Marketing spüren - Christian Mikunda - E-Book

Marketing spüren E-Book

Christian Mikunda

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Beschreibung

Brandlands und Flagship Stores, Urban Entertainment Center und hippe Lokale gehören zu den neuen Erlebniswelten der Wirtschaft. Nach der durchgestalteten Wohnung und dem ästhetischen Arbeitsplatz sind die »Dritten Orte« jene öffentlichen Plätze, an denen man sich zu Hause fühlt und emotional auftanken kann. Sie sind Räume spektakulären Erlebnismarketings und »begehbarer Werbung« zugleich. Und sie bringen unsere Städte zum Leuchten, die ohne diese Lebensräume nur halb so attraktiv wären. In der aktualisierten Neuausgabe seines Marketing-Klassikers berichtet Christian Mikunda von den neuesten Trends bei der Inszenierung von »Dritten Orten«. Das »Giga-Phänomen« hat Riesenschiffe mit eigenem Central Park und Amphitheater am offenen Heck genauso hervorgebracht wie Hotels mit 150 Meter langem Infinity Pool in 200 Metern Höhe. Die neue Disziplin des »Urban Designs« verwandelt unsere Städte in Spielplätze für Erwachsene oder lässt uns etwa durch 50 Meter hohe Bäume spazieren, die eigentlich hängende Gärten sind. Das Buch ist Inspiration und unerlässliches Grundlagenwerk für jeden Marketingschaffenden!

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Seitenzahl: 302

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

4. aktualisierte und überarbeitete Neuauflage 2016

© 2012 by Redline Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespei-chert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Redaktion: Bärbel Knill, Landsberg am Lech

Umschlaggestaltung: Melanie Melzer, München

Umschlagabbildung: siehe Bildnachweise

Satz: inpunkt[w]o

ISBN Print 978-3-86881-601-3

ISBN E-Book (PDF) 978-3-86414-752-4

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-86414-751-7

Inhalt

Marketing spüren

Prolog zur Neuauflage

1. Willkommen am Dritten Ort

Warum Erlebnisse verkaufen

Rezeptbuch der neuen Erlebniswelten

I. Besuche bei Marke und Werk

2. Brandlands

Markenaufladung durch permanente Ausstellungen

Der Ort des Begreifens

Der Ort der Verehrung

Der Ort des Begehrens

3. Messen und Expos

Schaulust und Besucherfrust

Die Gerümpel-Totale

Seelenmassage

Branding

II. Ausgehen und Feste feiern

4. Stadt-Events

Feiern in der »Community«

Bespielte Plätze

Extravaganzas

Zeremonien und Public Viewing

5. Urban Entertainment Center

Die neuen Stadtzentren

Resort Based Entertainment Center

Show Based Entertainment Center

Destination Based Entertainment Center

6. Hip-Lokale

Restaurants und Bars als Sensation

Lokale zum Staunen

Die neuen Themenlokale

III. Einkaufsorte als hochwertige Unterhaltung

7. Flagship Stores

Die Visitenkarten der Handelsunternehmen

Sakrale Shops

Lifestyle-Shops

Mega Stores

8. Concept Stores

Die Lust am Spiel im Shop

Waren, die Spaß machen

Läden, die Spaß machen

9. Design Malls

Shoppingcenter als Architekturerlebnis

Kunst der Designklammer

Kunst der Verkaufspromenade

Kunst der »Sensationen«

IV. Der öffentliche Raum als Erlebnisraum

10. Convenience & Mixed Use

Das Erlebnis des reibungslosen Ablaufs

Convenience Entertainment – Laufen wie geschmiert

Mixed Use Development – Allzeit bereit

11. Mood Management: Lobbys & Lounges

Zwischenorte werden zu Hauptplätzen

Entspannende Orte

Anregende Orte

12. Urban Design

Permanente Inszenierungen im Stadtmarketing

Landmark

Malling

Concept Line

Core Attraction

Wir sind Weltmacher

Epilog zur Neuauflage

Danksagung

Der Autor

Glossar

Adressen

Bildnachweise

Marketing spüren

Prolog zur Neuauflage

Mit diesem Buch, das im Jahr 2002 erstmals erschien, wollte ich eine Art des Marketings bekannter machen, die man geradezu körperlich spüren kann – an den inszenierten Orten der Wirtschaft und als höchst raffiniertes Raumerlebnis mit verkaufsfördernder Wirkung.

Ich hatte dafür zwölf Formate des Erlebnismarketings, deren Psychologie und dramaturgische Cocktails identifiziert. Was sind die drei Wege für ein inszeniertes Firmengelände? »Erklären, verehren, begehren«, hatte ich damals über Brandlands geschrieben. Warum muss man auf Messen immer unter der gefürchteten »Gerümpeltotale« leiden? Was unterscheidet einen Flagship Store von einem Concept Store? Wie treten unsere Städte durch spektakuläre Stadt-Events gegeneinander um zahlende Touristen an? Wie schafft man es, etwas so Komplexes wie eine Shopping Mall zu planen? Marketing spüren sollte psychotechnischer Leitfaden für Entwickler sein und Aufklärung für all jene Konsumenten bieten, die wissen wollten, warum sie an manchen Orten fasziniert und an anderen verärgert sind.

Und dann – WOW! Plötzlich waren die Orte des Erlebnismarketings wirklich überall. Auf dem Bahnhof der Schweizer Provinzstadt Aarau kann man heute eine Lichtinszenierung erleben, die eine derart großartige Seelenmassage für gestresste Pendler macht, wie man es früher nur in Chicago oder Tokio erwartet hätte. Aus den uncharmanten Bergstationen österreichischer Seilbahnen wurden beinahe flächendeckend großartige Bergtempel mit Lifestyle-Touch. Und in deutschen Städten reiht sich im Sommer an jedem Gewässer ein Stadtstrand an den anderen – neue Zentren des Ausgehens in der Stadt.

Aus vereinzelt auftretenden Highlights wurde ein allgegenwärtiges Phänomen. Dass die moderne westliche Welt heute so aussieht, wie sie aussieht, hat sie vor allem den inszenierten Orten der Wirtschaft zu verdanken – im Guten wie im Schlechten. Man könnte sagen, dass nicht nur die Natur, die Kraft des Kapitals oder die sozialen Werte die Erde umspannen, sondern auch die ästhetisch präzisen Inszenierungen ein Band sind, das »die Welt im Innersten zusammenhält«.

Daher liegt mit dieser Ausgabe jetzt eine komplett aktualisierte Neuauflage von Marketing spüren vor, mit einer Vielzahl aktueller Beispiele, einem schärferen Blick auf die Verschmelzung von stationärem Verkauf und Onlinehandel und einem total neuen Kapitel über die Disziplin des »Urban Design«, die es zur Jahrtausendwende, als dieses Buch entstand, noch gar nicht gab.

Neu ist auch, dass sich im Zeitalter der allgegenwärtigen Inszenierungen zwei ganz konträre Möglichkeiten entwickelten, um inszenierte Wirtschaftsorte zu positionieren. Ein eher amerikanischer und asiatischer Weg sind die Mega-Hubs wie Las Vegas oder Macao, die mit unglaublicher Strahlkraft die Menschen wie ein Magnet anziehen. Im Umkreis von etwa fünf Flugstunden reisen die Konsumenten an, um über wahre Weltwunder zu staunen. Der eher europäische Weg ist das Experience Snacking (© Gottlieb Duttweiler Institut) für den authentischen Erlebnishappen zwischendurch. Er bedient das Bedürfnis nach schnellen »Ein-Minuten-Ferien«, die unsere Batterien wiederaufladen, wie etwa der zuvor erwähnte Lichttunnel am Bahnhof in Aarau.

Mega-Hub und Giga-Phänomen

Kürzlich reisten meine Frau Denise und ich mit 20 Managern in 18 Tagen und drei Stunden rund um die Welt. Wir wollten den Teilnehmern dieser globalen Lernexpedition vor Augen führen, dass sie alle Weltmacher sind, die unsere Erde nicht nur ökologisch nachhaltig, sondern auch psychoästhetisch präzise hinterlassen sollten. Denn wir alle entscheiden mit unseren Läden, Markenwelten, Hotellobbys und städtischem Design, ob uns unsere Welt guttut oder ob sie abstoßend ist und die Psychologie der Menschen mit Füßen tritt. Auf dieser unglaublichen Reise, von der in dieser Neuausgabe immer wieder zu lesen sein wird, analysierten wir die Struktur der Mega-Hubs. Ihre Strahlkraft, das haben wir verstanden, geht immer vom sogenannten Giga-Phänomen aus. In der Karibik erlebten wir, wie auf der Allure of the Seas, dem damals größten Kreuzfahrtschiff der Welt, ein echter Central Park mit Hunderten Bäumen und Sträuchern zum Flanieren mitten auf dem Meer einlädt, wie ein inszenierter Boulevard auf dem Giga-Liner Platz hat, eine Eislaufbahn, ein Open-Air-Theater mit einer artistischen Wassershow für 2000 Besucher, und das alles – dank Tausender Kunstwerke und Design-Installationen – mit einer gewissen urbanen Hochwertigkeit. Das Giga-Phänomen verdichtet die Welt wie in einer Nussschale und bläst zugleich deren Inszenierungen ins beinahe nicht mehr Realisierbare auf.

Auf derselben Reise landeten wir im Stadtstaat Singapur im Marina Bay Sands Resort. Weltweit zum ersten Mal wurde ein Hotel zum Wahrzeichen einer Stadt, ja eines ganzen Landes. Wie ein überdimensionales Bügelbrett überspannt das Resort drei Wolkenkratzer, in denen sich das Hotel befindet. In schwindelerregender Höhe verbindet ein 150 Meter langer Infinity Pool die Gebäude und ermöglicht das größte Glory-Erlebnis, das man weltweit in einem Hotel haben kann. Unter dem Hotel wartet ein großes Kasino, ein Musical-Theater und eine sehr große Mall mit Wasserinszenierungen. Vor dem Hotel liegen die »Gardens by the Bay« mit begehbaren und bis zu 50 Meter hohen »Giant Trees« wie in einer prähistorischen Saurierwelt, daneben zwei riesige Glashäuser mit Dschungelberg, Wasserfällen, Erlebniswegen. Auch hier schlägt das Giga-Phänomen zu. Eine ganze Welt erwartet uns in einer Nussschale, aber die ist unglaublich groß und fühlt sich auch gigantisch an. Im Kapitel über Urban Entertainment Center soll am Beispiel dieser beiden Welten klar werden, wie Mega-Hubs und ihre Giga-Welten psychologisch funktionieren und im Detail durch die Integration echter Natur und ästhetisch ansprechender Kunst auch kritischere europäische Zeitgenossen beeindrucken.

Experience Snacking und »Ein-Minuten-Ferien«

Europäischer muten allerdings die kleinen Erlebnishappen an, die uns die Wirtschaft im Vorbeigehen ermöglicht. Sie kriechen seit einigen Jahren unauffällig in unser Alltagsleben. Oft ist das Experience Snacking die Antwort auf unangenehme Begleitumstände, die durch einen Spritzer lustvoller Belohnung erträglicher gemacht werden sollen. In den alten, nicht durchgestalteten Shopping Malls klagten viele Konsumenten früher über lange Wege und schlechte Luft. Wer dann noch ein »Geschäft zu erledigen« hatte, musste sich oft erst durch lange, schlecht beleuchtete Gänge zu zweifelhaften Orten hinbewegen. Heute gehören Toilettenanlagen in allen Design Malls zu den wichtigsten marketingrelevanten Orten. Sie besitzen oft Chill-out-Bereiche vor der eigentlichen Anlage zum gegenseitigen Warten. Sie sind nicht nur hell und sauber, sondern oft wie kleine Tempelschreine oder Boudoirs, die Aufwertung, Schutz und Seelenmassage verheißen. Wer solcherart körperlich und emotional entlastet in die Shopping Mall zurückkehrt, hat wieder Kraft, sich den eigentlichen Angeboten zuzuwenden.

Aus demselben Grund wurden überall auf der Welt inszenierte Plätze als eine Art Wohnzimmer im öffentlichen Raum geschaffen. Für Raiffeisen Schweiz gestaltete die Avantgarde-Künstlerin Pipilotti Rist auf Plätzen rund um reichlich uninspirierte Bankgebäude ihre ironische Stadtlounge St. Gallen. Das Ganze erweckt den Anschein, als habe man einen riesigen knallroten Teppich über alles geworfen, was auf den Plätzen so herumstand, und jetzt klettern Kinder über Autos, die vorgeblich unter dem roten Teppich stecken, bestaunen Passanten den roten Springbrunnen unter dem Teppich und lassen Touristen sich auf Bänken nieder, über die der Teppich scheinbar gerollt wurde. Niemand würde dafür in Hongkong extra ins Flugzeug steigen, aber als kleines Entertainment zwischendurch ist die Stadtlounge bemerkenswert. Sie wird als Freizeiterlebnis en miniature empfunden, auch von den Bankern, die ihre Meetings inzwischen gern »auf dem Teppich« abhalten (siehe Abbildung im Farbteil).

Früher einmal, da waren Arbeitswelt und Freizeitwelt streng getrennt. Man besuchte die ausgewiesenen Orte der Freizeit – den Konzertsaal, den Fußballplatz, den Freizeitpark. Jetzt aber kommt die Freizeit auch direkt zu uns in den Alltag – an den Arbeitsplatz, ins Krankenhaus oder in den öffentlichen Raum in St. Gallen. Die »Ein-Minuten-Ferien« sind überall dort, wo sie gebraucht werden. So manches fortschrittliche Unternehmen ermöglicht daher seinen Mitarbeitern Mini-Urlaube im Büro. Bei Microsoft Wien kann man statt der Treppe auch die Rutsche nehmen, um von Stockwerk zu Stockwerk zu gelangen. Bei Google Zürich zieht man sich zum Telefonieren mit dem Handy in eine von vielen Seilbahngondeln zurück und relaxt vielleicht später in der gepolsterten Badewanne vor einer Allee von Aquarien.

Natürlich ist der Übergang vom Mega-Hub zum Experience Snacking gleitend und hat viele Zwischenformen. Doch beide Vorgehensweisen bewirken, dass dadurch die Aufenthaltsdauer der Menschen an den gestalteten Orten erhöht und ihre Erlebnisintensität verstärkt wird. An einem ganz besonderen Ort in Venedig kann man sehr gut erkennen, welche positiven Konsequenzen daraus erwachsen.

1. Willkommen am Dritten Ort

Zielstrebig betritt der Besucher das Museumsgelände der Peggy Guggenheim Foundation in Venedig. Er begleicht den nicht unerheblichen Obolus und rauscht durch die Sicherheitskontrolle in den vertrauten Garten, der ihn wie immer unverzüglich in einen Zustand der entspannten Beschwingtheit versetzt. Im Ausstellungsgebäude steht er einige Minuten vor einem bunten Bild von MirÓ, kurz vor einem Kandinsky und danach vor seinem Lieblingsgemälde von Magritte, auf dem es zugleich Tag und Nacht ist. Dann aber geht er sofort auf die Terrasse direkt am Canale Grande. Viele andere Besucher lehnen hier schon an der Steinbrüstung vor tuckernden Vaporetti und Gondeln im venezianischen Licht. Eine Firma, die ein neues Getränk mit merkwürdig grüner Farbe auf den Markt bringt, kredenzt Kostproben, und 20 Minuten vergehen wie im Flug.

Als der Besucher das erste Mal hier war, erforschte er noch ausführlich die wertvolle Sammlung von Gemälden und Skulpturen des 20. Jahrhunderts. Doch seither ist für ihn die emotionale Stimmung am Museumsgelände wichtiger als die Ausstellung selbst. Nach kurzen Stopps vor seinen Lieblingsbildern sitzt er lieber in der mit Efeu bewachsenen Steinlaube gleich neben den Gräbern von Peggy Guggenheim und ihren unzähligen Hunden, stöbert lange im Shop, trinkt einen Caffè Latte im Museumscafé, berührt zum Abschied, wie jedes Mal, den riesigen Glasstein im kunstvoll gestalteten Tor der Foundation. Obwohl nicht wirklich ein glühender Verehrer moderner Malerei, wurde er so zu einem regelmäßigen Gast des Museums, der Eintritt bezahlt, kleine Dinge kauft und etwas konsumiert.

Home away from home

Die Peggy Guggenheim Foundation gehört zu jenen Plätzen, an denen sich die legitimen Marketinginteressen an Zusatzverkauf und langer Aufenthaltsdauer mit der Sehnsucht der Menschen nach halb öffentlichen inszenierten Lebensräumen treffen. Es sind Orte, an denen man sich vorübergehend zu Hause fühlt und die emotional so stark sind, dass sie ihren Besuchern die Möglichkeit geben, sich selbst emotional aufzuladen. Peggy Guggenheim ist ein »Dritter Ort«.

Nach der gestalteten Wohnung und dem ästhetisch ansprechenden Arbeitsplatz gehören die sogenannten Dritten Orte in die Kategorie der neuen Freizeit. Der »Erste Ort«, das durchgestaltete Heim, war bereits eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. »Zeige mir deine Wohnung und ich sage dir, wer du bist«, formulierte einmal ein Schriftsteller. Die Ästhetik des Heims wurde zum Ausdruck des eigenen Ich, der Lifestyle war entdeckt. Man wohnte bescheiden biedermeierlich oder schwülstig-exotisch, wie es der Malerfürst Makart in Wien propagierte. In jedem Fall war der Mehrwert der Ästhetik noch ganz unter der Kontrolle des Einzelnen, der »inszenierte Lebensraum« war zu Hause.

Das sollte sich ändern, als man im Amerika der Sechzigerjahre die motivierende Kraft einer ästhetischen Arbeitsumgebung entdeckte. So entstand der »Zweite Ort«, der sich in weitläufigen Großraumbüros mit viel Licht, Luft und Grün äußerte und in Experimenten mit bunt gestrichenen Fabrikhallen. Mitarbeiter wurden seltener krank, identifizierten sich stärker mit dem Unternehmen, waren motivierter und somit produktiver, was den Chef freute. Somit war jetzt auch der Arbeitsplatz ein Stück weit »inszenierter Lebensraum«.

In den Achtzigerjahren schwappte der damals neue Trend zum erlebnisorientierten Marketing zunehmend auf den öffentlichen Raum über. Man begann Shops und Restaurants zu inszenieren, Museen wurden entstaubt, die ersten Erlebnishotels gebaut. Die Sinnlichkeit und Wohnlichkeit dieser Plätze brachte die Menschen dazu, auch diese halb öffentlichen Orte als persönlichen Lebensraum wahrzunehmen. Der Dritte Ort war geboren und der »inszenierte Lebensraum« war jetzt auch Bestandteil der Vitalität unserer Städte. Ihre Freizeit verbrachten die Menschen nun nicht mehr ausschließlich an klassischen Orten der Unterhaltung wie Kino, Fußballplatz, Kegelbahn, sondern auch an den neuen Orten des Business Entertainments, in Shopping Malls, bei Events und in der Erlebnisgastronomie.

Der Puppenladen als Reiseziel

»Wart ihr einmal bei ›American Girl Place‹?«, fragt ein Kollege aus den Staaten. »Da reisen die Mütter mit ihren kleinen Töchtern extra an, um einen Tag lang so eine Mutter-Tochter-Sache zu erleben.« Und tatsächlich, wer eines der derzeit 22 oft mehrstöckigen Kaufhäuser zwischen New York und Mexico City betritt, versteht schnell, warum diese Mütter mit ihren durchschnittlich acht- bis zwölfjährigen Töchtern manchmal eine weite Reise auf sich nehmen, um hier mehrere Stunden zu verbringen. Neben dem eigentlichen Shop gibt es ein schickes Café, in dem Mütter, Töchter und Puppen gleichberechtigt zu Lunch, Brunch oder Dinner um den Tisch herumsitzen, und es gibt manchmal sogar ein Theater für rund 100 Zuschauer, in dem mehrmals täglich ein eigens für diesen Ort konzipiertes Musical läuft. Doch im Zentrum der hochprofessionellen Erlebniswelt steht der Verkauf. »Follow Your Inner Star!«, lautet der Wahlspruch. Die jungen Kundinnen sollen herausfinden, wer sie sind und wie man sich im Leben verhält. Dazu gibt es zwei große Produktgruppen:

Die »Historical Characters« – 2014 als BeForever aufgefrischt – sind erfundene Mädchen aus der Geschichte Amerikas von 1764 bis in die Gegenwart, um die herum man heroische Geschichten »vom richtigen menschlichen Verhalten« erfunden hat. Meine Lieblingsfigur war immer Felicity Merriman (1774), deren Geschichte in der Zeit des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges gegen das britische Empire spielt. Doch während Felicity an die Selbstbestimmung Amerikas glaubt, steht ihre beste Freundin Elizabeth und ihre Familie auf der Seite der Royalisten. Wird es Felicity gelingen, an das Richtige zu glauben, ohne dabei ihre beste Freundin zu verlieren? Jeden »Character« – also jede Figur – gibt es als realistische Puppe, deren Geschichte in einer Vitrine mit Kulissen, Gegenständen und Spezialeffekten erzählt wird. Zu kaufen gibt es das Puppenhaus zur Geschichte, unendlich viele Möbel, Kleider, Gegenstände zur Geschichte, das Buch zur Geschichte (manchmal mehrere) und den Spielfilm zur Geschichte auf DVD, der wie eine große Hollywoodproduktion aussieht (Julia Roberts produzierte einen der Filme). Alle jungen erfundenen Damen sind neun Jahre alt und werden im Verlauf der Geschichte zehn, was zur Folge hat, dass für jede ein aufwendiger Geburtstagstisch aufgebaut ist, deren Gegenstände – der Leser errät es – gekauft werden können.

Die zweite Produktgruppe nennt sich »Just Like You« und besteht im Kern aus einer einzigen Puppe mit immer denselben Gesichtszügen, aber in 25 unterschiedlichen Varianten in Bezug auf Gesichts-, Haar-, und Augenfarbe. Die junge Kundin versucht nun herauszufinden, welche Puppe ihr vom Typ her am meisten ähnelt. Habe ich helle Haut mit Sommersprossen, braune Haare mit dunkelblonden Strähnen und blaue Augen (Nummer 6), oder – ähnlich und doch ein ganz anderer Typ – helle Haut ohne Sommersprossen und normal braunes Haar zu meinen blauen Augen (Nummer 16)? Dann kommt die Puppe zum Puppenfriseur, der ihr für zehn US-Dollar dieselbe Frisur verpasst, die auch die kleine Kundin hat. Umgekehrt kaufen sich manche Mädchen in der nächsten Abteilung ein Kleid, das die Puppe trägt, ihre Tasche, ihr Nachthemd. So kann es passieren, dass man auf dem Gang einer Neunjährigen begegnet, die ihrer Puppe am Arm zum Verwechseln ähnlich sieht, und – wie unheimlich – dass auch die Mama daneben oft genauso aussieht wie Tochter und Puppe.

Was uns Europäern beinahe wie eine Parodie auf den »American Way of Life« erscheint, produziert neben all dem Kaufrausch doch auch schöne, reale Erinnerungen. Denn wenn einmal die Puppe längst vergessen sein wird, ist vielleicht die Erinnerung an einen großartigen Nachmittag in New York immer noch höchst lebendig und stellt sich rückwirkend als das eigentliche Produkt heraus. Der Slogan von »American Girl Place« lautet deshalb konsequenterweise: »Café. Theater. Shops. Memories.« Und so werden viele Dritte Orte, deren eigentliche Funktion der Verkauf ist, heute zugleich als Sehenswürdigkeit vermarktet. In den Augen der Marketingabteilung ist ein solcher Verkaufsort einfach dreidimensional gebaute Werbung, begehbare Public Relations. Man kann Storys mit tollen Fotos in Lifestyle-Magazinen platzieren und manche öffentliche Diskussion in Gang setzen, was über den eigentlichen Kernverkauf, der bei »Mattels American Girl« übers Internet läuft, nicht so ohne Weiteres möglich wäre.

Neben aufsehenerregenden Shops werden immer öfter die Markenwelten der Industrie, die Brandlands, zu erstklassigen Reise- und Ausflugszielen. Im Guinness Storehouse in Dublin wird im Gebäude einer ehemaligen Lagerhalle authentisch und emotional erzählt, was es bedeutet, ein Guinness-Bier zu brauen. Allein schon das Atrium, das an ein riesiges Pint-Glas erinnert, zieht die Menschen an. So hat Guinness das Kunststück zuwege gebracht, zur meistbesuchten Touristenattraktion Irlands zu werden. Ähnlich ergeht es den Swarovski-Kristallwelten in Tirol. Gleich nach dem Schloss Schönbrunn ist die Wunderkammer im Inneren eines Waldriesen die am zweithäufigsten besuchte Attraktion Österreichs.

Außer dem naheliegenden Mehrwert, auch Sehenswürdigkeit zu sein, haben sich eine ganze Reihe weiterer Zusatzfunktionen herausgebildet, die aus Orten der Wirtschaft jene vitalen Lebensräume machen, die wir als Dritte Orte erleben. Hotels sind nicht allein zum Schlafen da, sie sind auch Treffpunkt für alle, die sich mit ihrem Lifestyle identifizieren und aufladen wollen. Die Lobbys von Philippe-Starck-Hotels etwa weisen eine hohe Dichte an hübschen Models auf, die mit ihrer Clique hierherkommen, um auszugehen. Starcks Designhotels bieten einen dramatischen Auftritt wie auf einem Catwalk – im Delano in Miami Beach eine tiefe Schlucht aus weißen, turmhohen Tüllvorhängen quer durch die Halle – und jede Menge inszenierter Bars, Restaurants und Gärten.

Das Warten auf Bahnhöfen war früher eine Qual. Heute gehören die neuen First-Class-Lounges der Schweizer Bahn zum Besten, was es an inszeniertem Warten gibt. Zwischenorte wie Lobbys, Lounges, Museumsatrien werden mit genauso viel Aufmerksamkeit registriert wie die eigentlichen Hauptorte selbst. Shops in Museen waren früher kleine Zusatzeinrichtungen. Heute erscheinen uns manche Museen wie Shopping Malls. Ähnliche Tendenzen zur multifunktionalen Verdichtung finden sich in der Gastronomie und anderen Formen des Ausgehens, auf Messen, Weltausstellungen, Sportveranstaltungen, Events und Festivals.

Überall wird einer Kernfunktion ein beinahe gleichwertiges emotionales Extra dazugegeben:

– Shops sind auch Ausflugsziele für Familien.

– Brandlands sind auch Sehenswürdigkeiten für Touristen.

– Hotels sind auch Treffpunkte mit Lifestyle.

– Museen sind auch Shopping Malls und Orte der Kraft.

Die Welt des Ray Oldenburg

In Pensacola, Florida, geht jede Woche ein nicht mehr ganz junger Soziologieprofessor namens Ray Oldenburg mit einigen Freunden, Polizisten in karierten Flanellhemden, Kaffee trinken. Sein »Coffee with the Cops«, wie er sagt, findet im Good Neighbor Coffeeshop statt, einer »Kneipe ums Eck«, deren Name und unkompliziertes Aussehen mit einfachen Holztischen durch Oldenburgs Buch The Great Good Place1 inspiriert wurde.

In diesem Buch wettert der Soziologe aus der Sicht eines intellektuellen, konservativen Amerikaners gegen die Shopping-Mall- und Fast-Food-Gesellschaft seines Landes. Er bezeichnet ihre Plätze als »Nicht-Orte« und preist den kleinen Friseurladen, der auch Informationszentrum der Gemeinde ist, die Buchhandlung, in der man gute Gespräche mit dem Buchhändler führen kann, die Kneipe, in der einen jeder kennt. Diese »guten, alten Plätze«, an denen man stundenlang herumhängt, nannte Oldenburg schon Ende der Achtzigerjahre »Third Places«. Sie seien emotional anregend, ohne inszeniert zu sein, für jedermann zugänglich und gleich um die Ecke, würden keinerlei sozialen Druck ausüben, seien gemütlich, aber leider weitgehend ausgestorben. Als Vorbilder nannte Oldenburg seinen Landsleuten die historisch gewachsenen »Third Places« in Europa – das irische Pub, die italienische Piazza und das Wiener Kaffeehaus.

Knapp vor Weihnachten 2001 eröffnete ausgerechnet in der Kaffeehausmetropole Wien ein großes Starbucks Coffee House in erstklassiger Lage gleich gegenüber der Wiener Staatsoper. Es ist von frühmorgens bis spätabends geöffnet und war trotz aller Unkenrufe vom ersten Augenblick an gnadenlos erfolgreich. Bequeme Klub-Fauteuils, die Starbucks demonstrativ in die Schaufenster mit Blick nach außen stellte, signalisieren Wohnzimmeratmosphäre, und das ist kein Zufall. Mit leuchtenden Augen verkündete der eigens zur Eröffnung angereiste Starbucks-CEO Howard Schultz: »Wie auch die Wiener Kaffeehäuser betrachten unsere Gäste weltweit die Starbucks Coffee Houses als ihr drittes Zuhause, eine Oase zwischen Heim und Arbeitsplatz, wo man sich mit Freunden trifft.«

Auch die Marketingstrategen von Sony bezogen sich bei der Einführung ihrer Playstation-Konsole auf den Third Place. Da heißt es etwa: »Befrei dich von Ordnung und Logik und trete in einen neuen Ort ein. Es ist nicht der Arbeitsplatz. Es ist nicht das Zuhause. Noch niemand hat ihn auf Landkarten verzeichnet. Nichts ist sicher. Alles ist möglich. Welcome to the third place.« Der Slogan verweist auf das spezielle Flair der Playstation-Videospiele, ihren hohen Realismus, der die Spielorte als eigenständige Realität, als Third Place, glaubhaft macht. Darüber hinaus ist der Slogan auch Anspielung auf eine in den USA geführte Diskussion, ob denn nicht die Welten des Internet und anderer virtueller Umgebungen die wahren Third Places seien – temporäre Zufluchtsorte, für jedermann zugänglich und emotional aufgeladen.

Sony und Starbucks sprechen in ihrer Öffentlichkeitsarbeit ausdrücklich an, was viele andere Unternehmen ebenso praktizieren. Sie benützen den emotionalen Mehrwert eines vorübergehenden Zuhauses als Marketinginstrument. Wie mag sich dabei wohl Ray Oldenburg fühlen? Ausgerechnet die von ihm kritisierten Vertreter einer marketingorientierten Erlebniswirtschaft sind drauf und dran, etwas vom verloren geglaubten Third Place zurückzuerobern. Allerdings muss gesagt werden, dass dabei die persönliche Präsenz eines Buchhändlers, mit dem man plaudern kann, oder des Wirtes, der seine Gäste kennt – beide aufgrund der Globalisierung stark dezimiert – durch Inszenierungsmaßnahmen ersetzt werden muss.

Man muss Ray Oldenburg zugutehalten, dass seine Kritik an der Kälte und Infantilität amerikanischer Marketinginszenierungen damals, in der Zeit der Spaßgesellschaft, durchaus etwas für sich hatte. Doch die Zeiten haben sich geändert. Denn während noch vor Jahren die inszenierte Flucht in eine Traumwelt im Vordergrund des Business Entertainment stand, ist jetzt – und nicht nur seit dem 11. September 2001 – eine gewisse Nachdenklichkeit eingekehrt.

Die erfolgreichen Erlebniskonzepte der Gegenwart verbinden die Sehnsucht nach dem Entertainment mit ehrlichen, großen Gefühlen, mit echten Materialien und hochwertigem Design, mit Lebenshilfe im Alltag, mit der Seelenmassage zwischendurch für den gestressten Kunden. Kurzum: Die Erlebnisgesellschaft ist erwachsen geworden.

Deutliche Indizien für diese Entwicklung sind die Veränderungen in Las Vegas, der Welthauptstadt des inszenierten Marketings. Früher einmal hätte ein Bar-Restaurant zum Thema Rum, Karibik und Dschungel in Las Vegas wahrscheinlich so ausgesehen, dass ein computergesteuerter Pirat neben einem Rumfass vor dem Lokal gesessen und dem Gast freundlich zugeprostet hätte. Doch aufgrund der nun viel cooleren und indirekten Art, eine Geschichte zu erzählen, überlegte man sich für den Rumjungle, aus welchen Ingredienzien eigentlich Rum besteht. Das hat anscheinend auch etwas mit Feuer und Wasser zu tun, denn man sollte das so entwickelte Lokal durch eine Feuerwand aus unzähligen Gasflammen vor schwarzem Stein betreten und im Inneren des Lokals sollten gut ein Dutzend Dschungelwasserfälle über Glasplatten fließen, die auch als Raumteiler wirken: Karibikgefühl ganz ohne künstliche Palmen und plumpe Deko. So entstand mit dem Rumjungle eine Benchmark des inszenierten Lokaldesigns. Auch wenn das Restaurant jetzt nach vielen erfolgreichen Jahren geschlossen ist, hat es eine Entwicklung angestoßen, die heute überall in Las Vegas sichtbar ist. Mit dem neuen Delano und dem SLS eröffneten kürzlich Ableger luxuriöser Boutiquehotels am Strip, wie man sie so nur aus Los Angeles oder Miami Beach kannte, und Stararchitekten wie Daniel Libeskind bauen in der Stadt.

Die Marketingbranche insgesamt musste einsehen, dass in der Vergangenheit so manches gut gemeinte Entertainment – zusätzlich zu Konsumdruck und Informationsüberflutung – auch noch einen Erlebnisdruck auf den Konsumenten ausübte. Einige Läden sahen plötzlich wie Freizeitparks für Kinder aus, was vor allem in Europa bisweilen befremdlich wirkte. Also setzt man Erlebnisse jetzt so ein, dass sie den Gesamtdruck auf den Konsumenten eher abbauen. Weltweit registriert wurde daher kürzlich eine Inszenierung im mörderisch erfolgreichen Kaufhaus Selfridges in der Londoner Oxford Street. Nirgendwo auf der Welt sieht man an einem Samstagnachmittag mehr Menschen auf einem Fleck als hier – denke ich zumindest, wenn ich mich mit einer Seminargruppe durchs Gewühl kämpfe. Lärmpegel, Stress und Gewusele sind enorm. Das dachte man auch bei Selfrigdes und erinnerte sich an eine legendäre Maßnahme des Gründers Harry Gordon Selfridge. Bereits im Jahre 1909 etablierte er einen stillen Raum in seinem Kaufhaus, der die Konsumenten kurzfristig aus dem Konsumdruck herausholen sollte. Nach demselben Prinzip funktionierte der aktuelle »Silence Room« von 2013 – eine lärmgeschützte Tempelkammer mit indirektem Licht, einer bequemen Bank rundherum an der Wand, Kunden ohne Schuhe, ohne Handy, einfach nur durchatmen.

Beide Trends – mehr indirektes, designunterstütztes Geschichtenerzählen und mehr Erholung zwischendurch – sind typische Beispiele für eine gewisse Professionalisierung im Business Entertainment. Erlebnisse werden erwachsener, authentischer, dosierter eingesetzt als noch vor Jahren. So gesehen haben Ray Oldenburg und seine Freundesgruppe im Flanellhemd gesiegt. Doch in einem haben sie unrecht: Ganz auf Erlebnisse verzichten wird man niemals wieder. Der emotionale Mehrwert von Entertainment im Marketing hat sich sowohl langfristig als imagebildender Faktor als auch direkt am Punkt des Geschehens bewährt. Denn Erlebnisse steigern die Aufmerksamkeit, erhöhen die Verweildauer und wirken unmittelbar verkaufsfördernd.

Warum Erlebnisse verkaufen

Ein berühmt gewordener Werbespot der britischen Tageszeitung The Guardian (siehe Abbildung im Bildteil) führt eindrucksvoll vor Augen, warum Erlebnisse so verführerisch sind. Wie jede Qualitätszeitung wirbt der Guardian damit, seinen Lesern den Überblick über eine komplex gewordene Welt zu geben. Dazu zeigt er aus drei unterschiedlichen Kameraperspektiven, wie ein gefährlich wirkender junger Mann, der auch ein Skinhead sein könnte, eine Straße hinunterläuft. In der ersten Einstellung denkt man unwillkürlich an eine Flucht, denn der junge Mann läuft in dem Augenblick los, als hinter ihm ein Wagen auftaucht, aus dem ihm zwei Männer, vielleicht Polizisten, nachsehen. Das Bild friert ein. In der nächsten Einstellung sieht die Sache plötzlich ganz anders aus. Der Skinhead-Typ läuft direkt auf einen Geschäftsmann zu und greift ohne Vorwarnung nach dessen Aktentasche, die von ihrem Besitzer schützend hochgerissen wird. Das Bild friert erneut ein und wir sind felsenfest davon überzeugt, einen Raubüberfall beobachtet zu haben. Doch schließlich müssen wir erkennen, dass wir uns wieder geirrt haben, denn die Kameratotale der dritten Einstellung zeigt eindeutig, dass der scheinbare Räuber die Tasche gar nicht an sich reißt, sondern sie mitsamt ihrem Besitzer in der Gegenrichtung wegstößt. Die schwere Last eines Baukranes über dem Kopf des Mannes war gekippt, und der Skinhead, der keiner ist, stößt ihn im letzten Augenblick vor herabfallenden Ziegelsteinen zur Seite. »It’s only when you get the whole picture you can fully understand what’s going on« lautet die Botschaft des Guardian.

Der A.I.M.E.-Faktor

Erst Flucht, dann Raub, schließlich Lebensrettung: Innerhalb von 50 Sekunden reimt sich der Zuseher drei ganz unterschiedliche Geschichten zusammen, wird dazu gebracht, sozusagen selbst die letzten Puzzlesteine einzusetzen. Diese mentale Aktivität bezeichnet der Psychologe Salomon als den »Amount of Invested Mental Elaboration«. Wenn dieser A.I.M.E.-Wert hoch ist, hat der Zuschauer Spaß und fühlt sich auf eine vibrierende Weise lebendig und beschwingt. In diesem aufgekratzten Zustand der erhöhten Aufmerksamkeit saugt er begierig jede Art von Information mit ein. Erlebnisse öffnen also den Konsumenten für Botschaften. Daher ist Werbung heutzutage aufwendig produziertes Entertainment, daher werden Verkaufsorte emotional aufgeladen.

Ein Erlebnisort bringt den Konsumenten dazu, alle Möglichkeiten und Angebote am Point of Sale abzugrasen. »Browsing« nennt man in Amerika dieses Verhalten in Shops, Museen oder auf Messeständen. Der Konsument möchte möglichst alles sehen. Auf diese Weise verlängert sich seine Aufenthaltsdauer, steigt sein Wohlwollen für das, was an diesem Ort präsentiert wird. Erlebnisse wurden so zu einem bedeutenden Marketinginstrument.

Drehbücher im Kopf

Im Fall des Guardian-Werbespots reimt sich der Zuschauer Geschichten zusammen. Passen die Signale in verführerischer Weise auf einen Raub, kann man gar nicht anders, als sich die Story so zu Ende zu denken. Wir wissen eben prinzipiell, wie ein Raubüberfall abläuft, haben dafür und für unendlich viele andere Grundsituationen des Lebens sogenannte Brain Scripts erworben, »Drehbücher im Kopf«. Professionell Geschichten erzählen bedeutet, diese mentalen Drehbücher anzustoßen.

Wenn beispielsweise fünf Schauspieler vor einer neutralen weißen Wand sitzen und zugleich interessiert die Köpfe hin und her wenden, synchron dazu ein verräterisches »Plop, Plop« zu hören ist und vielleicht auch noch jemand aus dem Hintergrund Dinge sagt, wie »15 – null«, dann kann man befragen, wen man will: Alle Menschen werden bestätigen, dass hier ein Tennisspiel läuft. Dabei waren doch weder irgendwelche Spieler zu sehen noch ein Tennisplatz oder der Ball. Alle Signale passten bloß unwiderstehlich auf unser Tennis-Brain-Script.

In den meisten Fällen sind Geschichten am inszenierten Ort eher ein emotionaler Zusatz. Ein Schaufenster mit einem umgeworfenen Weinglas, ein roter Stöckelschuh, ein Stück Spitzenunterwäsche, um das es eigentlich geht, und der vorbeieilende Konsument meint, dass hier eine »nette Nacht« gelaufen sei. Die Story dramatisiert zwar die Ware, aber die Produkte stehen immer noch im Vordergrund. Nachdem aber auch Verkaufsorte immer mehr zum temporären Lebensraum für Kunden wurden, entstanden Ladenkonzepte, bei denen das Sortiment in den Hintergrund tritt und der inszenierte Akt des Kaufens, die Story, die sich zwischen dem Kunden und dem Produkt abspielt, in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt.

Wie man einen Hasen macht

Ein weltweit bekannter Klassiker des Story-based Retail ist Build-a-Bear. Entzückende Kätzchen, Teddybären oder Hasen warten in den Shops der amerikanischen Ladenkette, noch ungefüllt, auf ihre zukünftigen kleinen Besitzer oder eher auf deren Eltern und Großeltern. Nirgendwo sonst kann man so viele gerührte Omas und Opas sehen, die mit Tränen in den Augen für ihre Enkel zu Hause »ein Tier machen«. Dabei bekommt man von Station zu Station immer mehr das Gefühl, an einem Schöpfungsprozess beteiligt zu sein, an einer Geburt. Zuerst sucht man sich das Tier aus, sagen wir, einen lieben Hasen mit langen Ohren. Während man sich an der Füllmaschine anstellt, wählt man aus einer Schütte ein kleines Herz für das Tier. Es gibt sie in rot-weiß-kariert oder in knalligem Rot. Manche Amerikaner holen auch noch einen Sprachchip aus einer Schublade. Das Tier sagt dann zum Beispiel »I love you«. Wir Europäer beobachten vielleicht lieber, wie die Füllung durch eine Plexiglasröhre quer durch den Shop in die bunte Füllmaschine flutscht. Dort sitzt eine junge Frau, trotz bescheidener Bezahlung äußerst freundlich, und sagt uns, wo das Pedal ist, auf das wir treten müssen, um den Hasen selbst zu füllen. Bevor sie ihn zunäht, kommt das Herzritual. Sie macht es vor, wir machen es nach. Man drückt das Herz an das linke Auge, dann an das rechte, dann küsst man es und steckt es in das Tier. Das ist der Augenblick, in dem man zum ersten Mal ernsthaft gerührt ist.

Weiter geht es. In einer Art Luftdruckbadewanne bringen wir das Fell des Hasen auf Vordermann. Dann braucht der Hase ein Outfit. Während die Tiere selbst recht wohlfeil sind, haben es die Accessoires in sich. Zuerst bekommt der Hase eine Unterhose, in der man ein Loch für die Blume gelassen hat. Dann Jeans, eine Jacke, einen langen roten Schal. Zur Sicherheit kaufen wir noch etwas für den Sommer: Turnschuhe, passend für ein Tier der Größe 3, eine Sonnenbrille und, ach ja, eine Badehose kann nicht schaden. Das alles kostet ein Vielfaches des Tieres selbst, aber um uns herum können wir sehen, dass auch andere Erwachsene und Kinder einem kollektiven Kaufrausch verfallen sind. Wir gehen schnell zu den Computern, an denen man die Geburtsurkunde für das Tier erstellt. Name des Tieres: »Hasi«, schreiben wir einfallslos. Der Computer identifiziert anhand der Warennummer die Farbe des Fells, der Augen und die Größe des Tiers. Dann noch der Name des zukünftigen Besitzers: »Hasi made for Julian from Mama with Love«, lesen wir gerührt auf dem Computerausdruck. An der Kasse wird das Tier von einer anderen netten Frau komplett angezogen, auch wenn noch andere Kunden warten. Schließlich steckt sie den Hasen in ein Transporthäuschen aus Karton. Man sieht ein Stück seines Fells durch ein kleines Fensterchen hindurch. Auf dem Haus steht geschrieben: »I’m going home«.

Einem kleinen Wesen wird mittels Füllung und Herzritual Leben eingehaucht. Es wird mit Luft gebadet, gekleidet, mit Namen und Geburtsurkunde versehen und schließlich nach Hause gebracht. Der elterlichen Zielgruppe von Build-a-Bear kommt das alles irgendwie bekannt vor. Das Brain Script, das dabei unterschwellig, doch kraftvoll losgetreten wird, erzeugt die Rührung, an die man auch dann noch zurückdenkt, wenn das Tier zu Hause schon längst durch ein anderes Lieblingstier verdrängt wurde. Der Kunde zahlt bei diesem Konzept in erster Linie für den Kaufakt, dessen Emotionalität den Aufenthalt im Laden zu einem Erlebnis voll echter Gefühle macht.

Die Kühe sind los

Hinter der Erlebnisqualität des Guardian-Werbespots mit dem vermeintlichen Skinhead stehen nicht nur die »Drehbücher im Kopf«. Während uns die Brain Scripts sagen, was da eigentlich gespielt wird, führt ein zweiter psychologischer Mechanismus dazu, dass man auch den Verblüffungseffekt genießt, den der Spot auslöst. Man muss sich ja ganz schön geschickt anstellen, um mit den Haken mitzuhalten, die die Geschichte schlägt. Flucht, Raub und Lebensrettung wechseln einander innerhalb kürzester Zeit ab. Die Handlung dreht sich, sagt man dazu in der Filmbranche. Ein solcher Effekt ist typisch für eine Zeit, in der sich viele Menschen mit den Medien und dem Konsum enorm geschickt anstellen. Sie haben eine hohe Media Literacy erworben, die Mediengeschicklichkeit von Zuschauern, die schon mit Fernsehen, Internet und Videospielen aufgewachsen sind.

Zürich Hauptbahnhof. Ich steige aus dem Zug und bekomme sofort Gelegenheit, meine Media Literacy unter Beweis zu stellen. Staunend stehe ich vor einem überdimensionalen Mobile in der Bahnhofshalle. Es besteht ausschließlich aus bemalten Skulpturen von Kühen. Die Kühe bilden sozusagen das sich langsam drehende Mobile. Auf meinem Spazierweg durch die Stadt treffe ich auf weitere Kühe, die andere Dinge oder Menschen imitieren. Eine Kuh vor der berühmten Confiserie Sprüngli macht für uns den Schokoladenkuchen inklusive Riesengabel im Rücken. Eine ganze Kuhherde kommt uns als Fußballer entgegen. Eine einzelne Kuh empfängt mich als Page in Livree vor dem Eingang meines Hotels. Als ich abends essen gehe, traue ich meinen Augen nicht. Die Fassade des vegetarischen Restaurants wurde begrünt und zur Alm umfunktioniert, inklusive grasenden Kühen, die die Fassade hinaufklettern.

Solche Verkleidungs- und Täuschungseffekte ziehen unsere Aufmerksamkeit stärker auf sich als irgendwelche anderen Gestaltungsmittel. Sie sind richtige »Hingucker« und sie lassen darüber hinaus alles smart und schick erscheinen, was uns dazu bringt, uns geschickt anzustellen, unsere Media Literacy anzuwenden. Diese beiden Eigenschaften haben dazu geführt, dass die inszenierte Verblüffung zu den wichtigsten Techniken des Stadtmarketings gehört. Städte treten heute gegeneinander um Touristen, Investoren, künftige Bewohner und Steuerzahler an. Mit Stadt-Events voller Esprit und Witz wird die ganze Stadt zur Bühne, deren verblüffende Täuschungseffekte der staunenden Öffentlichkeit zeigen, was in ihr steckt.

Abb. 1: Zürcher Kuh-Kultur

Die Zürcher Kuh-Kultur war einer der erfolgreichsten Stadt-Events aller Zeiten. Seine Grundidee war, dass Unternehmen für wenig Geld eine oder mehrere von insgesamt 800 unbehandelten Kühen in den Grundmodellen »stehend«, »liegend« oder »fressend« erwerben und dann ihren eigenen Vorstellungen entsprechend zur Kuhskulptur umgestalten konnten. Durch die Aktion wurde nicht nur das Image der beteiligten Firmen transportiert, sondern es wurde insgesamt die Stadt Zürich zum international beachteten »Hotspot«. Zürich galt bis dahin eher als seriös und bieder und nicht gerade als Stadt mit Esprit. Tatsächlich täuscht dieses Image. Ausgeflippte Shops, Bars und eine aktive Underground-Szene haben aus Zürich längst eine hippe Stadt gemacht. Mithilfe des Stadt-Events wurde dieser Esprit sichtbar, fotografierbar, sinnlich erfahrbar. Die Aktion war schließlich so erfolgreich, dass sie zahlreiche Nachahmer fand. »Die Kühe sind los«, hieß es darauf in Chicago und in Salzburg. In Bern waren es, dem Maskottchen der Stadt entsprechend, die Bären, die den öffentlichen Raum nach demselben Prinzip bevölkerten, und weitere Tiere in Deutschland und anderswo folgten.

Rezeptbuch der neuen Erlebniswelten

Erlebnisse sind also immer ein essenzieller Bestandteil Dritter Orte. Nicht zuletzt sind sie es deshalb, weil sie aus jedem Lebensraum einen Verkaufsort im weitesten Sinn machen. Ob nun inszenierte Geschichten wie in Build-a-Bear im Spiel sind oder Verblüffungseffekte wie bei der Zürcher »Kuh-Kultur«: Immer werden dabei psychologische Erlebnismechanismen aktiviert wie Brain Scripts oder Media Literacy.

Dabei folgt die Erlebnisgestaltung einem strikten Aufbau, der für alle Dritten Orte, für alle neuen Erlebniswelten, charakteristisch ist.

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