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Seit Tagen liegt Kims Schwester Rebekka bewusstlos im Krankenhaus. Die Ärzte sind ratlos. Da erscheint Kim der alte Magier Themistokles, der ihm sagt, dass nur er seiner Schwester helfen kann. Dazu muss er ins Land Märchenmond reisen, wo Boraas, der Herr des Schattenreiches, die Seele Rebekkas gefangen hält. Auf seinem gefährlichen Weg gewinnt Kim viele Freunde, die ihm beistehen. Dennoch scheint der Sieg der schwarzen Ritter, Boraas' Kriegern, unabwendbar. Doch als Kim dem schwarzen Lord gegenübersteht und in dessen Gesicht blickt, wendet sich das Schicksal.
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Seit Tagen liegt Kims Schwester bewusstlos im Krankenhaus. Die Ärzte sind ratlos. Da erscheint der alte Magier Themistokles, der ihm offenbart, dass nur er seiner Schwester helfen kann. Dazu muss er ins Land Märchenmond reisen, wo Boraas, der Herr des Schattenreiches, die Seele Rebekkas gefangen hält. Auf seinem gefährlichen Weg gewinnt Kim viele Freunde, die ihm beistehen. Dennoch scheint der Sieg von Boraas Schwarzen Rittern unabwendbar. Erst als Kim dem Schwarzen Lord gegenübersteht und in dessen Gesicht blickt, wendet sich das Schicksal.
Für alle,die das Träumennoch nicht verlernthaben
»… Commander Arcanas Gesicht hatte in den letzten Minuten einen immer besorgteren Ausdruck angenommen. Auf seiner Stirn perlte ein Netz feiner, glitzernder Schweißtröpfchen und der Blick seiner grauen Augen schien sich an der endlosen Panoramafläche des Bildschirms festzusaugen. Unnatürliche Stille hatte von der mit Menschen, Maschinen und blinkenden Computern vollgestopften Kampfzentrale der Warlord II Besitz ergriffen. Niemand redete und selbst das dumpfe Dröhnen der Ionentriebwerke, das in den letzten Jahren zu einem festen Bestandteil des Lebens an Bord geworden war, schien mit einem Mal leiser geworden zu sein, als spüre selbst die seelenlose Maschine tief im Rumpf des gigantischen Raumschiffes die Gefahr, die sich über ihr und ihren Schöpfern zusammenballte …«
Kim sah von seinem Buch auf, als er das Geräusch der Haustür hörte. Er legte den Zeigefinger der linken Hand zwischen die Seiten, in denen er gerade gelesen hatte, klappte das Buch zu und ging damit zu seinem Schreibtisch hinüber. Auf der sorgfältig polierten Platte stapelten sich Schulbücher und -hefte, Papier, ein Radiergummi von der Form eines Miniaturfußballs und – säuberlich über den frischen Brandfleck gelegt, der als Folge eines etwas zu gut gelungenen Experimentes mit Watte, einem Brennglas und einer Handvoll abgebrochener Streichholzköpfchen zurückgeblieben war – ein Paket bunter Kunststofftrinkhalme. Er nahm ein loses Blatt, knickte es auf die passende Größe zusammen und legte es mit bedauerndem Achselzucken zwischen die Seiten, ehe er den Finger herausnahm und das Buch zum Regal zurücktrug. Auf dem überquellenden Bord stapelte sich eine Unmenge bedruckten Papiers: einige wenige Comics (die Reste seiner ehemals weitaus umfangreicheren Sammlung, mit einem Gummiband zusammengehalten und auf den äußersten Rand des Brettes verbannt), eine etwas größere Anzahl Taschenbücher, eine noch größere Anzahl Groschenhefte – wie sein Vater sie nannte – und ein gutes Dutzend teurer, leinengebundener Bände. Man sah den Büchern an, dass sie oft zur Hand genommen und gelesen wurden – den meisten jedenfalls. Unter den gebundenen Exemplaren gab es einige, die vollkommen neuwertig wirkten und es auch waren. Es waren Bücher, die er geschenkt bekommen hatte und die ihn nicht interessierten, er hatte sie nur anstandshalber zwischen seine übrigen Schätze gestellt ohne die Absicht, sie auch zu lesen.
Unten im Flur wurden die schnellen Schritte seiner Mutter laut. Kim wandte sich mit einem Seufzer vom Bücherregal ab, ging zur Tür und kehrte dann noch einmal zu seinem Schreibtisch zurück, um das Chaos darauf etwas umzuschichten, sodass der Eindruck entstand, als ob er den ganzen Nachmittag gearbeitet hätte, statt in der neuesten Ausgabe der »Sternenkrieger« zu schmökern. Er klappte das Mathematikbuch an der mit einem Eselsohr markierten Stelle auf, schaltete den Taschenrechner ein und legte das eng bekritzelte Blatt daneben, auf dem er bereits während der Mathestunde vergeblich versucht hatte, die Aufgabe zu lösen; Mathematik – und darüber hinaus galt das für jedes Unterrichtsfach, das irgendwie mit Zahlen zu tun hatte – war nicht seine Stärke. Er hatte vom ersten Schultag an damit auf Kriegsfuß gestanden und in den siebeneinhalb Jahren, die seither verstrichen waren, hatte sich nichts daran geändert. Er mochte keine Zahlen und er konnte einfach nicht einsehen, wozu, zum Teufel, er wissen musste, wie man eine Gleichung mit zwei Unbekannten löste, wenn er einen Taschenrechner hatte.
Er musterte sein Arrangement kritisch, fügte noch einen frisch gespitzten Bleistift hinzu und wandte sich dann mit zufriedenem Nicken zur Tür. Was Hausaufgaben anging, verstanden seine Eltern keinen Spaß. Sicher würde sein Vater – wie fast jeden Tag – nach dem Abendessen nach seinem Hausaufgabenheft fragen und es stirnrunzelnd durchblättern. Nun ja – vielleicht würde er später noch einmal versuchen diese vertrackte Aufgabe zu lösen. Und notfalls konnte er das Ergebnis noch immer am nächsten Morgen von einem seiner Klassenkameraden abschreiben.
Er drückte die Klinke herunter, stieß die Tür auf und ließ den Blick noch einmal bedauernd über das vollgestopfte Bücherbord streifen. Es half nichts – Commander Arcana würde bis morgen warten müssen, ehe er die Warlord II in das finale Gefecht gegen die telepathischen Pflanzenmonster führen konnte.
Kim zog die Tür hinter sich zu, lief die Treppe hinunter und nahm die letzten vier Stufen auf einmal. Er hatte richtig gehört. Seine Eltern waren zu Hause – beide. Mutters Trenchcoat hing in der Garderobe, daneben der zerschlissene Parka seines Vaters, den er schon trug, solange Kim sich erinnern konnte, und von dem er sich wahrscheinlich auch in hundert Jahren nicht trennen würde. Die Wohnzimmertür war nur angelehnt und im Aschenbecher auf der Garderobe qualmte eine gerade angerauchte Zigarette.
Kim zog verwundert die Stirn kraus. Vater hatte sich vor fünf Monaten entschlossen das Rauchen aufzugeben und er hatte sich bis auf den heutigen Tag an seinen Vorsatz gehalten. Dass er jetzt wieder rauchte, war seltsam. Aber seltsam war auch, dass Vater um diese Zeit schon zu Hause war. Es war noch nicht einmal vier und normalerweise kam er nie vor sechs aus dem Büro.
Die Eltern waren im Wohnzimmer. Kim konnte ihre Stimmen durch die angelehnte Tür hören, ohne die Worte zu verstehen. Er blickte noch einmal verwundert auf die qualmende Zigarette im Aschenbecher, hakte die Daumen hinter den Gürtel und betrat das Wohnzimmer.
Vater und Mutter saßen nebeneinander auf der Couch. Der Fernseher lief mit ausgeschaltetem Ton. Auf dem Tisch lag eine angebrochene Zigarettenpackung neben dem orangefarbenen Feuerzeug und einem sauberen Aschenbecher. Kim fiel auf, wie still es plötzlich war. Seine Eltern hatten schlagartig aufgehört zu reden, als er ins Zimmer gekommen war, und das einzige Geräusch, das noch zu hören war, war das leise Ticken der altmodischen Standuhr an der Südwand des Zimmers.
»Hallo, Kim«, sagte Mutter leise. Sie setzte sich hastig auf, strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn und faltete die Hände auf den Knien. »Ich … ich dachte, du wärest in deinem Zimmer und …«
Kim blinzelte verwundert. Es kam selten vor, dass seine Mutter ins Stottern geriet. Sie war eine ruhige und beherrschte Frau, die sich jedes Wort, das sie sprach, genau überlegte.
»Hast du … deine Hausaufgaben fertig?«, fragte sie.
Kim nickte, schüttelte gleich darauf den Kopf und murmelte etwas, was sich wie »ja« anhörte, aber im Zweifelsfall auch »fast« heißen konnte.
Vater seufzte. Das brüchige Leder der Couch knarrte, als er sich aufsetzte und umständlich nach Zigaretten und Feuerzeug langte. Kim trat verlegen auf der Stelle und zog die Daumen hinter dem Gürtel hervor. Er wusste plötzlich, warum seine Eltern so nervös waren.
»Ihr …ihr wart im Krankenhaus, nicht?«, fragte er.
Ein Schatten flog über das Gesicht seiner Mutter. Kim hatte mit einem Mal das Gefühl, etwas furchtbar Falsches gesagt zu haben.
»Setz dich, mein Sohn«, sagte sein Vater.
Kim sah seinen Vater durch eine Wolke blauen Zigarettenrauchs fragend an und setzte sich dann unsicher auf die Kante seines Sessels. »Mein Sohn« hatte er gesagt. So nannte er ihn nur, wenn er entweder sehr böse oder sehr gut aufgelegt oder sehr nervös war. Vater rief ihn selten beim Namen – normalerweise rief er ihn Knirps oder Kleiner, manchmal auch Junior oder Filius. Wenn er »mein Sohn« sagte, hatte das etwas Besonderes zu bedeuten.
»Ich …« Sein Vater zögerte einen Moment und fing dann von Neuem an. »Mutter und ich müssen mit dir reden«, sagte er ernst.
Kim begann sich mit jeder Sekunde unbehaglicher zu fühlen. Er glaubte zu wissen, was sein Vater mit ihm besprechen wollte, aber er wollte es nicht hören. Er blickte ins Gesicht seiner Mutter und fühlte sich plötzlich noch elender. Ihr Gesicht war sehr blass und unter den Augen lagen dunkle Ringe. Sie sah ihn an, aber ihr Blick schien durch ihn und die Sessellehne hindurchzugehen und sich irgendwo in weiter Ferne zu verlieren. Sie lächelte ein seltsames, trauriges Lächeln und ihm fiel auf, dass sich ihre Finger ununterbrochen bewegten.
»Ihr wart bei Becky, nicht?«
Vater nickte. Er drückte die Zigarette im Aschenbecher aus und zeichnete mit dem Filter Linien in die weiße Asche. »Ja, wir waren bei … deiner Schwester«, sagte er nach einer Weile. Er blickte Kim über den Rand seiner dünnen Goldbrille an und stützte die Ellbogen auf den Tisch. Dann faltete er die Hände und legte das Kinn darauf – wie er es immer tat, wenn er nachdachte oder etwas Schwieriges erklären wollte.
»Deine Schwester … Rebekka«, setzte er aufs Neue an, »ist sehr krank, Kim.«
Kim nickte. »Ich weiß«, sagte er. »Sie muss …«
Vater schüttelte sanft den Kopf. »Es ist nicht wegen des Blinddarms, Junge.«
»Nicht? Aber ihr sagtet doch …«
»Wir haben dir das erzählt, weil … weil wir dich nicht beunruhigen wollten.«
»Du meinst, es … es war gar nicht der Blinddarm …«
»Doch, doch, zunächst schon«, unterbrach ihn sein Vater hastig. »Es ist nur …« Er zündete sich schon wieder eine Zigarette an. »Ich weiß nicht … wir wissen nicht, wie wir es dir erklären sollen, Junge«, sagte er dann mit fester Stimme. »Du warst dabei, als wir deine Schwester in die Klinik gebracht haben, und … und du hast auch gehört, was Doktor Schreiber gesagt hat. Dass eine Blinddarmoperation heutzutage nichts Weltbewegendes mehr ist und dass wir uns keine Sorgen zu machen brauchen und dass Rebekka in einer Woche wieder hier sein würde.«
Kim nickte. Rebekka hatte vor drei Tagen plötzlich über stechende Seitenschmerzen geklagt und zu weinen angefangen. Sie hatten die Sache zuerst nicht besonders ernst genommen. Rebekka war im Mai vier geworden, aber wenn ihr etwas wehtat (oder wenn sie ihren Willen nicht bekam), gebärdete sie sich wie eine Zweijährige. Doch die Symptome waren immer schlimmer geworden und schließlich, gegen Abend, hatte sie sich vor Schmerzen übergeben müssen, sodass Vater kurz entschlossen beim Roten Kreuz anrief und einen Krankenwagen kommen ließ. Sie waren mit in die Klinik gefahren und es ging weit über Mitternacht, als sie wieder nach Hause kamen. Mutter schickte Kim ins Bett, aber er konnte nicht schlafen, und in dem großen, stillen Haus hatte er gehört, wie seine Eltern noch lange unten im Wohnzimmer gesessen und geredet hatten.
Natürlich hatte Dr. Schreiber gesagt, dass kein Grund zur Aufregung bestand – Kim erinnerte sich gut an den kleinen dünnen, grauhaarigen Mann mit den traurigen Augen hinter der schwarzen Hornbrille. Aber rückblickend fiel ihm ein, dass es in den letzten Tagen eine Menge Aufregung gegeben hatte. Das Telefon hatte öfter als gewöhnlich geklingelt und seine Mutter hatte – ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit – mit leiser Stimme gesprochen und hastig aufgelegt, wenn er ins Zimmer gekommen war. Ein kleines, bohrendes Gefühl der Angst machte sich in Kims Magen bemerkbar, ähnlich dem Gefühl, wenn er mit einer schlechten Note nach Hause kam, und doch wieder ganz anders.
»Es hat Komplikationen gegeben«, fuhr Vater leise fort. »So etwas kommt vor, wenn auch sehr selten. Doktor Schreiber hat es Mutter und mir erklärt, aber …« Vaters Stimme schwankte und Kim meinte Tränen in seinen Augen glitzern zu sehen. Doch dann blinzelte er, sog an seiner Zigarette und verbarg sich wieder hinter einer dichten Qualmwolke.
Plötzlich geschah etwas Seltsames. Vater erhob sich mit einem Ruck, stand einen Moment regungslos da und ballte die Fäuste. Er öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, schüttelte dann den Kopf und wandte sich mit einer raschen Drehung ab.
»Sag du’s ihm«, murmelte er. »Ich kann es nicht.«
Kims Blick wanderte zwischen dem Rücken seines Vaters und dem Gesicht seiner Mutter hin und her.
»Was … was ist mit Becky?«, fragte er angstvoll.
»Sie ist … man hat sie … ganz normal … in Narkose versetzt, ehe sie operiert wurde«, erklärte Mutter tonlos. »Aber sie ist nicht wieder aufgewacht.«
Kims Herz schien einen schmerzhaften Schlag zu überspringen. Seine Hände begannen zu zittern und in seinem Hals saß ein würgender Kloß.
»Ist sie … tot?«, fragte er.
Mutter starrte ihn einen Moment lang entsetzt an, dann schlug sie die Hände vors Gesicht und schluchzte.
»Nein, Junge.« Sein Vater setzte sich wieder. In seinen Augen glänzten jetzt wirklich Tränen. »Sie ist nicht tot, Kim. Sie ist nur nicht wieder aufgewacht. Sie haben sie aus dem Operationssaal gebracht und ins Bett gelegt und darauf gewartet, dass sie aufwacht, aber sie ist nicht aufgewacht. Sie schläft einfach weiter.«
»Und wie lange …«
»Zwei Tage«, murmelte Vater. »Seit sie operiert worden ist. Wir haben dir nichts gesagt, weil wir gehofft haben, dass noch alles gut wird, aber ich habe vorhin mit der Klinik telefoniert und …« Kim spürte, wie schwer es ihm fiel, weiterzusprechen, »und es sieht nicht so aus, als würde sich an ihrem Zustand etwas ändern.«
»Du meinst, sie wird überhaupt nie wieder aufwachen?«, sagte Kim. Die Vorstellung, dass jemand einschlief und einfach nicht wieder erwachte, war ungeheuerlich. So etwas kam nur in Märchen vor. Das waren Geschichten, wie man sie kleinen Kindern erzählte, aber doch nichts, was wirklich geschah! Trotz wallte in ihm auf und war für einen Moment sogar stärker als seine Angst. Er wollte nicht, dass so etwas passierte, keinem Menschen und schon gar nicht seiner Schwester.
»Mutter und ich fahren jetzt ins Krankenhaus«, sagte Vater nach einer Weile. »Doktor Schreiber möchte uns sprechen.«
»Ich komme mit«, sagte Kim.
Vater schüttelte bedauernd den Kopf. »Das wird nicht gehen, Kim«, sagte er. »Du weißt doch, dass Kinder unter vierzehn Jahren dort nicht hineindürfen.«
»Dann warte ich auf dem Flur«, beharrte Kim. »Ich will wissen, wie es Rebekka geht. Ich möchte sie sehen.«
Sein Vater wollte etwas sagen, aber Mutter legte ihm die Hand auf den Arm. »Lass ihn.«
Ohne Vaters Antwort abzuwarten, sprang Kim von der Sesselkante, lief aus dem Wohnzimmer und rannte – immer drei Stufen auf einmal nehmend – die Treppe hinauf. Als seine Eltern sich zum Weggehen fertig machten, war er schon wieder zurück, einen zerknautschten, fleckigen Teddybären, dem das rechte Ohr und ein Glasauge fehlten, im Arm. Rebekkas Lieblingsspielzeug. Seine Mutter zuckte zusammen, als sie den Bären sah, wandte sich ab und begann wieder zu weinen. Plötzlich fiel ihm ein, wie sinnlos es war, das Spielzeug mitzunehmen. Er drehte den Plüschbären hilflos zwischen den Fingern und sah sich nach einem Platz um, wohin er ihn legen konnte.
»Lass nur, Junge«, murmelte sein Vater. »Nimm ihn ruhig mit.«
Es begann zu regnen, als sie durch den schmalen Vorgarten zum Wagen gingen. Der Himmel war schon den ganzen Tag über bedeckt gewesen, und obwohl die tief hängenden Regenwolken immer wieder aufrissen und die wärmenden Sonnenstrahlen durchließen, war es kühl geworden. Der Herbst kam früh in diesem Jahr. Die Vorgärten der hübschen kleinen Einfamilienhäuser, die ihre Straße säumten, standen noch in voller Blüte, aber der Wetterbericht im Radio hatte für die kommenden Nächte Frost angekündigt und der Regen, der jetzt in großen, schweren Tropfen niederklatschte, schien bereits eine Vorahnung des nahenden Winters mit sich zu tragen.
Vater schlug den Mantelkragen hoch und lief zum Wagen voraus. Er öffnete die Tür, warf sich mit einem Satz hinein und ließ den Motor an, ehe er sich herüberbeugte und die beiden anderen Türen aufstieß.
»Wir müssen uns beeilen. Doktor Schreiber erwartet uns um halb fünf. Und bei dem Verkehr …«
Kim kletterte auf die Rückbank, angelte nach dem Sicherheitsgurt und ließ den Verschluss einrasten. Sie fuhren los. Es regnete immer stärker, während sie durch den immer dichter werdenden Berufsverkehr über die Hauptstraße nach Osten fuhren. Die Straßen begannen sich in große, mattgraue Spiegel zu verwandeln, auf denen lang gestreckte, verschwommene Spiegelbilder den Autos zu folgen schienen. Die Fußgänger hatten ihre Regenschirme aufgespannt oder den Mantelkragen hochgeschlagen und flüchteten in Hauseingänge und Geschäfte. Es wurde dunkler und die klamme Feuchtigkeit begann langsam auch in den Wagen zu kriechen. Vater schaltete die Heizung ein. Der Ventilator summte und verbreitete bald eine behagliche Wärme. Trotzdem fror Kim immer mehr. Er hatte sich auf der breiten Rückbank zusammengekauert und die Hände in den Jackentaschen vergraben, aber die Kälte, einmal hereingekommen, schien sich tief in seine Knochen verbissen zu haben. Die warme Luft erwärmte nicht einmal seine Haut, sondern schien dicht vor seinem Körper von einem unsichtbaren Schutzschirm aufgehalten zu werden. Er presste den zerschlissenen Plüschteddy eng an sich. Sein Blick fiel in den Rückspiegel. Er bemerkte, dass Vater immer wieder aufsah und ihn im Spiegel beobachtete. Mit einem Mal kam er sich lächerlich vor, wie er so dasaß, zitternd, frierend, die Hände in den Taschen und ein Kinderspielzeug im Arm. Mit einer verlegenen Geste legte er den Bären weg, drehte sich zur Seite und drückte das Gesicht gegen die beschlagene Scheibe.
Sie verließen die Stadt, fuhren auf die Autobahn und Vater gab Gas. Die Tachometernadel kletterte rasch höher und verweilte dann knapp unterhalb der Hundertkilometermarke. Vater hatte ihm oft erklärt, dass man bei nasser Fahrbahn achtzig Stundenkilometer nicht überschreiten sollte, aber heute schien er sich selbst nicht an diese Regel zu halten. Der Wagen schwenkte auf die Überholspur hinaus, zog einen doppelten, sprühenden Schleier aus grauen Wassertröpfchen hinter sich her und überholte eine Kolonne von Lastwagen.
Uber dem Rhein schimmerte ein Regenbogen, als sie in die Zufahrt zur Südbrücke einbogen. Der Fluss wirkte glatt und stumpf, als wäre er aus flüssigem Blei. Ein großer Lastkahn zog unter ihnen flussabwärts. Kim folgte ihm mit dem Blick, bis er unter dem Brückengeländer verschwunden war, und betrachtete dann wieder den Regenbogen. Es war kein besonders großer oder besonders prächtiger Regenbogen und Kim fragte sich unwillkürlich, ob es wohl so etwas wie eine Rangordnung, eine Hierarchie der Regenbogen gab, angefangen von kleinen, unbedeutenden Regenbogen mit wenigen und blassen Farben wie dieser hier bis hin zu prächtigen, in allen Farben schillernden Brücken, die sich über den gesamten Himmel und bis zu den Sternen emporspannten. Vielleicht gab es in der Unendlichkeit des Alls sogar einen König der Regenbogen, wenngleich Kim sich nicht vorstellen konnte, wie dieser aussehen mochte. Aber das Universum war so groß und wundervoll, dass irgendwo, vielleicht auf einem winzigen, unbedeutenden Planeten, Galaxien entfernt, wohl auch ein König der Regenbogen existierte. Bestimmt.
Die Brücke blieb hinter ihnen zurück und mit ihr verschwand auch der Regenbogen im trostlosen Grau des Himmels. Über der Stadt ballten sich schwarze Wolken zusammen und der Regen strömte jetzt so heftig, dass die Scheibenwischer kaum noch dagegen ankamen. Das Prasseln der Tropfen auf dem Wagendach hörte sich an wie fernes Donnergrollen.
Sie fuhren die Südallee hinunter, bogen nach wenigen Minuten rechts ab und dann in die Mohrenstraße ein. Kim kannte den Weg genau. Vor ein paar Jahren hatte er selbst in dieser Klinik gelegen, ebenfalls wegen einer Blinddarmoperation. Blinddarmentzündung schien eine Art Familienkrankheit zu sein. Vater hatte deswegen eine wichtige Geschäftsreise abbrechen müssen, auch Mutter hatte keinen Blinddarm mehr und er selbst hätte um ein Haar die dritte Klasse wiederholen müssen, weil er auf Anraten der Ärzte einen Erholungsaufenthalt anschließen musste und so insgesamt sechs Wochen versäumt hatte. Es war ein schlimmes Jahr gewesen. Vater hatte einen Studenten als Nachhilfelehrer engagiert, und während seine Freunde draußen auf der Straße Fußball spielten oder die Stadt unsicher machten, hatte Kim über seinen Schulbüchern sitzen und büffeln müssen.
Vater hielt an, beugte sich nach hinten und öffnete die Tür. »Steigt schon aus«, sagte er. »Ich suche rasch einen Parkplatz.«
Kim öffnete den Sicherheitsgurt, sprang aus dem Wagen und lief mit gesenktem Kopf auf die weiß gestrichene, bogenförmige Einfahrt der Klinik zu. Unter dem steinernen Vordach drängten sich mindestens ein Dutzend Leute, die vor dem plötzlichen Regenschauer Schutz gesucht hatten und jetzt mit finsterem Gesicht in den Himmel starrten, darauf wartend, dass der Regen aufhörte; Männer, Frauen, ein paar Kinder, aber auch zwei dunkelhaarige Männer in weißen Kitteln, die offenbar zur Klinik gehörten und nur eine Besorgung hatten machen wollen, als sie vom Regen überrascht wurden.
Kim steckte die Fäuste tiefer in die Taschen, als er sah, wie sich eine Frau umdrehte und lächelnd den Teddybären unter seinem Arm betrachtete. Er bemühte sich, ein möglichst finsteres Gesicht zu machen, presste den Bären provozierend noch enger an die Brust und lehnte sich neben der stummen Gestalt seiner Mutter gegen die feuchte Wand. Irgendwo, noch weit entfernt, zuckte ein Blitz und Sekunden später rollte das leise Echo des Donners über die Straße.
Kim fröstelte. Seine Schuhe waren durchweicht und er merkte erst jetzt, dass er mitten in einer Pfütze stand. Er trat einen Schritt zur Seite, wechselte den Bären vom linken in den rechten Arm und blickte unsicher zu seiner Mutter auf. Ihr Gesicht erschien ihm im dämmerigen Zwielicht des steinernen Gewölbes schmal und grau. Seltsam, dachte er und ein vollkommen fremdes, unangenehmes Gefühl überkam ihn. Er hatte sich nie – wirklich noch nie – Gedanken über seine Mutter gemacht. Er liebte sie, natürlich. Sie war immer für ihn da, für ihn, Becky und Vater, aber er hatte sich noch nie ernsthaft überlegt, wie es in ihrem Inneren aussehen mochte. Sie war jemand, zu dem man jederzeit kommen konnte mit jedem Problem, jedem Kummer, jemand, der immer Zeit zum Zuhören, immer ein verständnisvolles Wort hatte, und Kim hatte das stets für selbstverständlich genommen. Während er jetzt ihr schmales, von Schatten und scharfen Linien gezeichnetes Gesicht betrachtete, die er noch nie zuvor so deutlich gesehen hatte, wurde ihm plötzlich klar, wie viel Kraft und Energie seine Mutter dieses Einfach-Dasein kostete. Er ergriff ihre Hand, drückte sie und versuchte zu lächeln.
Sie blickte zu ihm herunter und lächelte zurück, aber ihre Augen blieben ernst. Der Regen vermischte sich mit den Tränen auf ihrem Gesicht und plötzlich presste sie seine Hand so fest, dass es schmerzte.
Der Regen wurde für einen Moment noch heftiger und der Wind trieb graue Wasserschleier zwischen den Häusern dahin. Die Autos krochen im Schritttempo über die Straßen und auf den Bürgersteigen war kaum noch ein Mensch zu sehen. Ein Krankenwagen bog mit heulender Sirene in die Straße ein, brauste inmitten einer gischtenden Flutwelle auf die Einfahrt zu und verschwand dann in dem weitläufigen Krankenhausgelände.
Dann kam Vater durch die niederstürzenden Wassermassen angerannt. Im Schutz der Einfahrt stapfte er ein paar Mal kräftig mit den Füßen auf, um das Wasser aus den Kleidern zu schütteln, und legte den Arm um Mutters Schulter. Kim erwartete, dass sein Vater »Warten wir, bis der Regen aufhört« oder etwas dergleichen sagen würde, stattdessen trat er einfach wortlos auf der anderen Seite der Toreinfahrt wieder in den Regen hinaus.
Kim zog den Kopf zwischen die Schultern und lief frierend hinterher. Alle drei waren bis auf die Haut durchnässt, als das große, eckige Gebäude der chirurgischen Klinik vor ihnen auftauchte. Auch Kim hatte in diesem Trakt des Krankenhauses gelegen, aber damals war ihm alles hier freundlich und hell vorgekommen. Hinter den schräg niederfallenden Regenschleiern erschien ihm das Gebäude wie eine finstere Burg, ein schwarzes Zauberschloss, in dem Dämonen und Hexen und telepathische Sumpfungeheuer hausten.
Sein Blick fiel auf das große Messingschild neben dem Eingang, während sie auf die beschlagenen Glastüren zuliefen. CHIRURGISCHE ANSTALTEN DER UNIVERSITÄTSKLINIK DÜSSELDORF.
Kim schauderte. Er mochte das Wort Klinik nicht und das Wort Anstalt schon gar nicht. Er hatte Vater einmal gefragt, warum man ein Krankenhaus ausgerechnet »Anstalt« nannte, aber Vater hatte auch keine Antwort darauf gewusst. Das Wort flößte ihm Unbehagen, ja Angst ein, es erinnerte an Gefängnisse und Irrenanstalten und modrige, feuchte Keller voller Ratten und Ungeziefer und Schimmel. Aber während er jetzt auf den finster starrenden Betonklotz mit seinen blinden Fenstern zuging, erschien ihm die Bezeichnung berechtigt.
Eine Welle stickiger warmer Luft schlug ihnen entgegen, als sie das Gebäude betraten. Kim schlüpfte durch die zuschwingende Glastür, schüttelte sich und lief dann schnell hinter seinen Eltern her. Sie durchquerten einen Vorraum, in dem ihre Schritte auf dem gefliesten Boden ein seltsam hallendes Echo hervorriefen, gingen dann durch eine lange, mit hochlehnigen Bänken ausgestattete Halle und traten durch eine weitere Glastür in den Wartesaal der Kinderklinik. In einer Ecke standen ein niedriger Tisch und mehrere unbequem aussehende Holzstühle, daneben eine verkümmerte Zimmerpflanze und ein verbeulter Standaschenbecher, der von Zigarettenkippen und Papier überquoll. »Wartet bitte hier«, sagte Vater, »ich sehe nach, ob Doktor Schreiber schon da ist.« Er deutete auf die Stühle, lächelte Mutter aufmunternd zu und verschwand hinter der Pendeltür, die in die chirurgische Abteilung führte.
Kim legte den Teddybären behutsam auf den Tisch und setzte sich. Seine Mutter blieb stehen und starrte auf die geschlossenen Aufzugtüren an der Stirnseite der Halle. Das Licht über einer der Liftkabinen glomm auf, ein helles »Ping« ertönte und die Türen rollten zur Seite. Der Leuchtpunkt spiegelte sich als heller Fleck in Mutters Pupillen. Kim drehte sich halb auf seinem Stuhl herum und sah neugierig zum Aufzug hinüber. Zwei Ärzte und eine Schwester, in dunkelgrüne Kittel, Haarnetze und blaue Kunststoffschuhe gehüllt, schoben ein weißes Krankenhausbett aus der Kabine. In dem Bett lag ein Mann. Das vermutete Kim jedenfalls, denn er konnte nicht viel mehr als einen schwarzen Haarschopf und ein Stück nackte Schulter erkennen. Die Schwester ging mit kleinen, schnellen Schritten neben dem Bett her, in der erhobenen Hand eine gläserne, mit einer gelben Flüssigkeit gefüllte Flasche haltend, von der ein dünner Plastikschlauch unter die Bettdecke führte.
Kim sah auf, als er merkte, dass seine Mutter wieder zu schluchzen begonnen hatte. Ihr Blick hing wie hypnotisiert an der zugedeckten Gestalt auf dem Bett und folgte ihr auch noch, als das Ärzteteam mit dem Patienten längst hinter der Milchglasscheibe der Tür verschwunden war.
Eine Ewigkeit schien zu verstreichen, ehe sich die Pendeltür wieder öffnete und Vater zurückkam.
»Ihr könnt kommen«, sagte er. »Doktor Schreiber erwartet uns.«
Sie betraten den langen, hellgelb gestrichenen Gang. Kim kümmerte sich nicht um das Metallschild neben der Tür, das besagte, dass Kinder unter vierzehn Jahren keinen Zutritt zu diesem Teil des Krankenhauses hatten. Er kannte diesen Gang. Er hatte in derselben Abteilung gelegen und trotz der Zeit, die seit seiner Blinddarmoperation verstrichen war, schien sich hier nicht das Geringste geändert zu haben. Die Bilder an den Wänden waren noch genauso uninteressant wie damals und selbst der durchdringende Krankenhausgeruch, den er mittlerweile vergessen hatte, war ihm mit einem Mal wieder gegenwärtig, fast so, als lege man größten Wert darauf, hier nichts zu verändern, alles so zu lassen, wie es war. Vielleicht war es tatsächlich noch immer derselbe Geruch, vielleicht konservierten sie sogar die Luft hier drinnen auf eine geheimnisvolle Art.
Vater eilte zu der kleinen Glaskabine voraus, die sich in der Mitte des Flurs auf der rechten Seite befand, wechselte ein paar Worte mit der Schwester darin und ging dann weiter. Bei der vorletzten Tür hielt er an. Vater klopfte, wartete eine Sekunde und drückte dann die Klinke herunter.
Kims Herz begann schnell und fast schmerzhaft zu hämmern, als sie das Zimmer betraten. Es war dunkel. Die Jalousien waren heruntergelassen, sodass nur ein paar Streifen hellgrauen Lichts hereindrangen. In einer Ecke brannte eine kleine, mit einem Tuch abgedeckte Lampe. Zwei der drei Betten waren leer und über dem Kopfteil von Rebekkas Bett hing eine ganze Batterie blinkender, piepsender und leuchtender Apparate. Auf einem kaum handtellergroßen Bildschirm hüpfte ein grüner Leuchtpunkt regelmäßig auf und ab und hinterließ dabei einen Schwanz winziger, flimmernder Sternchen. Daneben tickten beständig drei verschiedene Digitalanzeigen.
Mutter stieß einen kleinen, unterdrückten Schrei aus und trat mit zwei schnellen Schritten zum Bett. Ihre Schultern zuckten. Sie weinte lautlos.
Kim bemerkte erst jetzt, dass sich außer ihnen und Rebekka noch eine weitere Person im Zimmer befand. Dr. Schreiber hatte bis jetzt reglos neben dem Bett gestanden, sodass seine schmale Gestalt in dem weißen Kittel fast mit den Schatten verschmolzen war. Jetzt seufzte er, kam langsam um das Bett herum und berührte Mutter flüchtig am Arm.
»Es … es tut mir leid, Frau Larssen«, sagte er leise. Seine Stimme hatte einen hohen, etwas unangenehmen Klang, doch es hörte sich ehrlich an. »Aber … ich hielt es für besser, Ihnen die Wahrheit zu sagen.«
Mutter nickte kaum merklich. Ihre Finger fuhren über die Bettdecke. »Es ist … es ist schon in Ordnung, Herr Doktor«, antwortete sie. »Ich danke Ihnen, dass Sie sich so viel Mühe geben.«
Dr. Schreiber blickte fragend auf Kim.
»Der Junge weiß Bescheid«, erklärte Vater. »Ich habe ihm alles gesagt.«
Dr. Schreiber nickte wie zu sich selbst und steckte die Hände in die Taschen seines weißen Arztkittels. »Sicher. Es ist vielleicht besser so.«
»Sie können ruhig sprechen«, sagte Mutter, ohne den Kopf zu wenden.
»Es gibt nicht viel zu sagen«, begann Dr. Schreiber zögernd. »Wir haben alles in unserer Macht Stehende versucht, leider ohne sichtbaren Erfolg. Natürlich ist es noch zu früh, um …« Er schüttelte den Kopf und nahm die Hände aus den Taschen. »Es ist sinnlos, Ihnen etwas vormachen zu wollen«, fuhr er mit fester Stimme fort. »Ich werde natürlich in den nächsten Tagen noch Kollegen hinzuziehen, aber der Fall sieht nicht gut aus. Im Moment wenigstens«, setzte er hastig hinzu. »Sehen Sie, wir … kennen solche Fälle. Ich habe in meiner Praxis noch keinen erlebt, ich kann daher nur auf die Fachliteratur und auf die Erfahrungen anderer Kollegen und Kliniken zurückgreifen. So etwas kommt vor – selten, aber doch. Die Medizin hat ein paar Erklärungen dafür, aber keine davon scheint mir im konkreten Fall wirklich überzeugend. Ein Mensch wacht einfach nicht wieder aus der Narkose auf. Alles ist in Ordnung. Der Organismus hat die Eingriffe gut überstanden, das Betäubungsmittel verliert seine Wirkung – aber der Patient wacht nicht auf.« Er schwieg kurz und suchte nach Worten. »Es ist, als … als weigere sich der Geist des Patienten, wieder ins Bewusstsein zurückzukehren. Oder als hielte ihn etwas zurück.«
Vater lächelte traurig.
»Und dies ist einer von … diesen Fällen?«
Dr. Schreiber nickte. »Ich fürchte, ja. Wir wissen nicht, wie lange es dauert. Manchmal wacht der Patient nach einer Weile von selbst auf und in ganz seltenen Fällen gelingt es uns sogar, ihn sozusagen zurückzuholen. Aber wir wissen nicht wie und wir wissen auch nicht wann.«
Oder ob überhaupt, fügte Kim in Gedanken hinzu. Er war sicher, dass Dr. Schreiber das Gleiche dachte. Der Arzt redete weiter, aber Kim hörte nicht mehr hin. Leise trat er neben seine Mutter und blickte auf die reglose Gestalt in dem viel zu großen weißen Bett.
Rebekkas Gesicht wirkte in dem frisch ausgeschüttelten Kissen unglaublich klein und verloren. Dünne, bunte Drähte schlängelten sich unter der Bettdecke hervor zu den blinkenden Automaten an der Wand. An einem chromblitzenden Gestell neben dem Bett hing eine Tropfflasche, von der ein gelber Kunststoffschlauch zu ihrem Arm führte, und ihr Gesicht war fast völlig unter einer durchscheinenden Atemmaske verborgen, die sich, wie die Sauerstoffmaske eines Jagdfliegers, über Mund und Nase schmiegte und nur die geschlossenen Augen freiließ.
Kim schluckte. Der bittere Kloß in seinem Hals war wieder da und in seinem Magen breitete sich ein flaues Gefühl aus. Er legte den Plüschteddy auf das Bett, dorthin, wo sich unter der Decke Rebekkas rechter Arm abzeichnete, und trat dann schnell zurück. Er schloss die Augen, aber das nutzte nichts. Er sah noch immer dieses kleine, verlorene Gesicht in der riesigen weißen Wüste des Bettes.
Er merkte erst, dass er weinte, als ihm eine Hand zärtlich über das Gesicht fuhr und die Tränen wegwischte.
Er blickte ins Gesicht seiner Mutter. Sie weinte nicht mehr. Ihre Augen waren trocken, aber der Ausdruck darin ließ ihn schaudern.
Vater redete noch eine Weile mit dem Arzt. Dr. Schreiber antwortete geduldig auf alle Fragen und unterstrich seine Worte mit erklärenden Gesten. Kim fiel auf, dass er ungewöhnlich schlanke Hände hatte, auf denen die Adern blau und deutlich wie dünne Wurzeln hervorstanden und die sich schnell und fast wie zwei selbstständige Wesen bewegten.
Die Besucher verließen das Zimmer und traten wieder auf den gelben Flur mit seinen gleichförmigen Türen und dem Krankenhausgeruch hinaus. Ein alter Mann in einem blauen Besucherkittel kam ihnen entgegen, blieb einen Moment stehen und blickte Kim freundlich lächelnd an.
Es war ein sehr seltsamer Mann, fand Kim. Er war alt – sehr alt – und er sah genau so aus, wie Kim sich immer einen wirklich alten Mann vorgestellt hatte. Er ging gebeugt, die rechte Hand leicht vorgestreckt, als wäre er es gewohnt, dort normalerweise einen Stock oder Stab zu halten. Obwohl er kleiner als Vater war, hatte er sehr breite Schultern; er musste früher sehr groß und kräftig gewesen sein. Sein langes weißes Haar fiel fast bis auf die Schultern herab und er trug einen weißen, sorgsam geschnittenen Bart, der vom Kinn bis zum obersten Knopf seines Kittels reichte. Sein Gesicht war von unzähligen Runzeln und Falten durchzogen, die sich um seine Augen zu einem dichten Netzwerk feiner Linien versponnen, und auf der Stirn waren drei tiefe senkrechte Falten eingegraben.
Der alte Mann lächelte wieder, wiegte den Kopf und schlurfte an ihnen vorüber. Kim widerstand der Versuchung sich umzudrehen und ihm nachzustarren. Wahrscheinlich ein Großvater, der gekommen war, um seinen kranken Enkel in der Klinik zu besuchen.
Der Gedanke gefiel Kim. Er hätte gern einen solchen Großvater gehabt. Seine Großeltern waren gestorben, als er noch ganz klein war, und er hatte nie erfahren, wie es war, einen Opa zu haben. Aber wenn er einen hätte, müsste er genau wie dieser aussehen.
Dr. Schreiber begleitete sie noch durch die Glastür und ein Stück den Gang hinunter, ehe er sich mit einem flüchtigen Händedruck verabschiedete und hinter einer der gleichförmigen Türen verschwand.
Der Regen hatte aufgehört, als sie das Klinikgebäude verließen. Schweigend gingen sie über den gewundenen, von Blumenrabatten und gepflegten Rasenflächen gesäumten Weg zum Haupteingang zurück. Der weiße Torbogen war jetzt menschenleer und machte einen trostlosen, verlassenen Eindruck. Auf dem ausgefahrenen Asphalt schimmerten ölige Pfützen und von den Wänden blätterte der Verputz in großen, unregelmäßigen Flecken ab. Wenn man lange genug hinsah, konnte man in den schadhaften Stellen ein Muster erkennen – eine dünne, gewundene Linie, die sich diagonal über die Wand zog und vorne, beim Ausgang, zu einer vielfingrigen bizarren Hand wurde, einwärts gekrümmt und mit langen, spitzen Fingernägeln.
Vater blieb stehen, kramte den Autoschlüssel aus der Tasche und steckte ihn dann wieder ein.
»Trinken wir eine Tasse Kaffee«, sagte er. »Ich habe Durst.« Mutter hakte sich wortlos bei ihm unter. Sie gingen weiter bis zum Zebrastreifen und überquerten die Straße.
Kim atmete auf, als sie das Klinikgebäude hinter sich ließen. Er hatte das Gefühl, plötzlich einem Gefängnis entronnen zu sein. Einem Gefängnis mit unsichtbaren, unübersteigbaren Mauern. Er blieb mitten auf dem Zebrastreifen stehen, drehte sich um und betrachtete den Eingang, der in der grauen, regenschweren Luft wie das gierig aufgerissene Maul eines lauernden Ungeheuers aussah oder wie der Eingang zu einem tiefen, bodenlosen Kerker, ein Verlies ohne Ausgang, ohne Licht und Luft und ohne Hoffnung für die, die einmal darin gefangen waren.
Kim schauderte. Er wandte sich ab und beeilte sich, hinter seinen Eltern herzulaufen.
Das Café war groß und hell. Auf den Tischen in dem weitläufigen Raum brannten unzählige kleine Lampen. Es duftete nach Kuchen und frisch aufgebrühtem Kaffee. Kellnerinnen in schwarzen Kleidern und kleinen, spitzenbesetzten Schürzen eilten geschäftig hin und her.
Vater deutete auf einen freien Tisch am Fenster. Sie setzten sich. Vater zündete sich eine Zigarette an, hustete hinter vorgehaltener Hand und stützte die Arme auf der Tischplatte auf. Sein Gesicht wirkte müde, und als die Kellnerin kam, musste sie ihn zweimal nach seinen Wünschen fragen, ehe er aufschreckte und Kaffee und für Kim ein Glas Cola bestellte.
»Wir sollten deine Schwester anrufen«, sagte Vater, zu Mutter gewandt »Vielleicht kann sie für ein paar Tage zu uns kommen. Es wäre besser, wenn du jetzt nicht so viel allein bist.«
»Du meinst Tante Birgit?«, fragte Kim.
Vater nickte. »Ich bin sicher, sie kommt, wenn sie hört, was … was passiert ist.«
»Warum nimmst du dir nicht ein paar Tage frei?«, sagte Mutter. »Das geht doch, oder? Dein Büro wird nicht zusammenbrechen, wenn du eine Woche fehlst.«
Vater lächelte flüchtig. »Natürlich nicht. Aber ich habe im Moment viel zu tun.« Er seufzte. »Ich glaube nicht, dass ich dir eine große Hilfe wäre«, fügte er hinzu. »Außerdem lenkt mich die Arbeit ab.« Er lehnte sich zurück und streckte die Beine unter dem Tisch aus. »Ich werde mir noch oft genug freinehmen müssen um in die Klinik zu fahren«, sagte er.
Die Kellnerin kam mit der Kanne Kaffee und einem Glas Cola. Kim war froh, dass sein Vater schwieg, während sie servierte. Vater hatte manchmal eine so kalte, sachliche Art, dass man sich grausam zurückgestoßen fühlte. Mutter hatte sich schon oft darüber beklagt, aber meist verstand er das gar nicht oder wollte es nicht verstehen. Jetzt verstand er es. Er meinte es freilich nicht böse und war auch nicht gefühllos. Es war eben seine Art und die Familie hatte sich damit abgefunden, auch wenn er Außenstehende manchmal schockierte.
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