei Monate auf einer Ausgrabung in Peru verbracht. Dort hatten sie die Überreste eines Vogels zutage gefördert, der so groß war, dass er ganze Pferde als Snack hätte verspeisen können. Ihr Dad hatte darüber eine Dokumentation geschrieben, ihre Mom hatte Marrill mit einem Schnabel in der Hand fotografiert, der so groß war wie ihr Kopf. Das Foto hing inzwischen schon in einem Museum des Smithsonian.

»Weil es nur ein Knochen ist«, sagte sie sachlich. »Der von einem Dinosaurier wäre versteinert.«

Sie erwiderte den Blick des jüngsten Hatch, Tom (oder Tim?). Er hatte die Unterlippe vorgeschoben, und die Enttäuschung stand ihm überdeutlich ins Gesicht geschrieben. Seine Brüder machten ähnliche Gesichter.

Marrill bekam Gewissensbisse. Die drei hatten auf eine große Entdeckung gehofft, und sie hatte ihnen die Freude mit der langweiligen Wirklichkeit verdorben. Sie kannte dieses Gefühl nur zu gut. Aber dank der Berufe ihrer Eltern erlebte sie ständig coole Abenteuer und würde bald zum nächsten aufbrechen. Die Hatch-Jungs dagegen mussten sich selbst eins erfinden, und jetzt hatte sie ihnen auch noch das kaputtgemacht.

Marrill betrachtete den Knochen genauer und schürzte die Lippen. »Allerdings, wenn ich mir das genau überlege …« Sie verstummte und schüttelte den Kopf. »Nein, unmöglich.«

»Was denn?«, fragte der Jüngste der drei. Seine Miene hatte sich im Nu aufgehellt.

»Na ja …« Marrill hockte sich hin und strich abwesend mit den Fingern über den Boden. »Als ich letztes Jahr in Peru war, hörte ich so ein Gerücht, dass an allen möglichen Orten Überreste von Drachen auftauchen würden. Ein so kleiner Knochen müsste natürlich zu einem Drachenbaby gehören, aber …«

Der mittlere Hatch (Marrill war sich ziemlich sicher, dass er Tim hieß) runzelte die Stirn. »Drachen gibt es doch gar nicht.«

»Da ist das peruanische Drachenforschungszentrum aber anderer Meinung«, erwiderte Marrill mit einem Schulterzucken. »Obwohl man natürlich noch weitere Knochen finden müsste, um das zu beweisen …« Sie warf den Knochen Ted (Tom?) zu, stand auf und wandte sich zum Gehen. Als sie noch einmal über die Schulter blickte, sah sie, wie die drei sich über den Knochen beugten und aufgeregt diskutierten.

Grinsend bog sie in die Straße ein, in der ihre Großtante gewohnt hatte. Als sie das Haus sah, blieb sie abrupt stehen. Das Verkaufsschild, das wochenlang im Garten gestanden hatte, war verschwunden.

Marrills Herz begann aufgeregt zu klopfen. Seit dem Tod ihrer Großtante vor einigen Monaten hingen sie hier in Phoenix fest. Ihre Eltern hatten die letzte Expedition abgebrochen, um den Nachlass zu regeln. Inzwischen war nur noch das Haus übrig. Marrill hatte täglich gehofft, dass am unteren Rand des Maklerschilds endlich ein kleines weißes »Verkauft«-Schild hängen würde. Und war täglich aufs Neue enttäuscht worden.

Bis heute.

In wilder Begeisterung stürzte sie ins Haus. Sie blieb auch gar nicht stehen, um das kalte Gebläse der Klimaanlage auszukosten. Stattdessen rannte sie geradewegs in ihr Zimmer, kroch unter das Bett, schob heruntergefallene Stifte und halbvolle Skizzenbücher zur Seite und zog die alte Schuhschachtel heraus, die sie dort versteckt hatte. Von diesem Augenblick hatte sie schon den ganzen Sommer geträumt. Endlich würden sie sich wieder auf die Reise machen, und sie hatte auch schon das perfekte Ziel gefunden!

»Endlich ziehen wir wieder los!«, rief sie und stürmte mit der Schachtel in der Hand in die Küche. Ihre Eltern saßen an dem alten Holztisch vor Stapeln von Papier. Auf einem Stapel lag Merrills einäugiger Kater Karnelius und schlug träge mit seiner orangenen Pfote nach einem zerknitterten Umschlag.

»Als wir hier eingezogen sind, habt ihr gesagt, ich solle mir schon mal ein Ziel für die nächste Reise überlegen«, platzte Marrill heraus, noch bevor ihre Eltern etwas sagen konnten. »Und wisst ihr was? Ich habe das perfekte Ziel gefunden!« Sie kippte die Schachtel aus. Hochglanzbilder, Karten und Broschüren übersäten den Tisch.

Marrill senkte die Stimme wie ein Fernsehmoderator. »Meine Damen und Herren, liebe Katze, hiermit präsentiere ich Ihnen das …« Sie machte eine dramatische Pause, dann hielt sie das Poster eines Mädchens hoch, das ein einarmiges Schimpansenbaby auf dem Arm hielt. »… Tierpflegeheim mit Hotel und Hüpfburg von Banton Park!«

Ihre Eltern starrten sie wie vom Donner gerührt an und brachten kein Wort heraus. Marrill machte eine Pause und genoss ihr staunendes Schweigen. Sie verstand, wie ihnen zumute war – sie konnte sich ja selbst kein besseres Ziel vorstellen. Ihr Herz schlug bedingungslos für herrenlose, in Not geratene Tiere. In Frankreich hatte sie ein zweibeiniges Frettchen gesundgepflegt, in Costa Rica eine taube Baumkröte und in Paraguay einen schwanzlosen Sittich. Besagtes Tierpflegeheim erstreckte sich über eine ganze Insel und hatte sich ausschließlich der Hilfe für in Not geratene Tiere verschrieben. Marrill grinste so breit, dass sie das Gefühl hatte, ihr Gesicht müsste gleich auseinanderfallen.

Ihr Vater sah ihre Mutter an, und ihre Mutter blickte auf die im Schoß gefalteten Hände hinunter. Die beiden wirkten niedergeschlagen. Marrills Herz setzte einen Schlag aus. Ihr Vater räusperte sich.

»Marrill«, sagte er.

Sie kannte diesen Ton. Er klang nach Entschuldigungen und strengen Erklärungen, nach Dingen, die sie jetzt nicht hören wollte.

»Augenblick!«, rief sie, in der Hoffnung, dass sie, wenn sie sofort weiterredete, das Unheil vielleicht noch abwenden konnte. »Man beachte, dass die Tiergehege alle günstig im Park gelegen sind. Man kann also zu jeder Tages- und Nachtzeit nach draußen gehen und nach Belieben einen bedürftigen Elefanten, ein Känguru, ein Faultier oder eine Giraffe besuchen, alles Tiere, die sich nach der Liebe und Zuwendung sehnen, die nur ein zwölfjähriges Mädchen ihnen geben kann. Nicht zu vergessen weitere Annehmlichkeiten wie der Eisautomat und die Wasserrutsche und …«

Ihre Stimme begann zu zittern und verstummte. Die Eltern sahen sie mit gequälten Gesichtern an, und sie machte sich auf das Schlimmste gefasst.

»Marrill.« Ihr Vater räusperte sich wieder und rückte die Nickelbrille zurecht, die er auf einer Tauschbörse in Rumänien erstanden hatte. »Wir müssen dir etwas sagen.«

Er stand auf und legte ihr die Arme auf die Schultern. Dann sprach er die Worte aus, die sie seit fünf Jahren fürchtete, seit damals, als sie hilflos schluchzend am Krankenhausbett gestanden hatte.

»Deine Mutter ist wieder krank, Schatz.«

Marrill war, als wäre sie in die sengende Hitze Arizonas hinausgetreten und bekäme keine Luft mehr. Schweigen breitete sich im Zimmer aus. Sie sah erst ihren Vater an, dann ihre Mutter. Warum widersprach ihre Mutter nicht, sondern schwieg?

Panik stieg in Marrill auf. Das durfte nicht sein. Ihre Mutter war ihre beste Freundin, mit der sie alles teilte. Die Vorstellung, ihre Mutter könnte wieder krank sein, war unerträglich.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein«, flüsterte sie. Sie wich vor ihrem Vater zurück, und seine Arme glitten von ihren Schultern, fielen schlaff nach unten.

Doch dann sah sie es. Die Wangen ihrer Mutter waren ein wenig blasser, die Lippen ein wenig dünner und ihre Bewegungen langsamer. Die Schüssel mit dem Müsli vom Morgen stand unberührt neben der Spüle. All das war Marrill bisher nicht aufgefallen. Sie hatte es nicht wahrhaben wollen.

Sie drehte sich um und schlug die Hände vor das Gesicht, als könnte sie dadurch verhindern, dass Angst und Kummer sie überwältigten. Sie hasste dieses Gefühl, nicht zu wissen, was sie sagen oder tun sollte.

»Ich werde schon wieder gesund, Liebes.« Ihre Mutter stand auf, kam um den Tisch und zog Marrill fest an sich. Alles, was Marrill an ihrer Mutter so vertraut war, hüllte sie ein: der Klang ihrer Stimme, ihr Geruch, der Rhythmus ihrer Atemzüge, Dinge, die Marrill seit ihrer Geburt kannte und die genauso ein Teil von ihr waren wie ihre DNA.

»Es ist nur ein kleiner Rückfall«, erklärte ihre Mutter. Sie hatte die Lippen in Marrills Haare gedrückt. »Deshalb brauchen wir eine Weile einen Arzt in der Nähe.« Sie trat zurück und sah Marrill an. »Ich werde wieder gesund, und dann brechen wir auf, versprochen.«

»Aber ich verstehe das nicht«, sagte Marrill und überlegte krampfhaft. »Das Verkaufsschild ist weg. Das bedeutet doch, dass wir umziehen.«

Ihr Vater räusperte sich. »Das bedeutet, dass wir bleiben. Wir behalten das Haus. Es gehört jetzt uns.«

In Marrills Brust zog sich alles zusammen. Sie wollte gleichmäßig weiteratmen, konnte aber nicht, so heftig schlug ihr Herz gegen die Rippen. Seit ihre Mutter vor fünf Jahren im Krankenhaus gewesen war, hatte sie schon einige Rückfälle gehabt, aber deshalb waren sie trotzdem gereist, und ihre Mutter hatte sich eben ein wenig geschont.

»Ich habe eine Stelle in der Stadt angenommen«, fuhr ihr Vater fort. »Und wir haben dich in der hiesigen Schule angemeldet. Du sollst eine Prüfung machen, weil du bisher zu Hause unterrichtet worden bist. Die wollen sichergehen, dass du in der Klasse mithalten kannst, aber keine Sorge, das kannst du ganz bestimmt. Und es gibt hier ein gutes Krankenhaus. Die Ärztin hat schon gesagt, sie glaubt, dass deine Mutter sich erholt, wenn sie etwas mehr Ruhe hat. Jetzt soll sie sich erst mal schonen und nicht aufregen, und deshalb bleiben wir vorerst hier.«

Marrill starrte ihren Vater ungläubig an. »Wir behalten das Haus? Ich soll in die Schule gehen? Aber …« Sie hatten nie ein Haus besessen. Seit Marrill sich erinnern konnte, hatten sie nie länger als ein halbes Jahr am selben Ort gewohnt, und auch das nur, als ihre Mutter das erste Mal krank gewesen war. Ihre Eltern hatten immer gemeint, ein fester Wohnsitz würde sie »einengen«. Marrill wusste plötzlich, was sie damit gemeint hatten.

Ein Haus bedeutete Sesshaftigkeit. Man blieb an einem Ort, erlebte keine Abenteuer mehr.

Demnach musste ihre Mutter ernsthaft krank sein.

Marrill schluckte ihre Tränen hinunter, drehte sich wortlos um und rannte aus der Küche. Karnelius sprang vom Tisch, stieß dabei einen Papierstapel um und lief ihr hinterher.

In ihrem Zimmer angekommen, blieb Marrill stehen und betrachtete ihre Zeichnungen und die Fotos ihrer Mutter, die sie an die Wand geklebt hatte. Sie zeigten Motive aus der ganzen Welt. Auf einem Foto tat ihr Vater so, als müsste er den Schiefen Turm von Pisa stützen, auf einem andern ritt die siebenjährige Marrill auf einer Ziege einen Berg im indonesischen Regenwald hinauf. In Australien hatte sie eine Zeichnung von einer Wombatmutter gemacht, die ein Junges hielt.

Am meisten liebte sie aber das Bild von sich selbst und ihrer Mutter, wie sie Hand in Hand von einer Klippe in das klare blaue Wasser darunter sprangen. Marrill erinnerte sich so lebhaft daran, als würde sie wieder auf der Klippe stehen. Starr vor Angst hatte sie auf das Wasser tief unter ihr hinuntergeblickt. Ihre Mutter hatte ihr beruhigende Worte ins Ohr geflüstert und versichert, alles würde gutgehen. Und sie hatte recht behalten – es war ein tolles Erlebnis gewesen.

Sie spürte eine Hand auf der Schulter. »Das Wasser war ganz schön kalt.« Ihre Mutter lachte leise. Sie wusste genau, welches Bild Marrill ansah. Genauso wie sie immer wusste, was Marrill dachte, und immer die richtigen Worte fand.

Marrill kämpfte mit den Tränen, die sie die ganze Zeit unterdrückt hatte. »Ich hatte eine solche Angst.«

»Aber du bist gesprungen.« Ihre Mutter drückte ihr die Schulter. »Manche Erlebnisse machen einem zuerst Angst. Aber oft sind sie hinterher die schönsten.«

Marrill drehte sich zu ihrer Mutter um, hielt den Blick aber weiter auf ihre Hände gesenkt und zupfte mit den Fingern am Saum ihres T-Shirts. Dann brach es aus ihr heraus: »Aber jetzt ist alles anders. Nichts wird mehr sein wie früher.«

Ihre Mutter hockte sich vor sie, legte die Hände an ihre Wangen und hob ihr Gesicht an. Heiße Tränen traten Marrill in die Augen, aber ihre Mutter wischte sie mit den Daumen weg.

»Wir müssen nur eine Zeitlang ein bisschen besser aufpassen, Liebes, das ist alles. Ich verspreche dir, dass du noch viele Abenteuer erleben wirst, ob mit mir oder ohne mich.«

Marrill spürte einen Knoten im Magen. »Aber ich will keine Abenteuer ohne dich erleben. Warum auch? Ihr habt doch beide gesagt, du würdest wieder gesund!«

»Das werde ich auch.« Ihre Mutter küsste sie auf die Stirn. »Ich will noch ganz lange leben.« Sie lächelte das strahlende Lächeln, bei dem Merrill immer ganz warm ums Herz wurde. »Aber bis dahin musst du eben ein paar Abenteuer für mich erleben, von denen du mir dann erzählen kannst. Abgemacht?«

Marrill nickte und schniefte. Ihre Mutter umarmte sie, stand auf und wandte sich zum Gehen. In der Tür blieb sie stehen. »Vielleicht ist es hier in Phoenix gar nicht so schlimm«, sagte sie. »Denk dran – in einer neuen Situation hat man zwei Möglichkeiten. Man kann davonlaufen oder ins kalte Wasser springen.« Sie lächelte wieder, diesmal nur verhalten. »Vielleicht macht es ja auch Spaß, zur Abwechslung ein ganz normales Kind zu sein, wenn du dich darauf einlässt.« Und damit ging sie.

Marrill sah Karnelius an, der auf dem Bettrand saß. »Ich will aber kein normales Kind sein«, murmelte sie. Ein Brennen stieg in ihrer Kehle auf, und sie versuchte es hinunterzuschlucken. Sie wusste nicht, was sie fühlen sollte: Angst um ihre Mutter, Angst vor der Zukunft, Enttäuschung, weil das nächste Abenteuer ausfallen musste, oder ein schlechtes Gewissen, weil sie überhaupt an etwas anderes dachte als an ihre Mutter.

Sie fühlte sich auf einmal in ihrem Zimmer eingesperrt und musste nach draußen. Hastig legte sie ihrem Kater das Laufgeschirr um, verabschiedete sich von ihren Eltern mit einem raschen Tschüs und ging, ohne auf eine Antwort zu warten, nach draußen.

Karnelius lief neben ihr her. Sein eines Auge hatte er gegen die grelle Wüstensonne zusammengekniffen.

Im nächsten Moment hatten sie das verwahrloste Stück Erde überquert, das als Vorgarten diente, und gingen die Straße entlang, die aus dem leeren Viertel hinausführte. Trockener Sand setzte sich zwischen Marrills Zehen und an den Innenseiten ihrer Knie fest. Sie konnte nur noch an ihre Mutter denken.

Die Zeit verstrich wie im Flug, und unversehens waren sie schon die ein, zwei Kilometer bis zu dem verlassenen Einkaufszentrum gegangen, das einmal den Rand des jetzt toten Viertels gebildet hatte.

Marrill war so sehr mit ihren Sorgen beschäftigt, dass sie das zerknitterte Stück Papier nicht bemerkte, das neben ihr über den Boden flatterte. Ganz im Unterschied zu Karnelius. Der rannte ihm plötzlich nach und schlüpfte dabei aus seinem Halsband.

»Komm sofort zurück!«, rief Marrill. »Wenn du mich zwingst, bei dieser Hitze zu rennen, mache ich Handschuhe aus dir, ich schwör’s!«

Karnelius’ orangefarbener Schwanz verschwand unter einem baufälligen Bretterzaun. Marrill ließ die Leine fallen und eilte ihm nach. Karnelius gehörte ihr, seit sie ihn als kleines Kätzchen gefunden hatte. Er war das erste Tier, das sie gerettet hatte, und von ihm hatte sie die wahre Liebe kennengelernt, die entsteht, wenn man ein Tier vor einer ungewissen Zukunft rettet. Zugleich war er das einzige Tier, das sie bei ihren vielen Umzügen immer hatte mitnehmen dürfen.

Und er war ihr einziger Freund.

Sie zwängte sich durch eine Lücke im Zaun, und ein Windstoß von hinten blies ihr die Haare über die Schultern. Auf der anderen Seite erstreckte sich der leere Parkplatz des Einkaufszentrums. Über dem heißen Asphalt stand flimmernd die Luft wie eine endlose Wasserfläche.

Bevor Marrill noch einen Schritt tun konnte, wirbelte der Wind das Papier, dem Karnelius nachjagte, in ihre Richtung. Karnelius drehte um, sprang und nagelte es mit den Krallen auf dem Gehweg fest. Den Schwanz hatte er wie einen Borstenpinsel aufgeplustert. Marrill hob Karnelius mit einer raschen Bewegung vom Boden auf. Der Kater wehrte sich und zerkratzte ihr so die Hand, dass Marrill vor Schmerz zusammenzuckte.

Sie drückte ihn an sich, um ihn zu beruhigen, und betrachtete dabei das Papier auf dem Boden. Es war alt und dick, an den Rändern eingerissen und vom Alter vergilbt und fleckig. Jemand hatte kunstvoll etwas mit Tinte darauf gezeichnet.

Da Marrill so etwas noch nie gesehen hatte, bückte sie sich tiefer. Vielleicht bekam sie hier ja eine Anregung für ihre eigenen Zeichnungen. Doch eine erneute Bö wehte ihr das Papier direkt vor der Nase weg. Marrill streckte die Hand danach aus und trat dabei vom Gehweg auf den Parkplatz.

Der Asphalt plätscherte.

Marrill erstarrte. Warmes Wasser schwappte ihr über die Zehen und spülte den dazwischen festgebackenen Sand weg. »Was ist das denn?« Sie runzelte die Stirn. Eben war der Parkplatz noch trocken gewesen, jetzt stand er unter Wasser. Wie ein stiller See. Verzerrt durch die Hitze, schien er sich endlos in die Ferne zu erstrecken.

Die Wasseroberfläche reflektierte die Sonne und blendete Marrill. Verwirrt blickte sie um sich. Was hatte das zu bedeuten? Das Papier flog vor ihren Augen weiter und verschwand in der Ferne.

Und als sei das alles noch nicht seltsam genug, tauchte aus dem Nichts ein riesiges Schiff auf und hielt auf den Behindertenparkplätzen.

Marrill schrie unwillkürlich auf und wich erschrocken einige Schritte zurück. Ihre Füße platschten durch das seichte Wasser. Sie blinzelte, bestimmt bildete sie sich das nur ein.

Das Schiff sah aus wie ein Piratenschiff. Es hatte vier Masten mit vielen Segeln und einen Bugspriet, der so weit vorstand, dass er fast das kaputte Plastikschild eines leeren Ladens durchbohrte.

»Hm, damit habe ich nicht gerechnet«, sagte eine Stimme. Marrill hob ruckartig den Kopf und schirmte die Augen mit der Hand gegen die Sonne ab. Viele Meter über ihr war an einer Reling aus dunklem Holz der Kopf eines alten Mannes aufgetaucht. Er hatte ein kleines, rundes Gesicht mit vielen Falten und einen gewaltigen weißen Bart. Eine purpurrote Zipfelmütze fiel ihm schlaff über das Ohr.

Der Mann entdeckte Marrill und lehnte sich so weit über die Reling, dass sie schon fürchtete, er könnte herunterfallen. »He, du«, rief er. »Weißt du zufällig, was für ein Gewässer das ist? Was für ein Ufer? Welcher Arm des großen Stroms?«

Das war zu viel. In Marrills Kopf wirbelte alles durcheinander, und sie verstand nichts mehr. Vor ihren Augen verschwamm alles, und sie musste ihre ganze Kraft aufbieten, um nicht mit dem Gesicht voraus in den warmen See zu kippen. In den See, der eben noch ein Parkplatz in der Wüste gewesen war.

Kapitel 3Diebe in der Pastetenbäckerei

Fin saß im Geschäftsviertel auf einem Dach und ließ die Füße baumeln. Ein Labyrinth aus Häusern zog sich den zerklüfteten Hang hinter ihm hinauf, als wollte es ihm über die Schulter spähen.

Selbst wenn er der Meisterdieb von Khaznot Quay war, so wusste das niemand. Niemand wusste, dass es hier überhaupt jemand wie einen Meisterdieb gab. Denn er vollbrachte zwar die größten Kunststücke, aber niemand erinnerte sich je an den Täter.

Bis heute.

M-Dieb, begann der Brief, Haus Parsnickle, Pfützenweg Nr. 17. Der Brief war an ihn adressiert. Fins Finger zitterten vor Erwartung, als er ihn öffnete.

Sehr geehrter Meisterdieb, stand da in ausladenden, schwungvollen Buchstaben. Fin hätte gern gewusst, wer so große Gedanken hatte, dass er für seine Worte so viel Platz brauchte. Er las weiter.

Der Weg zur Mutter führt durch dein Zuhause,

doch brauchst du jemand, der ihn weiß.

 

Ich werde dir die Richtung nennen,

doch zahlen musst du erst den Preis.

 

Im Hafen liegt ein Schiff, das niemals ankert,

und wartet, dass man es besteigt.

 

Mit Schätzen hochbeladen und größeren noch,

geheimen Schätzen, die es keinem zeigt.

 

Durch den gestirnten Himmel dring zur Kammer vor,

zerbrich den Safe und schaff zum Räubernest

 

Den Schlüssel. Als deinen Lohn

behalt für dich getrost den Rest.

 

Glaube mir, ich bin

jemand, der sich an dich erinnert.

Gleich nach der Unterschrift verunstaltete ein schwarzer Fleck das weiße Blatt, als sei dort Tinte aus der Feder des Verfassers getropft.

Fins Blick wanderte wieder zu dem einen Wort, bei dem ihm der Atem gestockt und er einen Stich in der Brust gespürt hatte. Mutter. Er schloss die Augen und kehrte in Gedanken zu jenem letzten Mal zurück, als er sie gesehen hatte.

Es war die einzige Erinnerung, die er an sie hatte.

Er konnte damals nicht älter als vier gewesen sein. Die Wellen, die sich am Bug des Schiffes brachen, hatten golden aufgeleuchtet, und die Lichter am Ufer hatten getanzt und sich an der dunklen Flanke eines großen Berges bis zum Nachthimmel hinaufgezogen.

»Khaznot Quay«, hatte seine Mutter gemurmelt. »Dein neues Zuhause.«

Natürlich kannte Fin Khaznot Quay inzwischen in- und auswendig. Schließlich hatte er seither sein Leben hier verbracht. Aber in jener Nacht, im Arm seiner Mutter und dicht an sie gedrückt, da hatte er Angst gehabt. Wie sie aussah, wusste er nicht mehr. Er erinnerte sich nur an die schwarzen Haare, die ihr über die Schultern gefallen waren, das Mondlicht in ihren Augen und die Umrisse einer sanft geschwungenen Nase.

Wie sicher er sich in ihren Armen gefühlt hatte!

Fin seufzte. Seine letzte Erinnerung war, wie seine Mutter zu einem Stern am Himmel hinaufgezeigt hatte, der heller funkelte als die anderen. »Was auch immer passiert«, hatte sie gesagt, »solange dieser Stern dort scheint, gibt es jemand, der an dich denkt.« Selbst in der Erinnerung war ihre Stimme so beruhigend wie ein warmes Feuer an einem kalten Tag.

Fin schniefte, wischte sich über die Augen und starrte den Brief mit der ausladenden Handschrift an. Dann las er ihn noch einmal. Er sollte also in ein Schiff einbrechen und einen Schlüssel stehlen. Der Rest der Beute sollte ihm gehören. Ein Diebstahl wie hundert andere, nur sehr ungenau beschrieben. Und noch schlechter gereimt.

Doch die Unterschrift ließ ihm keine Ruhe. Jemand, der sich an dich erinnert. Bevor er am vergangenen Abend eingeschlafen war, hatte er den Stern durch das Fenster seiner Kammer leuchten sehen, als Zeichen dafür, dass jemand an ihn dachte. Mit dem Brief hielt er den Beweis in den Händen – es erinnerte sich tatsächlich jemand an ihn. Und was die versprochene Belohnung anging … würde er tatsächlich den Weg nach Hause finden, zu seiner Mutter?

Versuchen wollte er es auf jeden Fall. Auch wenn sich das alles noch so seltsam anhörte.

Fin stand auf. Dass es unmittelbar vor ihm vier Stockwerke nach unten ging, machte ihm nichts aus. Er musste sich auf einen so wichtigen Auftrag unbedingt gründlich vorbereiten. Was er brauchte, waren Informationen. Und die fand ein Dieb in Khaznot Quay nur an einem Ort: in der Pastetenbäckerei von Ad und Tad.

Flink lief er über die Dächer und schwang sich von einer Regenrinne zur nächsten, bis er am höchsten Punkt des Viertels angelangt war. Dort quetschte sich unmittelbar unterhalb der Seufzerhöhe die alte Pastetenbäckerei an eine Klippe. Fin ließ sich an einem von Schlingpflanzen überwucherten Rankgitter in eine Gasse hinuntergleiten, die so steil und schmal war, dass die Bezeichnung Treppe zutreffender gewesen wäre, und stieg zu einem kleinen Platz hinauf, der direkt in den Laden von Ad und Tad mündete.

Der Raum war eng und hatte nur eine Tür. Über das Dach bliesen die heftigen Quay-Winde gegen die Felswand und erzeugten Wirbel, denen nur die besten Himmelssegler gewachsen waren. Kurz, es war ein denkbar schlechter Ort für einen Laden, als Treffpunkt für Diebe dagegen bestens geeignet.

Die Glocke über der Ladentür schepperte, als Fin eintrat.

KEINER

KOMMT HIER

HUNGRIG RAUS!

stand auf einem Schild im Fenster, und Fin konnte dem nicht widersprechen.

 

Drinnen roch es statt nach frischen Zimtschnecken und dergleichen muffig und verbrannt. In den Regalen lagen Berge klebriger Brötchen mit einem schleimig grünen Überzug, daneben stapelten sich Plätzchen, dekoriert mit voll funktionsfähigen Augäpfeln. Und auf dem Tresen stand natürlich ein Tablett mit verpackten Süßigkeiten, den »berühmten Schokoknallern«, wie Ad und Tad sie nannten. Alle anderen sprachen nur von den »Kotzpillen«.

Die Diebe hatten den Ort ihres Verstecks sehr sorgfältig ausgesucht. Fin erinnerte sich nicht, hier je einen wirklichen Kunden gesehen zu haben.

Ad und Tad hoben die Köpfe und sahen ihn lächelnd und ohne einen Schimmer des Wiedererkennens an. »Kann ich helfen, junger Mann?«, fragte Ad. Sie war jung und von freundlichem Wesen, zumindest für die Verhältnisse hier in Khaznot Quay. Anders ausgedrückt, sie besaß noch fast alle Zähne und war in der Regel nicht bewaffnet.

»Heute keine Stinkmorcheln, Ad«, sagte Fin. »Nur eine Portion eurer leckeren Schleimfäden.« Er straffte beim Aussprechen der Parole die Schultern und hob das Kinn ein wenig an.

Tad nickte und zeigte mit einer Handbewegung auf den begehbaren Ofen im hinteren Teil des Ladens. »Natürlich, mein Junge«, sagte er. »Wir backen sie da drinnen immer frisch.«

Genau das war so großartig an diesem Laden, dachte Fin. Für die Betreiber der Pastetenbäckerei war ein Dieb, der nicht auffiel, ein guter Dieb. Dass sich niemand an Fin erinnerte, bedeutete für sie, dass er sein Handwerk beherrschte. Solange er die Parole kannte, war alles gut.

Er schlüpfte unter dem Tresen hindurch, ließ im Vorbeigehen ein paar Kotzpillen mitgehen (sie waren immer praktisch, wenn man vergiftet wurde) und ging zu dem schwarzen Ofen durch. Auf seine Berührung hin schwang die hintere Wand zur Seite. Dahinter kam das Versteck der Räuber zum Vorschein. Ein paar wacklige Stufen führten zu ihm hinunter.

In dem saalartigen Raum standen Holztische, um die herum Diebe saßen, die sich stritten, Witze rissen und zockten. Am hinteren Ende prasselte ein Feuer im Kamin. Hünen mit Armen wie Gorillas spielten Fang-den-Zahn mit stämmigen Straßenräubern, schuppenbesetzte Taschendiebe knackten Übungsschlösser, und Hochstapler tischten Trickbetrügern, die ihnen nur mit halbem Ohr zuhörten, die unglaublichsten Geschichten auf. Alle Anwesenden und die Tische und Stühle waren mit einer dünnen Mehlschicht bedeckt.

Fin lächelte entspannt. Es war schön, wieder hier zu sein.

Er schlenderte zu einem Tisch, an dem gerade Freibeuter mit einem Trupp von Wegelagerern anstießen.

Rau aussehende Gesellen, was Fin aber nicht weiter kümmerte. Hier in der Pastetenbäckerei war so ziemlich jeder Halunke willkommen. Stavik, der selbsternannte Piratenkönig von Khaznot Quay und unumstrittener Herrscher des Quartiers, zog allerdings bei Mördern die Grenze. Außerdem hatten sich auch Diebe und Piraten an bestimmte Umgangsformen zu halten.

»Tag, Leute«, sagte Fin und verschaffte sich dadurch für einen kurzen Moment Aufmerksamkeit. Er hob die Hand zum traditionellen Piratengruß, und zehn behandschuhte Hände antworteten ihm.

»Willkommen, Bruder Lichtscheu«, antwortete einer fröhlich. »Macht mal Platz, Kameraden.«

Fin unterdrückte seine Freude über die Gastfreundschaft, die natürlich nicht von Dauer sein würde. Der Platz, den die anderen ihm machten, war schon fast wieder geschlossen, bevor er sich setzen konnte. Trotzdem war ein solcher kurzer Moment der Zuwendung mehr, als Fin anderswo bekam.

Unter normalen Umständen hätte er den Gesprächen der anderen gelauscht. Aber heute wollte er sich Informationen beschaffen. »Also«, sagte er, »wie ist das mit dem Schiff, das niemals ankert und bei uns im Hafen liegt?«

Neun Augenpaare musterten ihn erstaunt. Ein unangenehmer Schauer überlief Fin, doch dann sprach der zehnte Mann: »Zum Henker, es wurde vom Eisernen Schiff so übel zugerichtet, dass es in den Hafen einlaufen musste!«

Ein anderer Pirat lachte laut. »Du Vollhonk, das Eiserne Schiff ist doch nur eine Legende.«

»Lach nicht, es stimmt!«, fiel ein Dritter ein. »Wer sonst könnte ein Schiff so übel zurichten?« Der Pirat beugte sich vor. Seine Augen hatten angefangen, irre zu flattern. »Das Eiserne Schiff erscheint nur bei schwerstem Unwetter, heißt es, wenn die Blitze rot leuchten. Ein Schiff aus Eisen gegossen, mit einer Besatzung von Schatten. Der Kapitän ist angeblich der Geist eines großen Königs der Zauberer, Dämonen und Piraten. Und er hungert nach Seelen.« Wie bei einer Zusammenkunft von Piraten üblich, schnaubte die Hälfte seiner Kumpane verächtlich, während die andere zögernd zustimmte.

»König der Zauberer, Dämonen und Piraten, verstehe«, sagte Fin. »Aber was ist mit dem Schiff bei uns im Hafen … dem, das nicht aus Eisen ist?«

Ein bärtiger Schmuggler knallte seinen Humpen auf den Tisch. »Das ist ein anderer Fall. Seine Fracht scheint so kostbar zu sein, dass es nirgends vor Anker geht, sondern draußen auf dem großen Strom bleibt, wo niemand ihm zu nahe kommen kann. Stavik hat es mal versucht, aber selbst er musste aufgeben …« Der Mann verstummte und schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich ist es in ein Unwetter geraten und muss repariert werden. Khaznot Quay war vermutlich der nächste Hafen, den es anlaufen konnte. Bestimmt hatte der Kapitän des Eisernen Schiffes seine Hand im Spiel, wenn ein solches Schiff in einem Hafen wie unserem hier festmacht.«

Fin nickte. »Es muss also repariert werden, das leuchtet mir ein. Wie sieht es denn aus? Und wird es streng bewacht?« Er räusperte sich. »Ich frage nur für einen Freund.«

»Du kannst es nicht übersehen«, sagte der erste Pirat. »Ein so sonderbares Schiff ist mir noch nie vor Augen gekommen. Und was die Besatzung angeht, äh …« Er beugte sich vor und senkte die Stimme. »Da musst du Stavik fragen.«

Die anderen am Tisch schluckten. »Das würde ich lieber nicht«, murmelte einer.

Fin grinste. »Macht euch wegen mir keine Sorgen«, sagte er und stand auf. Nicht, dass die anderen sich Sorgen gemacht hätten. Er hatte die Worte kaum ausgesprochen, da hatten sie schon vergessen, dass er überhaupt neben ihnen gesessen hatte. »Mit Stavik komme ich schon zurecht«, fügte er leiser hinzu.

Er schlenderte erhobenen Hauptes zum hinteren Ende des Raums. Dort saß der Piratenkönig auf seinem Thron, einem prächtigen, aus den Galionsfiguren der gekaperten Schiffe gezimmerten Sessel. Stavik war hager und knochig, wie ein Gerüst aus straff gespannten Drahtseilen. Seine Haut bestand fast nur aus Narben, die er auch ganz offen zeigte.

Er trug eine schlichte, anliegende Weste und dazu passende, anliegende Hosen aus Drachenleder. Gerüchten zufolge war er ein so guter Dieb, dass er dem Drachen das Leder bei lebendigem Leibe aus der Haut geschnitten hatte, ohne dass der es bemerkte. Kein Wunder, dass er bei den anderen Dieben gefürchtet war.

Fin dagegen mochte ihn sogar. Stavik hatte ihn fast alles gelehrt, was er über das Stehlen wusste, auch wenn der Piratenkönig sich nicht daran erinnerte.

Damals, mit sieben Jahren, hatte Fin monatelang gebraucht, um die richtige Mischung aus Angeberei und Ehrerbietung zu finden, mit der er sich eine Audienz bei Stavik verschaffen konnte. Wahrscheinlich hatte er an den Schultern immer noch blaue Flecken, so oft war er hinausgestoßen worden auf die Straße. Doch war er täglich zurückgekehrt, für die Diebe jedes Mal wieder ein völlig Fremder. Und jedes Mal hatte er ein wenig dazugelernt, bis Stavik eines Tages gesagt hatte: »Lasst ihn bleiben, der Bengel gefällt mir.« Und sich bereiterklärt hatte, Fin einige Tricks zu zeigen.

Seitdem war Fin immer wieder gekommen, wobei er sich jedes Mal neu vorstellen musste, bis er so ungefähr alles wusste, was er von Stavik lernen konnte. Auch jetzt kam er noch von Zeit zu Zeit, um eine alte Lektion aufzufrischen. Er verbrachte gerne Zeit mit dem alten Piraten.

Mit stolzgeschwellter Brust, aber gesenktem Blick marschierte er geradewegs auf den Thron zu und blieb im letzten Moment stehen, bevor eine mächtige Pranke auf seiner Schulter landen konnte. »Lasst ihn«, sagte Stavik mit einer Stimme, die so schartig war wie die Klinge eines rostigen Rasiermessers. »Der Junge gefällt mir. Weiß sich zu verkaufen, kennt aber seinen Platz. Fügt sich gut ein. Habe ihn bisher nicht bemerkt. Gute Anlagen für einen Dieb.« Er beäugte Fin. »Wer zum Henker bist du?«

»Nur ein Lehrling«, antwortete Fin. Lange Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass ihm sowieso niemand geglaubt hätte, dass er in seinem Alter schon ein Meisterdieb war. »Mein Boss sagte, ich soll den Einbruch in der Bank zum blinden Käfer erwähnen oder die Plünderung der Lachsalve.« Er durchsuchte hastig seine Taschen und zog als Beweis eine rote Münze mit dem Bild eines Käfers heraus.

Staviks Miene blieb unbewegt, aber die hässliche rote Narbe an seinem Kinn zuckte, ein sicheres Anzeichen dafür, dass sein Interesse geweckt war. »Okay«, sagte er schließlich, »gut. Hinter was ist er diesmal her?«

»Ich … äh, ich meine, er braucht nähere Informationen über das sonderbare Schiff im Hafen.«

»Alles klar«, sagte Stavik. »Jemand muss es endlich ausrauben.« Es verstand sich natürlich von selbst, dass er einen Anteil an der Beute beanspruchte. Fin nickte eifrig. Wenn es stimmte, was in dem Brief stand, blieb trotzdem noch genug für ihn übrig.

Stavik ließ den Blick von einer Seite zur anderen wandern und senkte die Stimme. »Das Schiff gehört dem meressianischen Orden. Schon gehört?«

Fin schüttelte den Kopf. »Dachte ich mir«, fuhr Stavik fort. »Das ist eine Art Sekte, die vor ein paar hundert Jahren gegründet wurde. Ihre Mitglieder haben jahrzehntelang aufgeschrieben, was ein Orakel von sich gab. Es ging um eine Weissagung und die Zukunft und was auch immer. Warnungen vor dem Weltende und so Zeug.«

Er hob die Schultern. »Jedenfalls bekamen sie irgendwann Streit mit ihrem Orakel, der Mann ging, und die Sekte geriet mehr oder weniger in Vergessenheit. Einige Unverdrossene machten aber angeblich weiter und wollten verhindern, dass die Weissagung des Irren sich erfüllt. Sie sammeln seither alles, was irgendwie damit zu tun hat. Reliquien, Antiquitäten und alle möglichen Wertgegenstände.«

Sein Mund zog sich zu einem Grinsen auseinander. »Das sind einige hundert Jahre Beute, falls du nicht so gut rechnen kannst. Und alles auf dem Schiff. Deshalb bleibt es die ganze Zeit draußen auf dem großen Strom.«

»Aber jetzt, wo es hier ist …« Fin grinste ebenfalls.