Marcus Tullius Cicero - Marion Giebel - E-Book

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Marion Giebel

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Beschreibung

Marcus Tullius Cicero (106–43 v. Chr.), der Meister der lateinischen Sprache und Redekunst, ist zugleich eine der interessantesten Persönlichkeiten der Antike. Seine politischen Reden, seine philosophischen Schriften, aber auch seine zahlreichen Briefe zeigen ihn als einen Römer zum Anfassen, nicht auf dem Sockel eines Denkmals. In diesem Buch wird sein spannungsreiches Leben, zusammen mit seinen Werken, anschaulich vorgestellt. Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.

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Marion Giebel

Marcus Tullius Cicero

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Über dieses Buch

Marcus Tullius Cicero (106–43 v. Chr.), der Meister der lateinischen Sprache und Redekunst, ist zugleich eine der interessantesten Persönlichkeiten der Antike. Seine politischen Reden, seine philosophischen Schriften, aber auch seine zahlreichen Briefe zeigen ihn als einen Römer zum Anfassen, nicht auf dem Sockel eines Denkmals. In diesem Buch wird sein spannungsreiches Leben, zusammen mit seinen Werken, anschaulich vorgestellt.

 

Über Marion Giebel

Dr. Marion Giebel, geboren 1939 in Frankfurt am Main, Studium der Klassischen Philologie und Germanistik, 1965 Promotion in Frankfurt bei Harald Patzer über «Athene als göttliche Helferin in der Odyssee. Untersuchungen zur epischen Aristie» (Marion Müller, Heidelberg 1966). Anschließend Verlagsausbildung. Als Verlagslektorin Herausgabe antiker und deutscher Literatur. Dann freiberufliche Tätigkeit als Autorin, Übersetzerin und Herausgeberin. Regelmäßige Rundfunksendungen sowie Vortragstätigkeit (u.a. Volkshochschulen). Lebt bei München.

Zweisprachige kommentierte Ausgaben, darunter mehrere Cicero-Reden, Briefe Ciceros an Quintilian, Sueton, Augustus, Plutarch, Livius, Plinius, Velleius Paterculus, Seneca und Julian Apostata. Rowohlts Monographien «Cicero» (1977), «Sappho» (1980), «Augustus» (1984), «Vergil» (1986), «Ovid» (1991), außerdem: «Das Geheimnis der Mysterien. Antike Kulte in Rom, Griechenland und Ägypten», Zürich–München 1990, ND Düsseldorf–Zürich 2000; «Cicero zum Vergnügen», eine Auswahl aus seinen Werken und Briefen, Stuttgart (Reclam) 1997; «Das Orakel von Delphi. Geschichte und Texte», Stuttgart (Reclam) 2001; «Reisen in der Antike», Düsseldorf–Zürich 1999; «Kaiser Julian Apostata. Die Wiederkehr der alten Götter», Düsseldorf–Zürich 2002; «Tiere in der Antike», Darmstadt–Stuttgart 2003; «Träume in der Antike», Stuttgart (Reclam) 2006; «Dichter Kaiser Philosophen. Ein literarischer Führer durch das antike Italien», Stuttgart (Reclam) 2007; «Rosen und Reben. Gärten in der Antike», Darmstadt 2011; «Vademecum. Homer, Cicero & Co. für unterwegs», Stuttgart (Reclam) 2015.

Der homo novus aus Arpinum

Wie so viele bedeutende Vertreter des Römertums ist auch Marcus Tullius Cicero nicht in Rom geboren. Er kam am 3. Januar 106 v. Chr. in Arpinum zur Welt, einem kleinen Landstädtchen im Volskerland am Flusse Liris, etwa 100 Kilometer südöstlich von Rom. Dort besaß die Familie ein Landgut. Der Vater gehörte dem römischen Ritterstand an und hatte als Bürger von Arpinum das Stimmrecht in der Tribus Cornelia in Rom, einem der städtischen Wahlbezirke. Die Mitglieder des römischen Ritterstandes, des ordo equester, nahmen in der politischen Rangordnung die zweite und minder angesehene Stellung ein nach der Nobilität, einem exklusiven Kreis miteinander versippter stadtrömischer Adelsfamilien, die fast ausschließlich die Beamten für die Staatsverwaltung stellten: Konsuln, Praetoren, Prokonsuln und Zensoren, die das Imperium Romanum in der Form einer aristokratisch geführten Republik regierten. Aus diesen Magistraten rekrutierte sich dann der Senat, dem als kontinuierlichem Verfassungsorgan neben den jährlich wechselnden Beamten das stärkste politische Gewicht zukam. Zur Nobilität durften sich alle ehemaligen Beamten rechnen, die ihren Sitz im Senat einnahmen, im strengeren Sinne gehörten jedoch nur die Abkömmlinge jener Familien dazu, die bereits einen oder mehrere Konsuln gestellt hatten. Die römische Nobilität war also ein Amtsadel. Wie sehr und wie ausschließlich die römische Politik, deren Parteienwesen nicht mit unserem heutigen gleichzusetzen ist, auf einer engen Verflechtung dieser Adelsfamilien beruhte, haben uns neuere Forschungen gelehrt.

Der Einfluss der Politiker basierte neben der Unterstützung durch die befreundeten und verwandten Adelsfamilien vor allem auf der Institution der Klientel, einem Gefolgschaftswesen besonderer Art. Die Klienten, sozial niedriger stehende Bürger aus Stadt und Land, begaben sich in den Schutz eines adligen Patrons, der ihre Interessen wahrnahm. Dafür gaben die Klienten dem Patron ihre Stimme bei den Wahlen und bildeten sein Gefolge bei politischen Auftritten. Das Ansehen eines Politikers wurde unter anderem danach bemessen, wie viele Leute sich beim Morgenempfang in seinem Hause drängten. Darunter befanden sich neben den eigentlichen Klienten noch zahlreiche höhergestellte Personen, die aufgrund erwiesener Dienste – zum Beispiel Verteidigung vor Gericht – in einem formlosen, aber dennoch höchst verpflichtenden Dankbarkeitsverhältnis zu dem Patron standen. Diese Verwandtschafts-, Gefolgschafts- und Gefälligkeitsbindungen spielten die entscheidende Rolle im politischen Leben, und ein Mann, der in Rom Karriere machen wollte, ohne aus einer der führenden Adelsfamilien zu stammen und ohne eine illustre Reihe von Verwandten in den höchsten Staatsämtern aufweisen zu können, befand sich von vornherein in der Außenseiterrolle. Er war der homo novus, der neue Mann, der Emporkömmling, der meist zeit seines Lebens nicht als völlig ebenbürtig galt und ständig um die Anerkennung der adelsstolzen Aristokraten zu ringen hatte. Wie zäh die Nobilität ihren Vorrang behauptete, zeigt die Tatsache, dass vom Jahre 366 v. Chr. bis zu Ciceros Konsulat im Jahre 63 v. Chr. nur fünfzehn homines novi aus dem Ritterstand zum Konsulat aufgestiegen waren. Cicero war ein solcher homo novus, ein politischer Selfmademan, und dass er sich zeitlebens mit den aus dieser Lebenssituation erwachsenen Schwierigkeiten konfrontiert sah, hat ihn geprägt.

Vieles in seinem Leben ist nur unter diesem Aspekt zu verstehen. An Cicero offenbaren sich die charakteristischen Merkmale des homo novus mit besonderer Deutlichkeit: Die Unebenbürtigkeit stachelt ihn zu großen Leistungen an, zum Brillieren auf einem bestimmten Gebiet, sei es die Redekunst oder die Wissenschaft, um so den anderen überlegen zu sein und von ihnen anerkannt zu werden. Die Sonderstellung der «neuen Männer» bringt es mit sich, dass sie die Probleme ihres neuen Standes besonders kritisch und distanziert zu sehen vermögen und dass sie gleichzeitig dessen Normen und Wertbegriffe am hartnäckigsten verteidigen, weil sie ihnen nicht durch eine adlige Herkunft, sondern durch eigene Erkenntnisse zuteilgeworden sind. Es war der homo novus Cicero, der am leidenschaftlichsten die politische und moralische Regeneration des Senatorenstands forderte und niemals müde wurde, diese als Voraussetzung eines gesunden und leistungsfähigen Staatswesens ins Bewusstsein aller zu bringen. Über seine Benachteiligung beim Aufstieg bemerkt Cicero: Mir stand nicht das Gleiche offen wie denen, die hochwohlgeboren sind, denen die Ehren und Auszeichnungen des römischen Volkes im Schlaf zufallen, ich musste unter einem ganz anderen Gesetz und anderen Bedingungen hier in diesem Staate leben.[1]

Noch im Jahre 54 v. Chr. nannte man ihn spöttisch den «Romulus aus Arpinum», was ihn aber nicht hinderte, sich nach wie vor zu seinem Geburtsort zu bekennen, dem er in seiner Schrift de legibus (Von den Gesetzen) ein Denkmal gesetzt hat. Dort erzählt er seinem Freund Atticus, dass er so gern in Arpinum weilt, denn hier ist eben genaugenommen die eigentliche Heimat für mich und meinen Bruder. Von hier stammen wir, aus einer alten, eingesessenen Familie, hier sind unsere Familienheiligtümer, hier steht unser Stammhaus und alles, was an die Vorfahren erinnert. Was soll ich noch viele Worte machen? Du siehst hier das Gutshaus, so wie es jetzt ist, etwas ansehnlicher umgebaut von meinem Vater, der seine Sorge darauf verwandt hat. Hier hat er sein Leben mit seinen Büchern verbracht, mit seiner Gesundheit stand’s nicht zum Besten. Und hier an diesem Ort bin ich geboren, als der Großvater noch lebte und das Haus noch klein und bescheiden war, wie eben damals üblich, ganz wie das Häuschen des Curius im Sabinerland. Darum steckt irgendetwas tief in mir, weshalb mir der Aufenthalt an diesem Ort so ganz besonders wohltut. Aber schließlich hat es ja auch seinen Grund, dass, wie es heißt, jener berühmte kluge Mann die Unsterblichkeit zurückgewiesen hat, nur um sein Ithaka wiederzusehen.[2] Und er fährt fort, jeder Bürger eines Municipiums, einer Landstadt, habe eine zweifache Heimat: Rom, dessen Bürgerrecht er besitze und dem jeder seine Dienste widmen müsse, und den Ort, der ihn gezeugt habe.

Der Familie Ciceros, obschon zum Ritterstand gehörig, fehlte es nicht an Verbindungen zu Senatorenkreisen in Rom. So waren zwei Familienmitglieder, Gratidius, der Bruder der Großmutter, und Aculeo, der Onkel, mit den berühmten Rednern und Konsularen Marcus Antonius und Lucius Licinius Crassus befreundet. Diese Verbindung zur stadtrömischen Nobilität galt es auszunutzen, um Marcus und seinem vier Jahre jüngeren Bruder Quintus die denkbar beste Erziehung und Ausbildung zuteilwerden zu lassen und damit die Voraussetzung für eine politische Karriere zu schaffen. Deshalb zog der Vater mit den beiden Söhnen nach Rom, wo er am Esquilin ein Haus besaß, um sie dort unterrichten zu lassen.

Jugendjahre in Rom

Schon zu Beginn des Schulunterrichts, der nach den Richtlinien des Redners Crassus erfolgte, zeigte sich die außergewöhnliche, mit großem Fleiß und Eifer verbundene Begabung des jungen Marcus. Er selber spricht davon, dass ihm von seiner Knabenzeit an die homerische Maxime als Leitstern diente: «Immer der Erste zu sein und sich auszuzeichnen vor andern.»[3] Im Jahre 90 v. Chr. empfing Cicero aus den Händen des Vaters die toga virilis, die Männertoga. Dies war ein feierlicher Akt, der den Eintritt in die Erwachsenenwelt bezeichnete. Der junge Mann wurde in festlichem Zug aufs Forum geleitet, und dort erfolgte die Eintragung in die Bürgerliste. Anschließend wurde er der römischen Sitte gemäß in der Form der deductio führenden Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens beigegeben. In deren Gefolge wurde er Zeuge des Wirkens der Politiker auf dem Forum und im Senat und lernte so die politische Praxis kennen. Der hochverehrte Crassus war 91 v. Chr. gestorben, und Cicero kam zu einem berühmten Rechtsgelehrten, dem Augur Quintus Mucius Scaevola. Dieser war schon hochbetagt. Er hatte im Jahre 117 v. Chr. das Konsulat innegehabt. Cicero nahm an den Rechtsberatungen des Scaevola teil und legte damit den Grundstein zu seiner profunden Kenntnis des privaten und öffentlichen Rechts. Zugleich lernte er im Hause des Scaevola alle führenden Männer seiner Zeit kennen.

Das Wichtigste aber war die Verbindung des alten Scaevola mit der Ideenwelt des Scipionenkreises und die grundlegende geistige Prägung, die Cicero aus dieser lebendigen römischen Tradition heraus erhielt. Scaevolas Schwiegervater war Laelius gewesen, der hochgebildete, feinsinnige Freund des jüngeren Scipio Africanus, des Zerstörers von Karthago. Um diesen Scipio, eine der berühmtesten Persönlichkeiten Roms, hatte sich ein Kreis führender Männer gebildet, Griechen wie Römer, die in ihrer Aufgeschlossenheit für die geistigen und kulturellen Strömungen ihrer Zeit die erste und zugleich äußerst bedeutungsvolle Begegnung des Römischen mit dem Geist des Hellenentums ermöglichten.

Um die Mitte des 2. vorchristlichen Jahrhunderts hatte Rom den griechischen Osten erobert, 146 v. Chr. war Griechenland als Provinz Achaia dem Weltreich eingegliedert worden. Es waren nicht nur die materiellen Werte der fremden Kultur, die Reichtümer des Ostens mit ihren schädlichen, zersetzenden Einflüssen, die in der Folge dieser Eroberung nach Rom gelangten und gegen die ein Cato wetterte: Auch die griechische Philosophie und ihr Menschenbild fand Eingang in das römische Denken und schuf schließlich in der Verschmelzung mit römischer Art die spezifische Geisteshaltung der humanitas. Sie bezeichnet kurz gesagt das, was den Menschen zum Menschen macht, seine Kulturtätigkeit, die Vergeistigung des Lebens, und zugleich ein bestimmtes Verhältnis von Mensch zu Mensch, das wir human nennen. Horaz beleuchtet nur die eine Seite dieses Übernahmevorgangs, wenn er in seinen berühmten Versen sagt:

Graecia capta ferum victorem cepit et artis

Intulit agresti Latio. (Griechisch Land ward erobert, erobernd den rauen Besieger führt’ es die Kunst in Latium ein, beim Volke der Bauern.)[4]

Dass diese Übernahme griechischen Gedankengutes nicht zur bloßen Adaption wurde, sondern zu etwas Neuem führte, zu dem die griechische Philosophie einerseits und das römische Tugend- und Wertesystem andererseits zu gleichen Teilen beisteuerten, war vor allem das Verdienst solch hervorragender Persönlichkeiten, wie sie sich im Scipionenkreis zusammengefunden hatten. Die beiden bedeutendsten Griechen ihrer Zeit, der stoische Philosoph Panaitios und der Historiker Polybios, lebten hier ohne den damals weitverbreiteten griechischen Dünkel, zwar militärisch besiegt, aber geistig turmhoch überlegen zu sein, mit den römischen Politikern Scipio, Laelius und Rutilius Rufus in geistigem Austausch zusammen. Dieser Kreis wurde in den Gesprächen des alten Scaevola lebendig, wie Cicero zu Anfang seines philosophischen Dialogs Laelius berichtet. In seinem Hauptwerk de re publica (Vom Staat) setzt er dann Scipio Africanus und seinen Freunden ein Denkmal. Ohne Zweifel sind sie von Cicero stark idealisiert worden, sie spielten für ihn, den homo novus, die Rolle einer geistigen Ahnengalerie. So hebt er später den adelsstolzen Römern gegenüber seine Geistesverwandtschaft mit dem jüngeren Africanus hervor, eine Verwandtschaft aufgrund gleicher staatsmännischer Tugenden und der Beschäftigung mit den Wissenschaften, die sozusagen nicht weniger eng ist als die, auf die ihr euch so wohlgefällig beruft, die des Stammes und des Namens[5]. Die Mitglieder des Scipionenkreises und andere berühmte Staatsmänner, die vom griechischen Geist durchdrungen und der römischen res publica verpflichtet waren, wurden in diesem Stadium seiner Entwicklung zu seinen Vorbildern, die für sein politisch-philosophisches Denken zeitlebens bestimmend blieben.

Nach dem Tode des Augurs Scaevola – etwa 87 v. Chr. – kam Cicero in die Obhut eines anderen Mannes aus dieser Familie, des Pontifex Maximus Quintus Mucius Scaevola, Konsul 95 v. Chr. Auch bei ihm betrieb er Rechtswissenschaft, bis der plötzliche Tod des Pontifex – er wurde 82 v. Chr. ermordet – Ciceros tirocinium fori, seiner Ausbildungszeit, ein Ende setzte.

In den Jahren 90/89 v. Chr. war Cicero Soldat im Bundesgenossenkrieg. Die Italiker – sie besaßen nur den rechtlichen Status von Bundesgenossen – hatten, nachdem ihnen das römische Bürgerrecht verweigert worden war, im Jahre 91 v. Chr. einen blutigen Krieg entfesselt, der ihnen nach hohen Verlusten auf beiden Seiten 89 v. Chr. die Gleichstellung mit den Römern brachte. Doch dieser Krieg war nur der Auftakt zu einem Jahrhundert politischer Wandlungen und gewaltsamer Veränderungen, in dem die römische Republik, von Kriegen und innenpolitischen Wirren erschüttert, schließlich durch die Herrschaft eines einzelnen Mannes abgelöst wurde.

Bereits das 2. Jahrhundert hatte große Umwälzungen gebracht und die politische Szene der Mittelmeerwelt verwandelt. Rom besiegt 197 v. Chr. Philipp V. von Makedonien, 189 v. Chr. Antiochos III. von Syrien, 168 v. Chr. Philipps Sohn Perseus, erobert und zerstört 146 v. Chr. Karthago und Korinth und wird damit zum Schiedsrichter der Mittelmeerwelt. Die innenpolitischen Folgen der langen Kriege und des Aufstiegs zur Weltmacht haben Italien und Rom nachhaltig verändert.

Die Verwüstungen des 2. Punischen Krieges (218–201) und die langjährige Abwesenheit der Kleinbauern während des Kriegsdienstes in fremden Ländern haben eine neue Struktur der Agrarwirtschaft gebracht: Die unbebauten Ackerflächen werden in Latifundien, in große Güter, umgewandelt, die die Großgrundbesitzer durch Sklaven und Kriegsgefangene bewirtschaften lassen. Da die Eroberung des Ostens den Massenimport von billigem Getreide ermöglicht und den eigenen Anbau unrentabel macht, stellt man sich auf Plantagenwirtschaft mit Viehzucht und Anbau von Wein und Ölbäumen um. Die besitzlos gewordene Masse der Landbewohner strömt in Rom zusammen und bildet dort die Plebs, ein großstädtisches Proletariat, das durch Getreidespenden vom Staat unterhalten wird und einen ständigen Unruheherd darstellt. «Panem et circenses», Brot und Spiele, lautet sein Schlachtruf; die Auswüchse der römischen Wahlkämpfe mit Bestechungen unerhörten Ausmaßes und blutigen Straßenschlachten sind ohne diese Entwicklung nicht denkbar. Während die besitzlosen Massen immer weiter verelendeten, wurde die Nobilität immer reicher durch die aus den hemmungslos ausgebeuteten Ostprovinzen nach Rom strömenden Geldmittel und Luxusgüter.

Die Reformbewegung der Gracchen wollte diesem Übelstand entgegenwirken. Zuerst versuchte Tiberius Gracchus 133 v. Chr. mit Hilfe eines Landverteilungsgesetzes eine Neuansiedlung der besitzlosen Massen auf dem Lande zu erreichen, und nach ihm strebte sein Bruder Gaius eine noch weitergehende Reform des Staates an. Die gracchische Bewegung endete jedoch in blutigen Unruhen mit dem Tode der beiden Brüder. Ihre Bemühungen stießen nämlich auf den stärksten Widerstand der nobiles, der Optimaten, die eine Enteignung ihres Besitzes und eine Schmälerung ihrer politischen Position befürchteten. Andererseits mobilisierten die durch die gracchische Bewegung geweckten Hoffnungen die Masse der Besitzlosen und formten sie zu einer politischen Gruppe, die man als Volkspartei bezeichnen kann. Deren Anhänger, die populares, besaßen zwar keine feste Bindung im Sinne einer modernen Partei, sie ließen sich aber von geschickten Politikern als Anhängerschaft und Gegenpol zur Nobilität, den Optimaten, gebrauchen. Dabei müssen jedoch Begriffe wie demokratisch als Definition für die Volkspartei und deren Führer beziehungsweise aristokratisch für die Nobilität ferngehalten werden. Ein Politiker wie Cicero oder Cato rechnete sich zur Nobilität, ohne damit das demokratische Element, das die Volksversammlung verfassungsmäßig darstellte, abzulehnen. Wie wenig andererseits ein Politiker als demokratisch im modernen Sinne zu bezeichnen ist, der als Führer der Volkspartei auftrat, zeigt das Beispiel Caesars, der sich auf die Popularpartei stützte, um die Alleinherrschaft zu erringen. Die Bezeichnung eines Politikers als popular oder optimatisch gibt im Grunde nur darüber Aufschluss, ob er sich zur Durchsetzung seiner Ziele mehr auf die Volksversammlung oder auf den Senat stützte.

Die Folgen dieser sozialen und wirtschaftlichen Missstände seit der Gracchenzeit bildeten den politischen Zündstoff für das ganze folgende Jahrhundert. Was wir als wirtschaftlich-soziales Problem bezeichnen, war für die Antike hauptsächlich eine moralische Frage. Das geschichtliche und politische Denken der Römer wurzelte zutiefst in ethischen Vorstellungen. Das Ideal war die res publica der Vorfahren, die ihre Stärke aus ihrer moralischen Integrität bezogen hatte; seitdem drohte immer die Gefahr eines Abstiegs. Die Zeitgenossen waren sich bewusst, dass die republikanische Staatsform seit dem Ende des 3. Punischen Krieges und der Eroberung des Ostens in eine Krise geraten war. Scipio Nasica hatte dem ständigen Drängen des alten Cato: «Ceterum censeo Carthaginem esse delendam» (Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Karthago zerstört werden muss)[6], seinerzeit die Forderung entgegengestellt, Karthago zu erhalten. Er soll dies in der Absicht getan haben, durch die drohende Gegenwart des alten Erbfeinds Roms innere Kräfte zu stärken und seine Disziplin zu bewahren. Auch Cato warnte immer wieder davor, die altrömische Art preiszugeben und sich den negativen Einflüssen des Griechentums, seiner übertriebenen Individualisierung und Bindungslosigkeit, sowie den Annehmlichkeiten seiner Zivilisation hinzugeben. Die Abwendung von altrömischer Sitte, die sich auch im Egoismus der Reichen und dem mangelnden Verantwortungsgefühl für die Abhängigen und Untertanen zeigte, wurde von Cato scharf gegeißelt. Er wie auch Polybios und später Sallust und Cicero sahen die Lösung des Problems nur in einer radikalen Sinneswandlung der führenden Kreise: Abkehr von Habgier und Luxusstreben, Hinwendung zur verantwortungsbewussten, schlichten Art des – freilich stark idealisierten – alten Römertums. Auf den ersten Blick mag diese antike Anschauung als eine starke Vereinfachung des Problems erscheinen, doch bleibt die Frage, ob nicht jedem sozialen Problem letztlich ein moralisches zugrunde liegt, des Nachdenkens wert.

In den folgenden Jahren wurde Rom von neuen Gefahren bedroht: Die Kimbern und Teutonen standen an den Grenzen Italiens. Um dieser Gefahr zu begegnen, wählte der Senat Gaius Marius, wie Cicero ein homo novus aus Arpinum, fünfmal hintereinander zum Konsul (104–100 v. Chr.). Dieser reformierte das Heerwesen und ersetzte das Bürgeraufgebot durch ein Berufsheer, zu dem die besitzlosen Bürger Italiens und das großstädtische Proletariat herangezogen wurden.

Die Truppe wurde dadurch ein schlagkräftiges Instrument in der Hand ihres Feldherrn, der sie nun freilich auch als persönliches Machtmittel in der Politik einsetzen konnte. Marius besiegte die Kimbern und Teutonen 102/101 v. Chr. bei Aquae Sextiae und Vercellae, und als sich im Osten unter der Führung von König Mithridates VI. von Pontus eine neue Bedrohung des Römischen Reiches abzeichnete, sollte der siegreiche Feldherr nach dem Wunsch der Volkspartei den Oberbefehl in diesem sogenannten 1. Mithridatischen Krieg erhalten. Doch dieses Amt war durch das Los bereits Lucius Cornelius Sulla zugefallen, einem entschiedenen Anhänger der Nobilität, der in den vorangegangenen Kriegen großes militärisches und politisches Geschick gezeigt hatte und zum Konsul für das Jahr 88 v. Chr. gewählt worden war. Die Anhänger des Marius und die Gegner der Senatspartei erreichten in gemeinsamem Vorgehen durch einen Volksbeschluss, dass man Sulla das ihm rechtmäßig zugefallene Oberkommando wieder abnahm und es dem Marius übertrug. Darauf trat Sulla den Marsch auf Rom an und entfesselte damit einen blutigen Bürgerkrieg. Er zog als Sieger in Rom ein, errichtete jedoch keine Militärdiktatur, sondern stellte die Macht des Senats wieder her und zog dann in den Osten. In der Zwischenzeit bemächtigten sich Marius und sein Parteifreund Cinna der Herrschaft und errichteten ein Schreckensregiment in Rom, dem zahlreiche Mitglieder der Nobilität zum Opfer fielen. 82 v. Chr. kehrte Sulla als Sieger über Mithridates nach Rom zurück und hielt ein blutiges Strafgericht. Seine Feinde wurden in den berüchtigten Proskriptionslisten namentlich bekanntgemacht und für vogelfrei erklärt. Wer sie tötete, erhielt eine Belohnung, ihre Güter wurden eingezogen und versteigert. Dann ließ sich Sulla zum Diktator ernennen.

Die altrömische Form der Diktatur übertrug in Krisenzeiten einem Beamten außerordentliche Vollmachten und war auf höchstens sechs Monate begrenzt. Sullas Stellung jedoch ging weit darüber hinaus. Um die Nobilitätsherrschaft zu sichern, führte er eine Neuordnung der Verfassung durch. Zu seinen wichtigsten Regelungen gehörte Folgendes: Die Gerichte wurden nur mit Senatoren besetzt, die Ritter waren ausgeschlossen. Das Amt der Volkstribunen, das ausgleichend zwischen Senat und Volksversammlung wirken sollte, aber oft als Agitationsbasis gegen die Senatsherrschaft benutzt worden war, wurde völlig abgewertet. Diese Anordnungen wurden später wieder aufgehoben, die dritte blieb jedoch weiterhin in Kraft: Die höchsten Beamten, Konsuln und Praetoren, gingen nach Ablauf ihrer Amtszeit, während der sie in Rom mit Aufgaben der Zivilverwaltung beschäftigt waren, anschließend für ein weiteres Jahr als Prokonsuln oder Propraetoren in eine Provinz. Die Statthalterschaft war verbunden mit dem imperium, der obersten militärischen Befehlsgewalt, die automatisch mit dem Ablauf des Amtsjahrs erlosch. Damit wurde der Beamte wieder zum Privatmann und musste darauf gefasst sein, wegen etwaiger Übergriffe vor Gericht gezogen zu werden. Die sullanische Neuordnung, zu der außerdem eine Veteranenansiedlung größeren Ausmaßes gehörte, brachte im Einzelnen manche positiven Maßnahmen, doch bot sie im Ganzen durch ihren starren, restaurativen Charakter viele Angriffsflächen und bereitete den Boden für neue innenpolitische Spannungen.

In dieser Zeit des Bürgerkriegs und der sullanischen Diktatur beendete Cicero seine Lehrjahre und begann nach Ableistung der Militärzeit seine Karriere. Die Ausbildung zielte auf die übliche römische Ämterlaufbahn, für die sich der junge Römer als Anwalt die Sporen verdiente. In aufsehenerregenden politischen Prozessen vermochte er die für die Wahlen so nötige Popularität zu erringen und konnte sich zugleich politisch profilieren. Da in Rom im Gegensatz zu Griechenland der Angeklagte vor Gericht nicht selber das Wort ergriff, sondern sich durch seinen Anwalt vertreten ließ, trug dieser die volle Verantwortung für seinen Klienten. Er war der patronus, und das Verhältnis zwischen Klient und Anwalt war auf fides, auf Treue und Pflichtbewusstsein, gegründet. So konnte sich der Anwalt durch seine Gerichtstätigkeit eine Klientel schaffen, was besonders für einen homo novus, der nicht schon durch seine Familienzugehörigkeit eine große Anhängerschaft besaß, von ausschlaggebender Bedeutung war. Cicero wurde also Anwalt. Er ist diesem Beruf zeit seines Lebens treu geblieben und hat in ihm die größten und unbestrittensten Erfolge seiner Laufbahn gehabt.

«Da kaum ein Mensch heute ‹De inventione› liest, ahnt man wenig vom Reichtum dieser Schrift, die zwar meist traditionelles Gut, dieses aber in geistreicher, detaillierter Darstellung darbietet. […] Niemand hat unseres Wissens gerade hier die [zur Gewinnung des Hörers] nötigen Techniken feiner beschrieben als Cicero.»

Wilfried Stroh: Die Macht der Rede, S. 362

Rede und Wort sind für ihn nie nur Mittel zum Erreichen politischer Zwecke gewesen, das zeigt bereits seine rhetorische Jugendschrift de inventione (Von der rednerischen Erfindungskunst). Was sie über die üblichen, vom Griechischen beeinflussten und zum praktischen Gebrauch bestimmten rhetorischen Einführungsschriften hinaushebt, ist ihr philosophisch-politischer Charakter. Ratio atque oratio, beides gehört zusammen: Vernunftgemäßes, verantwortungsbewusstes Handeln darf von der Redekunst nicht getrennt werden, da sie sonst zum Werkzeug in der Hand des Demagogen wird, so lautet ein Kernsatz.[7] Die Redekunst ist immer auf die res publica als höchstes Ziel bezogen. Gerade weil die Gefahr eines Missbrauchs so groß und so folgenschwer ist, meint Cicero, müssen die verantwortungsbewussten Bürger sich der oratio mit allem Eifer widmen, um dem Zerstörungswerk der Schlechten Einhalt zu tun. Die Redekunst ist, vorausgesetzt, sie wird durch die Vernunft geleitet, in der Lage, dem Staat die meisten Vorteile zu bringen; sie verhilft zu Ansehen und Würde und verleiht ihren Freunden den sichersten Schutz. Diese Auffassung der Redekunst ist ein Programm, dem sich Cicero immer verpflichtet gefühlt hat, und es ist nicht verwunderlich, dass er als Gewährsmänner dafür Mitglieder seiner selbstgewählten Ahnengalerie auftreten lässt: Scipio, Laelius und den homo novus Cato Censorius.

Cicero fand bald Gelegenheit zu einer ersten rednerischen Bewährungsprobe: Nach einem Zivilprozess (Pro Quinctio) trat er, sechsundzwanzigjährig, als Anwalt in einem Mordprozess mit stark politischem Akzent ans Licht der Öffentlichkeit. Sextus Roscius, ein Landedelmann aus der kleinen umbrischen Stadt Ameria, war angeklagt worden, seinen Vater durch gedungene Helfershelfer in Rom ermordet zu haben. Obwohl zum Zeitpunkt der Tat (Herbst 81) die Proskriptionen bereits abgeschlossen waren, erschien der Name des alten Roscius auf der Schwarzen Liste, und sein Vermögen – über ein Dutzend ansehnliche Landgüter – kam zur Versteigerung. Ein Günstling und Freigelassener des Sulla, Chrysogonus, der sich eine starke Machtposition geschaffen hatte, erwarb mit Hilfe zweier Neffen des Ermordeten den Großteil der Güter zu einem Schleuderpreis. Um ganz sicherzugehen, versuchte man, den Sohn und Erben durch eine Verurteilung wegen Mordes aus dem Wege zu räumen. Keine der namhaften Persönlichkeiten Roms wollte als Anwalt den Fall übernehmen; zu gefährlich schien es allen, sich wegen eines Bauern aus Umbrien die Feindschaft des Diktators zuzuziehen. Da wandten sich die vornehmen Gönner des Roscius, unter ihnen Caecilia Metella, an den jungen Cicero. Sie stellten ihm vor Augen, welch eine glänzende Gelegenheit dieser Fall für einen ehrgeizigen jungen Anwalt biete, zumal der Prozess der erste war, der nach den Zeiten des Ausnahmezustands wieder in den normalen Formen vor einem ständigen Gerichtshof verhandelt wurde. Er musste damit zum Präzedenzfall für die weitere Handhabung von Recht und Gesetz werden. Cicero nahm an und wusste es gleich zu Beginn seines Plädoyers geschickt zu vermeiden, die berühmten älteren Kollegen vor den Kopf zu stoßen. Er bezeichnete sich selber nämlich nur schlicht als den Mann mit dem geringsten Risiko. Die Hauptaufmerksamkeit der zahlreichen Zuhörer war natürlich auf den politischen Teil des Prozesses gerichtet, und Cicero gebrauchte dabei den Kunstgriff, den Diktator Sulla so weit wie möglich herauszuhalten. Er stellte ihn dar als einen in den Staatsgeschäften aufgehenden Mann, der für die Taten eines jeden seiner Sklaven ebenso wenig verantwortlich zu machen sei wie Jupiter für Sturm und Unwetter. Doch vermeidet Cicero keineswegs die Auseinandersetzung mit der politischen Situation. Er bekennt sich zum Sieg der von Sulla geführten Nobilität – nachdem der von ihm gewünschte Vergleich gescheitert sei –, doch wenn dieser Sieg in Terrorakten und dem Emporkommen solcher Kreaturen wie Chrysogonus bestehe, so sei er verloren und verschenkt. An die Nobilität richtet Cicero ernste Ermahnungen: Wenn sie nur von Eigennutz und Gewinnstreben geleitet sei, werde sie ihre Vormachtstellung nicht halten können. Sie werde sie vielmehr mit denen teilen müssen, die nicht der Geburt, aber ihrer Gesinnung und Handlungsweise nach als nobiles anzusprechen seien. Dies ist nicht nur ein aktueller politischer Wink, dass die rein senatorisch besetzten Gerichte wieder abgeschafft werden und die Ritter wieder Zugang zum Geschworenenamt erhalten könnten, es ist Ciceros feste Überzeugung, die er während seines ganzen Lebens vertritt: Die Nobilität darf ihren Vorrang nicht der Geburt und Abstammung verdanken, den wahren Adel erwirbt man nur im Dienste der res publica, und man kann auch ein nobilis sein, ohne aus der Adelsclique zu stammen. Diese Gedanken, die hier schon mit großem Nachdruck vorgetragen werden, verdichten sich später zu Ciceros politischem Programm der concordia ordinum, der Eintracht zwischen Senat und Ritterschaft. Dieses Programm erfährt dann eine weitere Steigerung im consensus omnium bonorum, dem Zusammenschluss aller staatserhaltenden Kräfte, zu denen Cicero in seiner großen Rede für Sestius Männer aller Stände, ja sogar Freigelassene, rechnet.

Nach der Aufdeckung des raffinierten Planes des Chrysogonus und der Roscius-Neffen, die aller Wahrscheinlichkeit nach selber den alten Roscius aus dem Weg geräumt hatten, appelliert Cicero zum Schluss noch einmal an das Mitleid der Richter: