Märchenmonds Kinder - Wolfgang Hohlbein - E-Book
SONDERANGEBOT

Märchenmonds Kinder E-Book

Wolfgang Hohlbein

0,0
7,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 7,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

"Es sind die Kinder, die verschwinden. Sie gehen fort und kommen nicht wieder - oder sie legen sich zum Schlaf nieder und sind nicht mehr da, wenn die Sonne aufgeht. Niemand weiß, was mit ihnen geschieht. Auf dir ruht nun all unsere Hoffnung. Hilf uns, Kim, wie du uns schon einmal geholfen hast." Als Kim Märchenmond betritt, fühlt er schon die tiefgreifende Veränderung, von der diese Welt hinter den Träumen erfasst ist. Auch seine Freunde sind davon betroffen. In jedem von ihnen scheinen die dunklen Seiten der Seele die Oberhand zu gewinnen. Gemeinsam mit Rangarig, dem Golddrachen, und Priwinn, dem Prinzen der Steppenreiter, begibt sich Kim auf ein gefährliches Abenteuer, um Märchenmond zu retten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 792

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über dieses Buch

»Es sind die Kinder, die verschwinden. Sie gehen fort und kommen nicht wieder - oder sie legen sich zum Schlaf nieder und sind nicht mehr da, wenn die Sonne aufgeht. Niemand weiß, was mit ihnen geschieht. Auf dir ruht nun all unsere Hoffnung. Hilf uns, Kim, wie du uns schon einmal geholfen hast.« Gleich als Kim Märchenmond betritt, fühlt er die tiefgreifende Veränderung, von der diese Welt hinter den Träumen erfasst ist. Auch seine Freunde sind davon betroffen. Gemeinsam mit Rangarig, dem Golddrachen, und Priwinn, dem Prinzen der Steppenreiter, macht sich Kim auf den Weg zur gläsernen Burg. Es wird eine Reise durch verwüstetes Land und tausenderlei Gefahren. Rangarig wird von einem Eisendrachen getötet, Kim von den Zwergen gefangen genommen. Tief unter der Erde muss er in ihrer Schmiede Sklavendienste verrichten. Ein Entkommen scheint nicht möglich und doch gelingt es Kim, aus den Höhlen zu fliehen. In den unterirdischen Gewölben der gläsernen Burg enthüllt sich ihm das Geheimnis der verschwundenen Kinder und damit die Möglichkeit, in den bereits tobenden Kampf um die Vorherrschaft in diesem Land einzugreifen. Doch ist es nicht schon zu spät, um Märchenmond ein zweites Mal vor dem Untergang zu retten?

 

Für alle, die das Träumenimmer noch nicht verlernt haben – denn Maschinen haben keine Träume

Inhalt

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Kapitel XVII

Kapitel XVIII

Kapitel XIX

Kapitel XX

Kapitel XXI

Kapitel XXII

Kapitel XXIII

Kapitel XXIV

Kapitel XXV

I

Da alles im Krankenhaus angefangen hatte, war es eigentlich nur logisch, dass es dort auch weiterging. Nicht, dass an dieser Geschichte irgendetwas logisch gewesen wäre, dachte Kim, nein, ganz sicher nicht.

Indessen betrachtete er mit einer Mischung aus Betroffenheit und Neugier das blitzende Blaulicht des Krankenwagens, das sich in den Scheiben des gegenüberliegenden Hauses spiegelte. Viel lieber hätte sich Kim natürlich den Krankenwagen selbst angesehen; beziehungsweise den Grund, aus dem er keine zehn Meter vor der Einfahrt der Universitätsklinik Düsseldorf stand und auf den Abschleppdienst wartete. Ein Krankenwagen, der selbst einen Verkehrsunfall hatte – das war schon beinahe lächerlich.

Tante Birgit war wieder einmal dazu verdonnert worden, Kim Gesellschaft zu leisten und zu warten, bis Mutter und Becky aus der Klinik kamen und sie gemeinsam zurückfahren konnten. Sie hatte Kim versichert, dass bei dem Unfall niemand ernsthaft zu Schaden gekommen war – er brauchte also kein schlechtes Gewissen zu haben, dass er einfach grinsen musste bei der Vorstellung eines verunfallten Unfallretters. Kim schob den letzten Kaugummi aus der Packung, die ihm Tante Birgit spendiert hatte, steckte ihn in den Mund und schnippte das dazugehörige Papier zielsicher einen halben Meter neben die Abfalltonne am Straßenrand. Er sah sich verstohlen nach seiner Tante um. Keine Spur von ihr – jedenfalls schien es so. Dann erblickte er ihr kurz geschnittenes, schwarzes Haar in dem dichten Kreis, den die Neugierigen um den zerdepperten Rotkreuzwagen bildeten und damit sowohl die Polizei als auch die Krankenpfleger nach Kräften bei ihrer Arbeit behinderten. Das war wieder einmal typisch Erwachsene, dachte Kim verärgert: Vorträge halten, dass man so etwas nicht tut und es sich nicht gehöre, neugierig herumzustehen und zu gaffen, wenn ein Unfall passiert war, schließlich (Originalton Tante Birgit) war so etwas keine Volksbelustigung, sondern eine schlimme Sache – und sich dann selbst nicht daran halten.

Kim war ein wenig verärgert. Nicht, dass er etwas gegen seine Tante hatte – ganz im Gegenteil, er mochte Tante Birgit sehr. Aber so nett sie auch war, sie war eben eine Erwachsene und das, was sie tat, war wieder mal ty-pisch Er-wach-se-ne, dachte er noch einmal. Bäh!

Außerdem war Kim ohnehin nicht in besonders guter Laune. Er hasste es, wenn man ihn als kleines Kind behandelte und dass er jedes Mal mitkommen und noch dazu seine Tante als Leibwächter mitschleifen musste, wenn Becky zur Untersuchung ins Krankenhaus musste. Was, bitteschön, war das anderes als die Behandlung, die man einem kleinen Kind angedeihen ließ? Kim hatte sich mehrmals bitter darüber beschwert, aber sein Vater war in diesem Punkt unerbittlich. – Und das alles nur, weil Kim ein einziges Mal, als er allein daheim geblieben war, ein paar Freunde zu Besuch gehabt hatte, die in dieser Zeit ein klitzekleines bisschen Unordnung gemacht hatten. Es war einfach nicht gerecht! Was zum Teufel konnte Kim dafür, wenn dieser blöde Fernseher im Wohnzimmer so wackelig auf seinem Tisch stand, dass er bei der kleinsten Berührung – nämlich eines Fußballs – herunterfiel und einen kleinen Riss – nämlich in der Bildröhre – davontrug? Seine Eltern hatten sowieso seit Monaten davon gesprochen, ein neues Gerät zu kaufen – und es dann auch getan. Im elterlichen Wohnzimmer thronte jetzt ein 90-cm-Monstrum von Fernseher, wie es sich sein Vater immer gewünscht, aber gegen den sich Mutter stets mit dem Argument gewehrt hatte, der alte täte es ja noch. Dankbar sollte sein Vater ihm sein, statt ihn zu bestrafen! Es war einfach nicht fair!

Aber wer hatte je davon gehört, dass Erwachsene fair zu Kindern waren?

Kim hatte die Lust am Kaugummi verloren. Er spuckte ihn in großem Bogen aus und er landete ebenso weit neben der Mülltonne wie das Papier zuvor, nur auf der anderen Seite. Dann vergrub er die Hände in den Hosentaschen und drehte sich lustlos um, als seine Tante auf der anderen Straßenseite kurz den Kopf wandte, um sich davon zu überzeugen, dass ihr Schützling noch da stand, wo sie ihn zurückgelassen hatte. Er könnte sich ja etwa heimlich dem Ort des Geschehens nähern, um ebenfalls einen neugierigen Blick zu riskieren – und unweigerlich seelisch Schaden zu nehmen, dachte Kim spöttisch. Schließlich war der Anblick einer zerknautschten Stoßstange nun wirklich nichts für schwache Nerven. Bäh!

Kims Fingerspitzen berührten ein paar Münzen in seiner Hosentasche. Er zögerte einen Moment, zog sie heraus und zählte seine Barschaft flüchtig durch – etwas über drei Mark. Eigentlich genug, dachte er, um ins Café hinüberzugehen und sich eine Cola zu genehmigen. Bis seine Mutter und Becky zurück waren, würde sicher noch eine Stunde vergehen, vielleicht auch mehr. Kim fragte sich zum x-ten Male, warum eine Untersuchung, die eigentlich nur zehn Minuten beanspruchte, immer drei oder vier Stunden dauern musste; und er fand zum x-ten Male keine Antwort darauf. Es schien ein ehernes Gesetz zu sein, dass in Krankenhäusern eben alles lange dauerte, selbst wenn es im Grunde schnell gehen könnte. Er fragte sich übrigens auch zum ebenso vielten Male, warum seine Schwester nach all der Zeit immer noch regelmäßig alle sechs Wochen zur Untersuchung musste, wo doch längst alles wieder mit ihr in Ordnung war.

Vielleicht lag es daran, dass die Ärzte im Grunde immer noch nicht begriffen hatten, was damals eigentlich geschehen war – und wie konnten sie auch? Es gab auf dieser ganzen Welt nur zwei Menschen, die das wussten, und diese beiden würden es niemals jemandem verraten – ganz davon abgesehen, dass es ohnehin keiner glauben würde …

Unwillkürlich kehrten Kims Gedanken zu jenem Tag zurück, an dem vor langer Zeit alles angefangen hatte. Vielleicht lag es an der Umgebung, denn genau in diesem Krankenhaus hatte er Themistokles das erste Mal gesehen. Und dort, auf der gegenüberliegenden Straßenseite, hatte er Kim durch das Fenster des Cafés, in dem sie danach saßen, noch einmal zugelächelt. Genau da hatte er das erste Mal gespürt, dass die Krankheit seiner Schwester keine Krankheit war, sondern etwas völlig anderes, und dass …

Kim verscheuchte die Gedanken.

Es war vorbei, lange her. Nicht vergessen, aber vorüber. Seine Schwester Rebekka und er hatten einen Blick (eigentlich war es ein bisschen mehr als ein Blick gewesen) in eine fremde Welt geworfen, jene Welt auf der anderen Seite des Schlafs, in der die Wirklichkeit zum Traum und Träume zur Wirklichkeit wurden. Beide waren sie dort gewesen und sie hatten das seltsamste und größte Abenteuer ihres jungen Lebens erlebt. Aber es war vorbei.

Für Kim war dieser Gedanke ohne Bitterkeit. Manchmal, wenn er an Märchenmond und seine Bewohner zurückdachte – an Themistokles, den gütigen, alten Zauberer mit dem weißen Bart und den sanften Augen, an Gorg, den gutmütigen Riesen, und an seinen Freund, den Bären Kelhim, an den goldenen Drachen Rangarig, an Prinz Priwinn, an Ado und all die anderen, denen er auf seiner fantastischen Reise begegnet war und mit denen er Freundschaft geschlossen hatte –, dann überkam ihn ein leises Bedauern, da er sie niemals wiedersehen sollte. Aber Verbitterung oder gar Zorn spürte er nicht. Kim wusste, dass er Märchenmond nicht wirklich verloren hatte. Ein Teil dieser wunderbaren Welt würde immer in ihm sein und manchmal spürte er ihn wie ein mildes, warmes Licht, das ihn erfüllte, und das um so heller zu leuchten schien, desto düsterer und trostloser die Welt ringsum war.

Es war mehr als ein fantastisches Abenteuer gewesen, das die beiden erlebt hatten. Kim und seine Schwester Rebekka hatten etwas geschenkt bekommen, was zwar die meisten Kinder besaßen, nur war es den wenigsten so bewusst wie ihnen: den Glauben an die Macht der Fantasie und das sichere Wissen, dass es jenseits der Realität des Sichtbaren und Greifbaren noch mehr gab, ja dass diese Welt sogar nur ein winzig kleiner Teil dessen war, was die meisten Menschen als Wirklichkeit bezeichneten.

Manchmal fragte sich Kim, was sie wohl sagen würden, all diese superschlauen Erwachsenen mit ihren allwissenden Computern und Fachbüchern, wenn sie die Wahrheit wüssten. Und manchmal war die Verlockung groß, sie ihnen zu erzählen.

Aber er tat es nicht. Was sie erlebt hatten, würde ein Geheimnis bleiben zwischen ihm und Rebekka. Und natürlich Themistokles.

Nachdenklich betrachtete Kim die blinkenden Münzen auf seiner Handfläche und ließ sie dann mit einem enttäuschten Seufzer wieder in der Hosentasche verschwinden. Das Café war für sein schmales Taschengeld entschieden zu teuer. Vielleicht konnte er Tante Birgit dazu überreden, ihm eine Cola zu spendieren. Sie war nicht nur nett, sondern auch äußerst großzügig, meistens jedenfalls.

Kim wollte sich eben umdrehen, um seiner Tante über die Köpfe der Menschenmenge hinweg einen Noch-eine-Minute-und-ich-sterbe-vor-Durst-Blick zuzuwerfen, als er eine verzerrte Spiegelung in der großen Scheibe des Cafés sah. Nur für den Bruchteil einer Sekunde. Ein flüchtiges Aufflackern wie das blaue Blitzen des Krankenwagenlichtes, aber sehr deutlich. Und es war kein formloser Lichtfleck, sondern der Umriss einer menschlichen Gestalt.

Einer Gestalt, die er kannte!

Ein weißhaariger, bärtiger, alter Mann, der langsam seine Linke hob und Kim verzweifelt zuwinkte. Der Junge starrte ihn fassungslos an, dann fuhr er mit einem nur noch halb unterdrückten Aufschrei herum – und riss ungläubig die Augen auf.

Hinter ihm war niemand. Es stand keiner da, der sich in der Scheibe hätte spiegeln können. Das heißt, natürlich war hinter ihm jemand. Jede Menge Jemands sogar, die herumstanden und neugierig zu dem verunglückten Krankenwagen hinübergafften. Nicht wenige drehten sich jetzt sogar zu Kim herum und warfen ihm sonderbare Blicke zu. Denn Kim hatte vorhin tatsächlich aufgeschrien und jetzt stand er da, mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund. Leichenblass. Eine Frau drehte sich zu ihm herum und machte eine Bewegung, als wollte sie ihn an der Schulter angreifen, führte sie aber nicht zu Ende.

»Ist alles in Ordnung mit dir, mein Junge?«, fragte sie. Und als Kim nicht reagierte, stellte sie die Frage zum zweiten Mal. Kim nickte nur stumm und zwang sich zu etwas, das er für ein Lächeln hielt. Immer noch blickte er fassungslos zu der großen Glasscheibe und zu der leeren Stelle direkt hinter sich, jener Stelle, wo ein alter Mann mit einem weißen Bart gestanden haben musste, als er sich in der Scheibe spiegelte. Ein Alter, der keinen Anzug oder Mantel trug wie all die anderen Männer hier, sondern eine weite, schwarze Robe, auf die vorne der lange Bart fiel, und der einen mannshohen Stab in der Rechten hielt, um den sich eine geschnitzte Schlange mit weit aufgerissenem Maul wand.

Er war nicht da.

Der Alte war ganz eindeutig nicht da und er konnte auch nicht da gewesen sein. Denn Kim hatte sich so rasch herumgedreht, dass keiner in dieser kurzen Zeit in der Menschenmenge unterzutauchen vermocht hätte.

Und trotzdem hatte Kim den Mann ganz deutlich in der Scheibe gesehen.

»Geht es dir auch wirklich gut, Junge?«, vergewisserte sich die Frau. »Du bist ja kreidebleich!« Sie trat einen Schritt näher und legte Kim nun doch die Hand auf die Schulter. Ihre Berührung war leicht und warm und sie lächelte freundlich. Sie schien sich tatsächlich zu sorgen.

Trotzdem schob Kim ihre Hand nach kurzem Zögern beiseite und zwang sich abermals zu einem Lächeln. »Mir fehlt nichts«, brachte er jetzt heraus. »Ich habe mich nur … erschrocken.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf die Fensterscheibe hinter sich. »Eine Spiegelung, verstehen Sie?«

Der Ausdruck in den Augen der Frau machte deutlich, dass sie ganz und gar nicht verstand – oder ihm nicht glaubte.

»Eine Spiegelung?«

»Nur eine Sinnestäuschung«, versicherte Kim hastig. »Es ist alles in Ordnung. Wirklich.«

Einen kurzen Moment lang blickte ihm die Frau misstrauisch ins Gesicht, aber dann zuckte sie mit den Schultern, drehte sich wieder um und verschwand in der Menge. Kim blieb reglos stehen, mit unbewegtem Gesicht und wie zur Salzsäule erstarrt.

Aber diese Ruhe war nur äußerlich. Hinter seiner Stirn schlugen die Gedanken Purzelbäume. Die wenigen Worte vorhin auszusprechen hatten ihn fast all seine Kraft gekostet.

Alles in Ordnung?

Plötzlich hatte Kim alle Mühe, sich selbst davon abzuhalten, schrill über seine Behauptung zu lachen.

Nichts war in Ordnung!

Obwohl ihm die Vernunft sagte, dass es völlig unmöglich war, drang da plötzlich eine andere, viel stärkere Stimme in seine Gedanken, die ihm erklärte, dass er die Gestalt sehr wohl gesehen hatte. Weder ihre Gestalt noch die Geste, mit der sie die linke Hand gehoben und Kim zugewinkt hatte, waren Einbildung gewesen, so wenig wie der verzweifelte, fast entsetzte Ausdruck auf dem Gesicht des alten Mannes. Wenn aber all dies keine Einbildung war, dann hatte Kim allen Grund zu behaupten, dass gar nichts mehr in Ordnung war.

Denn die Gestalt im Spiegel war niemand anderes gewesen als Themistokles, der Zauberer aus Märchenmond.

»Ist alles in Ordnung mit dir?«

Es war das dritte Mal, dass Kim diese Frage hörte. Und das angedeutete Nicken, mit dem er darauf antwortete, schien Tante Birgit ebenso wenig zu überzeugen wie die Frau vorhin. Kim hatte sich – nachdem seine Hände und Knie zu zittern und sein Herz zu jagen aufgehört hatten – einen Weg über die verstopfte Straße zu dem quer stehenden Krankenwagen und damit zu seiner Tante gebahnt. Und nach dem ersten unmutigen Stirnrunzeln, das bei seinem Anblick über ihre Züge gehuscht war, war Tante Birgit deutlich erschrocken und hastig auf ihn zugetreten.

»Mir fehlt nichts«, sagte Kim. »Es ist nur …«

»Ja?« Seine Tante legte ihm die Hand auf die Schulter und sah ihm aufmerksam ins Gesicht. Kim widerstand im letzten Moment der Versuchung, auch ihre Hand abzustreifen.

»Ich fühle mich … ein bisschen komisch«, meinte er schließlich.

Tante Birgit musterte ihn noch einmal durchdringend und sehr ernst, dann nahm sie die Hand von seiner Schulter und legte sie stattdessen auf seine Stirn. »Fieber hast du jedenfalls nicht«, stellte sie sachlich fest.

»Das ist es auch nicht«, sagte Kim hastig. »Mir ist nur ein bisschen flau im Magen. Vielleicht kriege ich eine Grippe.«

»Vielleicht«, meinte seine Tante. Dann fragte sie: »Hast du heute überhaupt schon was gegessen?«

»Sicher«, antwortete Kim. »Du weißt doch, dass Mutter mich nicht ohne Frühstück aus dem Haus lässt.«

»Ohne Frühstück?« Tante Birgit blickte ihn zweifelnd an. »Es ist jetzt fast vier!«

»Ich hatte keinen Hunger«, sagte Kim. »Und es ist auch nicht so …«

»Unsinn«, unterbrach ihn Tante Birgit, nicht laut, aber in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Wir gehen jetzt ins Café hinüber und du wirst ein Stück Kuchen essen oder besser zwei.«

Kim gab auf. Er kannte diesen Ton und wusste, wie sinnlos jedwede Art von Widerspruch war. Trotzdem versuchte er es noch einmal: »Mutter und Becky sind bestimmt gleich zurück, und …«

»Die werden uns schon finden«, unterbrach ihn seine Tante energisch. »Außerdem haben wir von drüben einen ausgezeichneten Blick auf die Einfahrt. Und ich habe die Wagenschlüssel – schon vergessen? Davon abgesehen, könnte ich jetzt eine Tasse Kaffee vertragen. Also komm.«

»Ist … was passiert?«, fragte Kim mit einer Geste auf den Krankenwagen. Jemand hatte endlich das Blaulicht ausgeschaltet und die beiden Fahrer hatten den Wagen verlassen. Einer von ihnen stand mit in den Taschen vergrabenen Händen da und betrachtete kopfschüttelnd den eingedrückten Kotflügel des Wagens. Kim hatte den Unfall gesehen, wie die meisten Leute hier: der Wagen war mit quietschenden Bremsen, aber doch recht gemächlich gegen einen der steinernen Poller gekracht, die den Torbogen flankierten, nachdem er den Bordstein hinaufgehüpft war und etliche Blumenbeete umgepflügt hatte. Es hatte nicht einmal richtig geknallt, sondern eigentlich nur leise geknirscht. Trotzdem waren der gesamte Kotflügel und die Hälfte der Kühlerhaube zertrümmert und die Stoßstange so weit in den Wagen hineingeschoben, dass sie den Reifen aufgeschlitzt hatte.

Gottlob war der Wagen leer und die beiden Fahrer angeschnallt gewesen, sodass niemand verletzt war. Der Fahrer hatte das Blaulicht nur eingeschaltet, damit keiner der nachfolgenden Wagen auf das Wrack auffuhr, das quer stand und die halbe Straße blockierte.

»Wie ist es denn dazu gekommen?«, fragte Kim neugierig. Einen Augenblick lang blickte seine Tante ihn mit unverhohlenem Misstrauen an, als überlegte sie, ob Kims Übelkeit vielleicht nur vorgetäuscht war, damit er doch noch einen Blick auf den Unfall erhaschen konnte. Aber dann schien sie zu dem Schluss zu kommen, dass dem nicht so war. Sie zuckte mit den Schultern und deutete auf eine kleine Gruppe, die sich ein Stück weit in den Torbogen zurückgezogen hatte und aufgeregt diskutierte. Kim sah den zweiten Krankenwagenfahrer in seiner weißen Kleidung und einen hoch gewachsenen, dunkelhaarigen Jungen zwischen zwei uniformierten Polizeibeamten. Etwas an diesem Jungen war seltsam, aber Kim konnte nicht sagen, was.

»Der Junge da«, fing Tante Birgit an. »Er ist einfach auf die Straße gesprungen. Der Fahrer musste den Wagen herumreißen, um ihn nicht zu überfahren, und da hat er die Gewalt über das Steuer verloren. Jedenfalls habe ich das so gehört.«

Kim stellte sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können. Die beiden Polizisten, der Krankenwagenfahrer und der Junge standen im Schatten des gemauerten Torgewölbes, sodass er sie nicht richtig erkennen konnte. Trotzdem, irgendetwas an diesem Jungen war … sonderbar. Sein Gesicht wirkte seltsam leer und teilnahmslos, als ginge ihn das alles, was rings um ihn geschah, gar nichts an. Einer der beiden Polizisten hatte ihn an der Schulter ergriffen, redete auf ihn ein und schüttelte ihn. Der Junge reagierte nicht darauf. Es schien fast so, als merke er es gar nicht.

»Schock«, diagnostizierte seine Tante, die Kims neugierigen Blick natürlich bemerkt hatte. »So etwas kommt oft vor. Wahrscheinlich wird es eine Weile dauern, bis sich der arme Kerl überhaupt erinnert, was geschehen ist. Na ja«, fügte sie mit einem Seufzer hinzu, wandte sich um und deutete zugleich auf Kim und auf das Café drüben. »Man wird sich schon um ihn kümmern. Wozu ist das hier ein Krankenhaus? Komm jetzt – ehe mir wieder einfällt, dass ich dir eigentlich verboten hatte, hier zu gaffen.«

Kim gehorchte, aber nicht, ohne noch einen letzten, sehr aufmerksamen Blick auf den Jungen zu werfen. Woher kam bloß dieses Gefühl, dass er ihn irgendwoher kannte? Nein – nicht kannte. Kim wusste genau, dass er sein Gesicht noch nie zuvor gesehen hatte. Und doch sagte ihm eine innere Stimme, dass er genau wissen müsste, wer dieser Junge war. Ja, es war seltsam.

Seltsam – und sehr beunruhigend.

Wider Erwarten schmeckte der Kuchen herrlich, nachdem Kim die ersten Bissen hinuntergewürgt und mit einem Glas Cola nachgespült hatte. Coca-Cola und Käsekuchen – das grenzte ja schon an Geschmacksverwirrung! Seine Beunruhigung ließ im gleichen Maße nach, wie sein Zittern aufhörte. Und nach einer Weile verschwand auch das Durcheinander in Kims Verstand und er begann mehr und mehr einzusehen, dass er sich die Gestalt im Spiegel wohl doch nur eingebildet hatte.

Kim fand sogar eine Erklärung dafür und sie war noch dazu so einfach. Er kam sich jetzt reichlich albern vor, dass sie ihm nicht schon in der allerersten Sekunde eingefallen war. Es war dieser Ort, dieses Café, vor dessen Fenster er Themistokles damals gesehen hatte, und das Krankenhaus auf der anderen Straßenseite, in dem alles begonnen hatte. Die Erinnerungen waren einfach zu übermächtig hier. Für einen Moment hatten sie seinen Blick für die Wirklichkeit getrübt – und wie hatte er auch anderes erwarten können? Kim hatte geglaubt, irgendwann damit fertig zu werden, aber natürlich stimmte das nicht. Es gab Dinge, über die man nie wirklich hinwegkam. Und dazu gehörte das Abenteuer in Märchenmond.

Das erste Stück Kuchen weckte Kims Appetit erst richtig und er lehnte nicht ab, als Tante Birgit – nicht ohne einen weiteren, fast entsetzten Blick auf die sonderbare Zusammenstellung seiner Mahlzeit – ihm anbot, ein zweites Stück zu bestellen. Tatsächlich hatte Kim seit dem Frühstück nichts mehr zu sich genommen – abgesehen von fünf Streifen Kaugummi. Das war an sich nichts Besonderes: Kim war alles andere als ein Feinschmecker. Er betrachtete Essen als notwendiges Übel. Er mochte regelmäßige Mahlzeiten nicht und aß nur dann gern, wenn er wirklich Hunger hatte. Jetzt hatte er Hunger und es schmeckte ihm ausgezeichnet.

Während Kim dasaß und mampfte, betrachtete er die Szene vor der Krankenhauszufahrt. Die Straße war vollkommen verstopft. Der Abschleppwagen hatte sich in einem Slalom, zum Teil über den Bürgersteig fahrend, zu dem Wrack durchgekämpft, aber hinter und vor ihm verbarrikadierten bereits unzählige Autos die Straße. Zu Anfang waren es nur ein paar Neugierige gewesen, die langsamer fuhren und damit die Autos hinter ihnen behinderten, aber schon bald war der Verkehr vollständig zusammengebrochen. Der Stau reichte längst bis zum Ende der Straße und darüber hinaus. Kim beobachtete nicht ohne ein gewisses Maß an Schadenfreude, wie einer der beiden Polizisten ebenso tapfer wie vergeblich versuchte, Ordnung in das Chaos zu bringen.

Kims Blick löste sich von dem Gewusel aus Automobilen und Fußgängern und blieb an der grün gekleideten Gestalt des Polizisten hängen, der in diesem Moment aus der Toreinfahrt kam und versuchte, sich zu seinem Streifenwagen durchzukämpfen. Er war allein.

»Ist was?«, fragte Tante Birgit, die Kims Blick gefolgt war. Er sah sie einen Moment lang verwirrt an und schloss dann aus ihrem Blick, dass irgendetwas an seinem Gesichtsausdruck wohl nicht stimmte. »Nein«, sagte er. »Wieso?«

»Du starrst den Polizisten so an.«

Kim zuckte unruhig mit den Schultern und gewann etwas Zeit, indem er ein gewaltiges Stück Käsekuchen in sich hineinstopfte. »Erischallein«, nuschelte er mit vollem Mund.

»Was?«

Kim schluckte den Bissen hinunter, unterdrückte mit aller Macht ein Husten und trank hastig den Rest seiner Cola. Seine Tante übersah den wehleidigen Blick, den er dem geleerten Glas zuwarf. »Er ist allein«, sagte er dann noch einmal. »Ich dachte, sie würden den Jungen mitnehmen – weil er doch den Unfall verursacht hat.«

Tante Birgit zuckte mit den Achseln. »Sie werden seine Personalien aufgeschrieben haben«, antwortete sie. »Schließlich hat er kein Schwerverbrechen begangen. Vielleicht haben sie ihn auch im Krankenhaus gelassen – er sah irgendwie nicht gut aus.« Sie brach ab, blickte wieder zum Tor hinüber und fügte dann hinzu: »Da kommen deine Mutter und Becky.« Kim biss ein letztes Stück von seinem Kuchen und wollte aufstehen, aber Tante Birgit winkte ab. »Iss ruhig. Wir haben genug Zeit. Sie haben uns schon gesehen – siehst du?«

Sie hob die Hand und winkte und auf der anderen Straßenseite winkte Kims Mutter zurück. Sie und Becky schlängelten sich zwischen den auf beiden Fahrspuren dicht an dicht stehenden Autos dem Café zu. Und nach wenigen Augenblicken erschienen sie am Tisch.

»Was ist denn da draußen los?«, fragte Kims Mutter kopfschüttelnd. »Das sieht ja aus, als wäre der ganze Verkehr zusammengebrochen.«

»Ein Unfall.« Tante Birgit deutete auf den grellgelb gestrichenen Abschleppwagen, der den Krankenwagen mittlerweile an den Haken genommen hatte und versuchte, ihn von der Straße zu ziehen, ohne dabei ein halbes Dutzend anderer Wagen zu demolieren. Kim beobachtete mit fast wissenschaftlichem Interesse, wie der Wagen beinahe zentimeterweise vor- und zurücksetzte, ohne dabei nennenswert von der Stelle zu kommen, während die beiden Polizeibeamten ebenso lautstark wie zwecklos Kommandos an die Autofahrer zu brüllen begannen. Vielleicht sollte man die ganze Straße, so wie sie jetzt war, zubetonieren, sinnierte Kim, samt den Wagen, die sie blockierten. Wenn der Zement trocken war, konnte man ja eine neue Fahrspur darüber leiten. Wahrscheinlich ging das schneller als diese hilflosen Versuche, das Chaos wieder aufzulösen.

Er verscheuchte diesen albernen Gedanken und tauschte einen kurzen Blick mit seiner Schwester, die auf einem der gegenüberliegenden Stühle Platz genommen hatte und gierig auf den Rest seines Käsekuchens blickte. Kim zögerte kurz, dann schob er ihr den Teller zu. Er war sowieso satt.

»Du musst das nicht essen, Becky«, sagte Tante Birgit mit einem strafenden Blick in Kims Richtung und schob den Teller wieder zurück. »Ich bestelle dir ein neues Stück.« Sie hob die Hand und winkte die Kellnerin herbei.

»Wir sollten lieber fahren«, wandte Kims Mutter ein.

»Fahren?« Tante Birgit lachte leise, aber ohne sonderlich viel Humor. »Bis sich dieser Stau aufgelöst hat, kommst du höchstens mit einem Panzer aus der Parklücke. Setz dich und trink einen Kaffee.«

Kims Mutter überlegte einen Moment, aber ein Blick aus dem Fenster überzeugte sie schließlich davon, dass ihre Schwester wohl Recht hatte. Seufzend ließ sie sich auf einen Stuhl sinken und bestellte einen Cappuccino, als die Kellnerin kam. Und für Rebekka ein Glas Orangensaft und ein Stück Torte.

»Na, wie war’s?«, wandte sich Tante Birgit an Becky. Dass die regelmäßigen Krankenhausbesuche nicht unbedingt Rebekkas ungeteilte Zustimmung fanden, war kein Geheimnis. Und in den letzten Monaten hatte sich Becky sogar heftig dagegen gewehrt. Die letzten Male hatten Mutter und Tante Birgit sie fast mit Gewalt hierher schleifen müssen. Kim verstand das nicht ganz – er wusste, dass seiner Schwester nicht wehgetan wurde. Die Ärzte wollten sich einfach davon überzeugen, dass sie ihr wochenlanges Koma auch tatsächlich gut überstanden hatte. Es war zwar schon eine geraume Weile her, aber die Ärzte wollten Rebekka auf mögliche Spätfolgen hin untersuchen.

»Prima«, antwortete Mutter an Rebekkas Stelle. »Und es war das letzte Mal – jedenfalls für dieses Jahr.«

Nicht nur Kim sah überrascht auf. »Das letzte Mal?«, wiederholte Tante Birgit.

»Sie wollen sie erst in sechs Monaten wieder sehen«, bestätigte Kims Mutter. »Der Professor hat sie heute selbst noch einmal untersucht. Er sagt, er wäre sehr zufrieden mit ihrem Gesundheitszustand. Es besteht kein Grund mehr, alle paar Wochen wieder zu kommen. Noch zwei, drei Untersuchungen in Abständen von einem halben Jahr und wir haben es endgültig hinter uns.«

»Aber das ist ja fantastisch!«, rief Tante Birgit. »Meinst du nicht auch, Beckyschatz?«

Beckyschatz starrte sie böse an. Kim war nicht ganz sicher, weshalb. Zum Teil lag es wohl daran, dass sie es hasste, so genannt zu werden. Aber da schien noch etwas anderes zu sein. Rebekka war nie besonders redselig gewesen – aber sie hatte noch kein einziges Wort gesprochen, seit sie das Café betreten hatte, und überhaupt wirkte sie irgendwie still. Zu still für Kims Geschmack. Als bedrückte sie etwas. Oder als hätte sie etwas gesehen, was sie zutiefst erschreckt hatte …

»Blödes Krankenhaus«, sagte sie schließlich. »Ich hasse es.« Tante Birgit blickte sie schockiert an, während Mutter Mühe hatte, ein Lachen zu unterdrücken. Schließlich rang sich auch die Tante zu einem Lächeln durch.

»Na ja, jetzt hast du’s ja hinter dir«, meinte sie. »Ein halbes Jahr ist lang, du wirst sehen.«

Rebekka schenkte ihr einen weiteren düsteren Blick und wandte sich dann der Torte zu, die die Kellnerin in diesem Moment brachte. Draußen auf der Straße hatte der Abschleppwagen den verkeilten Krankenwagen endlich losbekommen und war dabei, selbst im Verkehrsgewühl stecken zu bleiben. Kim sah, wie eine junge Frau in einem offenen Sportflitzer eine winzige Lücke vor sich erspähte und den Wagen geschickt ein paar Mal vor- und zurücksetzte, bis sie nicht mehr von der Stelle kam und gegen die Stoßstange ihres Vordermannes krachte. Der Fahrer des Wagens stieg aus und bekam auf der Stelle einen Tobsuchtsanfall.

Kim knabberte lustlos am Rest seines Käsekuchens herum, während er einen berittenen Polizisten entdeckte, der am entgegengesetzten Ende der Straße auftauchte und versuchte, eine Lücke in der Blechlawine zu finden, die breit genug für sein Tier war. Eigentlich war das nichts Besonderes – hier in Düsseldorf sah man dann und wann noch einen Polizeibeamten zu Pferde; manchmal die einzige Möglichkeit, auf den verstopften Straßen überhaupt noch voranzukommen. Trotzdem war an dem Anblick etwas, das Kim in seinen Bann schlug. Wieder hatte er das Gefühl, dass dieses Bild ihm irgendetwas sagen müsste. Und wieder wusste er einfach nicht, was.

»Das kann ja heiter werden«, seufzte Tante Birgit. »Wie sollen wir da jemals rauskommen?«

»Was ist überhaupt geschehen?«, erkundigte sich Kims Mutter noch einmal.

»Eigentlich nichts Besonderes«, antwortete Tante Birgit. »Ein Junge ist vor den Krankenwagen gelaufen. Der Fahrer musste ausweichen und hat das Tor gerammt. Aber es gab nur Blechschaden.«

»Ein Junge?«

Tante Birgit nickte. »Ja. Er hat sich irgendwie komisch benommen, finde ich. So völlig teilnahmslos hinterher, weißt du? Als ob er träumte. Und er hatte so seltsame Sachen an.« Kim verschluckte sich an seinem Kuchen, begann zu husten und besprenkelte Rebekka und seine Tante mit Kuchenkrümeln. Rebekka kreischte und griff unverzüglich nach einem Stückchen Torte, das sie in seine Richtung warf, während Tante Birgit erschrocken zurückprallte. Das Stück Torte verfehlte Kim um Haaresbreite und landete am Kleid einer dicken Frau, die hinter Kim saß und erschrocken hochsprang. Fast hätte sie der vorbeieilenden Kellnerin das volle Tablett aus der Hand gestoßen. Die sprang gerade noch mit einem Schrei beiseite, dass der Kaffee in den Tassen schwappte. Da schnippte Rebekka mit ihrer Gabel ein zweites Stückchen Torte los, das diesmal wirklich mitten im Gesicht ihres Bruders landete.

Unter anderen Umständen hätte Kim seine helle Freude an dem Durcheinander gehabt, das so plötzlich losgebrochen war. Aber im Augenblick bemerkte er kaum etwas davon. Er spürte nicht einmal die Sahne, die auf seine rechte Wange klatschte und daran herunterzulaufen begann.

Er hatte so komische Sachen an! Das war es!

Das war es, was er die ganze Zeit über geahnt hatte! Wieso war er nicht selbst darauf gekommen? Sofort und auf den ersten Blick?!

Weil es unmöglich ist, antwortete eine leise Stimme hinter seiner Stirn. Weil es völlig ausgeschlossen ist und du weißt das ganz genau.

Aber das war die Stimme seiner Vernunft. Daneben gab es noch eine andere, die im Moment sehr viel stärker war – und von der er einfach wusste, dass sie Recht hatte. Das Spiegelbild im Fenster. Der Junge, der aussah, als ob er träumte, und der so seltsame Sachen anhatte. Rebekkas böser Gesichtsausdruck und das sonderbare Unbehagen, das er selbst spürte, seit sie hierher gekommen waren.

Es gab nur eine Erklärung, auch wenn sie völlig unmöglich war. Es musste einfach so sein. Und gleichzeitig durfte es nicht sein. Nicht um alles in der Welt.

Er hatte nur noch eine Wahl – er musste sich mit eigenen Augen überzeugen.

Kim sprang so heftig auf, dass er dabei seinen Stuhl umstieß und den Kuchenteller vom Tisch riss.

»Kim!«, schrie seine Mutter. »Wo willst du hin? Komm zurück!« Aber das hörte er schon gar nicht mehr. Er war auf der Stelle herumgefahren und stürzte aus dem Café. Als Kims Mutter ihre Überraschung endlich so weit überwunden hatte, dass sie die Verfolgung aufnehmen konnte, da war ihr Sohn bereits auf der anderen Seite der Straße und in der Toreinfahrt des Krankenhauses verschwunden.

Zum ersten Mal heute war Kim froh, schon so oft hier gewesen zu sein, denn er kannte mittlerweile das Krankenhausgelände so gut, als wäre er hier zu Hause. Nicht dass er auch nur eine Sekunde lang darüber nachgedacht hätte, was er nun tat – aber es erwies sich doch als Vorteil, nicht zum Pförtner gehen und fragen zu müssen, wohin man den Jungen gebracht hatte. Davon abgesehen, dass er wahrscheinlich gar keine Antwort auf diese Frage bekommen hätte, wäre kostbare Zeit verloren gegangen. Zeit, die er nicht hatte. Denn wenn schon nicht seine Mutter, so würde Tante Birgit garantiert die Verfolgung aufnehmen. Und sie war verdammt gut in Form.

Gottlob hatte Kim einen gewissen Heimvorteil auf seiner Seite. Er raste durch das Torgewölbe, schlug einen Haken nach links um einen verblüfften Krankenpfleger herum und schoss mit Riesensätzen quer über den kurz geschnittenen Rasen auf den weiß gekachelten Betonklotz zu, in dem sich die Notaufnahme befand. – Während der Zeit, in der sie Rebekka damals hier besucht hatten, hatte er oft genug aus dem Fenster geschaut und die Prozedur der Aufnahme verfolgt. Ganz sicher hatte man den Jungen zuerst hierher gebracht. Und das vor nicht allzu langer Zeit. Alles in allem konnten keine zehn Minuten vergangen sein, seit der Polizeibeamte allein aus dem Tor herausgekommen war.

Kim warf einen Blick über die Schulter zurück und stellte erleichtert fest, dass von seiner Tante keine Spur zu sehen war und ihm auch sonst niemand folgte. Nur der Krankenpfleger stand wie vom Donner gerührt da und starrte dem blonden, hoch gewachsenen Jungen nach, der den Frevel beging, einfach über den sorgsam manikürten Rasen zu laufen, wobei er dann und wann einen Satz machte, um über eines der »RASEN BETRETEN VERBOTEN«-Schilder zu springen.

Kurz bevor er die Aufnahme erreichte, lief Kim wieder auf den Kiesweg hinaus und fiel in einen leichten Trab. In Schweiß gebadet und keuchend vor Anstrengung betrat er das Gebäude. Die infrarotgesteuerten Automatiktüren schienen zu kriechen, während sie vor Kim selbsttätig auseinander glitten; um ein Haar wäre er gegen das Glas gerannt. Ein starker Geruch nach Desinfektionsmitteln und Krankenhaus schlug ihm entgegen, als er in die Halle stürmte. Der Anblick der blitzenden Kacheln, der weiß gekleideten Schwestern und Ärzte, der kalten Kunststoffstühle und der lieblos gerahmten Drucke an den Wänden, die zusammen mit den künstlichen Blumen in Plastikkübeln vergeblich versuchten, die triste Krankenhausatmosphäre aufzulockern, weckte wieder mit Macht die Erinnerung in Kim. Plötzlich fühlte er sich klein und verloren. Er hätte nicht hierher kommen sollen. Es war völlig verrückt – der Junge konnte nicht das sein, wofür er ihn hielt. In ein paar Minuten würde eine sehr wütende Tante Birgit hinter ihm auftauchen und ihm die Hölle heiß machen und das (nebst des unangenehmen Gespräches mit seinem Vater, das unweigerlich am Abend folgen musste) war dann alles, was er erreichen würde. Selbst wenn der Junge hier war – wie sollte er ihn finden?

Kim blieb unter der Tür stehen, um seinen pfeifenden Lungen Gelegenheit zu geben, sich halbwegs zu erholen, sodass er zumindest Luft zum Sprechen hatte. Dann trat er an die gewaltige Theke heran, die die gesamte rechte Hälfte des Raumes beherrschte. Ein halbes Dutzend Schwestern saß hinter grün leuchtenden Computerbildschirmen, ohne sichtbar Notiz von ihm zu nehmen.

Kim räusperte sich übertrieben, und nachdem er das dreimal hintereinander getan hatte, blickte eine der jungen Frauen tatsächlich zu ihm auf. Im ersten Moment wirkte sie ein wenig verwirrt, als sie sah, wie verschwitzt und abgekämpft er aussah. Dann lächelte sie freundlich und stand auf.

»Was kann ich für dich tun, junger Mann?«, fragte sie.

Eine gute Frage, dachte Kim. Er hätte eine Menge dafür gegeben, wenn ihm eine Antwort eingefallen wäre. Er druckste herum, dann sprach er einfach das Erste aus, was ihm in den Sinn kam: »Mein Bruder«, sagte er schwer atmend. »Ich suche meinen Bruder. Er ist gerade – gebracht worden. Der Unfall, ich meine –«

Er begann zu stammeln und brach schließlich vollends ab, während die Schwester ihn fragend ansah. »Dein Bruder? Wie heißt er denn?«

»Thomas«, antwortete Kim, indem er den erstbesten Namen aussprach, der ihm in den Sinn kam.

»Und weiter?«

Jetzt geriet Kim in Verlegenheit, aber diesmal kam ihm der Zufall zu Hilfe – genauer gesagt, eine zweite Schwester, die von ihrem Monitor aufsah und erst ihn, dann ihre Kollegin durch ihre Brille anblickte.

»Der Junge, der hier vor dem Tor fast überfahren worden wäre?«, fragte sie.

Kim nickte heftig.

»Der ist nicht hier.« Noch bevor Kim das Gefühl heftiger Enttäuschung, mit dem ihn ihre Worte erfüllten, auch nur richtig empfinden konnte, fügte sie hinzu: »Sie haben ihn in die Kinderklinik hinübergebracht.« Sie beugte sich hinter ihrem Computer vor und blickte Kim durchdringend an. Das grüne Licht des Bildschirmes spiegelte sich in ihren Brillengläsern. Es sah aus, als liefen in ihren Augen kleine Zahlenkolonnen ab.

»Die Kinderklinik?«, vergewisserte sich Kim.

»Du kannst da jetzt nicht hin«, sagte sie. »Aber gut, dass du da bist. Dein Bruder hat kein Wort gesprochen. Wir wissen nicht einmal, wie er heißt. Vielleicht kannst du uns …«

»Das erzähle ich alles den Ärzten drüben«, unterbrach sie Kim und wirbelte herum.

»He!«, protestierte die Schwester. »Du kannst doch nicht …« Natürlich konnte Kim. Und er tat es auch.

Mit ein paar gewaltigen Sätzen durchquerte er die Halle, rannte diesmal wirklich gegen die Glastür, die wieder im Schneckentempo auseinander glitt, und taumelte auf den Weg hinaus. Die Kinderklinik lag fast am anderen Ende des großen Krankenhausgeländes, aber Kim legte die Entfernung von gut zwei Kilometern in absoluter Rekordzeit zurück. Er war zwar völlig außer Atem, als er die sechsstöckige Kinderklinik erreichte, aber von der Gewissheit erfüllt, sowohl seine Tante als auch irgendeinen anderen möglichen Verfolger mit diesem Sprint abgehängt zu haben.

Taumelnd vor Erschöpfung betrat er das Gebäude und sah sich hastig um. Es war viel stiller hier als in der Aufnahme. Es gab keine Theke, sondern nur eine Glasscheibe mit einem runden, metallgefassten Guckloch, hinter dem aber niemand war, und zwei Aufzüge in der gegenüberliegenden Wand.

Die Türen des einen schlossen sich in diesem Moment – und Kim erhaschte gerade noch einen Blick auf braunes Wildleder und wadenhohe, geschnürte Stiefel.

Verdammt! Er war genau eine Sekunde zu spät!

Schon wollte Kim losstürzen, um in den zweiten Aufzug zu springen, da begriff er, dass ihm das gar nichts nützte. Blitzschnell schlug er einen Haken nach rechts, rannte auf die Treppe zu und begann, immer zwei, manchmal drei Stufen auf einmal nehmend, hinaufzuhetzen. In der ersten Etage angekommen, sah er gerade noch, wie das Licht über der Aufzugtür erlosch, wirbelte mitten in der Bewegung herum und raste die nächste Treppe hinauf.

Dann die nächste. Die übernächste. Und auch die vierte. Seine Aussichten, als jüngster Patient mit Herzinfarkt gleich selbst ein Zimmer in dieser Klinik zu beziehen, standen nicht schlecht, als er das fünfte Stockwerk erreichte und sah, wie sich die Aufzugtüren öffneten.

Kim schwindelte vor Anstrengung. Er spürte, wie aus seinem Magen eine heftige Übelkeit emporstieg, während er schweißgebadet und keuchend gegen die Tür sank, die vom Treppenhaus in den Korridor führte. Der fremde Junge trat in Begleitung eines Krankenpflegers in diesem Augenblick aus dem Lift. Sie wandten sich nach rechts und gingen sehr rasch in die entgegengesetzte Richtung, sodass der Pfleger ihn gottlob nicht sah. Auch der Junge sah ihn nicht, aber Kim konnte einen flüchtigen Blick auf sein Gesicht werfen. Es wirkte noch immer so leer und ausdruckslos wie unten in der Toreinfahrt. Der Fremde war – wie hatte Tante Birgit es ausgedrückt? – tatsächlich sehr sonderbar gekleidet: seine Füße staken in wadenhohen, fast hauteng anliegenden Schnürstiefeln aus samtweichem und doch zähem Leder und aus dem gleichen, nur etwas dünnerem Material bestanden auch die Hose und das weit geschnittene Hemd, das er darüber trug. Ein breiter Gürtel mit einer goldfarbenen Messingschnalle hielt beides zusammen und über seinen Schultern hing ein schräg geschnittenes, an der längsten Stelle nicht einmal bis zum Gürtel reichendes Cape, ebenfalls aus Leder, aber von weinroter Farbe.

Kim stand da wie vom Donner gerührt, während sich der Junge und der ihn begleitende Krankenpfleger langsam den Flur hinunterbewegten und schließlich in einem Zimmer ganz an seinem Ende verschwanden.

Unmöglich! dachte er, immer und immer wieder. Sein Herz und seine Lunge taten um die Wette weh und er zitterte so heftig, als hätte er Schüttelfrost. Kims Gedanken drehten sich wie wild im Kreis, während er versuchte, eine Erklärung für das Unerklärliche zu finden.

Hinter ihm fiel eine Tür ins Schloss. Kim fuhr erschrocken zusammen und wich mit einer raschen Bewegung ins Treppenhaus zurück. Mit angehaltenem Atem presste er sich gegen die Wand neben der Tür und lauschte auf die Schritte, die sich rasch näherten, zu seiner Erleichterung aber vorübergingen, ohne auch nur zu stocken, bis sie vollends verklangen. Kims Herz hämmerte immer noch wie wild, jetzt aber mehr vor Aufregung als vor Anstrengung.

Eine ganze Weile blieb er einfach so stehen und wartete, bis endlich wieder Schritte vom Ende des Korridors erklangen; diesmal nicht das harte Klack-Klack von vorhin, sondern die leisen, fast lautlosen Schritte von Turnschuhen, wie sie Krankenpfleger und Schwestern zu tragen pflegten. Kim nahm all seinen Mut zusammen und trat hervor.

Der Pfleger, der den Jungen begleitet hatte, kam ihm entgegen. Er war allein, trug aber etwas in der rechten Hand, das Kim nach einigen Augenblicken als eine schmale Lederscheide erkannte. Zwei Schlaufen befanden sich daran, mit denen sie offensichtlich an einem Gürtel befestigt werden konnte. Der ebenfalls mit Leder umwickelte Griff eines schmalen Dolches lugte daraus hervor.

Der Mann blieb stehen und sah Kim fragend an. »Was tust du hier?«, fragte er in nicht besonders freundlichem Tonfall.

»Die Besuchszeit ist vorbei.«

»Ich weiß«, antwortete Kim, wobei er insgeheim selbst ein wenig über seine Kaltblütigkeit staunte. »Ich wollte auch nur meine Eltern abholen. Sie sind bei meinem Bruder. Er ist heute morgen operiert worden.«

Das Misstrauen in den Augen des Pflegers schwand um keinen Deut. »In welchem Zimmer liegt er denn?«, fragte er.

»Sechshundertundneun«, antwortete Kim auf gut Glück.

»Dann bist du eine Etage zu tief«, antwortete der Mann.

»Das hier ist der fünfte Stock.« Er deutete auf den Aufzug.

»Ich fahre nach oben. Du kannst mitkommen.«

Kim schüttelte den Kopf. »Lieber nicht«, antwortete er. »Ich mag keine Aufzüge. Ich bin einmal in einem stecken geblieben. Außerdem bin ich zu Fuß schneller. Vielen Dank.« Damit drehte er sich um, trat zum zweiten Mal ins Treppenhaus hinaus und begann nach einem letzten Zögern tatsächlich die Treppe hinaufzusteigen.

Er hatte gerade den ersten Absatz hinter sich gebracht, als er hörte, wie unter ihm die Tür zum Treppenhaus aufgemacht wurde. Völlig hatte er das Misstrauen des Mannes offenbar doch nicht zerstreut.

Kim blieb stehen und lauschte. Ein paar Sekunden vergingen, dann wurde die Tür wieder geschlossen und nach einigen weiteren Augenblicken hörte er, wie sich der Lift summend in Bewegung setzte. Kim machte auf der Stelle kehrt und lief die Treppe wieder hinunter.

Ein allerletztes Mal versuchte ihn die innere Stimme seiner Vernunft zurückzuhalten, als er vor der Tür des Zimmers angekommen war, in dem der Junge sein musste – was er hier tat, war völliger Wahnsinn. Wahrscheinlich war der Junge gar nicht allein in dem Zimmer, und selbst wenn, so konnte es bestenfalls einige Augenblicke dauern, bis jemand kam um nach ihm zu sehen. Doch Kim ignorierte das lautlose Flüstern hinter seiner Stirn jetzt ebenso wie die vorhergehenden Male, kämpfte seine Angst nieder und drückte leise, aber entschlossen die Klinke herunter.

Das Zimmer war dunkel und still. Die Vorhänge waren zugezogen, sodass Kim die Gestalt des Jungen nur als dunklen Umriss auf dem Weiß der Bettwäsche erkennen konnte, und es schien so, als hätte er ausnahmsweise Glück – der Junge war tatsächlich allein.

Als Kim an das Bett herantrat, sah er, dass der Pfleger den Jungen ausgezogen und in ein weißes Nachthemd gehüllt hatte. Seine Kleider lagen ordentlich gefaltet auf einem Hocker auf der anderen Seite des Bettes und der Inhalt seiner Taschen war auf dem metallenen Nachtschränkchen ausgebreitet; offensichtlich hatte der Pfleger nach irgendwelchen Ausweisen oder Papieren gesucht. Wenn dieser Junge wirklich der war, für den Kim ihn hielt, dann konnte der Pfleger lange suchen. Dort, wo der Junge herkam, kannte man so etwas wie Ausweise nicht.

Leise beugte sich Kim über das Bett und betrachtete das Gesicht des Fremden. Als Kim das Zimmer betreten hatte, war ihm, als schliefe der Junge, weil er so reglos dalag und nicht auf sein Erscheinen reagierte. Aber es stimmte nicht. Die Augen des Jungen standen weit auf und starrten die Decke an.

»Hallo«, flüsterte Kim.

Keine Reaktion. Im Gesicht des Jungen zuckte kein Muskel und auch sein Blick blieb leer. Selbst als sich Kim über das Bett beugte und sein Gesicht ganz dicht an das des anderen heranbrachte, schienen dessen dunkle Augen durch den Besucher hindurchzustarren. Kim war jetzt sicher, dass der Junge ihn nicht sah; ebenso wenig wie er den Krankenwagen gesehen hatte, der ihn um ein Haar überfahren hätte, oder einen der Männer, die ihn hierher gebracht hatten.

Trotzdem versuchte Kim noch einmal, den Jungen anzusprechen.

»Verstehst du mich?«, fragte er. – Keine Antwort.

Kim biss sich auf die Unterlippe und warf einen hastigen Blick zur Tür, ehe er fortfuhr: »Ich weiß, wer du bist. Du kannst mir vertrauen. Das alles hier muss dich furchtbar erschrecken, aber du – du musst nicht so tun, als ob du schläfst. Ich weiß, wo du herkommst. Schickt dich Themistokles? Oder Prinz Priwinn?«

Beim Klang dieser beiden vertrauten Namen schien etwas im Blick des Jungen aufzuflammen und sofort wieder zu erlöschen. Kim hätte nicht beschwören können, ob es wirklich da gewesen war, oder ob er es nur gesehen hatte, weil er es sehen wollte. Der Junge war zwar offensichtlich bei Bewusstsein, nahm aber von seiner Umgebung, wie es schien, überhaupt nichts wahr.

Enttäuscht trat Kim wieder vom Bett zurück, richtete sich auf und wollte sich schon zur Tür wenden. Dann blieb er noch einmal stehen und betrachtete die Habseligkeiten, die auf dem Nachttisch und dem Hocker ausgebreitet waren. Rasch trat er hinzu und begann, den Inhalt der Taschen zu durchsuchen.

Er fand nichts, was ihm weiterhalf – der Junge hatte nichts weiter bei sich als eine zusammengerollte Schnur, an der ein Angelhaken befestigt war, zwei abgewetzte Feuersteine und eine winzige Flöte mit drei Löchern, die kaum so lang wie Kims kleiner Finger war. Kim fragte sich, welche Art von Musik man auf diesem Mini-Instrument wohl spielen konnte. Das Mundstück sah aus, als wäre es für Zwerge gemacht. Vielleicht war es das.

Kim wog die Flöte unschlüssig in der Hand, verbarg sie dann in der geschlossenen Faust und wandte sich den Kleidern auf dem Hocker zu. Trotz alledem, was er bisher gesehen und gefunden hatte, konnte es ein Zufall sein, ein sehr, sehr unwahrscheinlicher Zufall – aber es war möglich. Was Kim brauchte, war indes ein Beweis.

Er fand ihn, kaum dass er sich den Kleidern des Jungen zugewandt hatte.

Hemd, Hose und Stiefel des Jungen bestanden aus jenem feinen und doch fast unzerreißbaren Leder, wie er es so gut in Erinnerung hatte. Die Gürtelschnalle war aus glänzendem Messing gearbeitet. Und als Kim sie in die Hand nahm, um das Motiv zu betrachten, das in feiner Kunstschmiedearbeit aus dem Metall herausziseliert worden war, schien es plötzlich, als bekäme er einen Eimer eiskaltes Wasser in den Nacken geschüttet: Auf der Gürtelschnalle war der Kopf eines Pferdes zu sehen, der sich aus einem halbmondförmigen Muster herausstreckte. Und bei genauerem Hinsehen entpuppte es sich als ein verschlungenes »C«. Kim starrte die Gürtelschnalle eine geschlagene Minute lang fassungslos an. Da flog hinter ihm die Tür auf und eine ganze Schar von Spitalsbediensteten stürmte in das Zimmer, allen voran der Pfleger, dem er beim Aufzug begegnet war, und die bebrillte Schwester vom Empfang.

»Was tust du denn hier?«, rief eine zornige Stimme. Eine Hand ergriff ihn an der Schulter und zerrte ihn unsanft von den Kleidern fort und eine andere entwand ihm die Hose und warf sie auf den Hocker zurück. Jemand begann an seiner Schulter zu rütteln und die Stimmen redeten immer lauter auf ihn ein: »Wer bist du? Was willst du hier?«

Kim stand ganz still. Er leistete keinen Widerstand, als er am Arm ergriffen und fast mit Gewalt aus dem Zimmer gezerrt wurde, aber er starrte bis zum letzten Moment auf die Gürtelschnalle des Jungen, die in der schwachen Helligkeit des Krankenzimmers wie unter einem inneren Feuer zu glühen schien; auf sie und das Emblem, das sie zeigte.

Das Muster war nicht einfach nur ein hübsches Bild. Es war ein Wappen.

Und er hatte dieses Wappen schon gesehen – unzählige Male sogar. Es war das Wappen von Caivallon, Heimat der stolzen Steppenreiter von Märchenmond.

II

Kim war nicht ganz sicher, ob es wirklich ein Glück war, dass sein Vater an diesem Abend ganz besonders spät von der Arbeit nach Hause kam. Zwar verblieb ihm auf diese Weise noch eine kleine Gnadenfrist bis zu dem zu erwartenden Krach, aber auch diese Zeit war nicht gerade angenehm.

Dabei erinnerte er sich kaum mehr an das, was später im Krankenhaus geschehen war. Der Pfleger, der ihn aus dem Zimmer gezerrt hatte, hatte ihn reichlich unsanft ins Büro des Chefarztes gestoßen und das Einzige, worauf er sich wirklich besann, war seine Mutter, die irgendwann völlig außer Atem aufgetaucht war und sich mit energischen Worten Gehör verschaffte und ihren Sohn erst einmal in Schutz genommen hatte – allerdings mit einem Blick auf Kim, der kommendes Unheil versprach und den ihr Sohn nur zu gut kannte. Aber selbst das hatte ihn kaum gestört. Seine Gedanken waren unentwegt um die Gürtelschnalle des namenlosen Jungen gekreist und das, was sie bedeutete. Wenn alles andere noch Zufall gewesen sein mochte – das nicht mehr. Es gab keinen Zweifel, der Junge war ein Steppenreiter aus Caivallon, der großen Grasebene im Herzen Märchenmonds – eines Landes, das es nach den Begriffen der meisten Menschen, die Kim kannte, gar nicht gab, und dessen Bewohner hier in dieser Welt nicht leben konnten.

Später, als sich Kim ein wenig beruhigt und wieder zu sich selbst gefunden hatte, erinnerte er sich, dass die große Aufregung schließlich den Chefarzt selbst aufmerksam gemacht hatte – und das war ein Glück gewesen. Professor Halserburg kannte die Familie Larssen recht gut, schließlich behandelte er Rebekka seit geraumer Zeit. Und es war einzig und allein seiner Fürsprache (und der von Kims Mutter, die mit wahren Engelszungen redete) zu verdanken gewesen, dass die Krankenhausverwaltung am Ende darauf verzichtet hatte, die Polizei zu rufen.

Kim verstand die ganze Aufregung nicht – was hatte er schon getan, außer ein Zimmer zu betreten, in dem er eigentlich nichts zu suchen hatte, und sich die Kleidung eines Jungen anzusehen?

Die Angestellten des Krankenhauses schienen das aber anders zu sehen. Ihre Gesichter standen auf Sturm, als es Kims Mutter endlich gelungen war, den Professor so weit zu beruhigen, dass er sie gehen ließ. Vor allem die Schwester mit der Brille, die ihm am Empfang die Auskunft gegeben hatte, blickte Kim voll unverhohlenem Zorn nach.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!