Map of Magic – Das Rätsel des leuchtenden Orakels (Bd. 3) - Carrie Ryan - E-Book

Map of Magic – Das Rätsel des leuchtenden Orakels (Bd. 3) E-Book

Carrie Ryan

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Beschreibung

Eine magische Landkarte, unzählige Welten, die über einen magischen Strom verbunden sind und zwei Kinder, die deren Untergang verhindern müssen! Endlich ist die magische, alle Wünsche erfüllende Landkarte fest in Fins und Marrils Händen und der Zauberer Serth gebannt. Doch können die Freunde auch die uralte Prophezeiung aufhalten, die den Untergang aller Welten voraussagt? Und was hat es mit dem Mädchen Fig auf sich, die genau wie Fin die besondere Eigenart hat, dass man sie sofort wieder vergisst? Kann sie das Rätsel von Fins Herkunft lösen? In ihrem bisher größten Abenteuer sind Fin und Marrill plötzlich ganz auf sich gestellt – und müssen sich den finstersten Mächten stellen, die dem magischen Strom je innegewohnt haben. Der dritte Band der vierteiligen Serie. Weitere Titel: »Map of Magic - Die Karte der geheimen Wünsche« (Band 1) »Map of Magic - Das Mysterium der sinkenden Stadt« (Band 2) »Map of Magic - Die Karte der geheimen Wünsche« (Band 1) »Map of Magic - Das Mysterium der sinkenden Stadt« (Band 2) Pressestimmen zu »Map of Magic«: »Hier ist alles möglich: eine intelligente Mischung aus Humor und Phantasterei!« Kirkus Reviews »Schwindelerregende Welten voller bizarrer Kreaturen, verschränkter Zeitebenen und faszinierender Schauplätze!« Booklist »Ein herrlich dicker, toll geschriebener Schmöker für Freunde von Abenteuergeschichten, in dem es nicht immer zimperlich zugeht.« Norddeutscher Rundfunk »Mega spannend!« Westfalen-Blatt

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Seitenzahl: 413

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Carrie Ryan | John Parke Davis

Map of Magic - Das Rätsel des leuchtenden Orakels

Aus dem Amerikanischen von Leo H. Strohm

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]LogbucheintragKapitel 1 Faulenzen und in der Sonne liegenKapitel 2 Ein paar zusätzliche helfende HändeKapitel 3 Unsere neue Freundin (Wie hieß sie gleich noch mal?)Kapitel 4 Der SchreiKapitel 5 Ins feuchte NassKapitel 6 Margahams SpielKapitel 7 (Un)Freundliche MitspielerKapitel 8 FamilientreffenKapitel 9 Niemand hat behauptet, dass es ein faires Spiel istKapitel 10 Mit mir habt ihr nicht gerechnetKapitel 11 Das Spiel ist ausKapitel 12 TraummuschelnKapitel 13 Gewebte DunkelheitKapitel 14 In die TiefeKapitel 15 Wackel doch mal ein bisschenKapitel 16 Litze und TinteKapitel 17 Düsternis und GlanzKapitel 18 Der TauknotenzwirbelKapitel 19 Der MuschelaltarKapitel 20 Das Lied des SiehsiehfuschKapitel 21 ZurückgelassenKapitel 22 MeereswellenKapitel 23 Schwingen im SturzflugKapitel 24 Wie es am Anfang war …Kapitel 25 Vergossenes BlutKapitel 26 WiedervereinigungenKapitel 27 Was echt ist und was nichtKapitel 28 Was kann ein Pinsel schon ausrichten?Kapitel 29 … so wird es endenKapitel 30 Rose, Kompass, KompassroseKapitel 31 Der Mann in EisenEpilogDanksagungFins und Marrills Abenteuer [...]

Für Sam und Jake, die immer geduldig an unserer Seite waren.

Unsere Erinnerungen an Euch sind eingewoben in jedes einzelne Wort.

Auszug aus dem Logbuch des Segelschiffs Unternehmungslustige Krake,
einem Stromklipper von eigentümlicher Form und rätselhaftem Ursprung (in Privatbesitz)

 

VERANTWORTLICHER LOGBUCHFÜHRER:
Coll, Schiffskapitän
MANNSCHAFTSLISTE
• Ardent, Schiffszauberer
• Remy, Leichtmatrosin
• Marrill, Leichtmatrosin
• Griesgram, Quartiermeister
• Annalessa, Zauberin
Bemerkung: Der Schiffszauberer nimmt sich ihren Verlust sehr zu Herzen.
Und Fin, blinder Passagier - Marrill

 

 

FRACHTLISTE Unverhältnismäßig gefährlich!
• 1 (eine) Überallkarte, in deren Innerem der Zauberer Serth gefangen ist, sowie die Verlorene Sonne von Dzannin, welche die Macht besitzt, den gesamten Piratenstrom zu zerstören.
• 1 (eine) Kugel gefüllt mit konzentriertem Stromwasser, welche in der Lage ist, einen einzigen Wunsch zu erfüllen. Nachteil: Sie entfacht gleichzeitig ein bösartiges, lebendiges Feuer und eine Flut, die alles zu Eisen werden lässt.
• 1 (ein) Flatterling, lebendige Erinnerung uralter Zauberer. Sieht unheimlich aus.

 

 

BEMERKUNGEN
Krakentag, 5. der Flutschflut
Klarer Himmel, leichte Brise aus Südsüdwest. Wurden vom Eisernen Schiff in einen gewaltigen Strudel gejagt und in die außerhalb der Zeit gelegene Stadt Monerva gespült. Haben eine außer Kontrolle geratene Wunschmaschine zerstört, ein lebendiges Feuer daran gehindert, die Herrschaft über den Piratenstrom zu übernehmen, und die Bewohner der Stadt vor der apokalyptischen Eisernen Flut gerettet. Rückkehr durch den Strudel. Ankunft: Zwölfeinhalb Sekunden nach Einfahrt in denselben. Ansonsten ereignisloser Tag.
Luvstautag, 6. der Flutschflut
Leicht bewölkt, dazu milder Echsenregen, starke Brise aus Ost. Haben Kurs auf Aschpassage gesetzt, das erste Ziel auf einer vom Schiffszauberer Ardent angefertigten Liste. Der Schiffszauberer ist überzeugt, dass die apokalyptische, meressianische Prophezeiung immer noch Bestand hat und sich erfüllen wird. Der schwermetallene Seefahrer, besser bekannt als Kapitän des Eisernen Schiffes, ist die Schlüsselfigur. Wir glauben jetzt, dass es sich bei dem Kapitän um einen der Zauberer von Meres handelt, einen alten Kameraden des Schiffszauberers. Die Krake wird alle überlebenden Mitglieder dieses Bundes aufsuchen, um die Identität des Kapitäns festzustellen.
Persönliche Bemerkung: Habe beschlossen, Remy zum Rudergänger zu befördern und ihr beizubringen, wie man die Krake steuert. Bin beeindruckt von ihrer natürlichen Begabung. Hat alle Anlagen für eine hervorragende Kapitänin.
Freveltag, 8. der Flutschflut
Aschfarbener Himmel. Aschewinde treiben Aschewolken aus aschwärts herbei. Erreichen die Aschpassage. Der Name scheint angemessen. Schiffszauberer und Leichtmatrose Marrill nach Landgang unversehrt zurückgekehrt. Laut Bericht haben sie Forthorn Forlorn, einen ehemaligen Zauberer von Meres, in Gestalt einer Eisenstatue angetroffen.
Einheimische erzählen von einem gewaltigen Sturm in der letzten Nacht. Einem Sturm mit roten Blitzen. Der Eiserne Kapitän hat den Untergang Monervas offensichtlich überlebt und bleibt eine ernstzunehmende Bedrohung. Die Stimmung ist niedergeschlagen.
Sesseltag, 10. der Flutschflut
Kristallklare See, starke Brise aus Nord. Wir nehmen Kurs auf den nächsten Zauberer von Meres: das Große Spiel von Margaham, was immer das heißen soll. Habe beschlossen, einen Schlängelkurs zu wählen. Herrliche Traumpusteblumen auf Steuerbord. Die Mannschaft braucht nach den Ereignissen der letzten Tage auch mal ein bisschen Erholung.

Kapitel 1Faulenzen und in der Sonne liegen

»Hier, halt mal«, sagte Marrill und drückte einem der Leichtmatrosen ihr Skizzenbuch in die Hand.

Eine träge Melodie schwebte zwischen den mächtigen, schwankenden Stielen der riesigen Pusteblumen hindurch über das Deck der Unternehmungslustigen Krake und wiegte Marrill in einen wunderschönen Tagtraum. Karni lag mit dem Bauch nach oben in ihren Armen und reckte seinen weichen Bauch den Sonnenstrahlen entgegen, die zwischen den großen Pusteblumenköpfen über ihren Köpfen hindurchschienen. Nicht weit von ihr entfernt lag Fin an der Reling, die Arme hinter dem Kopf verschränkt und die Füße an die Seitenwand des Vorschiffs gestützt.

Auf dem Achterdeck ertönte Colls fröhliches Lachen. Er hatte Remy das Ruder anvertraut und beobachtete aufmerksam, wie sie die Krake zwischen den grünen Stielen, die aus dem Wasser des Piratenstroms senkrecht nach oben ragten, hindurchsteuerte. Marrill musste lächeln. Ihre Babysitterin machte einen durch und durch zufriedenen Eindruck, und das, obwohl sie sehr weit von zu Hause entfernt waren.

»Ein perfekter Tag«, murmelte Marrill.

Sogar Ardent war aus seiner Kabine gekommen, um den Anblick zu genießen. Es tat gut, endlich wieder sein großväterliches Lächeln zu sehen. Seitdem sie Monerva den Rücken zugekehrt hatten, hatte der Zauberer sehr mitgenommen gewirkt, als sei ihm sämtliche Freude abhandengekommen. Nach der Entdeckung von Forthorn Forlorn in der Aschpassage hatte Marrill fast schon befürchtet, dass er nie wieder lächeln würde.

»Die Straße des Schlummers«, sagte Ardent zu einem Matrosen, der hinter ihm stand. »So werde ich diese Gegend jedenfalls nennen. Ich wage zu behaupten, dass ich diese Route noch nie befahren habe, aber ich nehme mir fest vor, das in Zukunft öfter zu tun. Einfach herzallerliebst.« Er streckte die Hand aus und fuhr damit über einen der Pusteblumenköpfe. Eine Wolke aus federleichten Schwebesamen tanzte durch die Luft.

»Es ist gar nicht so einfach, zwischen dem ganzen Zeug noch was zu sehen«, sagte Remy, aber es klang überhaupt nicht so, als wollte sie sich beklagen. Schließlich brachte Coll ihr bei, das Schiff nach Gefühl zu navigieren, während der Tauknochenmann und die Piratten dafür sorgten, dass die Pusteblumen sich nicht in der Takelage verfingen. Die Welt war friedlich, weich und angenehm. Nach allem, was sie durchgemacht hatten, hatte diese Fahrt durch die Straße des Schlummers die Wirkung einer wohltuenden Kopfmassage.

Marrill wusste, dass dies nur ein kurzer Abstecher auf ihrem Weg zum Großen Spiel von Margaham war. Schon sehr bald würden sie unbeschreiblichen Gefahren ausgesetzt sein, denn schließlich wollten sie versuchen, die Geheimnisse des Kapitäns des Eisernen Schiffes zu lüften. Wenn ihr jetzt allerdings jemand sagen würde, dass die Fahrt noch eine ganze Ewigkeit lang dauern werde, es würde ihr nicht das Geringste ausmachen.

»Deine Zeichnungen gefallen mir«, sagte der Leichtmatrose. Er hielt ihr den Block entgegen. Darauf war eine Zeichnung von alten Schiffen zu sehen, die inmitten einer kargen Wüste auf zerklüfteten Felsen lagen. Marrill brachte kaum die Energie auf, ihn anzusehen. Er war klein und dunkelhaarig und hatte dieselbe olivfarbene Haut wie Fin. Sie hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Andererseits … die Matrosen waren ein so fester Bestandteil des Schiffes, dass sie sie ohnehin kaum wahrnahm.

»Danke«, murmelte sie, während sie Karnis Nacken kraulte. Dafür erntete sie lautes Schnurren. »Früher war das hier der Hafen des Salz-und-Sandkönigs, bevor er sein gesamtes Königreich in Schutt und Asche gelegt hat. Diese Schiffe da, das war seine Flotte. Ist das zu glauben?«

Der Leichtmatrose nickte. »O ja. Jetzt kann ich sein Siegel auf den Schiffsrümpfen erkennen«, sagte er und zeigte auf das Symbol, das sorgfältig auf die Seitenwand jedes einzelnen Schiffes gemalt worden war. Es zeigte einen Drachen und über ihm die Wellen der Wunschmaschine.

Der flüsternde Singsang der Straße des Schlummers drang leise an Marrills Ohren. »Genau«, sagte sie und gähnte. »Hast du gewusst, dass Fin eigentlich ein Soldat in seiner Armee werden sollte?«

»Tatsächlich?«

»Es sieht ganz so aus.« Marrill nickte. Das war auch etwas, was sie in Monerva entdeckt hatten: Fins Wurzeln. Den Grund dafür, dass er so vergessbar war. »In längst vergangenen Zeiten, als der Salz-und-Sandkönig sich eine unbesiegbare Armee gewünscht hat und dazu Spione, die niemals gesehen werden. Und Fins Volk, das waren die Spione. Cool, was?«

»Auf jeden Fall«, erwiderte der Matrose. »Wo sie jetzt wohl sein mögen?«

Marrill zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Der Salz-und-Sandkönig hat jedenfalls in Monerva festgesessen und sie nie zu Gesicht bekommen. Aber jetzt, wo der alte Salzkasper nichts mehr zu sagen hat, wollen wir Fin auf jeden Fall helfen, seine Familie wiederzufinden.«

Sie blickte zu Fin hinüber. Er schnarchte ganz leise und schwenkte seinen Kopf im Sonnenschein hin und her. Es würde natürlich nicht ganz einfach werden, die Mannschaft zu überreden, sich auf die Suche nach Fins Familie zu begeben, weil sich außer ihr niemand länger als ein paar Minuten an ihn erinnern konnte. Und da der Kapitän des Eisernen Schiffes immer noch auf dem Strom umherfuhr, war Ardent fest entschlossen, die anderen Zauberer von Meres aufzusuchen. Aber sie würde schon dafür sorgen, dass sie auch Fins Mutter fanden. Koste es, was es wolle.

Das war einer der Hauptgründe, weshalb sie auf dem Strom geblieben war. Sie konnte Fin nicht einfach hier zurücklassen, nur damit er wieder vergessen wurde.

Der Wind zerzauste Marrills Haare, und sie seufzte. Pusteblumensamen kitzelten sie im Vorbeifliegen an der Wange. Beim Gedanken an Fins Mom musste sie auch an ihre eigene Mutter denken. Sie konnte sich überhaupt nicht vorstellen, wie es sein musste, ohne Eltern aufzuwachsen. Und das wiederum brachte sie zu dem anderen Grund, weshalb sie auf dem Strom geblieben war. Zu Hause, in ihrer Welt, hatte sie eine schwerkranke Mom. Aber hier auf dem Piratenstrom war so viel geballte Magie versammelt, da musste es doch ein Mittel geben, was ihr helfen konnte.

Zum Glück blieb Marrill immer noch ein bisschen Zeit. Ihre Mom und ihr Dad waren noch in Boston. Sie würden sie noch nicht vermissen. Selbst wenn es ein klein wenig länger dauerte, selbst wenn sie merkten, dass Marrill schon wieder verschwunden war … aber wenn sie dann mit einem Zauber zurückkehrte, der ihre Mom heilen konnte, dann war es das alles wert gewesen.

Außerdem hatte sie in Monerva gelernt, dass Zeit auch ziemlich biegsam sein konnte. Vielleicht traf sie ja sogar zu einem früheren Zeitpunkt zu Hause ein, als sie von dort fortgegangen war.

Sie machte die Augen zu und ließ sich von der Melodie umschmeicheln. Lächelnd lauschte sie Fins leisem Schnarchen. Die Sonne zeichnete kleine Punkte auf ihre Haut, und der Wind strich ihr kühl über die Wangen. Gestern erst war ihr alles absolut überwältigend vorgekommen: Fins Familie suchen, ihre Mom gesund machen, das Wissen, dass der Kapitän des Eisernen Schiffes immer noch auf dem Strom kreuzte, um die Aufgabe zu erfüllen, die die meressianische Prophezeiung ihm zugedacht hatte … nämlich, den Untergang des Stroms herbeizuführen.

Doch jetzt und hier, im friedlichen Plätschern der Straße des Schlummers, erschien ihr all das machbar, irgendwie. Neue Abenteuer zu bestehen, neue Aufgaben zu lösen. Das Schlimmste lag hinter ihnen. Keine lebendigen Feuer mehr. Keine Eiserne Flut mehr, die sie durch Strudel jagte. Kein Serth mehr, der düstere Prophezeiungen ausstieß und Menschen in schluchzende Sklaven verwandelte.

»Weißt du, was eine gute Idee wäre?«, flüsterte ihr einer der Matrosen ins Ohr. »Wenn wir alle zusammen mal was nachgucken würden. Und zwar da drin.«

Marrills schläfriger Geist wusste nicht so recht, ob sie nun schlief oder wach war. Sie hatte das Gefühl, als müsste sie irgendetwas nachschauen … aber sie wusste nicht einmal genau, woher dieser Gedanke eigentlich gekommen war. Also nahm sie das Erste, was ihr in den Sinn kam. »Auf der Überallkarte?«

»Na klar«, flüsterte die Stimme. »Auf der Überallkarte … da solltest du echt mal nachgucken … und zwar sofort.«

Marrill setzte sich ruckartig auf und blickte sich um. Direkt hinter ihr schlenderte ein Matrose vorbei und steuerte auf ein paar andere zu, die dabei waren, die Taue zu sichern. Kopfschüttelnd wurde ihr klar, dass sie gedöst hatte.

Da blieb sie bei einem Gedanken aus ihrem Traum hängen. »Du, Ardent«, rief sie und setzte Karni auf den Boden. Der Kater warf ihr mit seinem einen Auge einen vernichtenden Blick zu, schlich davon und ließ sich auf einen sonnenbeschienenen Fleck an Deck plumpsen. »Ich hatte gerade eine total merkwürdige Idee. Vielleicht sollten wir mal auf der Karte nachschauen?«

Ardent ließ den bedauernswerten Matrosen, dem er gerade einen Vortrag gehalten hatte, in Ruhe und zog eine Augenbraue in die Höhe. Es sah so aus, als würde er sich den Gedanken durch den Kopf gehen lassen. »Seltsam, dass du das sagst. Gerade eben habe ich gedacht, dass ich doch noch irgendetwas überprüfen wollte …«

»Ich auch«, rief Coll vom Achterdeck herüber. »Remy und ich haben gerade eben mit …« Er blickte sich um.

Remy tat es ihm gleich und blickte in die andere Richtung. »… irgendjemandem darüber gesprochen«, vollendete sie Colls Satz.

»Sehr merkwürdig«, meinte Ardent. »Tja, aber da wir alle denselben Gedanken hatten … hmm … es ist in der Tat eine ganze Weile her, dass wir einen Blick auf die Überallkarte geworfen haben. Vielleicht sollten wir unserer gemeinsamen Intuition folgen.« Er drehte sich um und trat den Saum seines violetten Mantels mit einer trägen Bewegung beiseite. Dann schlenderte er zu seiner Kabine im Heck des Schiffes. Marrill erhob sich und ging ihm hinterher, während Fin in aller Ruhe weiterschlief.

In der Kabine des Zauberers herrschte ein gewaltiges Durcheinander. Überall lagen umgestürzte Kisten herum, und aus einer wölbte sich eine pinkfarbene Substanz hervor. Ein furchterregender Albtraumschild hing schief über dem Bett, das seinerseits auf einem Trümmerhaufen stand. Fast jede verfügbare Fläche war mit aufgeschlagenen Büchern und alten Schriftrollen überhäuft, auf denen Ardents schwungvolle Handschrift zu erkennen war.

Marrill griff nach dem nächstgelegenen Buch und warf einen Blick auf den Rücken. »Rätsel in der Dunkelheit«, las sie. Der Untertitel lautete: »Alles über magische Spiele und wie man Dinge in Brand setzt.«

»Also, das ist natürlich nicht wörtlich gemeint«, sagte Ardent, während er eine Kombination in ein Schloss eintippte, das nur er sehen konnte. »Normalerweise. Aber trotzdem handelt es sich um wertvolles Wissen, das wir brauchen werden, wenn wir Margaham bei seinem Spiel schlagen wollen. Und das ist wiederum die einzige Möglichkeit, um überhaupt ein sinnvolles Gespräch mit diesem Wahnsinnigen … ah, da ist sie ja.«

Ardent drehte sich um und klatschte die Überallkarte auf den Tisch. Marrill war jedes Mal wieder verblüfft, wie gewöhnlich dieses Ding aussehen konnte – nichts weiter als ein Fetzen altes Pergament mit Eselsohren. Und doch wohnte in ihr eine gewaltige Macht. Diese Karte konnte einen überall dahinbringen, wohin man wollte. Und mit Hilfe des Schlüssels konnte man damit alles finden, was sich auf dem magischen Strom befand.

Doch die Überallkarte war sogar noch mehr als das. Sie war von den Dzanen, den ersten Zauberern überhaupt, als Gefängnis erschaffen worden. Sie bewahrten in ihr die Verlorene Sonne von Dzannin auf, den sagenumwobenen Stern der Zerstörung, der laut der meressianischen Prophezeiung den gesamten Piratenstrom vernichten würde. Und jetzt war auch Serth, das meressianische Orakel, das die Prophezeiung ausgesprochen hatte, im Inneren der Karte gefangen.

Marrill hatte die Karte das letzte Mal in Monerva gesehen, aber da war sie leer gewesen. Jetzt flossen jedoch Tintenlinien über das Pergament, vereinigten sich und bildeten schließlich die etwas krakeligen Umrisse eines Vogels.

»Rose!«, stieß Marrill atemlos hervor.

Die Kompassrose der Überallkarte erwachte zum Leben und schlug mit ihren Kritzelflügeln, als wollte sie der Karte entkommen. Ihr Schnabel öffnete sich zu einem lautlosen Schrei, und Marrill wurde von einer grässlichen Angst gepackt.

»Ist das … normal?«, wollte Remy wissen.

Ardent schüttelte den Kopf. »Nein … Sie möchte uns vor etwas warnen.« Er beugte sich über das Pergament.

»Das gefällt mir nicht«, sagte Coll. »Das gefällt mir ganz und gar nicht. Irgendetwas ist hier faul.«

Marrill schluckte. Sie konnte es ebenfalls spüren. Irgendetwas war anders als sonst. Der Hauch einer Erinnerung huschte durch ihr Bewusstsein, aber als sie versuchte, sie festzuhalten, entglitt sie ihr sofort wieder. »Meint ihr, dass das mit der meressianischen Prophezeiung zusammenhängt?«

Ardent sah sie mit gewölbter Augenbraue an. »Noch ein Grund mehr, uns zu beeilen und so schnell wie möglich zu Margaham zu kommen. Denn wenn du recht hast, dann wird bald etwas sehr Bedeutsames gescheh…«

In diesem Augenblick kam Fin zur Tür hereingerannt, keuchend und mit weitaufgerissenen Augen. »Das Schiff ist geentert worden.«

»Sehr freundlich, dass du uns das gleich persönlich mitteilst«, knurrte Coll und ging, die Hand an seinen Dolch gelegt, auf Fin zu.

Fin schüttelte heftig den Kopf. »Doch nicht von mir! Ich gehöre zu Marrill.«

Marrill seufzte und nickte zur Bestätigung für die anderen. Da Fin so unglaublich vergessbar war, wollte Coll ihn mindestens zweimal am Tag ins Bordgefängnis stecken. »Er ist einer von uns«, erinnerte sie den Kapitän. »Fin, was ist los?«

»Pschscht!«, zischte er. »Seht doch!« Er drückte sich an den Türrahmen und spähte vorsichtig auf das Deck hinaus. »Sie sind überall!«

Die anderen drängten sich dicht um ihn. Doch als Marrill suchend den Blick über das Deck schweifen ließ, war da kein einziger Eindringling zu sehen. Nur Matrosen, die Seile einholten und Taue zusammenwickelten.

»Fühlst du dich vielleicht nicht gut, junger Mann?«, erkundigte sich Ardent. »Da ist doch offenkundig niemand zu sehen.«

Remy nickte ebenfalls. Coll stand hinter ihr und schnaubte verächtlich. Marrill berührte sachte Fins Arm. Vielleicht war er ja gerade aus einem schlechten Traum aufgeschreckt.

Doch Fin sah sie an, als wären sie alle verrückt geworden. »Und was ist mit den ganzen Leuten da draußen?«, flüsterte er und zeigte von einem Matrosen zum nächsten.

Marrill runzelte die Stirn. Jetzt, wo Fin sie direkt darauf angesprochen hatte, wo sie nicht mehr anders konnte, als sich damit auseinanderzusetzen, jetzt musste sie zugeben, dass diese Matrosen sich wirklich reichlich seltsam benahmen. Sie holten nämlich keine Seile ein, sondern verknüpften sie auf wirre Weise miteinander. Sie setzten keine Segel, sondern hatten sie eingerollt. Ein paar von ihnen standen eng beisammen, flüsterten miteinander und zeigten immer wieder auf die Kabine. Einer beugte sich über den Bugspriet und fuchtelte mit einem Spiegel herum.

Er gibt anderen ein Signal, erkannte Marrill.

Remy beugte sich zu ihr. »Was machen denn die … Leicht…matrosen da?« Ihre Stimme brach.

Fin blickte Marrill an. Coll zuckte vor Wut und ein wenig auch vor Angst. Ardent strich sich immer wieder wie besessen den langen Bart. Marrill schluckte trocken, und dann wagte sie auszusprechen, was alle dachten.

»Auf der Krake gibt es doch gar keine Leichtmatrosen.«

Kapitel 2Ein paar zusätzliche helfende Hände

Fin blinzelte ungläubig. Zwanzig, vielleicht sogar dreißig Matrosen bewegten sich an Deck, und zwar so selbstverständlich, als würden sie hierhergehören. Dabei kostete es eine Menge Anstrengung, so unangestrengt zu wirken. Fin wusste das – genau das hatte er ja schon eine Million Male selbst gemacht.

Doch das war nicht das Einzige, was ihn mit den Eindringlingen verband. Sie alle besaßen olivfarbene Haut, dunkle Haare und rundliche Gesichtszüge. Gesichtszüge, die er aus seinen allerersten, bruchstückhaften Erinnerungen kannte, die bis in jene Nacht zurückreichten, als er als kleines Kind nach Khaznot Quay gekommen war.

Es waren die Züge seiner Mutter. Die Züge, die ihm jedes Mal begegneten, wenn er in einen Spiegel schaute.

Diese fremden Matrosen sahen so aus wie er.

Kaum war ihm das klargeworden, setzte sich in seinem Magen ein Karussell in Bewegung. Angst und Scheu und Hoffnung und Verwirrung, alles das wurde durcheinandergewirbelt und vermischte sich. Mit klopfendem Herzen wandte er sich der übrigen Mannschaft der Krake zu. »Wie lange sind die schon an Bord?«

Ardent runzelte die Stirn. »Wie lange ist wer schon an Bord?«

Fin unterdrückte das dringende Bedürfnis, die Augen zu verdrehen. »Die da!«, sagte er und zeigte auf die Matrosen.

»Oh.« Ardents Stirn wurde ganz knitterig. »Anscheinend sind wir geentert worden.« Er wandte sich an Coll. »Wann ist das denn passiert?«

»Ähm«, erwiderte dieser.

Verlegen blickten Marrill und Remy einander an.

Fin zog alarmiert die Augenbrauen hoch. »Ihr wisst das gar nicht?«

Remy zuckte mit den Schultern. »Ich weiß noch, dass ich mich vorhin mit jemandem unterhalten habe, aber … es kam mir einfach nicht so wichtig vor.«

Ardent zog an seinem Bart. »Hier muss eine kraftvolle Magie am Werk sein. Obwohl … das hätte ich doch eigentlich spüren müssen. Was immer die Ursache dafür sein mag, es ist mit Sicherheit keine Zauberei.«

Fin hielt den Atem an. Zu ihm hatte Ardent genau dasselbe gesagt, als er vergeblich nach einer Erklärung für Fins Vergessbarkeit gesucht hatte. Das war die Bestätigung. Fin wandte sich mit weitaufgerissenen Augen an Marrill. »Marrill, die sind wie ich. Das ist mein Volk!«

»Ein Verräter! Ich hab’s gewusst«, stieß Ardent hervor. »Ich meine, nicht richtig gewusst, natürlich. Ich kenne dich ja gar nicht. Aber du machst mir einen sehr verräterischen Eindruck, jetzt, wo ich ein wenig Zeit mit dir verbracht habe.«

»Sei still, Ardent«, sagte Marrill. »Fin ist unser Freund. Er würde uns niemals verraten.«

Fin schenkte ihr ein dankbares Lächeln. Aber so nett es war, wenn einen jemand verteidigte, es war keine Antwort auf die zahllosen Fragen, die ihm plötzlich durch den Kopf schwirrten. Seine Gedanken rasten wie wild durcheinander, kamen sich ununterbrochen selbst in die Quere, bis es schließlich einer nach draußen schaffte. »Was wollen die hier?«

»Das wüsste ich auch gerne«, meinte Coll. Auf seiner Stirn hatte sich eine steile Falte gebildet. Er stieß sich vom Türrahmen ab und machte sich mit selbstbewussten Schritten auf den Weg in die Mitte des Decks. Die restliche Mannschaft der Krake schloss sich ihm an.

»Ihr da«, bellte Coll los. »Was habt ihr hier zu suchen? Antwortet! Sofort! Und vergesst nicht, mir zu verraten, wieso ich nicht jeden Einzelnen von euch ins Bordgefängnis werfen soll, weil ihr ohne Erlaubnis mein Schiff betreten habt.«

Ardent räusperte sich und trat einen Schritt vor. »Was der brave Kapitän mit diesen Worten ausdrücken möchte, ist Folgendes …« Er kniff die Augen zusammen, betrachtete die Neuankömmlinge und wandte sich dann hilfesuchend an die Mannschaft, als hätte er vergessen, was er eigentlich sagen wollte. »Willkommen an Bord?«

»Das wollte ich ganz und gar nicht ausdrücken«, wandte Coll ein.

»Ach nein?«, fragte Ardent zurück.

»Ich …« Für einen kurzen Moment stand Coll mit aufgeklapptem Mund da, dann machte er ihn wieder zu und zog eine Grimasse. »Oder doch?«

»Du wolltest wissen, was sie hier zu suchen haben«, half Fin ihm auf die Sprünge. Ardent und Coll blickten ihn an. Der übliche Nebel des Vergessens hatte sich bereits über ihre Mienen gelegt.

Fin riss empört die Hände in die Luft. »Du da, mit dem Zopf«, rief er und zeigte auf den spindeldürren Kerl, der den Spiegel vor den Bug gehalten hatte. »Ja, genau, du. Du brauchst dich nicht zu verstecken. Ich kann dich sehen. Immer noch. Immer noch.«

Der dünne Mann richtete sich auf und verschränkte die Arme vor der Brust. Doch er gab Fin keine Antwort. Ein Mädchen trat hinter ihm hervor. Lange, dunkle Haare umrahmten ihr zierliches Gesicht.

Fin erkannte sie auf den ersten Blick.

Er war ihr erst einmal zuvor begegnet. Oder besser: Sie war ihm begegnet, auf ihrer Flucht vor den Wächtern in den modrigen, feuchtkalten Straßen von Tiefenstadt. Trotzdem war er sich sicher, dass sie es war. Denn schließlich hatte er bis zum heutigen Tag außer ihr niemanden sonst kennengelernt, der genauso war wie er. Dass er ihr begegnet war, hatte ihm Hoffnung verliehen. Hoffnung, dass er nicht alleine war, dass es noch andere gab wie ihn, andere, die ihm vielleicht helfen konnten, seine Mom zu finden.

Und wenn dieses Mädchen noch so vergessbar sein mochte, in seiner Erinnerung war sie für alle Zeit abgespeichert.

Sie strahlte ihn an. »Bruder Schemen«, sagte sie und trat auf ihn zu. »Du bist es tatsächlich!«

Fin kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Was sollte denn diese Begeisterung? Sie waren ja nicht gerade freundschaftlich auseinandergegangen. Vielmehr hatte sie ihm ihre Verbrechen in die Schuhe geschoben und war aus der Stadt geflohen. Und dann war da noch eine Kleinigkeit, nämlich der silberne Armreif, den er ihr bei ihrer Begegnung vom Handgelenk gestohlen hatte. Was sie natürlich gar nicht bemerkt hatte. Schließlich war Fin ein Meisterdieb.

Andererseits … war ihre Anwesenheit auf der Krake vielleicht ein Hinweis darauf, dass sie es doch bemerkt hatte?

Marrill beugte sich zu ihm. »Du kennst dieses Mädchen?«

»Natürlich kennt er mich«, zwitscherte sie.

Fin verschränkte die Arme vor der Brust und tat möglichst lässig, so, als würde sein Herz nicht pochen wie eine wild gewordene Giraffelisken-Herde. Ganz egal, ob sie wegen des Armreifs hier war oder nicht, sie war jedenfalls hier. Eine Million Fragen jagten ihm durch den Kopf, aber er schluckte sie alle hinunter. Wenn sie wusste, wie verzweifelt er nach Antworten suchte, dann würde sie sich dadurch nur überlegen fühlen.

»Du schuldest mir einen Rauchköder«, sagte er zu ihr. »Meinen letzten habe ich verbraucht, um den Wächtern zu entwischen, die eigentlich hinter dir her waren.« Das Mädchen warf den Kopf in den Nacken und lachte. Fin merkte, wie ein Lächeln auch um seine Mundwinkel zuckte. »Also, was bringt dich hierher auf die Krake? Ohne Einladung, wenn ich das hinzufügen darf.«

Sie wurde wieder ernst. »Wir sind hier, weil wir etwas brauchen, Bruder. Etwas, was für uns sehr wichtig ist.«

Ardent trat einen Schritt vor. »Ausgezeichnet!«, sagte er. »Also eine Verhandlung. Coll, hol meine Lösegeld-Mütze. Marrill, setz eine Kanne Feilscher-Tee auf.« Er hielt sich eine Hand vor den Mund. »Und zwar einen besonders starken«, flüsterte er ihr zu.

Da brachen die Matrosen in vielstimmiges Gelächter aus. »Oh, nein, meine Freunde«, sagte der hagere Mann mit dem Zopf. »Wir verhandeln nicht.«

Ardent seufzte. »Also seid ihr Diebe? Nun gut. Dann also die Erpressermütze.« Er kniff drohend die Augen zusammen. »Und vergiss den Tee.«

»Hallo, Leute?« Remy zerrte Coll am Arm. »Diese Trommeln, haben die schon die ganze Zeit gespielt oder sind die neu?«

Fin lauschte. Tatsächlich tänzelte da ein regelmäßiger Trommelschlag durch die Melodie der Straße des Schlummers. Der Rhythmus kam ihm irgendwie bekannt vor. Sein Mund wurde ganz trocken, und sein Magen krampfte sich zusammen. Sein Herz schien sich den kurzen, schnellen Trommelschlägen anzupassen.

Marrill zeigte nach backbord. »Ich glaube, es kommt aus dieser Richtung.«

Fin drehte sich um. Genau in diesem Augenblick neigten sich die Pusteblumenstiele in der Ferne zur Seite und der Bug eines großen Schiffes schob sich ins Blickfeld. Pusteblumensamen schwebten über seinem Heck. Das Schiff war größer als die Krake, breit, gepanzert und zur Schlacht bereit. Fin konnte zwar das Symbol auf dem Rumpf nicht erkennen, aber das brauchte er auch nicht. Er wusste, dass es da war.

Ein Drache unter einem Kreis voller Wellen. Dasselbe Symbol, das er auf dem Schiff des Mädchens in Tiefenstadt gesehen hatte. Das Symbol, das er in Monerva erblickt hatte. Das Symbol seines Volkes.

Das Siegel des Salz-und-Sandkönigs.

»Wir bekommen Gesellschaft!«, brüllte Coll. Ohne zu zögern, rannte der Kapitän zum Achterdeck. »Tauknochenmann, Piratten, Segel setzen!«, befahl er, während er das Ruder herumsausen ließ, um dem anderen Schiff zu entkommen.

Die Takelage setzte sich nun ganz von selbst in Bewegung. Doch so schnell die Taue ihre Arbeit aufgenommen hatten, so schnell verharrten sie auch wieder an Ort und Stelle. Egal, wohin Fin blickte, überall waren die Leinen zu komplizierten Knoten verschlungen und an den falschen Stellen festgemacht worden.

Also das hatten diese Matrosen die ganze Zeit gemacht! Sie hatten die Krake gefesselt, damit das andere Schiff sie überfallen konnte.

Fin drehte sich zu dem vergessbaren Mädchen um. Sie grinste ihn mit erhobener Augenbraue an. »Tut mir leid, Bruderherz«, sagte sie achselzuckend. »Aber wir können euch nicht gehen lassen. Nicht, bevor sie da sind.«

Fins Blick ging zu den verknoteten Tauen, die immer wieder einen neuen Anlauf nahmen, sich zu entwirren. Doch die Enterer hatten die Krake sehr sorgfältig verschnürt. So sorgfältig, dass sie jedes x-beliebige Schiff damit lahmgelegt hätten.

Andererseits – sie befanden sich hier nicht auf einem x-beliebigen Schiff.

»Oh, sieht ganz so aus, als hätte dir das niemand gesagt, Schwesterherz«, erwiderte Fin da lachend. Überall um sie herum erwachten die Taue jetzt zum Leben und entknoteten sich in Windeseile. Plötzliche Verwirrung huschte über das Gesicht des Mädchens. »So ein paar Knoten sind doch kein Problem für die Unternehmungslustige Krake.«

Piratten rannten über das Deck und kletterten durch die Takelage, machten Leinen los und befestigten sie neu. Die Enterer liefen hierhin und dahin, versuchten, das Schiff unter Kontrolle zu behalten, aber es war zu spät. Ardent, der hinter Fin stand, hob die Hände, und das Großsegel entfaltete sich.

Pusteblumensamen füllten die Luft, als die Krake zum Leben erwachte und durch die flaumigen Stiele brach. Fin schnappte sich eine Pusteblume, hielt sie spielerisch zwischen den Fingern und schlenderte damit auf das vergessbare Mädchen zu. Er zeigte mit dem Blumenstiel auf das Verfolgerschiff. »Tja, die scheinen wohl einen schlechten Wind erwischt zu haben, was? Sieht fast so aus, als würdest du den Anschluss verpassen.«

Das Verfolgerschiff fiel bereits zurück. Es war schnell, keine Frage. Nur eben nicht so schnell wie die Krake. Das Grinsen des Mädchens erlosch. Anscheinend wusste sie nicht, was sie sagen sollte.

»Neuer Plan, Brüder. Zurückziehen und neu formieren!«, rief der hagere Mann mit dem Zopf und schwenkte seine Hand im Kreis durch die Luft. Die falschen Besatzungsmitglieder sammelten sich auf einer Seite des Schiffes. Zwei von ihnen warfen eine Strickleiter über die Reling zu dem kleinen Rettungsboot hinab, das am Rumpf der Krake festgemacht hatte.

Das Mädchen machte sich auch auf den Weg zu seinen Kameraden. »Es wird Zeit«, sagte sie und winkte Fin zu sich. »Komm mit, Bruder.«

Fin klapperte mit den Augenlidern. Sie sah ihn an, als hätte sie es tatsächlich ernst gemeint. »Mitkommen? Ich kenne dich doch nicht mal. Ich gehe überhaupt nirgends hin.«

Sie legte den Kopf schief, als würde sie versuchen, ein neues Teil in ein fertiges Puzzle einzubauen. »Aber … ich kann dich doch nicht hierlassen. Nicht, nachdem wir so lange nach dir gesucht haben.«

Es war nicht leicht, Fin sprachlos zu machen, aber das vergessbare Mädchen hatte es schon wieder geschafft. Er konnte keinen einzigen klaren Gedanken mehr fassen. Zweimal klappte er den Mund auf und wieder zu, bevor er endlich ein »Nach mir?« herausbekam.

Sie blinzelte. »Natürlich. Kapierst du eigentlich gar nichts, Bruder? Wir sind nur wegen dir hier. Deine ganze Familie sucht seit Jahren nach dir!«

Fin hatte das Gefühl, als würden seine Beine urplötzlich aus Gelee bestehen. »Ich habe eine … Familie?« Sein Herz geriet aus dem Rhythmus. Diese Worte hörten sich so fremd an.

»Nun komm schon, Schwester Schemen«, rief der letzte Enterer und schwang sich über die Reling. »Wir werden schon eine andere Möglichkeit finden, an einem anderen Tag.«

»Moment noch!« Das vergessbare Mädchen nahm Fin an der Hand. »Aber natürlich hast du eine Familie! Hast du das nicht gewusst? Hat deine Mom dir nicht gesagt, wer du bist? Hat sie dir nichts von den Schwingen und den Schemen erzählt?«

Fin brachte kaum die Kraft auf, den Kopf zu schütteln. »Meine Mom hat mich in Khaznot Quay zurückgelassen, als ich vier Jahre alt war. Und seither suche ich sie.«

Ihre Augen wurden groß vor Verwirrung und Besorgnis. »Oh, Bruder Schemen«, sagte sie und legte ihre andere Hand auf seine. »In Khaznot Quay? Da hast du die ganze Zeit gesteckt?«

Von unten ertönte ein Ruf: »Letzte Chance, Schwester! Wir müssen los!«, rief der Mann mit dem Zopf und winkte ihr aufgeregt zu.

»Warte!«, protestierte Fin. Sie durfte jetzt nicht gehen. Es gab so vieles, was er nicht wusste. So vieles, was er sie fragen wollte. »Was meinst du mit die ganze Zeit? Wer bist du eigentlich? Wo kommst du … ich … wo kommen wir her?«

»Komm mit«, drängte das Mädchen und zerrte ihn zur Strickleiter. »Wir haben die Antwort auf alle deine Fragen.«

Fins Herz machte einen Sprung. Er suchte schon so lange nach Antworten. Und jetzt lagen sie vor ihm, nur wenige Schritte entfernt. Er ließ den Blick über das Deck der Krake gleiten.

Coll und Remy standen auf dem Achterdeck. Die eine hielt das Ruder, während der andere lautstark Befehle erteilte. Hinter ihnen war Ardent zu sehen. Sein langer weißer Bart und die Spitze seiner Mütze flatterten wie wild im Wind. »Schneller, schneller!«, rief er immer wieder, wie ein kleines Kind auf der Schaukel. Marrill lachte und jagte Karni über das Deck, während dieser nach den weißen Flauschbällen schlug und schnappte, die durch die Luft segelten.

Die vergessbaren Enterer waren bereits vergessen und das Verfolgerschiff lag hoffnungslos zurück, so dass sie jetzt alle wieder unbeschwert vergnügt sein konnten. Niemand vermisste ihn. Niemand würde merken, wenn er sich aus dem Staub machte.

Doch dann kam Fin wieder zur Vernunft. Marrill hatte die Gelegenheit gehabt, zu ihrer Familie zurückzukehren, nachdem sie den Salz-und-Sandkönig besiegt hatten, und sie hatte darauf verzichtet, nur, um Fin bei der Suche nach seiner Mutter zu unterstützen. Dabei musste sie ja immer noch ihrer eigenen Mom helfen. Er durfte sie nicht im Stich lassen.

»Ich kann nicht.« Fins Stimme versagte. Er schluckte. Und noch bevor er über den Gedanken, der jetzt in ihm aufflackerte, nachdenken konnte, hatte er ihn ausgesprochen: »Aber … warum kannst du nicht hierbleiben?«

»Ich? Hierbleiben? Ich …« Das Mädchen blickte zu ihren Begleitern hinab. Das winzige Rettungsboot hüpfte auf den Wellen auf und ab und prallte immer wieder gegen den Rumpf der Krake. Das Mädchen biss sich auf die Unterlippe. Höchste Konzentration spiegelte sich auf ihrem Gesicht.

So weltgewandt Fin auch sein wollte, in diesem Augenblick fiel alles das von ihm ab. Er hatte sein ganzes Leben lang nach seiner Mutter gesucht. Er wusste nicht viel über dieses Mädchen und ihr Volk. Er wusste nicht einmal, ob er ihr wirklich vertrauen konnte. Aber sie war genau wie er. Und er hatte noch nie zuvor jemanden wie sich selbst kennengelernt. Sie wusste, woher er kam und wie er hierhergelangt war. Sie war ausschließlich seinetwegen hierhergekommen.

»B-b-bitte?«, stammelte er.

»Letzte Chance, Schwester Schemen!«, rief der Mann mit dem Zopf von unten herauf.

»Also …« Sie biss sich erneut auf die Lippe. »Ich hab dich schon einmal laufen lassen. Damals in Tiefenstadt, da habe ich dich nicht erkannt. Erst auf dem Schiff, nachdem wir schon eine ganze Strecke gesegelt waren, ist mir klargeworden, wer du bist. Also … ich schätze mal, ich bin dir was schuldig.« Sie nickte, als müsste sie sich selbst davon überzeugen. Dann machte sich ein strahlendes Grinsen auf ihrem Gesicht breit. »Okay, ich bleibe hier!«

Sie drehte sich um und rief über die Reling. »Ich bleibe hier, Brüder! Richtet den Schwingen aus, dass ich auf ihn aufpasse!« Mit diesen Worten machte sie die Strickleiter los und ließ sie nach unten fallen. Kaum hatte sie das magische Wasser des Piratenstroms berührt, verwandelte sie sich in einen stürmischen Steinschlag.

Das Mädchen wandte sich wieder Fin zu. Das Lächeln auf ihrem Gesicht verriet Aufregung und Nervosität zugleich. Fin wusste genau, wie ihr zumute war.

»Wünsch dir was«, sagte Marrill und stellte sich neben sie. Sie hielt Fin eine große Pusteblume vors Gesicht.

Er musste unwillkürlich lachen. »Und das nach allem, was in Monerva passiert ist? Meinst du nicht, dass wir uns nie wieder was wünschen sollten?«

Sie kicherte. »Nein, du Dummi. Da, wo ich herkomme, macht man das so mit Pusteblumen. Man wünscht sich was und dann pustet man die Samen in die Luft. Und wenn man jedes einzelne Schirmchen losgepustet hat, dann geht der Wunsch in Erfüllung.«

Fin betrachtete die flauschig-weiße Kugel, dann sah er das Mädchen an. Sie war der Schlüssel zu seiner Vergangenheit. Zu dem, der er war.

Er war sich ziemlich sicher, dass die Erfüllung seiner Wünsche bereits angefangen hatte.

Kapitel 3Unsere neue Freundin (Wie hieß sie gleich noch mal?)

Die Krake schnitt durch die Wellen, und das Geräusch der Trommeln verlor sich in der Ferne, während sie das bedrohliche Schiff immer weiter hinter sich ließen. Marrill umschloss den Stängel der Pusteblume mit beiden Händen und machte die Augen fest zu. Ich wünschte, meine Mom wäre nicht krank und meine Eltern könnten hier bei mir auf dem magischen Strom sein, dachte sie. Dann pustete sie kräftig und sah den flauschigen Schirmen hinterher, wie sie in der Brise davonschwebten.

Wenn man Marrill vor sechs Monaten gefragt hätte, ob sie wirklich glaubte, dass so ein Wunsch wahr werden kann, hätte sie laut gelacht. Aber das war, bevor sie Ardent kennengelernt und auf der Unternehmungslustigen Krake die Segel gesetzt hatte. Bevor sie erfahren hatte, dass Zauberei und Magie tatsächlich existierten. Jetzt kam es ihr so vor, als sei selbst das Unmögliche zum Greifen nah. Erst kürzlich hatte sie einen echten Wunsch in der Hand gehalten, in Form der Wunschkugel aus dem Siphon von Monerva. Wenn sie diesen speziellen Wunsch benutzt hätte, dann hätte sie dadurch zwar lebendiges Feuer und schleichendes Eisen auf den Piratenstrom herabregnen lassen, aber trotzdem … sie hatte eine Kugel gefunden, die Wünsche erfüllen konnte. Dann war es doch gar nicht so unwahrscheinlich, dass es auf dem Strom auch noch etwas anderes gab, was ebenso mächtig war. Sie würde garantiert eine Möglichkeit finden, um ihre Mom wieder gesund zu machen. Sie musste nur lange genug ausharren.

Nachdem sie noch einen Augenblick lang in ihrem genüsslichen Tagtraum verweilt hatte, schob sie all diese Gedanken beiseite und drehte sich zu Fin um. Verdutzt stellte sie fest, dass ein Mädchen neben ihm an der Reling lehnte. Es war ungefähr so alt wie sie und Fin und hatte dunkle Haare und olivfarbene Haut.

»Hallo, ich heiße Marrill«, sagte sie und winkte dem Mädchen zu.

»Weißt du was?«, sagte Fin grinsend zu ihr. »Das ist das Mädchen, von dem ich dir erzählt habe, das ich in Tiefenstadt gesehen habe. Sie ist wie ich! Sie bleibt bei uns und erzählt mir genau, wo ich herkomme und wie ich meine Mom wiederfinden kann.«

Es dauerte einen Augenblick, bis die Bedeutung dieser Worte bei Marrill angekommen war. Dann machte sie einen Luftsprung und klatschte vor Freude in die Hände. Sie konnte es nicht glauben. Das geheimnisvolle, vergessbare Mädchen war ihre einzige Spur gewesen, und jetzt stand sie wie aus heiterem Himmel hier vor ihnen. »Fin, das ist ja phantastisch!«

»Fin?«, wiederholte das Mädchen und sah Marrill verwirrt an. »Was ist denn Fin?«

»Na, sein Name natürlich«, sagte Marrill. »Und wie heißt du?«

Das Mädchen sah sie mit schiefgelegtem Kopf und ratloser Miene an. »Ich … mein Volk … wir haben eigentlich gar keine Namen. Ich bin einfach Schwester Schemen, so wie alle meine Schwestern.«

»Ach sooooo«, sagte Fin. »Darum hast du mich Bruder genannt.«

Marrill winkte ab. Dieses Mädchen brauchte unbedingt einen Namen. »Das ist doch lächerlich. Lasst mich nachdenken.« Sie legte die Hand ans Kinn und kniff die Augen zusammen. »Fin, du heißt Fin, weil das in deiner Akte im Kinderheim stand, richtig?«

»Waisenhaus«, verbesserte Fin. »Aber sonst hast du recht. VNU NNU, stand da. Vorname unbekannt, Nachname unbekannt.«

»Und Fin klingt ja so ähnlich wie VN. Aber sie ist ein Mädchen … und vergessbar. V…G?« Marrill schnipste mit dem Finger. Sie hatte eine Idee. »Ich hab’s. Fig! Wir nennen dich Fig!«

»Fig«, wiederholte das Mädchen leise. Dann fing sie an zu lächeln und wandte sich ab, fast so, als sei es ihr peinlich. »Das … das gefällt mir. Danke. Ich werd’s mir merken. Auch, wenn du es wieder vergessen wirst.«

»Was redest du denn da?« Marrill lachte. Wie sollte sie diese Neuigkeit je wieder vergessen?

In diesem Augenblick kam Ardent mit einem Papierstapel in der Hand vorbei. »Ah, da bist du ja, Marrill. Jetzt, wo wir unterwegs sind, sollten wir unbedingt mal über Margahams Spiel sprechen. Wenn wir mit Margaham irgendetwas von Bedeutung besprechen wollen, dann müssen wir zuvor mit ihm spielen, und dazu bedarf es einer ausgefeilten Strategie, also …«

»Ardent!«, fiel Marrill ihm ins Wort und drehte sich um, um ihn mit der frisch getauften Fig bekannt zu machen. »Das ist …«

Ardent winkte ab. »Ja, ja, ich weiß, es ist einigermaßen ärgerlich. Aber ich nehme an, jeder Zauberer hat das Recht auf ein gewisses Maß an Exzentrik. Lieber ein kompliziertes Spiel als ein Graben voller Schnakalaken. Wärst du bitte so nett, einen Blick auf diese Skizze zu werfen, die ich bei meinem letzten Besuch angefertigt habe?« Er hielt ihr die Papiere hin.

Marrill verdrehte seufzend die Augen. »Nein, Ardent, hör doch mal zu … Moment mal, wieso tanzen denn da Sterne auf einer Hochzeitstorte?« Sie starrte die Zeichnung – wenn man es so nennen konnte – mit zusammengekniffenen Augen an. Das Gekrakel war eindeutig Ardents Werk, so viel war klar. Aber bei seiner Begabung fürs Zeichnen war es auch das Einzige, was klar war.

Der Zauberer riss ihr das Blatt aus der Hand. »Diese ›Sterne‹, wie du sie nennst, sind Menschen. Und das ist keine Hochzeitstorte, sondern es sind die vielen verschiedenen Ebenen des Spiels. Siehst du, sie bilden verschiedene Stockwerke, so ähnlich wie bei …« Er runzelte die Stirn. »Na gut, vielleicht ja tatsächlich wie bei einer Hochzeitstorte. Pffff. Ist ja auch egal.«

Marrill machte den Mund auf und wollte … etwas sagen. Sie legte die Stirn in Falten. Gerade hatte sie ihm doch noch etwas Wichtiges mitteilen wollen. Ganz sicher. Aber irgendwie war ihr der Gedanke entwischt. »O…kay …«

Fin räusperte sich. Marrill sah ihn an und stellte fest, dass neben ihm ein Mädchen stand, das sie noch nie gesehen hatte. Er nickte dem Mädchen zu. »Marrill? Weißt du noch? Fig?«

Marrill musterte das Mädchen gründlich. Irgendwie kam sie ihr schon bekannt vor … aber trotzdem. Marrill hatte keine Ahnung, wer sie war. Doch weil Fin sie so voller Erwartung ansah, murmelte sie: »Na klar. Wir haben uns doch … äh …« Sie ließ das Ende des Satzes in der Luft hängen und hoffte, dass das Mädchen die fehlenden Worte ergänzte.

Fig zog belustigt eine Augenbraue nach oben. »Vor drei Minuten kennengelernt.«

Marrill riss die Augen auf. Das war doch nicht möglich!

»Hab ich’s dir nicht gesagt? Sie kann sich nicht erinnern«, kicherte das Mädchen und stieß Fin mit dem Ellbogen an. »Das ist ja der Sinn der Sache.«

»Der Sinn wovon?«, schaltete Ardent sich ein.

Das Mädchen grinste. »Ganz genau.«

»Wie jetzt, genau?«, hakte Ardent nach.

»Genau so, wie du schon die falschen Leichtmatrosen und ihre Signale an das Schiff, das uns verfolgt hat, vergessen hast. Fragt sich eigentlich überhaupt jemand hier, wer das wohl war?«

Geistesabwesend steckte Ardent die Papiere in seine Manteltasche. »Tja, angesichts des Siegels auf der Bordwand, unseres kleinen Ausflugs nach Monerva und der … ähm … Fracht, die wir an Bord haben, würde ich sagen, es handelt sich um die Armee des Salz-und-Sandkönigs.«

Marrill riss den Kopf herum. »Moment mal, was?« Sie konnte nicht fassen, dass er das für sich behalten hatte. »Die Armee des Salz-und-Sandkönigs ist uns auf den Fersen? Wieso hast du denn nichts gesagt?«

Ardent zuckte mit den Schultern. »Nun, ich kann mich nicht erinnern, dass du mich danach gefragt hast. Außerdem soll es sich um eine Armee von unbesiegbaren Soldaten handeln. Etwas anderes als die Flucht wäre uns also ohnehin nicht übrig geblieben. Darüber hinaus befinden wir uns auf einer furchtbar wichtigen Mission. Wenn wir uns jedes Mal ablenken lassen, wenn irgendeine Armee beschließt, uns zu verfolgen …« Er winkte verächtlich ab.

»Sie heißen Die Schwingen«, schaltete sich das neue Mädchen ein. »Und sie sind wirklich unbesiegbar, so wie die Legende besagt. Niemand kann ihnen etwas anhaben, niemand kann sie aufhalten. Sie gewinnen immer und verlieren nie.«

Marrill runzelte die Stirn. Wer war denn dieses Mädchen? Wo kam sie denn plötzlich her? Und warum schien es Fin nichts auszumachen, dass da eine Fremde an Bord aufgetaucht war?

Ardent musterte das Mädchen … und Fin auch. »Ich glaube, ich wurde unseren Gästen noch gar nicht vorgestellt«, sagte er.

Die Erkenntnis traf Marrill wie ein Fußball in die Magengrube. In Ardents Augen waren Fin und das Mädchen genau gleich. Er konnte sich an beide nicht erinnern. Marrill hingegen vergaß immer nur das Mädchen, aber nicht Fin.

Das Mädchen war vergessbar. Marrill drückte die Finger an die Schläfen. War das wirklich das erste Mal, dass sie das mit dem Mädchen erlebte? Hatten sie sich womöglich schon früher einmal getroffen? Sogar miteinander gesprochen?

»Du bist vergessbar«, sagte Marrill und sprach damit ihren Verdacht laut aus. »So wie Fin. Das bedeutet … dass wir uns wahrscheinlich schon einmal gesehen haben, nicht wahr?«

Das Mädchen lächelte sie an und zwinkerte ihr zu. »Man nennt uns die Schemen. Die unsichtbaren Spione. Und, in der Tat, wir haben uns schon einmal gesehen. Du hast mir gerade erst einen Namen gegeben. Ich bin Fig.« Sie sprach den Namen ganz behutsam aus, als müsste sie sich selbst erst noch daran gewöhnen.

»Aha.« Marrill fand das sehr beunruhigend. Sie hatte absolut keine Erinnerung an Fig, wie sehr sie sich auch bemühte. Aber wenn Fig wirklich genauso vergessbar war wie Fin, dann konnte sie sich bemühen, so viel sie wollte. An Fin hatte sie sich ja zu Anfang nur deshalb erinnert, weil er so verloren gewirkt hatte, so wie die verletzten Tiere, um die sie sich in ihrer Welt immer gekümmert hatte. Verlorene Wesen waren ihr einfach viel zu sehr ans Herz gewachsen, als dass sie eines vergessen könnte.

Sicher, in Monerva hatte es eine kurze Phase gegeben, wo sie auch ihn beinahe vergessen hätte, aber das war schnell wieder vorbeigegangen. Jetzt erinnerte sie sich an ihn, weil er ihr Freund war. Sie kannte ihn.

Aber dieses Mädchen war weder ihre Freundin, noch wirkte sie irgendwie verloren oder hilfebedürftig. Fig war selbstbewusst, und das bedeutete, dass Marrill sie auch weiterhin vergessen würde. Das war eine ausgesprochen unangenehme Erkenntnis.

»Aber an die Schwingen können wir uns erinnern?«, fragte sie nach, nur um sicherzugehen, dass sie alles richtig verstanden hatte.

»Ja. Sie sind die andere, weniger vergessbare Hälfte der Schemen.«

Ardent klatschte in die Hände. »Ausgezeichnet. Damit wäre das geklärt. Die Schwingen sind unbesiegbare Soldaten, an die wir uns erinnern können, und die Schemen sind unsichtbar Spione, an die wir uns nicht erinnern können. Und wer seid jetzt ihr beiden gleich noch mal? Weil ihr nämlich bedauerlicherweise einen sehr schlechten Zeitpunkt für euren Besuch gewählt habt. Wir sind auf einer furchtbar wichtigen Mission, und ich habe soeben erfahren, dass wir von einer äußerst gefährlichen Gruppe namens Die Schwingen verfolgt werden.«

»Da machen Sie sich mal keine Sorgen«, erwiderte Fig augenzwinkernd.

Ardent verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich fürchte, wir können dieses Thema nicht so einfach ignorieren, junge Dame. Im Laufe meiner langen Karriere als Zauberer habe ich zumindest Eines gelernt: Wenn die Leute einem sagen, dass man sich keine Sorgen machen soll, dann gibt es garantiert einen triftigen Grund, um sich große Sorgen zu machen.«

Er legte die Arme auf den Rücken und nahm eine Geschichtenerzählerpose ein. »Eines Tages, an den ich mich ganz besonders gut erinnern kann, war ich auf dem Weg durch die Frage-Die-Nicht-Gestellt-Werden-Darf – fragt nicht! –, als Calixto, der Magister, mir sagte: ›Hör mal, nicht, dass du dir irgendwelche Sorgen zu machen brauchst, aber ich glaube, dass ich hier in der Nähe mal ein kleines Dorf niedergebrannt habe.‹ Daraufhin habe ich ihn natürlich gefragt: ›Welches Dorf hier in der Nähe ist denn aus brennbarem Material gebaut?‹, und er sagte: ›Na ja, heutzutage keines mehr …‹«

Während Ardent mit dröhnender Stimme seinen Bericht fortsetzte, suchte Marrill Fins Blick, damit sie zusammen lachen konnten. Aber er unterhielt sich sehr angeregt mit einem Mädchen, das sie noch nie gesehen hatte. So unauffällig wie möglich schlich Marrill ein Stückchen näher. Worüber die beiden wohl so intensiv redeten?

»… die Speerspitze der Schwingen«, sagte das Mädchen gerade. »Sie ist die Anführerin der Armee.«

»Und meinst du, sie weiß, wo meine Mom ist?«, erkundigte sich Fin.

Marrills Augen wurden groß vor Staunen. Sie sprachen über Fins Mom! Sie hielt den Atem an und wartete gespannt, was das Mädchen antworten würde.

»Nun ja«, sagte das Mädchen, »schon möglich …«

In diesem Augenblick schwoll Ardents Stimme noch lauter an. »Und dann lief alles genau so ab, wie man es erwarten konnte!«, deklamierte er. »Das hättest du nicht gedacht, was, Marrill? Calixto jedenfalls auch nicht.« Mit triumphierender Geste stemmte er die Hände in die Hüften.

Zum allerersten Mal überhaupt bedauerte Marrill, dass die Geschichte des Zauberers schon zu Ende war. »Äh … ja.« Sie suchte krampfhaft nach einer Frage, damit er weiterredete. »Also, Calixto, der Magister … ist der nicht auch einer der Zauberer von Meres?«

»Oh, ja«, erwiderte Ardent.

Was jetzt? »Dann … dann könnte er also der Kapitän des Eisernen Schiffes sein?«

Nachdenklich tippte Ardent mit den Fingernägeln gegen seine Zähne. »Interessante Theorie. Hmm, ich nehme an, das wäre denkbar … Calixto hatte schon immer einen gewissen Hang zur Tyrannei. Aber bedauerlicherweise hat er jene Nacht in Meres, als Serth vom Stromwasser getrunken hat, nicht überlebt.« Er unterbrach sich. »Bedauerlicherweise für ihn, jedenfalls. In seinem Magisterium gab es vermutlich jede Menge Leute, die darüber ziemlich froh waren. Ach ja, womit wir wieder bei diesem brennenden Dorf wären!«

Marrill blendete seine Stimme aus und wollte Fin fragen, was das für eine Spur zu seiner Mutter war. Aber als sie sich zu ihm umdrehte, sah sie, wie ein fremdes Mädchen die Hand auf den Arm ihres Freundes legte und dabei lachte.

»Entschuldigung!« Marrill packte Fin an seinem anderen Arm und zerrte ihn ein Stück weg. Ohne die Fremde aus den Augen zu lassen, zischte sie: »Ähm, Fin? Wer ist das?«

»Das ist Fig. Sie gehört zu meinem Volk.« Er sah sie entsetzt an. »Du kannst dich wirklich nicht an sie erinnern?«

Marrill schüttelte den Kopf. Sie war sich ziemlich sicher, dass sie dieses Mädchen noch nie zuvor gesehen hatte? »Wieso? Sollte ich das?«

»Ich hatte es irgendwie gehofft, weil du dich doch auch an mich erinnern kannst …« Er verstummte allmählich.