Marco Polo - E. Colerus - E-Book

Marco Polo E-Book

E. Colerus

0,0
3,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Marco Polo wird 1254 im mittelalterlichen Venedig geboren. Von seinem Vater und seinem Onkel Maffeo lernt er das Geschäft des Kaufmanns und Händlers. Als Siebzehnjähriger bricht er mit seinem Vater und seinem Onkel zu seiner ersten eigenen Handelsfahrt auf. Die drei begeben sich auf eine abenteuerliche Reise nach Asien, erkunden viele Orte entlang der Seidenstraße, bis sie „Cathay” erreichen. Sie werden am Hof von Kublai Khan empfangen, der von Marcos Intelligenz und Bescheidenheit beeindruckt ist. Marco wird zum Gesandten Kublais ernannt und auf zahlreiche diplomatische Missionen im Reich und in Südostasien geschickt, wo er das heutige Burma, Indien, Indonesien, Sri Lanka und Vietnam bereist. In seiner Funktion als Gesandter Kublai Khans reist Marco Polo auch nach China, wo er 17 Jahre leben wird. Dabei erlebt und entdeckt er vieles, was den Europäern noch unbekannt ist… In dem monumentalen historischen Roman von E. Colerus finden manche Aufzeichnungen Marco Polos Eingang, doch vor allem wird der Mensch Marco Polo zum Leben erweckt, während die Leserinnen und Leser ihn bei seinen Abenteuern im Fernen Osten begleiten.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 847

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

 

E. COLERUS

 

MARCO POLO

 

Zwischen zwei Welten

 

 

HISTORISCHER

ROMAN

 

 

ZWEI WELTEN wurde zuerst veröffentlicht im Paul Zsolnay Verlag, Wien 1926.

Diese Ausgabe wurde aufbereitet und herausgegeben von

© apebook Verlag, Essen (Germany)

www.apebook.de

2024

 

V 1.0

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.d-nb.de abrufbar.

 

 

ISBN 978-3-96130-641-1

Buchgestaltung: SKRIPTART, www.skriptart.de

 

 

Books made in Germany with

 

 

 

Bleibe auf dem Laufenden über Angebote und Neuheiten aus dem Verlag mit dem lesenden Affen und

abonniere den kostenlosen apebook Newsletter!

Du kannst auch unsere eBook Flatrate abonnieren.

Dann erhältst Du alle neuen eBooks aus unserem Verlag (Klassiker und Gegenwartsliteratur)

für einen kleinen monatlichen Beitrag (Zahlung per Paypal oder Bankeinzug).

Hier erhältst Du mehr Informationen dazu.

 

 

 

Follow apebook!

 

 

 

 

 

ROMANE von JANE AUSTEN

 

im apebook Verlag

 

 

 

 

Verstand und Gefühl

 

Stolz und Vorurteil

 

Mansfield Park

 

Northanger Abbey

 

Emma

 

 

 

*

* *

 

 

 

 

HISTORISCHE ROMANREIHEN

 

im apebook Verlag

 

 

Der erste Band jeder Reihe ist kostenlos!

 

 

 

Die Geheimnisse von Paris. Band 1

 

Mit Feuer und Schwert. Band 1: Der Aufstand

 

Quo Vadis? Band 1

 

Bleak House. Band 1

 

 

 

Am Ende des Buches findest du weitere Buchtipps und kostenlose eBooks.

 

Und falls unsere Bücher mal nicht bei dem Online-Händler deiner Wahl verfügbar sein sollten: Auf unserer Website sind natürlich alle eBooks aus unserem Verlag (auch die kostenlosen) in den gängigen Formaten EPUB (Tolino etc.) und MOBI (Kindle) erhältlich!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Marco Polo

Impressum

Erster Band

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

41

42

43

44

45

Zweiter Band

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

41

42

43

44

45

46

47

48

49

50

51

52

53

54

55

56

57

58

59

60

61

62

63

64

65

66

67

68

69

70

71

72

73

74

75

76

77

78

79

80

81

82

83

84

Bericht Marco Polos über seine Heimreise

Dritter Band

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

Eine kleine Bitte

Buchtipps für dich

Kostenlose eBooks

A p e B o o k C l a s s i c s

N e w s l e t t e r

F l a t r a t e

F o l l o w

A p e C l u b

ApePoints sammeln

Links

Zu guter Letzt

Erster Band

1

Plötzlich stand das Haus vor ihnen. So plötzlich, daß sie erschraken, wiewohl sie es schon seit unzähligen Tagen fiebernd ersehnt hatten. Die schwarze, klotzige Fassade wuchs aus dem trägen Braun des Kanales und starrte mit erblindeten Spitzbogenfenstern in das milchige Licht eines reglosen Augustmittags.

Irgendwo am Rande der Lagune zerbrach schellend der Ton eines Kirchengeläutes.

Die Gondel knirschte schon an die schrägen Piloten, die das Haus sockelten und, mit halbnassen Algen bedeckt, scharfen Geruch entströmten.

Niemand sah die beiden Männer, niemand achtete ihrer, obgleich alles ungewöhnlich war, was die Gondel barg.

Einer von ihnen, lang und hager, saß steif und starrte gegen die schwarze Fassade. Aus verwittertem Antlitz stachen undurchdringliche Augen. Nur der spärliche Ziegenbart zuckte leise. Der andere aber war mächtig und geduckt; und lebendig in jeder Faser seines massigen, feisten Leibes. Beide staken in harten Ledermänteln, deren Säume farbloses, dichtes Pelzwerk verbrämte. Und spitze Pelzkappen gleich unbestimmter Färbung klebten wie verwachsen auf dem schmalen und dem dicken Haupte.

»Anno 1269 post Christum natum sind nach neunzehnjähriger Abwesenheit die edlen Brüder Nicolo und Maffio aus dem Geschlechte der Polo heimgekehrt, nachdem sie sich auf dem Erdkreis durch fast alle Länder schlugen! Preis, Dank und Ehre diesen großen Söhnen Venedigs!« Maffio, der Dicke, krähte es hinaus in die Mittagsstille, wie um lähmende Unruhe zu übertäuben, hob pathetisch den Arm und sprang so jäh empor, daß das Gleichgewicht der Gondel in Gefahr kam. Dann schwang er sich auf die Bohlen, die nur eine Hand breit oberhalb des trüben Wassers hingen.

Nicolo, mit der Gondel durch die Heftigkeit des Aussteigens in die Mitte des schmalen Kanales zurückgestoßen, sah ihn hart an. Dann schlug er mit eingesunkenen Lippen ein Kreuz, beugte den hageren Oberkörper zum Grund der Barke und erhob sich erst, als der Schlag des Ruders das Fahrzeug wieder an die Bohlen gejagt hatte.

Eben verwehte der Nachhall der letzten Mttagsglocke.

Die Brüder sahen sich nicht um, als der bunte Gondolier Ballen und sonderbares Gepäck emsig auf die Bohlen warf. Schon waren sie auf den steinernen Stufen und vor dem schweren Tore.

Nicolo Polo machte eine eckige Geste, als wolle er Maffio zurückhalten. Der aber hatte schon den Klopfer in der Hand und ließ ihn gegen den Flügel schmettern.

Wie in einem Gewölbe dröhnten die rücksichtslosen Hiebe durch die enge Schlucht des Kanales und brachen sich zickzack an den Fassaden.

Nicolo riß hastig die Klappen des Ledermantels zurück und hielt ein schimmerndes Kleinod in der Hand. Er murmelte in unverständlicher Sprache.

Maffios Antlitz wurde röter und röter.

Plötzlich erstarrten beide. Hoch und schrill, schnappend und knirschend, drehte sich ein Schlüssel. Und in unterbrochenen Schlägen fuhr der Riegel zurück.

Das Tor sprang auf.

»Madonna! Satan sendet die Toten!« Gellender Aufschrei eines schmierigen Weibes aus zahnlosem Munde. Klapperndes Schlagen verzerrter Kreuze. Noch einmal: »Madonna! Madonna! Helft mir!« Stets wimmernder, stets leiser.

Die alte durchäderte Hand glitt gekrallt der Kante des halboffenen Türflügels entlang und die Gestalt der Greisin, ein armes Bündel fleckiger, einst schwarzer Lappen, knickte gegen die Fliesen.

»Maddalena, ich verstehe dich!« Tief und metallisch bebend tönte es von Nicolo daß der Ziegenbart sich hob und senkte. Selbst Maffio zuckte. So sonderbar war die Stimme. Doch weiter: »Maddalena! Im Namen des Gekreuzigten! Ich verstehe dich. Aber wir leben. Hörst du? Wir leben! Siehst du nicht, daß wir gleich dir älter geworden sind?« Und er kam noch zurecht, ihr Hinabgleiten aufzufangen. Sie bebte, langsam begreifend und sich fassend, mit den tausend unsauberen Runzeln, in denen Schweiß und Schmutz entlang liefen.

Maffio hatte einen Blick ihrer unsteten Augen aufgefangen. Plötzlich wandte er sich ab und pfiff sonderbar durch die Zähne. Er wußte schon alles.

Es kam auch schnell. Die kaum verklungene Stimme Nicolos setzte wieder an und ward heiser.

Maffio schlug die Hände vors Gesicht und pfiff noch schriller, noch unwahrscheinlicher.

»Maddalena!« Nicolo beugte sich mit stechendsten Augen vor. »Maddalena, wo ist Assunta, wo ist mein Weib Assunta?«

Ein Krach, ein Aufplätschern. Der Gondolier hatte, neugierig starrend, einen Ballen ins Wasser geworfen.

Maffio, erlöst, stieß einen wilden Fluch aus und fuhr herum.

Das alte Weib aber heulte: »Siebzehn Jahre, Masser Nicolo, siebzehn, achtzehn Jahre, Masser Nicolo! Alle guten Geister mögen sie beseligen! Assunta, mein Liebling, Assunta, Assunta!« Langgezogen und gell stets wieder der Name.

»Tot? Verloren?« Wie ein Gurgeln, ein grausiges Gurgeln schnitt Nicolos Ton in das Nachplätschern des Wassers, über dem der bunte Gondolier, gehalten von der feisten Hand Maffios, hing und verzweifelt nach der Kiste angelte.

Das alte Weib kniete im Türspalt und zog mit hilflos blödem Gesichtsausdruck einen klobigen Rosenkranz durch die Finger.

Nicolo aber stand schon unten am Wasser. Gräßlich knirschten die Kiefer. Sein schwerer Stiefel stampfte ein-, zwei-, dreimal gegen die Bohlen. Plötzlich lohte die Faust. Lichtkringel tanzten über die Fassaden. Die Hand, ganz Sehne, ganz Verzweiflung, ragte zur Höhe. Und im nächsten Augenblick fuhr mit blaffendem Knall das Juwel in die Tiefe des lehmbraunen Wassers.

»Bewahrt es, bewahrt den Schatz! Nicht!« Keuchend klang knapp hinter ihm die Stimme des Weibes. »Bewahrt Eure Schätze, Masser Nicolo! Lebt und freut Euch! Ihr habt einen Sohn, Masser! O, einen süßen, lieblichen Sohn!«

Maffio stand jetzt dicht neben Nicolo.

»Hörst du, Bruder? Hörst du?« Und der Feiste preßte seinen Arm. »Neue Blüten, neue Zweige trieb das schwarze Haus der Poli! Wir sind nicht die Letzten! Hörst du?«

Nicolo hatte sich zusammengerissen. Unergründlichen Blickes kehrte er sich vom Kanale ab und wieder klang seine Summe wie Glockengut: »Führe uns in das Haus, Maddalena! Wir werden es von den Spinnweben säubern, die die Fenster blind machen.«

Und er wollte eben mit Maffio die Schwelle übertreten, als vom Schwarz des Hintergrundes sich ein neues Ereignis abhob.

Vorerst nur ein Kopf in der Schwärze. Ein wilder viereckiger Kopf, wie mit der Axt aus Holz gehauen. Strähne willensstarker Muskeln liefen von den Wangen hinab zum athletischen Hals, Flammenzungen von Narben über Stirne und Nase. Dazu tiefliegende umschattete Augen.

Der Türflügel flog unter dem Druck der kurzfingrigen Pranke knirschend auf und schlug ein wenig zurück. Die Gestalt schob sich heraus ins Licht. Und sie war des Kopfes würdig. Unter einem gelben genetzten Hemd bäumten sich die Platten der Brust, schwollen über den Rippen die Geflechte der Sägemuskeln. Und die Arme saßen an den unwahrscheinlich breit ausladenden Schulterkugeln wie Keulen.

Bauschige schwarze Hosen über nackten grauen Füßen. Auch auf Brust und Armen glasige Flächen, Flammen und Krater gräßlicher Narben.

Maffio duckte sich plötzlich. Aus dem feisten Ledermantel wurde ein kaum minder drohender Widerpart.

Das alte Weib fuchtelte verständnislos mit den Armen und der zahnlose Mund jappte auf und zu, ohne daß ein Ton sich bildete.

»Räuber im Hause! Nicolo, den Dolch! Räuber sind unsre Erben. Wehe, der nächtliche Enrico!« Maffio stieß den Arm senkrecht empor und ein sichelkrummer Dolch loderte.

Auch Nicolo war zu äußerster Spannkraft erwacht.

»Soll alles in Scherben gehen?« keuchte er. Dann brüllte er mit furchtbar unerbittlicher Stimme: »Mörder, feiger Mörder! Wo ist mein Bruder Marco? Du Untier sitzest im Hause der Poli und er modert in feuchter Erde? Weißt du, wer wir sind? Graut dir?« Und wieder langgezogen, daß die Fassaden schütterten: »Mörder! Mörder! Bandit! Mörder!«

Eine lange Gondel schoß um die Ecke. Gebauscht die Standarte des heiligen Marcus. Ein roter Löwe an schwarzem Bord, daß die Spiegelung im Kanäle als schmutziger Blutfleck mittanzte. Aufgleißen von gewölbten Brustpanzern und Schwertern. Schwarz und purpurn, in knöchellangem Gewand, ein Mann mit Hakennase und welligem Haar. Ganz Würde, ganz Macht und Geist.

»Mörder!« schrillte es nachhallend durch die Enge des Kanales. Der Gondolier duckte sich.

Enrico wand sich kniend vor dem halboffenen Flügel und die Narben schillerten fahl im strotzenden Braun der Muskelmassen.

Maffio drang geduckt mit haßverzerrtem Antlitz vor. So nahe, daß seine Stirne fast das Gesicht Enricos streifte. Ausholend schwang sein Dolch zitternde Kreise hinter seinem Rücken.

Da, ein kurzer Blick Enricos, ein Zusammenzucken, ein Stoß gegen die Brust Maffios, daß er über die Stufen zurücktaumelte.

Ein zweiter, langer, fingerschmaler Dolch wuchs aus der hageren Faust Nicolos, der den torkelnden Bruder auffing.

Die Gondel schoß heran. Das Wappen des heiligen Marcus stand ausgebreitet im Kanäle.

Und eine Stimme, jammernd und doch voll baßdunkler Kraft:

»Helft, helft! Madonna! Helft! Helft mir, Masser Malipiero! Sie töten mich! Sie töten mich!«

Dazwischen das Emporschnellen Maffios, die kalte Wut des hagern Nicolo, dessen Ziegenbart vom vorgeschobenen Kinn wagrecht stand.

Vom Kanale sonor und unwidersprechlich dazwischen:

»Im Namen San Marcos! Friede! Friede im Namen der Republik!« Schon waren die blauen Brustpanzer auf der Stiege und Kettenhandschuhe umfaßten wuchtig dolchbewehrte Gelenke.

Enrico schob sich wie ein speerbedrohtes Raubtier, den Blick auf alle gerichtet, rücklings zum Tor und sprang seitwärts über die Stufen auf die Bohlen, wo die Staatsgondel die Barke der Poli achtlos fortgeschoben hatte.

»Was soll das, Enrico? Was geht vor? Warum gellt der Ruf nach Mördern über das Wasser?« Malipiero stieg, ungehindert durch das Gewand, auf die Bretter, straffte das Haupt zurück und zog die Lippen zu einem blutlosen Strich zusammen.

Unvermittelt prasselte ein Redeschwall, lang gestaut, verschlagen von Entsetzen, aus dem zahnlosen Munde der abseits kauernden Maddalena.

»Die edlen Poli, Masser Malipiero, die toten Brüder, durch ein Wunder der Madonna heimgekehrt. Sie wissen nichts. Maffio, Masser Maffio hat Enrico erkannt. Sie wissen nichts. Woher auch sollten sie...«

Ein gebieterischer Wink Malipieros. Ein Wink, nach drei Seiten befehlend: Maddalena schwieg. Die Panzerfäuste lösten sich, daß die Dolche zu Boden klirrten. Enrico kniete zwischen Malipiero und den Brüdern.

»Edle Freunde, der Republik vom Schicksal wieder geschenkt, gestattet, daß ich euch in euer Haus geleite. Ich habe es als Nachbar wohl behütet die ganze Zeit. Was ihr Enrico anzuklagen habt, werde ich anhören! Umarmt mich, edle Herren!« Malipiero ging auf die Poli zu.

Der bunte Gondolier, der Erregung entkommen, schwatzte, aus der Gondel auftauchend, überlaut in die Pause hinein und geriet mit dem Führer der Staatsbarke wegen des Anlegeplatzes in Streit. Ein kurzes Kopfwenden Malipieros brachte beide zum Schweigen.

Enrico und Maddalena kauerten apathisch auf den Stufen. Die Gepanzerten stellten sich, ihrem Aufzuge gemäß, da sie keinen Befehl erhielten, für alle Fälle breitspurig rechts und links des Tores wie Wachtposten.

Maffio und Nicolo aber umarmten Malipiero wortlos, da zu viele Ereignisse die wenigen Augenblicke erfüllt hatten.

»Verzeiht, ich wußte nichts, sah nur Fremde, sah Dolche und fürchtete Blutvergießen. Verzeiht meinen Befehl, edle Herren!« Malipiero löste sich aus den Armen der Brüder.

»Euch sei vergeben!« Kalt, fast gelangweilt, sagte es Nicolo. »Doch wir werden Gericht halten. Bis heute ist das Blut des Bruders ungesühnt! Auch nach hundert Jahren fordert Meucheltat peinliches Recht!«

»Es schmerzt uns, Euch zu behelligen!« fiel Maffio glatt und geschmeidig ein.

»Ihr selbst werdet Schuld gegen Sühne wägen! Kommt jetzt, wenn ihr mir gestattet, die Schwelle zu übertreten!«

Und er nahm sie, ganz Würde, ganz unwidersprechliche Hoheit, an den Händen und preßte seine Lippen, zurückgebogenen Hauptes, zu einem blutlosen Strich zusammen. Das schwarze Kleid aber hinderte ihn keineswegs an ebenmäßigem Schritte, mit dem er die letzten Stufen emporstieg.

Die Brustpanzer der Wächter lohten farbenspiegelnd, das Wappen des heiligen Marcus faltete sich in der Windstille zusammen, blutigmatt stand der rote Löwe auf schwarzem Bord. Dann weiteten sich schmerzhaft ihre Pupillen. Denn nach all dem grellen Licht des Mittags umfing sie das Schattendüster der Vorhalle des schwarzen Palazzos.

Da kam der volle Schauer der Heimkehr über sie. Die Gewölbe begannen zu sprechen, zu erzählen. In wirren hohen Tönen, wie Glasglocken. Alles mit einem Male: Kindheit, Jugend, Mannbarkeit. Hier war Bruder Marcos Leiche, bedeckt mit schwarzem Mantel, gelegen. Maiskolben hingen jetzt an Borden und schimmerten gelb und rot.

»Santo cielo, die Polenta! O, die Polenta!« Brenzliger Rauch drang durch eine niedere Seitentür in die Halle; Maddalena stürzte hinein in den Dampf, in den sich Fischgeruch mischte.

Weiter erzählten die Gewölbe. Vom Hof ragte ein schräger Lichtstrahl herein. Dort drüben lag das Brautgemach. Wo ist Assunta? Wo Bruder Marco?

»Wo ist mein Bruder? Mörder!« Unwillkürlich wurden Nicolos Gedanken laut und hallten durch den Raum.

Plötzlich lag Enricos wilder Körper vor ihm auf den Knien. Der viereckige Kopf preßte sich küssend an die sehnige magere Hand.

Malipiero trat einen Schritt näher und legte leise die Finger auf die Schulter Nicolos.

Furchtbares, ächzendes Aufseufzen des demütigen Enrico.

»Hört ihn, er will beichten!« Sanft sagte Malipiero die Worte. »Doch zuvor noch: Ihr irrt, edle Brüder, wenn ihr mich für einen Richter oder Senator haltet. Ich bin Custode des Arsenals, sonst nichts!«

»Sonst nichts?« Maffio schmunzelte bei der Nennung des Titels verbindlich und pfiff vielsagend durch die Zähne. Dann nickte er dem Custoden mit einer Geste kameradschaftlicher Ehrerbietung zu. Da hatte sich das erste Wort schon aus der Kehle des Athleten gepreßt.

»Ich tat es! Alles gestehe ich, alles!«

»Was tatest du?« Fast ängstlich wurde die Stimme Malipieros.

Nicolo wandte sich herum und sein unerbittlicher Blick stand funkelnd oberhalb des spärlichen Ziegenbartes:

»Seht Ihr, Malipiero? Ihr wißt eben nicht, daß wir auf der Spur des Unergreifbaren waren, als wir abreisen mußten. Maffios List hatte das Geheimnis des Mordes ergründet.«

»Nach dem Gesetz ist die Schuld vielleicht schon verjährt.« Malipiero versuchte noch mit Würde abzulenken.

»Das werden die Richter und Räte entscheiden. Ihr sagtet selbst, daß Ihr diesem Stande ferne seid.« Nicolos Ton war hart geworden. Leise zischte er noch: »Es war mein Bruder, Masser, mein Bruder!«

»Nicht nur um den Bruder, auch um den Sohn handelt es sich hier!« Malipieros Stimme erklang in ebenso abweisender Schärfe. »Hört jetzt und richtet dann!« Und zu Enrico, hastig und heischend: »Um dein Leben geht es, Dummkopf! Rede, aber rede schnell!«

Da gewannen die Gesten des Bedrohten etwas Rasendes, Eckiges, Flirrendes. In ungeschicktem Mienenspiel drehte sich der Kopf, rollten die Augen, schlenkerten und erstarrten die riesigen Keulen der Arme. Und der Schwall der Worte überkollerte sich:

»Ja, ihr Herren, ich war ein Räuber von Narenta, ein Seeräuber, bevor ich Rialto betrat. Ah, ich bin gewohnt, ein Schiff durch Klippen zu reißen, wenn die Brandung gegen schwarze Felsen donnert. Nichts fürchte ich! Ich jauchze dann und singe zum Pfeifen des Sciroccos!«

»Das möge verjährt sein! Was geht uns das an?« Höhnisch zuckte der Bart Nicolo Polos.

»Das geht Euch an, Masser, gewiß geht es Euch an. Ihr habt einen Sohn, Masser. O, einen Sohn!« Plötzlich erstickte ein grausiges Schluchzen die Worte und er schleuderte die Arme auseinander, als ob er einen Berg umarmen wollte. Nicolo horchte auf. Enrico aber, kaum gefaßt, schon weiter. Zunehmend feuriger: »Wird Euer Sohn, ein edler Venezianer, nicht die Meere durchfahren? Wer soll ihm das Schiff durch die Klippen steuern? Wer ist so treu, so furchtlos? Wer kennt nur den Herrn und den Tod?«

»Preise dich nicht an! Was soll ich damit? Steuerleute hat Venedig mehr als jede andere Stadt!« Nicolo stampfte ungeduldig mit dem Fuße.

»Seht ihr, seht ihr!« heulte Enrico auf. »Ich kann nicht reden. Alles ist zugleich in diesem Kopfe. Ich wollte doch sagen, wie wenig ein Seeräuber von Narenta wußte, was Liebe, was Tugend ist. Da fiel mir Marco ein, Masser Marco!«

»Warum sprichst du nicht vom Morde? Ich habe keine Lust mehr, dein Geplapper zu hören. Rede von Marco! Rede endlich!« Nicolo knirschte mit den Zähnen.

»Ich sprach von ihm und Ihr wart aufgebracht. Madonna, hilf mir! Ich bin verloren!« Ratlos glotzte der Riese gegen Malipiero.

»Marco ist Euer Sohn, Masser Nicolo! Er spricht von ihm, vom jungen Marco Polo. Habt Erbarmen, Nicolo! Ihr ahnt nicht, was er Eurem Sohne tat!« Wohllautend, fast bittend klang die Stimme des Custoden.

»Nichts tat ich! Ich liebe ihn! Verzeih mir, Erlöser, daß ich lästere. Heilig ist mir Masser Marco. Mein Engel ist er. Ein Wunder hat er vollbracht!« Dröhnend schlug sich Enrico an die Brust. »Ja, ein Wunder! Ein Seeräuber war ich, ein Bravo, mehr als ein Bravo! Und jetzt bin ich ein Mann, von dem der große Doge gesagt hat, daß er dem heiligen Marcus mehr nützt als zwanzig Scharwachen. O, mein Falke, mein holder Masser Marco! Glaubt mir, edle Herren, kein Jüngling auf Rialto ficht besser als er, keiner schwimmt besser, keiner zielt sicherer mit der Armbrust. Seht her!« Mit einem Sprunge war er draußen und wieder in der Halle und warf einen zerbeulten Sturmhelm, ein zerschlissenes Kettenhemd und einen grausigen Stoßdegen auf die Fliesen.

»Seht her!« Stets atemloser: »Wo wäre er, der Holde? Wo wäre er? Seht, bevor das Wunder geschah, hatte ich kaum eine Narbe. Dann aber kamen die Verwandten, die Barbigos, die Porzis, die Guiletamas! Drei Bravi, oft, vier, fünf! Und alles auf den Falken, alles aus Gier, das Haus, den schwarzen Palazzo zu stehlen. Und ich hatte dem Masser Malipiero versprochen, nicht mehr zu stechen. O, es ist schwer, bei der Madonna, mit fünf Bravos zu fechten und nicht zu stechen! Zerknickt habe ich ihre Degen mit den bloßen Händen, ausgedreht die Arme der starken Gesellen. Mit dem Schwertknauf habe ich sie betäubt. Gott sei mein Zeuge! Nie mehr hat Enrico gestochen!« Er holte tief Atem. Dann dumpf: »Aber Narben hat er bekommen, Narben, hier und hier und hier! Und Masser Marco ist hinter ihm gestanden. Nicht einen Nadelstich hat seine Haut. Dann hat er fechten gelernt von Enrico, draußen im Hofe bei der Zisterne. Täglich viele Stunden. Heute kann ihm kein Bravo mehr etwas anhaben. O, es waren schwere Jahre, Masser! Und die Basen sind gekommen und haben Kuchen gebracht und Backwerk, Krabben und Hummern. Und oft haben wir kein Geld gehabt und der süße Marco hat geweint vor Hunger. Ich habe den Hummer den Katzen gegeben und sie sind verreckt. Und am Kuchen hat eine Taube gepickt von der Piazza und sie ist tot auf die Fliesen gefallen. O, Masser, es waren schwere Jahre! Und ich bin hinausgefahren mit Marco in die Lagune und wir haben uns die Krabben und Fische selbst geholt. Nichts hat er gegessen, was nicht ich gekocht habe oder Masser Malipiero uns eigenhändig geschenkt hat. An den Türen haben sie gekratzt, die Verwandten und Bravi, wenn der Sturm durch die Nacht geheult hat. Weiber haben sie geschickt mit feuchten Lippen und geheimen Winken, als er älter war. Alles vergeblich! Gott segne euch, daß ihr hier seid, Masser Nicolo und Maffio! Dank dem Himmel! Einen Marco Polo habe ich gemeuchelt, doch er ist in andrer Gestalt wieder zur Erde gekommen und ich habe mit meinem Blute, mit warmem roten Blut versucht, die Madonna zu versöhnen. Und sie hat mir im Traum gesagt, daß der ermordete Marco in Eurem Sohne lebt. Es war das Wunder, das große Wunder, ihr edlen Herren! Jetzt aber kann ich sterben, wenn ihr glaubt, daß Masser Marco sicher ist vor den Verwandten!«

Schon lag er mit dem Antlitz auf den Fliesen und murmelte Gebete.

»Kein Wort zuviel, tausend zu wenig!« sagte Malipiero leise. »Auch gegen meine Brust hat er einst den Stoßdegen gezückt. Marco, Euer Sohn, hat mich damals gerettet. Es war das Wunder. Der heilige Marcus sei gebenedeit!«

Furchtbarer Kampf spielte auf dem Antlitze Nicolos. Plötzlich wandte er sich lautlos ab.

Maffio jedoch, über dessen Züge das Ergebnis kältester, geschmeidigster Rechnung zuckte, sagte glatt und sicher:

»Erhebe dich, Enrico! Das Haus der Poli verzeiht dir deine grausige Tat. Es erwartet aber, daß du ihm noch große und schwere Dienste erweisest. Verstehst du mich, Enrico?«

»Was will ich andres? Gott sei gepriesen!« jubelte der Riese. Doch nach einem scheuen Blick auf Nicolo: »Nein, ich werde dennoch in Ketten geworfen! Einer allein kann meine Schuld nicht tilgen. Laßt mich nur einmal noch den jungen Heiligen sehen! Einmal noch die Hand Marcos küssen, Masser Nicolo, dann schlagt mir den Kopf ab, dann spießt mich, dann werft mich in den düstersten Kanal!«

»Maffio ist der älteste Polo!« sagte Nicolo, noch immer abgewandten Hauptes. »Er hat das Recht, für unser Haus zu sprechen. Was ich fühle, soll dich nicht kümmern. Von mir droht dir keine Gefahr. Du bist frei und entsühnt, Enrico!« Plötzlich veränderte sich seine Miene. Als ob alles ungeschehen wäre, riß er sich herum und fragte mit metallenem Klange:

»Ich hörte, daß ich einen Sohn hätte. Warum hat er uns noch nicht begrüßt?«

»Er ist nicht in Venedig! Bei Freunden meiner Familie auf dem Festlande.« Malipiero folgte der vergessenden Pose Nicolos und legte das Haupt zurück, daß die Hakennase vortrat: »Enrico wird ihn holen. Mach dich fertig, Enrico! Nimm aber doch den Panzer. Von heute ab stich zu, wenn einer angreift. Geh!« Und er preßte die edlen Lippen zu einem blutleeren Strich zusammen.

Eine Stunde später.

Nicolo Polo schritt aufrecht und hager mit starrem Blick durch die Gelasse des ersten Stockwerkes. Seit fast zwei Jahrzehnten hatte sie niemand betreten, da Malipiero strengste Sperre verfügt hatte, um den Hausrat vor den Verwandten zu schützen.

Gespenstisch hallte der Tritt. Nicolo hielt den Dolch in der Faust. Fingerdicker Staub in den Fensternischen, auf den Truhen, auf Spiegeln, Tischen und Bänken. Zerschlissene Tücher, halbverhüllend über den Möbeln. Dazu fahles, dämmeriges Licht, nur ab und zu helle staubdurchflirrte Sonnenbahnen schräg hereinragend. Langes, fortgepflanztes Knarren und Ächzen des Holzes. Tickendes Scharren von Bohrwürmern. Ein verirrter großer Schmetterling surrte schrill und klatschte an harte Gegenstände. Mäuse huschten aufgescheucht.

Unten saß Maffio im Schatten der Mauer mit Malipiero am Steintisch bei dunkelrotem Wein und horchte den Custoden über Männer und Taten der Republik aus. Und tastete den Puls des Handels, fragte nach Zinsfuß, Bedarf und Marktpreisen.

Nicolo schritt langsam. Er wollte umkehren, er, der sich furchtlos durch Völkermorden und Wüsten, Sonnenbrand und Bergeis durchgeschlagen hatte, ohne zu erschrecken.

Die Flucht der Zimmer und Säle bog im rechten Winkel ab. Jetzt flatterten Vorhänge in plötzlich entstandener Zugluft. Trotzdem erstickte die Schwüle den Atem und verlegte die Lungen mit Staub, daß dicke Schweißtropfen auf seiner Stirne perlten.

Da waren jetzt die goldenen Armsessel, eingelegt mit buntem Glas, der Stolz des Hauses Polo. Und die Mosaike an den Wänden. Kaum ein Fleckchen glitzerte. Stumpf alles, raschelnd, krachend, summend.

Und wieder ein rechter Winkel. Schon schritt er jenseits des Hofes.

Er stockte entsetzt. Hatte nicht ein klagender, verwehender Seufzer aufgeklungen? Nein, nichts, eine rostige Angel! Weiter, weiter ans Ende!

Er stieß die Türe des Brautgemachs auf. Und starrte mit undurchdringlichen Augen. Das Blut stach an tausend Stellen seines Körpers wie feine Nadeln und im Hirn toste es.

Was lag dort auf dem unberührten Bette? Und er sprang, fast von Sinnen, hinzu. Ah! Ein Schemen! Faltig und gestreckt das Kleid aus Damast und dann ein heller Fleck, der ihm geliebte Züge vorgegaukelt hatte. Und oberhalb des leeren Fleckes die gestickte Haube.

»So empfängst du mich, Assunta? Liegen noch die Ketten um deinen Hals? Was raschelt dürr und welk zu Boden? Sind es die Blumen, die du am Hochzeitstage trugst? Wallen Schleier und Spitzen herab? Assunta! Assunta! Wo war ich? Wo bist du? Gab es auf Erden grausigere Trennung?« Er stöhnte so gräßlich, so abgrundtief, daß tausenderlei Spuk zu rauschen anhub. Und ein vergilbtes Pergament knisterte zu Boden, das er in sinnlosem Schmerze, wie von außerirdischem Zwange gepackt, las: »Bis zum letzten Atem harrte ich. Du kamst nicht. O, du kamst nicht, Nicolo. Marco wird dich umarmen, wenn du kommst. Und ich werde nicht dabei sein und doch dabei sein! Leb wohl! Mein Atem stockt, mein Herz steht still. Auf Wiedersehen!«

Nicolo warf sich auf die Knie. Krallend griff er in die damastenen Falten, die brüchig unter seiner Berührung zerschlissen. Eine Schnur aus edlem Gesteine klapperte auf die Fliesen.

Plötzlich hob er den Dolch und wußte nicht warum.

Da dröhnte ein naher Schritt.

»Erlöser, hilf mir! Wo war ich, wo ist sie hin? Wo war ich? Was tat ich? Ist es ein Traum? Ein Erwachen, ein Zauber?« Wie eine fremde Stimme hörte Nicolo die grausig hallenden Fragen.

Da antwortete es schon, antwortete drängend und schnell: »Was jagst du Schemen nach, Bruder? Hast du nicht einen Sohn? Würdest du sie noch lieben, wenn sie lebte?«

»Halt ein!« schrillte Nicolo auf. »Raub der Toten nicht das Letzte!«

»Ich raube nichts! Dem Sohn erhalte ich den Vater! Das gleiche wünschte Assunta, als sie die Augen schloß. Noch einmal! Vergiß nicht, daß ihr Bild, ihr Schemen fünfundzwanzig Jahre zählte, die Wirklichkeit jedoch dir eine Matrone gewiesen hätte. Und dann ... Laß mich reden, Bruder! Liebtest du sie wirklich, als du in den Armen der braunen und gelben, krauslockigen oder schmaläugigen Mädchen lagst in Persien, in Byzanz, in Karakorum? Liebtest du sie da?«

»Teufel!« zischte Nicolo.

Dann aber erhob er sich plötzlich entsetzt, denn ein breiter Strom milchweißen, nüchternen Lichtes war über alles geschossen und es lag da in verschlissener, vergilbter Armut und entrücktester Fremdheit.

Und beim aufgestoßenen Fenster stand Maffio und schluchzte. Denn der Bruder war gerettet. So durfte er den Schmerz teilen.

Nicolo jedoch starrte ihn unergründlich an, ragte steif und hager, der schüttere Bart bebte. Und er verließ ohne sich umzublicken das Gemach des Todes.

2

 

»Francesca! Francesca! Die Lagune!« Halb zurückgewandt jubelte es Marco Polo in die summende Stille des Abends und hob die behandschuhte Linke hoch, auf der ein Falke hockte und den Kopf mit der buntbebuschten Lederkappe schüttelte.

Er wartete die Antwort nicht ab und stürmte noch einige Schritte vorwärts. Nahe schon lag der breite Schilfgürtel. Darüber hinaus aber, unkörperlich und glasiggelb, streckte sich die Fläche des stillsten Wassers bis zum kaum kenntlichen Himmelssaum. Nur unterbrochen von dunklen Streifen Schlammes, von Schilfinseln, von fernen Fischerhütten. Auch ein Boot schwebte irgendwo weit in der Unendlichkeit.

Marco Polo stand jetzt spähend auf dem spärlichen Rasen. Dunkelbraun schimmerten die nackten Beine und das verschossene Wams wogte unter achtlosen Atemzügen.

Auf dem Antlitze aber waren Ernst und Lächeln, Freude und Zwiespalt zugleich. Nur die Augen flammten suchend. Und das schwarze Haar ringelte sich.

Er sog mit bebenden Nasenflügeln die Wasserluft ein, die von der Lagune strich. Dann horchte er.

»Marco!«

Er fuhr herum.

Sie hatte die Büsche auseinandergebogen und kam in schlanken Schritten auf ihn zu. Die schräge Sonne legte einen flirrenden Kranz um ihren zarten Kopf. Wie Pinselstriche saßen die hohen Brauen in ihrem eifergeröteten Gesicht.

»Wir sind weit, weiter, als wir dachten!« rief sie. »Es wird Zeit zur Heimkehr, Marco!« Fast bittend: »Die Mücken werden bald aus dem Wasser steigen.«

»Und nichts ist uns begegnet, kein Vogel, kein andres Wild! O, das war ein ergiebiger Tag!« Fast höhnisch ward Marcos Stimme.

Plötzlich aber jubelte er wild: »Nein, nein! Ich wußte es ja. Sieh, ein Reiher, ein Reiher!« Und er riß mit äußerster Schnelle dem Falken die Kappe vom Kopfe und nestelte die Fußfessel los. Dann rannte er bis zum Wasser und schleuderte jauchzend den mächtigen Vogel in die gelbdurchflirrte Abendluft, in der der Reiher mit wuchtigen Schwingenschlägen hoch oben segelte.

Francesca stand jetzt knapp hinter ihm und sah mit weitgeöffneten Augen dem kommenden Schauspiele entgegen.

Für einen Herzschlag verließ seine Aufmerksamkeit den Falken. Das Profil Francescas trat in sein Bewußtsein. Und er folgte entzückt den Linien dieses Antlitzes, das sich, in Schau versunken, willenlos der Außenwelt hingab. Die leicht gebogene, zarte Nase, der glatte Mund, etwas geheimnisvoll Weiches und doch Mutiges des Kinns und Halses. Und die Arme vorgestreckt wie die eines Kindes, das nach Unerreichbarem langt. Der kleine, feste Busen erschauerte unter dem kühlen Hauche der Abendbrise und der runde, schmale Schenkel mit dem vorgesetzten Knie lag wie eine lockende Ahnung von weichen Falten des Kleides umflossen.

Sie fühlte den Blick Marcos und sah ihn aus noch halb entrückten Augen an.

Er zuckte auf und suchte den Falken, der sich in mächtigem Fluge aufwärts schwang.

»Sieh, der Reiher sticht! Er steigt und schraubt sich höher. Noch ist der Falke blind!« Marco erhob weisend den Arm.

Und wirklich hatte der Reiher die Drohung schon erkannt. Den Kopf weit vorgestreckt, peitschte er die Luft mit den Schwingen und stieg mit jedem Flügelschlage höher und höher.

Anfeuernd jauchzte Marco dem Falken vertraute Rufe zu.

Wie ein Rausch kam es über Francesca und ihr ganzer Leib begann zu beben. Ohne Willen drängte sie sich an Marco.

Noch einmal rief er dem Falken, dann rieselte die Berührung durch sein Blut und er riß Francesca in seine Arme. Ein seufzender Klagelaut enthauchte ihren Lippen. Doch schon schloß sich ihr Mund unter dem Kusse.

Marco erschrak. Ihre Lippen brannten wie in rötestem Fieber. Doch er konnte sie noch nicht loslassen. Wilder und wilder vergrub er seinen Mund in ihr Antlitz und preßte die pulsende Wärme ihrer Glieder an sich, die sich schon abwehrend bogen.

»Ah! Er hat ihn überflogen! Er stößt herab!« Sie hatte sich losgemacht und warf beide Hände hinauf gegen den Himmel, von dem jetzt der Falke wie ein Bolzen gegen den Reiher niederschoß, der mit schiefgestelltem Kopf, den Schnabel aufwärts, den furchtbaren Feind zu letzter Abwehr erwartete.

Schon ballten sich die Kämpfer in ein flatterndes Wirrsal und die Federn stoben.

»Du bist der Falke, Marco, du selbst bist der Falke!« rief Francesca mit solchem Weh, daß Marco erschauerte.

»Was ist dir?« Wieder umfaßte er sie, diesmal zart und lindernd. Dann abgelenkt: »O, sie kämpfen! Der Reiher will sich nicht ohne weiters ergeben. Sieh, der Falke läßt nach!« Und er riß die Hände an den Mund, krümmte sie zum Rohre und schrie: »Ilo, Falke, ilo, i–l–o!«

Tiefer und tiefer drückte der Jäger unerbittlich sein Opfer.

Da fühlte Marco wieder ihre heiße Wange an seiner. Eine Träne näßte ihn kitzelnd. Dann aber, mit seltsam tiefer, umflorter Stimme:

»Du sollst der Falke sein, Marco! So liebe ich dich. Sieh! Auch der Reiher ist bezwungen!«

Wildes Flügelrauschen knapp oberhalb ihrer Häupter. Ein klatschender Aufschlag auf den Boden. Breit, den einen Flügel zu riesigem Fächer gespreitet, der Reiher, dessen Kopf noch immer starr und schief aufwärts stand, während der lange, spitze Schnabel leise klapperte. Darüber, schwingenpeitschend, der Falke, unter dessen Klauen Blut durch die silbrigen Federn sickerte. Schon setzte der gekrümmte Schnabel zu tödlichem Gehacke an.

Marco sprang hinzu und riß den Falken vom Opfer, stülpte ihm die Lederkappe über und schlang ihm die Fessel um die Füße.

Dann zog er den Dolch.

Der Reiher regte sich nicht. Nur sein starrer, irrender Vogelblick schillerte voll Jammer in die Abendstille.

Francesca umfaßte das Gelenk Marcos.

»Nicht ihn töten, töte ihn nicht!« Auch ihr Blick war voll von bittendem Jammer.

»Er leidet, Liebste, er ist wund und elend. Ich muß ihn erlösen!« Und Marco versuchte sich sanft loszumachen. Da kniete Francesca neben dem Reiher:

»Nein, Marco, er wird sich erholen. Er ist nur gelähmt von Entsetzen!« Und sie strich über die Federn und zog den Flaum beiseite, wo das Blut sickerte.

Marco band den Falken an einen Strunk. Der saß da, schüttelte den Kopf, sträubte die Federn zu einer Kugel und zitterte vor Gier und Jagdlust.

»Komm her zu mir, Marco!« Leise, verzagend sagte es Francesca vor sich hin.

»Noch einmal, Geliebte, was ist dir heute? Schreckte ich dich? Tat ich dir etwas zuleide?« Marco kniete an ihrer Seite und strich ihr sanft über das Haar.

»Nein, nichts davon!« Sie versuchte, dem Reiher die ausgebreitete Schwinge zu glätten. Dann sah sie plötzlich auf: »Du weißt, daß ich nicht feig bin. Du weißt, daß ich stets deine Spiele teile und daß ich mich deiner Wildheit freue. Heute aber fürchte ich mich. Nicht vor dir. Vor anderem, vor Ungreifbarem, vor dem Schicksal, das im Zwiespalt deines Antlitzes, deiner Seele liegt.«

Mit scharfem Rucke war die Lähmung vom Reiher gewichen. Schon stand er, leise zitternd, auf seinen langen Stelzbeinen und plusterte sein Gefieder. Dabei nickte er mit letzter Blödigkeit den flaumgekrönten Kopf. Dann aber spreitete er die Schwingen und erhob sich. Ohne jede Schwäche, als ob nichts ihn bedroht hätte.

In überschäumendem Glück über die Rettung des Tieres schlug Francesca kindlich die Hände zusammen. Auch sie hatte ihres düsteren Gedankens vergessen. Marco aber lachte übermütig. Und wieder stieg ihm heißes Begehren in die Kehle, als er die Geschmeidigkeit ihrer Bewegung umfaßte.

Der Reiher strich schon hoch über ihren Köpfen. Die schräge Sonne packte ihn und wandelte ihn in einen glitzernden Goldsegler, einen Wundervogel ahnungsvoller Märchen.

»Ich bin der Falke, Francesca! Siehst du es? Sagtest du nicht so? Blick hin, wie er sich gefesselt sträubt und geblendet am Boden hockt! Was nützt ihm die Überwinderkraft? Und du, der Reiher, du ziehst fort, weit fort und läßt ihn ohnmächtig verlangend liegen. Was tut's? Der Falke muß es ertragen!« Er lachte neuerlich auf.

Francesca aber fühlte über ihre Seele den Hieb einer Geißel klatschen. Sie nur flüchtig bezwungen? Sie nicht zu jedem Opfer bereit? Was wollte er? Warum quälte er sie? War er zomig, daß sie sich früher seinem Ungestüm entwunden hatte?

Nein, er sollte nicht zweifeln! Und gejagt von allen Fragen, verwirrt, ohne klares Wollen, lag sie an seiner Brust, drängte ihren Körper gegen seinen Leib und küßte ihn so wild, daß auch seine Sinne tosten.

Da wurde ihr Leib plötzlich schlaff und ihr Denken verwehte zum Nichts. Ihr Kopf sank hintenüber, als wolle er vom Halse brechen. Ein Hauch, ein Duft, ein Augenblick trennte die beiden noch vom Gipfel des Wunsches.

Da schoß wie mahnender Schreck die Bewußtheit über die Sinne des Jünglings. Und er machte sich zärtlich von ihr los, stieg die kühle Treppe des Willens hinauf aus den stammenden Kellern der Leidenschaft.

Er zerbrach die Versuchung mit dem Schalle des Wortes:

»Der Falke reißt sich los, Francesca! Wir müssen heimwärts reiten!«

Langsam straffte sich ihr Leib und die Augen verloren die Weiche des Verlöschens.

»Du liebst mich nicht, Marco! Was tatest du? Warum stießest du mich fort, als ich kam?«

Er hockte beim Falken und band ihn an die Faust.

»Mehr als mich, liebte ich dich, Francesca! Reuelos soll unsre Liebe sein!«

Sie senkte das Köpfchen und dunkle Scham flutete ihr zugleich mit der Erkenntnis in die Wangen.

»Verzeih mir!« hauchte sie, als sie der Lagune den Rücken kehrten.

3

 

Auf der Straße trabten sie in scharfem Gange. Stolz saß Marco Polo im Sattel, die Faust mit dem Falken hoch erhoben. Francesca aber hielt noch immer ihr Köpfchen gesenkt.

Der Himmel lag grellrot über der Weite. Alleen kreuzten einander. Im Norden stand dunkelblaß die Alpenkette in flirrendem Rauch. Von Baum zu Baum schlangen sich die Rebengewinde, an denen reife Trauben hingen. Verirrtes Gebell von Hunden durchdrang die Stille. Hie und da ein Aufleuchten bunter Bauernkittel.

Sie trabten gegen den Mittelpunkt der Röte.

Jetzt war über Marco ein banges Gefühl gekrochen. Plötzlich, als sie auf die freie Straße hinausgeritten waren. Zurückgestautes Blut hämmerte am Willen und klagte ihn versäumter Lust, ungenützten Lebens an. Sitte und Mannheit höhnten einander, Werte schoben sich kunterbunt und verwirrten sich.

Die Gedanken flohen zurück, prüften die letzten wenigen Wochen, seitdem Francesca als Pol in seinem Leben stand. Die Seelen hatten sich schon mehr als einmal durchdrungen, ihre Leiber waren noch nie so nahe gewesen wie heute. War es ein Ende? Ein Anfang?

Wieder durchtoste das Blut sein Hirn, bis er zu ihr hinsah. Da überkam ihn Rührung, reinste Zärtlichkeit und Liebe. Er schüttelte sich, daß der Falke erschrak.

Ihre Worte nahmen von ihm Besitz. Ihre Furcht vor dem Schicksal. Und jetzt erst erinnerte er sich der Pflicht, sie zu trösten.

»Francesca, was ängstigte dich, als wir beim Reiher knieten? Antworte nicht! Du weißt doch, wie alles kommen soll. Die Lehre deines Vaters wird mich zu hohen Zielen befähigen, die Zeit wird bald erreicht sein, da ich über das schwarze Haus der Poli gebieten darf. Und ich werde es verkaufen, damit der Neid der Verwandten zerrinnt. Dann werden wir hier oder anderswo auf der Terra ferma den großen Zielen leben! Oder mißtraust du meinem Willen?«

Wie erwacht sah ihm Francesca ins Gesicht. Wieder waren ihre Augen weit geöffnet und die hohen Brauen standen wie Pinselstriche im Antlitz.

»Mißtrauen? Nein, Marco! Mehr Beweis meines Vertrauens konnte ich dir wohl nicht geben. Nein, es ist anders, Geliebter. Das Absonderliche deines bisherigen Schicksales, die Eigenheit des verwaisten Raubvogels, das fürchte ich. Vielleicht ist es nichts andres, als das Gefühl der Unwürde, der Abhängigkeit. Die nie erlöschende Angst des Liebenden, den Inhalt des Seins zu verlieren.« Sie richtete sich auf und reichte die Hand herüber. »Die Tochter Vincenzo Moris wird nicht mehr solch kleingläubiges Zeug schwatzen. Verzeih mir!«

Die Stimme verhallte. Doch leise Unruhe lag auf beiden Seelen, als sie in den Seitenpfad einbogen und das Haus vor ihnen stand.

Nicht groß, nicht prächtig, doch behaglich. Eine helle Mauer umgrenzte es in weitem Umfange und hohe Platanen hoben sich aus den umgebenden Ölgärten.

Vincenzo Mori trat ihnen im Flur entgegen.

Vergeblich versuchte er seine buschigen hellen Brauen zu strengem Ausdruck zu runzeln.

»Die Falkenbeize mag euch vergnüglicher gewesen sein als mir. Sorge hat schon meine Arbeit unterbrochen!« Sein Ton wollte den Brauen nicht folgen und die fast schüchternen, verträumten grauen Augen straften auch den letzten Rest des Tadels Lüge.

Er erkannte denn auch sogleich die Nutzlosigkeit eines nicht herbeizuzaubernden Zornes und lachte unvermittelt auf.

»Geh in die Küche zu den Mägden, Francesca! Unser Gast dürfte Hunger verspüren.«

Francesca nickte verlegen und willig. Marco aber, dessen Gedanken den gelbdurchflirrten Abend an der Lagune umkreisten, nestelte hastig an der Kappe des Falken und erwartete ungeduldig, daß er angesprochen würde.

Auch Vincenzo Mori schien in ferne Räume zu sinnen, denn er beschrieb, wie zeichnend, plötzlich eine Geste durch die Luft. Die Falten seines grauen, langen Samtkleides bauschten sich weißgekehlt.

»Und Ihr, Marco Polo,« setzte er, alles verbindend, fort. »Euch bitte ich noch, falls Ihr nicht zu müde seid, ein Stündchen meinen neuesten Erkenntnissen zu lauschen!«

Schon drehte er sich ab und ging durch den Flur hinaus ins Freie, wo ein wohlgepflegter Gemüsegarten sich breitete. Eine Freitreppe stieg hier zwischen Beeten in das obere Geschoß.

Marco preßte noch verstohlen das Händchen Francescas an die Lippen, dann war er in einigen lautlosen Sätzen am Fuße der Treppe und folgte Vincenzo gesenkten Hauptes.

Den Falken reichte er einem Knecht, der im Garten harkte.

Der letzte Schein kupfernen Untergangs überglaste die dunklen Möbel, die Bücher, Radkarten, Phiolen und Instrumente, die in sinnvoller Regellosigkeit das Arbeitszimmer Vincenzos zusammensetzten.

Der Gelehrte stand abgekehrt und blätterte in Papieren.

Marco schnippte sich den Staub vom Koller, hielt jedoch sogleich ängstlich inne.

»Ich vertraue Euch, Marco Polo!« Vincenzo stand noch immer abgewandt und seine Stimme zitterte leise. Dann schneller: »Francesca hat auch keine Mutter mehr. Beide seid ihr unbehütet in euren Gefühlen. Und Francesca gleicht ihrer Mutter, Marco! Ein Mann der Weisheit kann da nichts ändern, nichts biegen, nichts lenken. Ich sehe den Makrokosmus, Marco Polo, Ihr wißt es. Welten, Sphären, Sternläufe, Völkergeschicke. Ja, die liegen vor mir und ich blättre in ihnen wie hier in diesen Papieren. Vor, zurück! Einerlei. Ich lege sie in andre Ordnung. Nichts entgeht mir. Doch der Mikrokosmus der Gefühle? Er hat keine Gesetze. Hier endet meine Macht. Ich vertraue dir, Marco!«

Der Jüngling war seltsam ergriffen. Wie konnte Vincenzo so klar um Geheimnis und Gefahr ihrer Liebe wissen? Woher dieses »Ich vertraue!« das fürchterlicher zwang als: »Du sollst nicht stehlen!«

»Du sollst nicht stehlen!« sagte er verwirrt laut vor sich hin. Während ihn aber noch Schreck umschnürte, fühlte er schon den vollen gütigen Blick Vincenzos. Und ein Lächeln huschte um den Mund des Weisen.

»Du verstandest mich, Marco, obwohl dir jetzt dein Wort, das Ende langer Gedankenläufe, töricht scheint. Ich beuge mich vor dem Unabänderlichen.« Nach kurzer Pause: »Auch wir leben in Armut. Also ist Geduld und gemeinsame Arbeit das Ziel!«

»Mein Ziel ist kein anderes. Vielleicht ist meine Selbstsicherheit jugendlicher Übermut. Aber ich hoffe, auch den Geist geschmeidig zu machen wie den Körper. Ihr sollt mein Lehrer und mein Vater sein!« Stolz und gesammelt hatte es Marco vorgebracht. Zu sachlich vielleicht, zu überlegt, zu hundertmal für die Sekunde der Entscheidung aufgespart.

Der Gelehrte aber hörte nur den Sinn und schloß Marco segnend in die Arme.

»Dein Herz ist rein, ich vertraue dir!« sagte er leise und löste sich los.

Schon stand er wieder bei den Papieren.

»Es sind Briefe eingelangt, Marco Polo, ich habe viel erlebt und durchdacht in der Einsamkeit des heutigen Nachmittags.« Und mit der werbenden Stimme, mit dem überzeugten, mitreißenden Pathos, das nur den von geistigen Hymnen Unberührbaren sonderbar und gemacht erscheint: »Es regen sich dunkle Kräfte, die Gestalt werden wollen, Marco Polo. Um uns herum summt flüssiges Metall in brodelnden Kesseln. Der Zapfen wird herausspringen und die heißen Ströme werden in die Formen schießen. Und die Güsse werden dastehen von Ewigkeit zu Ewigkeit.« Tiefatmend und geheimnisvoll: »Ich sah die Münster in deutschen Landen, sah die zerklüfteten grauen Riesen ihrer Türme und Pfeiler. Ich sah die Kuppeln und Mosaike von Byzanz, als ich noch jung war. Gesänge hörte ich und höfische Kunst. Hast du es bemerkt, Marco? Nein, niemand sah es noch vor dem heutigen Tage. Hier, auf italischem Boden, in Florenz, in Pisa, in Venedig, in Ravenna, Mailand und Assisi verwandelt sich alles. Alles wird hier anders. Breiter und zierlicher, weicher und voller werden die Türme und Pfeiler. Klangvoller, singender, tiefer die Canzonen und Sonette. Und aus den starren Mosaiken und Tafeln von Byzanz dringt Leben in unsre Figuren und Gestalten. Körper formen sich, Antlitze werden Sinnbild und Spiegel der Wirklichkeit, Berge und Bäume...«

Ein wildes heulendes Gebell unterbrach ihn und verschlang seine letzten Worte. Rasselndes Schleifen an der Kette. Zurufe. Der Hund ließ sich nicht beruhigen. Eine baßdunkle Stimme dröhnte auf.

Vincenzo Mori machte eine abwehrende Gebärde. Er zwang mühsam die letzten Gedanken zurück.

Schon hub er wieder an.

»Alles verwandelt unser Boden. So sagte ich. Und da stieg ich zurück in die Geschichte, um der Kraft unsres sonnendurchglühten Landes nachzugehen. Ich überlegte die Heereszüge der deutschen Ghibellinenkaiser, die Verwandlungen der Langobarden, der Gothen...« Vincenzo stockte.

Ein Schritt jagte die Treppe hinan. Die Türe flog auf.

»Was ist geschehen?« Marco sprang entsetzt hinzu.

Denn Francesca lehnte atemlos am Türpfosten und wankte, die Hand gegen das Herz gedrückt.

»Ein Unheil?« In dumpfster, ratloser Sorge quälte Vincenzo die Worte über Lippen, die eben noch Weltgeschicke hervorgezaubert hatten.

Francesca hob, noch immer einer Antwort unfähig, den Kopf. Doch sogleich wich von Vincenzo und Marco der Alp. Denn trotz flammender Erregung lag ein Glanz des höchsten Entzückens über den Zügen des Mädchens.

Leise zog Marco ihre Hand vom Herzen und preßte sie.

Da strömte seine Kraft auf sie über, doch der Überschwang warf sie ins Knie. Und sie jubelte heraus:

»Euer Vater, Marco! Marco, dein Vater! Dein Vater ist heimgekehrt. Heute, als die Glocken von Venedig Mittag läuteten. Du hast einen Vater, Marco! Die Toten sind lebendig geworden!«

Und sie schlug die Hände vors Antlitz, neigte tief das Köpfchen und Schluchzen fassungsloser Mitfreude schüttelte ihre zarten Schultern.

Vincenzo kehrte sich ab und faltete die Hände. Halb unbewußt betete er für die Zukunft.

Marco Polo hob Francesca sanft empor, zog sie leise an sich und hauchte ihr einen Kuß auf die Stirne. Sein starker Leib aber zitterte. Und seine Gedanken und Gefühle kreuzten sich, daß der Mittelpunkt seiner Bewußtheit für Augenblicke zerbrach. Wie gebannt flüsterte er das Wort vor sich hin, um aus dem Klang das Wesen zu erkennen:

»Mein Vater! Mein Vater! Vater, wer bist du? Wer ist mein Vater?«

Die drei saßen beim Abendessen im engen Lichtkreise hoher bronzener Öllampen. Mitten in der Schwärze des Saales lagen leuchtende Früchte auf dem Tische. Trauben, Granatäpfel, gelbe Feigen.

Jetzt erst kam ihnen voll zu Bewußtsein, daß das Ereignis, für den Augenblick zumindest, Trennung bedeutete. Jähe Unterbrechung vorgefaßter, als unabänderlich angesehener Pläne.

Jeder aber spann den gleichen Gedanken anders.

Vincenzo Mori blickte unter den hellen, buschigen Brauen verträumt ins Leere. Er merkte nicht, daß Marco mit Francesca verstohlen kindliche Spiele der Zärtlichkeit trieb. Händedrücke, Ineinanderversenken der Augen, leises Streicheln, hauchfeines, erschrecktes Streifen der Knie.

Er sann dem italischen Boden nach, der die eckigen Kunstformen fremder Völker verwandelt. Die neue Zeit brach an. Würde Marco Mitkämpfer werden im ersten Treffen um die große Erneuerung? Wer sollte es entscheiden? Der wiedererstandene Vater war ein Kaufherr!

Francesca lächelte verklärt und trank die Zärtlichkeiten. Kaum Wehmut war in ihr verblieben. Was bedeutete kurze Trennung? Nach dem ersten Sturm, der ihre Unberührtheit aufgewühlt hatte, sehnte sie fast das Alleinsein herbei. Die erfüllte Einsamkeit, die nur dem Gedanken an ihn gehörte. Hielt sie doch ihre große Liebe für die Ewigkeit, an der alles Zeitliche zerbricht.

Der einzige, dessen lebhafter Geist nur mehr das Neue umkreiste, war Marco Polo. Die zwiespältigen Regionen seiner Seele waren entfesselt. Unablässig suchte er in sich die naturgebotene Kindesliebe zu erwecken. Sogleich prallte er an die Nebelhaftigkeit des Gegenstandes. Ein älterer Mann mit einem Ziegenbart! Enrico hatte es ihm kurz erzählt. Strenge und finster. Was sagte das nach langer Reise?

Plötzlich hatte Vincenzo Mori zu sprechen begonnen.

Marco Polo zerpflückte hastig eine Feige, daß ihm das rosige Gekröse der Frucht an den Fingern klebte.

»Vergeßt nicht, Marco, meinen Freund Malipiero zu grüßen. Erzählt ihm von den neuen Ausblicken, die ich heute zu schauen begann.« Und als Marco dienstfertig nickte: »Wir wollen noch heiligen Wein trinken, Marco!« Zu Francesca: »Mein Kind, hol den Vino santo. Und sag dem Enrico, er möge hereinkommen. Er soll sich mit uns für die Fahrt stärken!«

Francesca zuckte zusammen. Für einen Augenblick war das Gefühl der Ewigkeit zerbrochen. Die Vorbereitung für das Schmerzliche begann unerbittlich.

Trotzdem lächelte sie weiter und eilte hinaus, um nicht durch einen langsamen Schritt die Zeit des Beisammenseins zu verkürzen.

Von draußen scholl Gekicher und Aufkreischen einer weiblichen Stimme durch die offene Tür herein.

Vincenzo Mori sagte wie vor sich hin: »Die nächste Zeit wird deine Umgebung mächtig ändern. Vergiß unsrer Gespräche nicht. Und bleibe standhaft gegen die Leute, denen alles zum Gespött ist. Die das Wichtigste und Heiligste belachen. Und die nur Antlitze, ernst wie Fledermäuse, bekommen, wenn es sich um Zechinen handelt.«

»Der Tag der Weisheit verscheucht die Fledermäuse!« Stolz auf seinen Willen und zufrieden mit der Gelenkigkeit seiner Antwort, langte Marco Polo nach einer Traube.

Geräuschvoll wurde die Türe geöffnet.

Enrico, im Kettenhemd, trat in den Saal und verbeugte sich mit der komischen Würde eines fahrenden Komödianten.

Kurz nachher kam Francesca, der eine Magd mit dem schweren Weinkrug und den Bechern folgte.

»Komm her, Enrico, setz dich an den Tisch!« sagte Vincenzo Mori gütig.

Enrico ward verlegen. Er räusperte sich, kratzte sich eine Narbe, die sein kurzgeschorenes Haar leuchtendweiß spaltete. Dann kollerte er geschraubt hervor:

»Wenn es dem Knechte gestattet wird!« Zog jedoch den Sessel so weit vom Tisch ab, daß er wenigstens drei Schritte von den anderen entfernt war. Der dargereichte Becher brachte ihn in neue Verlegenheit, aus der er sich mit verschmitzter Kneipenpose befreite. Er schnalzte mit der Zunge und nickte mit dem Kopf:

»Nicht zu verachten, das Tröpfchen! Also, wenn es mir schon befohlen wird: Die edlen Herren und Frauen sollen leben!«

Im Ansetzen des Bechers hatte er aber schon wieder das Gefühl des groben Verstoßes, da er bemerkte, daß Francesca mit verhaltenem Lachen Marcos Hand berührte.

Vincenzo Mori brach die Befangenheit dadurch, daß er ohne Scheu herzlich auflachte:

»Näher, näher heran, Enrico! Wie sollen wir mit dir anstoßen, wenn du am anderen Ende des Saales sitzest?«

»Recht habt Ihr, ich bin ein Esel!« Das Geständnis machte ihn sicher. Alle lachten vergnügt.

Schon saß er ganz nahe und streichelte verstohlen die Hand Marcos, der ihm einen Rippenstoß versetzt hatte.

»Erzähle!« forderte Marco auf. »Halte ich es doch für unwahrscheinlich, daß du auf dem Herwege ohne Erlebnis davongekommen bist. Übrigens laß ein andres Mal die Mägde in Frieden! Sonst wirft dich Francesca aus dem Hause!« Marco sah ihn plötzlich strenge an.

Enrico knickte zusammen. Alle Sicherheit war dahin. Er setzte den Wein ab, stand geduckt auf und jammerte:

»O, Masser Marco, Ihr seid ein schrecklicher Richter! Nie kann man Euren Hieben entgehen. Stets wird man von Euch besiegt. Alles wißt Ihr, alles sagt Ihr hart heraus, nichts laßt Ihr durchgehen. Ich schwöre, daß ich den Mägden nichts Übles tat. Sie wollten mir die Narben mit Pech bestreichen und ich wehrte mich.«

»Genau so wird es gewesen sein!« Marco starrte ihn höhnisch an. Francesca lachte hell heraus, da ihr noch vor Augen stand, wie er die erschreckte Magd um den Küchentisch verfolgt hatte, bei ihrem Eintreten aber auf das Holz zugefahren war und sinnlos mit der Hacke hineingeschlagen hatte, als machte er sich nützlich.

»Setz dich, Lügenfreund!« Marco runzelte die Stirne.

»Nicht das, nicht das!« Er hob flehend die gefalteten Hände. »Ich will ja alles erzählen.«

»Seid getrost, Enrico, Ihr befindet Euch unter meinem Schutz!« Vincenzo schenkte ihm ein. »Masser Marco Polo wird Euch nichts tun, wenn Ihr gesteht.« Und im Antlitze des Gelehrten zuckten verdächtige Fältchen.

Enrico wetzte auf dem Sessel. Der Wein aber hatte ihn redselig und mitteilungsbedürftig gemacht. So polterte er mit eckigen Gesten und gefährlichen Schwüngen der riesigen Pranken los:

»Masser Marco hat recht! Stets begegnet mir etwas. Ich wollte mir doch bloß die Galeere ansehen, mit der die edlen Herren angekommen sind. Wer weiß, dacht ich mir, ob nicht Masser Marco mich fragen wird. Und Enrico will nicht dastehen wie ein Tölpel.«

»Sehr gut!« rief Marco dazwischen.

»Ja, Ihr habt's leicht, Masser!« Enrico wurde elegisch. »Euch lieben alle, Ihr besiegt alle. Ich aber muß mir das bißchen Liebe sauer erwerben und werde noch verspottet.«

»Wir schätzen Euch doch alle, Enrico!« Francesca beugte sich mitleidig vor. »Marco hat Euch sicher lieber als fast alle anderen Menschen!«

Sofort verschluckte sich Enrico vor Rührung. Und er begann zu bramarbasieren: »Ja, er hat mich lieber, ich weiß es. Aber er ist ein Falke und muß um sich hacken. Wer hat auch einen besseren Knecht? Hört und entscheidet! Also ich komme zum Hafen. Nein, so etwas habt ihr noch nicht gesehen. Alles drängt sich herum, alle wissen schon, daß die edlen Poli angekommen sind. Und sie laden Ballen um Ballen aus der Galeere. Und es wird viel geschwätzt. Ein Reichtum, Massere, ein grenzenloser Reichtum! Ho, ich bin jetzt der Knecht sehr reicher Leute. Auch Masser Marco wird jetzt reich sein. Da werden sich die Verwandten ärgern.« Er machte eine Pause.

Francesca war plötzlich ernst geworden und suchte verwirrt zuerst den Blick des Vaters, dann die Augen Marcos.

Der Jüngling verstand die ungesprochene Frage und sagte schnell:

»Sie sollen ihre Waren in den Keller pferchen. Uns liegen wichtigere Dinge am Herzen. Erzähl weiter, Enrico!«

Francesca lächelte wieder. Enrico rang um Ausdruck.

»Ich weiß, daß Ihr Euch nie um Geld schert. Recht habt Ihr und unrecht, Masser Marco! Also hört! Ich sprach von den Verwandten. Wer steht nicht dort an der Landungsbrücke? Hopp! Da steht der rote Beppo, der saubere Bravo der Barbigos, und stößt die Matrosen an, wie sie eben ein verdächtig schweres Kistchen ausladen. Es entsteht Streit. Noch ein Bravo kommt dazu. Und während der Beppo – Gott weiß, er ist ein starker Kerl – mit den Matrosen rauft, hat schon der andre das Kistchen und will sich davonmachen. Oho! Ah! Das wäre noch schöner!« Ein Becher flog unter der wilden Geste Enricos klirrend um.

»Weiter, weiter!« rief man dem Erschrockenen zu. »Laßt Euch nicht stören!«

»Ich lasse mich auch nicht stören!« dröhnte Enrico, der vor Erregung alles verwechselte. »Wie der Teufel bin ich plötzlich im Gewühl. Rechts und links klatschen die Wangen Beppos. Der andere bekommt einen Fußtritt, daß das Kistchen klirrend auf die Steine stiegt. Evviva Polo! Evviva Polo! brülle ich. Abbasso die Barbigos! Pfui, da ging's an! Noch ein paar Kerle sprangen hinzu. Die Matrosen, dummes Volk aus Kandia oder Negroponte, verstanden nichts. Einige wollten gar auf mich. Da, bei der Madonna, es war herrlich! Da reiße ich den Degen heraus. Die andern Degen und Dolche fuchtelten irgendwo! Hopp, hopp, ila, ila! Jeder hat seinen Stich. Keiner gefährlich. Aber gerannt sind sie alle. Und meine Gondel ist auch geflogen, daß das Wasser geschäumt hat.«

»Bist du toll?« fuhr Marco auf. »Wer hat dir erlaubt zu stechen?«

»Masser Malipiero!« Stolz warf sich Enrico in die Brust und leerte den Becher in einem Zug. »Enrico weiß, daß er die Gelübde halten muß!«

»Das kann gut werden!« Marco mußte plötzlich über die Szene lachen.

»Jedenfalls hat er schon jetzt dem Hause Polo einen Dienst erwiesen. Dein Vater wird sich über die Brauchbarkeit deiner Diener freuen!« Vincenzo hob das Glas. Dann schnell und gerührt: »Ich weiß nichts Besseres als den Schlachtruf Enricos: Evvivano die Poli! Abbasso die Feinde des edlen Hauses!«

Marco war aufgesprungen. Er tat Bescheid. Dann aber rief er stark: »Dank vor allen den Freunden unsres Hauses, ohne die ich den Vater nie gesehen hätte. Die Malipieros und Moris sollen blühen und auch du, treuer, dummer Enrico, sollst hoch leben!«

Feierlich und ausgelassen, aufgepeitscht von der Kraft des Weines, unterlagen alle der Stimmung: Lächeln auf den Wangen, Sieden des Blutes, Liebe, Opfermut und eine winzige Träne, die sich zwischen die Lider zwängte! –

Das Aufsteigen des Vollmondes nach Mitternacht bedeutete endgültig den Abschied.

Die ganze Gegend lag in fahlem Glaste. Weich, reglos und duftend die Luft. Geisterhaft die Umrisse des Landhauses und die weite Umfassungsmauer. Vor dem Tore loderte in der Hand Francescas eine Fackel und ließ in das Grünlichweiß des Mondlichtes rote Zungen hineinlecken. Zwei Rosse sprenkelte die nahe Grellheit.

Marco Polo stand noch auf dem Boden. Alle Habseligkeiten trug er mit sich. Den abgetragenen, dunklen Mantel, die kurze Armbrust, einen kleinen Sack mit Mundvorrat und Geschenken.

Enrico saß schon auf dem Rücken seines Pferdes. Zwiefaches Licht funkelte von Kettenhemd und Sturmhaube. Er saß starr wie ein Standbild und wandte sich ab.

Vincenzo Mori aber sagte leise:

»Stellt die Tiere in die Osteria an der Lagune. Ihr wißt: In die Osteria zum guten Hirten. Der Knecht wird sie am Morgen zurückholen.«

Die Fackel in der Hand der Jungfrau zitterte. Dunkles Weh zerbrach ihren Willen. Der einsame Morgen lag schal und quälend, leer und jämmerlich vor ihr.

Marco Polo preßte sie in seine Arme.

»Keine halbe Tagreise trennt uns, Francesca! Hab Dank, tausend Dank!«

Und er umarmte auch Vincenzo.

»Auf Wiedersehen!« Wie aus andrer Welt klangen die bebenden Worte der Jungfrau.

Marco saß schon im Sattel.

»Ilo, Falke, ilo, i–l–o!« Ganz verändert plötzlich die Summe Francescas, letzte Kraft hatte gesiegt. Er verstand sofort. Das Wort, das den Falken zurückrief, zurückzwang, sollte in seinen Ohren bleiben. Und damit, untrennbar verbunden, der Abend an der gelbüberflirrten Lagune.

»Bald wird er wiederkommen, der Falke!« jauchzte er zurück. Dann gab er dem Pferde die Fersen und sauste in die Nacht hinaus. Hinter ihm dröhnte der Panzer Enricos.

Lange noch aber stand der rotübergloste Kreis, zwei liebe Gestalten im Mittelpunkte, vor seinen Augen, wenn er sich mit pochendem Herzen umwandte.

4

Die Lagune war nach allen Seiten ein Spiegel zitternden Flimmers. Sternschnuppen, eine, zwei, zehn, lohten auf und schnitten das Himmelsgewölbe in lautlosem Rasen. Schräg, senkrecht, fallend, vom Himmelssaume aufwärtsschießend.

Im Takte eines leisen Seeräuberliedes von Narenta – monotone Schwermut, grausames Aufgellen, tierisches Liebeslocken – fuhr das Ruder in die Wasser und tausend Karfunkel träufelten herab, wenn das Blatt einmal den Wasserspiegel überhöhte.

Marco Polo sah die eckige Gestalt vor dem Monde stehen. Unwahrscheinlich groß und wuchtig. Der Panzer lag irgendwo in der Gondel. Wieder nur das genetzte Hemd, die pluddrigen Hosen, die nackten Füße.

Der Jüngling warf sich in die Polster und schloß die Augen. Er hüllte sich eng in seinen Mantel, denn eine Kühle kroch von allen Seiten an ihn heran, die er sich nicht deuten konnte. Es war nicht kalt! Nein, Schweißperlen standen ja auf seiner Stirne. Leise klapperten die Zähne gegeneinander. Ein Fieber? Woher? Er war die Sümpfe gewohnt, er wußte nicht, was Fieber sei.

Schon drängte sich schichtend Gedanke über Gedanken. Nein, es war etwas anderes, etwas, das aus der Seele kam und den Körper niederwarf. Orkane des Blutes waren es, tosend von unerhörten Gefühlen. Francesca! Der Vater! Zuerst die Zukunft, dann die Vergangenheit des Lebendigsten. Frauenliebe vor Kindesliebe. An einem Tage zusammenbrausend die tiefsten Mächte des Menschseins.

Vater! Vater, wer bist du? Wer ist mein Vater? Muß ich dich lieben, wie ich Francesca liebe? Dich, den ich nicht kenne? O, hilf mir, Verstand, auf den ich so stolz bin! Helft mir, ihr sieben Wissenschaften! Nein, ihr seht mich kalt und verständnislos an. Francesca, Francesca, du hast einen Vater. Sag du mir das Rätsel, sag mir die Lösung! Auch du weißt es nicht? Willst den Vater verlassen um meinetwillen, wie die Schrift lehrt? Wer also sagt es mir, da keiner es so sonderbar erlebte, so fremd jeder Natur, jeder Erfahrung? Beten? Heilige anrufen? Wissen es die Heiligen? Gott ist allwissend!? Keinen Frevel, Marco! Belade die Seele nicht mit Todsünde! Nein, keine Sünde. Ich weiß es. Sehen muß ich ihn, sehen. Und er wird mich anblicken. Vater! Mein Schrei mischt sich mit seinem. Sohn, mein Sohn, so habe ich dich endlich, den ich ersehnte in all den Jahren. Da bist du, mein Sohn, an dem ich mein Wohlgefallen habe. Wo bin ich? Vater, deine Arme sind zu stark. O, ich liebe dich! Töte mich nicht! Mein Herr und Gott, warum, warum, ah, warum hast du mich verlassen, verlassen? Vater, ah, Vater ... !

Fieber und Rausch, Müdigkeit, peitschendes Erlebnis und Phantasie. Alles in einem, überquert, schiebend, drängend. Dazwischen das Lied Enricos: Schlachtruf. Die Piraten stürzen sich auf die stolzen Galeeren Venedigs. Ah! Ila, ila, ila, hopp! Der Stich sitzt. Die Planken krachen. Hochauf schäumt das Meer.

Nein, heraus aus dem Chaos! Ich will nichts wissen. Ich träume ja bloß. Nein, zurück, zurück in die Klarheit. Warum soll denken unnütz sein? Ich war einmal ein Kind. Zurück, zurück! Ich will nicht so träumen. Ich will Wirklichkeit. Also, zurück ins Reine. Ich werde alles finden, wenn ich mich nur recht erinnere. Alles muß in der Jugend liegen, in der Kindheit.