Marrakesch - Jalid Sehouli - E-Book

Marrakesch E-Book

Jalid Sehouli

4,1

Beschreibung

Marrakesch ist einer der geheimnisvollsten und faszinierendsten Orte der Welt. Der Djemaa el Fna, der "Platz der Gehängten", mit seinen Markt ständen, Gauklern und Schlangenbeschwörern, die engen Gassen, die Basare und die in Innenhöfen verborgenen Gärten haben die "rote Stadt" zu einem Inbegriff orientalischen Lebens werden lassen. Jalid Sehouli widmet Marrakesch ein vielschichtiges Porträt, in dem sich Farben, Gerüche, Schicksale und Geschichten auf magische Weise miteinander verbinden. "Sehouli traut seinen Augen und Ohren. Er verbirgt kein Gefühl und entdeckt in den kleinen Geschichten die große Geschichte." Wolfgang Kohlhaase

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Jalid Sehouli

Marrakesch

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten.

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CD-ROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen.

© edition q im be.bra verlag GmbH

Berlin-Brandenburg, 2018

KulturBrauerei Haus 2

Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin

[email protected]

Lektorat: Hans Georg Hoffmann, Gabriele Dietz

Umschlag: Manja Hellpap, Berlin

Arabischer Schriftzug: Adak Pirmorady-Sehouli

ISBN (print) 978-3-86124-713-5

ISBN (E-Book) 978-3-8393-4130-8

www.bebraverlag.de

Inhalt

Vorwort

MarrakeschViele Geschichten in einer Geschichteoder Die besondere Geschichte der Pastilla

Rezepte der Pastilla

Weiterlaufen, wenn es wehtutJalid Sehouli: ein Porträt von Hans-Georg Hoffmann

Dank …

meinen Kindern Zora, Lazar, Elias und Sara

meinen Eltern

meinen Geschwistern

meinen Neffen und Nichten

meinen anderen Verwandten

meinen Freunden

meinen Patientinnen und ihren Angehörigen

den vielen Menschen, von denen ich lernte

Hans Georg Hoffmann und seiner Frau

Gabriele Dietz

Dr. Elke Leonhard

Ulrich Hopp und Dr. Robert Zagolla

meiner Adak

meinem Gott

meinem Marrakesch

Vorwort

So wie die Freude, so sind auch Traurigkeit und Schmerz menschliche Erfahrungen, die zu unser aller Leben gehören. Jeder kennt das Gefühl der Traurigkeit, die uns anfangs nicht mehr loslassen will. Der Dialog kann dabei helfen, sich diesem Gefühl zu stellen – sowohl der Dialog mit anderen Menschen als auch der Dialog mit sich selbst. Ein solches inneres Gespräch war für mich der Auslöser, dieses Buch zu schreiben. Mit sich sprechen ist nicht leicht, mit sich ehrlich sein ist noch schwerer, beides braucht Vertrauen. Dieses Vertrauen muss man sich erarbeiten. Dabei hilft es, sich Zeit und Raum zu nehmen und sich selbst bei diesen inneren Gesprächen zuzuhören.

Dieses Buch über Marrakesch half mir, meiner inneren Stimme einen, meinen Charakter zu geben. Durch dieses Buch, durch mein Schreiben, werden meine stummen Worte sichtbar gemacht, wird den Worten die Kraft gegeben, mit anderen Menschen in Dialog zu treten. Dieser Gedankenaustausch muss aber nicht unmittelbar erfolgen. Durch das Geschriebene kann der Dialog erst später, viel später stattfinden, nach Jahren oder sogar nach Generationen. Marrakesch, dieser magische Ort, gab mir den notwendigen Schutz, zu wagen, tief nach innen zu schauen und den Blick in die Welt neu zu justieren.

Marrakesch mit seinen einzigartigen Melodien der Sehnsüchte und Hoffnungen berührte meine Seele, erweckte meine vernachlässigten Sinne. Marrakesch schenkte mir Achtsamkeit. Und je mehr Marrakesch mir half, meine Sinne zu entfalten, umso mehr war ich in der Lage, die Farben Marrakeschs und der Welt zu erkennen. Farben, die ich vorher noch nie gesehen hatte. Farben, die mir Kraft und Lebensfreude schenkten. Es ist stets das eigene Herz, das dem, was der Mensch sieht, hört und spürt, Farben gibt.

Fahr mit mir nach Marrakesch, denn Marrakesch und seine einzigartigen Geschichten warten auf dich.

Jalid Sehouli

Berlin, im Januar 2018

Marrakesch

Viele Geschichten in einer Geschichte

oder

Die besondere Geschichte der Pastilla

Und so beginnt die Geschichte

In dem Märchen Der kleine Prinz von Antoine de Saint-Exupéry sagt der Fuchs: »Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.«

Wir können nicht mehr mit dem Herzen sehen – das ist Saint-Exupérys Vorwurf an uns alle.

Seinen Anfang gefunden hat dieses Buch wahrscheinlich mit der Bitte Maria Carmens, mein Herz berühren zu dürfen, damit sie fühle, welche Energie in ihm ist. Ich war sehr überrascht von dieser Bitte. Noch nie hatte mich ein Mensch nach meinem Herzen gefragt.

Mit diesem Buch möchte ich versuchen, verschiedene Geschichten zu erzählen: eine Geschichte über die Stadt Marrakesch, eine Geschichte über die Beziehung zu Menschen und eine Geschichte über mich und mein Herz und meine Seele. Jede dieser großen Geschichten besteht aus vielen kleineren Geschichten. Aber alle Geschichten stehen miteinander in Verbindung, und dies trotz oder vielleicht wegen der unterschiedlichen Orte und Menschen, von denen ich berichte.

Ich erzähle von Menschen, denen ich zuhören durfte und die mir, nachdem sie mir ihre Aufmerksamkeit geschenkt hatten, ihre Geschichten erzählten. Ich erzählte von mir und sie erzählten mir von sich und besonderen Begebenheiten ihres Lebens – Begebenheiten, die sie selbst vergessen zu haben schienen und deren Bedeutung den Erzählenden häufig unklar war. Marrakesch half mir, mein Herz für diese Geschichten zu öffnen, Marrakesch öffnete die Herzen der Erzählenden. Marrakesch erweckte diese wunderbaren Geschichten.

Aber nicht alle Geschichten kann ich in diesem Buch erzählen, da einige von ihnen ihre Bedeutung und ihre nachhaltige Kraft nur in der Intimität bewahren können. Manche Geschichten werden und sind Geheimnisse und müssen Geheimnisse bleiben. Ich erinnere mich an das Gedicht von Anna Ritter, die mit ihrem Vater aus Deutschland nach Amerika emigrierte:

Ich trag’ ein glückselig Geheimnis

mit mir herum.

Ich möcht’ es allen Leuten vertrauen.

Und bleib’ doch stumm!

Ach, jubeln möchte ich und singen,

von früh bis spät –

und rege nur heimlich die Lippen,

wie zum Gebet!

Wann werde ich das Buch geschrieben haben? Wann wird sein Ende erreicht sein? Ich denke, dass ich die letzte Geschichte erzählen werde, wenn der gefühlte Schleier von Leidenschaft und Melancholie, der noch auf oder vielleicht in meinem Herzen liegt, verflogen ist – auch mit dem Risiko, dass dies nie geschehen und so das Buch nie sein Ende finden wird. Eine Geschichte braucht stets einen Anfang – aber sie braucht nicht unbedingt ein Ende.

Das Ende ist nicht mein Ziel. Ich möchte diese Geschichten erzählen, Geschichten von Menschen, denen ich begegnen durfte. Mit dem Erzählen versuche ich, Teil ihrer Geschichten zu werden. Durch das Erzählen kann ich diese Geschichten neu erleben und sie zu neuen Geschichten machen.

Dieses Buch scheint mein größtes Abenteuer zu sein. Es ist voller Überraschungen, Entdeckungen, Euphorie und Hoffnung und überragt die Zeiten der Zweifel, Ängste und der Trauer. Das Buch wird zu meinem besten Freund.

Es scheint leichter für mich zu sein, über Städte zu schreiben und mit ihnen zu sprechen. Ich erkenne aber, dass es doch um die Beziehung zu Menschen geht und um die Beziehung zu mir, zu meinem Verstand, zu meinem Herzen – zu meiner Seele.

Dieses Abenteuer kann wohl nur dann gelingen, wenn die Geschichten in Verbindung mit dem Vergangenen, mit dem jetzigen Augenblick und mit den Wünschen und Ängsten der Zukunft gebracht werden. Mit dem Geschichtenerzählen wird die Kraft, die eigene und die Geschichte anderer zu beeinflussen, bewusst und möglich.

Dieses Buch möchte ich vor allem mir selbst, aber auch meinen Kindern schenken und uns damit zeigen, wie wichtig es ist, das im Herzen empfundene Gefühl und Wort sich selbst bewusst zu machen und in das wirkliche, das eigene Leben hineinzulassen. So erhalten Worte und Gefühle eine größere und respektvollere Beachtung und Bedeutung. Jeder dieser aufgeschriebenen Gedanken erlangt damit die Kraft, sowohl die eigene Welt als auch die Welt der anderen positiv zu beeinflussen.

Dieses Buch soll ein Geschenk sein, eine Aufmerksamkeit, die keine Gegenleistung verlangt. Im antiken Rom, aber auch im Orient wurden während der Neujahrsfeiern kleine symbolische Geschenke übergeben, so etwa ein Zweig eines schönen Baumes oder erlesene Früchte des eigenen Gartens. Dieses Buch ist ein Geschenk von mir und entstammt meinem von mir noch nicht ganz verstandenen Seelengarten.

Wie hat es Khalil Gibran in seinem Gedicht Deine Kinder beschrieben?

Deine Kinder sind nicht deine Kinder,

sie sind Söhne und Töchter der Sehnsucht

des Lebens nach sich selbst.

Sie kommen durch dich, aber nicht von dir,

und obwohl sie bei dir sind, gehören sie dir nicht.

Du kannst ihnen deine Liebe geben,

aber nicht deine Gedanken,

denn sie haben ihre eigenen Gedanken.

Du kannst ihrem Körper ein Heim geben,

aber nicht ihrer Seele,

denn ihre Seele wohnt im Haus von morgen,

das du nicht besuchen kannst,

nicht einmal in deinen Träumen.

Du kannst versuchen, ihnen gleich zu sein,

aber suche nicht, sie dir gleich zu machen,

denn das Leben geht nicht rückwärts

und verweilt nicht beim Gestern.

Du bist der Bogen, von dem deine Kinder

als lebende Pfeile ausgeschickt werden.

Lass deine Bogenrundung

in der Hand des Schützen Freude bedeuten.

Und so beginnt die Geschichte

Aus irgendeinem von mir noch nicht verstandenem Grund fühle ich mich nach Marrakesch, der Stadt mitten in Marokko, gerufen, einer Stadt, die wohl zu den letzten Orten der Welt gehört, die an die Zeit der Geschichten von Tausendundeiner Nacht erinnern. Ich weiß nicht, warum mich dieser Ort so anzieht und fasziniert, aber ich freue mich über diese Gabe.

Immer wieder habe ich Städte besucht, in denen ich dachte, dass die dort lebenden Menschen nur zu Besuch in ihrer eigenen Stadt waren, sich dort nicht wirklich zu Hause fühlten. In Marrakesch habe ich das Gefühl, dass alle dort zu Hause sind – die Einheimischen, aber auch die Besucher aus aller Welt. Die Einwohner von Marrakesch werden in Marokko auch »die Glücklichen« genannt. Keine Frage, auch in Marrakesch gibt es Unglück und Trauer; dennoch scheint dieser Ort vielen ein besonderes Glücksgefühl zu schenken, das auch Außenstehende und Durchreisende spüren können. Man muss es nur zulassen.

Marrakesch ist bunt, bunter als alle anderen Orte.

Kraft, Respekt und Liebe zu den Elementen des Lebens … das sind die Zutaten von Marrakesch.

Marrakesch ist die Quelle aller Farben, suche sie.

Ich mache mich auf, Marrakesch zu finden.

Und die Sonne in Marrakesch und überall woanders geht unter, und die Sonne in Marrakesch und überall woanders geht wieder auf …

Marokko liegt an der nordwestlichen Küste Afrikas. In der Antike glaubten die Menschen, die aus dem Mittelmeer ragende nördlichste Landspitze des Kontinents bilde mit Gibraltar die Säulen des Herakles, hinter denen die große Welt zu Ende ist und das blaue Meer am Rande der Erdscheibe in die Tiefe hinabstürzt. So die Überlieferung.

Marrakesch ist über tausend Jahre alt – 1062 wurde es gegründet. Das wunderbare Gefühl in meinem Herzen, als ich es zum ersten Mal sah, liegt inzwischen fast zehn Jahre zurück: ein Gefühl, das mir half, endlich mein Herz und vielleicht auch meine Seele wahrzunehmen und damit zu beginnen, mit beiden zu sprechen.

»Früher«, so beschrieb es der afghanische Schriftsteller Tahir Shah, »war Marrakesch die Belohnung einer langen Reise.« Vielleicht ist die Belohnung für mich eine Reise zu meinem mir geschenkten Herzen. »Auf den Karawanen«, so Tahir Shah weiter, »erzählte man sich wochenlang geheimnisvolle Geschichten über die rote Stadt Marrakesch, lange bevor man sie erstmals zu Gesicht bekam.« So sollte es bei der Begegnung mit allen Orten sein, so sollte es auch bei der Begegnung mit Menschen sein – dass man sich lange vor einem ersehnten Wiedersehen unzählige Geschichten ausmalt.

Was ist aber mit meinem Herz gemeint, was mit meiner Seele? Wo sind diese angesiedelt, oder haben sie beide den gleichen Ort? Oder sind sie eins und haben nur verschiedene Namen?

Dieses seltsame Gefühl, dass mein Herz berührt wurde von diesem geheimnisvollen Ort, liegt nun schon Jahre zurück. Es stieg in mir auf, als ich zum ersten Mal am Abend in Marrakesch auf dem vielleicht außergewöhnlichsten Platz der Welt stand: dem Djemaa el Fna.

Man muss eintauchen in das Geschehen auf dem Platz, auch wenn die Mitte wegen des unüberschaubaren Menschentreibens vorerst nicht erkennbar erscheint. Schon auf dem Weg zu diesem Ort spürt man einen unwiderstehlichen Sog, die Schritte werden leichter und schneller und die Sinne beginnen sich zu erwärmen, um später zu erglühen. Überall ist die Mitte des Djemaa el Fna, überall bemerkt man, wie blind und taub man an anderen Orten ist. Es ist die Mitte aller Sinne.

Djemaa el Fna bildet das Zentrum der Stadt, vielleicht sogar – wie manche Marokkaner und vor allem die Menschen aus Marrakesch, die »Marrakschis«, glauben – das Zentrum der Welt. Früher war dieser Platz eine gefürchtete Hinrichtungsstätte. Hier wurden die Köpfe der Verurteilten und Geköpften in Salz eingepökelt und monatelang zur Warnung an den Toren der Stadt zur Schau gestellt. Übersetzt bedeutet Djemaa el Fna: Versammlungsort der Toten.

Geh zum Djemaa el Fna, geh vorbei an den Gauklern, Medizinmännern und Derwischen und frage dein Herz, wann du stehen bleiben sollst, halte dann ein und du wirst den Tod, das Leben, die Liebe und die Schönheit in ihrer ganzen Nacktheit sehen lernen.

Elias Canetti hat über den Djemaa el Fna in seinem Buch Die Stimmen von Marrakesch das Gefühl beschrieben, das auch ich mehr und mehr in mir spürte: »Mir war zumute, als wäre ich nun wirklich woanders, am Ziel meiner Reise angelangt. Ich mochte nicht mehr weg von hier, vor Hunderten von Jahren war ich hier gewesen, aber ich hatte es vergessen und nun kam mir alles wieder. Ich fand jene Dichte und Wärme des Lebens ausgestellt, die ich in mir selber fühle. Ich war dieser Platz, als ich dort stand. Ich glaube, ich bin immer dieser Platz.«

An einem meiner ersten Abende auf dem Platz sah ich an einem der unzähligen weißen Essensstände einen Teller mit Merguez, maghrebinischen, scharf gewürzten Bratwürsten. Die Merguez wird aus zartem Lamm- und Rindfleisch hergestellt. Ihre dunkle, rot schimmernde Farbe und den würzigen Geschmack verdankt sie der Harissa, einer scharfen Chilipaste mit einem Hauch von Koriander, Kreuzkümmel und Knoblauch. Seit mehr als zwanzig Jahren esse ich kein rotes Fleisch, eigentlich ohne dass ich einen echten Grund dafür nennen könnte. Ich bestelle stets Fisch oder Geflügel. Vielleicht muss ich mir meine eigenen Regeln, eigenen Gesetze geben, um mich zu ordnen, um eine Orientierung zu haben. Nur allzu oft habe ich das Gefühl, das richtige Maß, die richtige Dosis nicht zu kennen.

Beim Anblick der verführerischen Merguez auf dem Djemaa el Fna fragte ich mich, ob es nicht an der Zeit sei, dieses Gelübde aufzuheben. Ich sagte mir, dass es wohl keinen schöneren Platz geben könnte, mit einer derartig alten Regel zu brechen. Marrakesch befreite mich von dieser Fessel, befreite mich von diesem mir selbst auferlegten Ritual. Ich zog mir meine selbst geschneiderte Zwangsjacke aus. Die Merguez schmeckten wunderbar, zergingen leicht an meinem Gaumen.

Eine Stadt ist dein und du bist Kind dieser Stadt, wenn sie dir dabei hilft, nach dem Sinn alter und eingefahrener Verhaltensweisen und Rituale zu fragen, die die Jahre überdauert haben. Marrakesch hilft mir, meine Fragen auszusprechen: Wie kam ich zu dieser Gewohnheit? Hat es Sinn, sie weiter bestehen zu lassen? Was passiert mit mir, wenn ich sie durchbreche und aufgebe? Ähnlich ist es auch mit Ritualen in der Beziehung zwischen Menschen. Auch diese sollten ab und zu hinterfragt werden.

Viele der Dinge, die zwischen zwei Menschen geschehen sind und geschehen, werden nicht hinterfragt, werden einfach weiter verlebt, nicht gelebt. Nur wenn es einen Ort, einen Menschen gibt, der einem hilft, diese Verhaltensweisen wahrzunehmen, kann man sie verändern.

Meine Geschichte mit der Merguez in Marrakesch bedeutete die Lösung eines alten Schwurs. Es war eine echte Befreiung, weit mehr als eine zusätzliche Speise auf meinem Teller. Marrakesch, dafür danke ich dir.

Sage Marrakesch, wer du bist,

sage Marrakesch, was du willst,

und Marrakesch wird dir sagen, was deine Seele braucht.

… und die Sonne in Marrakesch und überall woanders geht unter, und die Sonne in Marrakesch und überall woanders geht wieder auf …

Nun fahre ich wieder nach Marrakesch. Ich fühle, ich fahre wieder zu mir selbst, zu meiner Seele, zu meinem Herzen – beide Fahrten sind wohl noch nicht abgeschlossen. Es sind lange Reisen. Marrakesch ist vielleicht nur das scheinbare Ziel. Es gilt, die Zeichen auf der nächsten Reise zu erkennen und diese wie in einem großen Puzzle zusammenzusetzen.

Die Zeichen werden immer stärker. Noch einige Tage vor meiner Abreise hatte ich ein nachdenkenswertes Erlebnis.

Eine dreiundsechzigjährige Patientin mit einer schweren und sehr seltenen Krebserkrankung kam zu mir in die Kliniksprechstunde. Sie wurde von ihrem Mann begleitet, auch er ein Arzt. Beide waren guter Dinge und stolz darauf, mir sagen zu können, wie gut sich die Patientin fühlte und wie aktiv sie wieder war, und das nach der letzten Chemotherapie vor gerade zwei Monaten. Doch ich musste ihr mitteilen, dass der Tumor wiedergekommen war, dass die Krebserkrankung sie nie wieder verlassen und sie daran sterben würde. Eine Behandlung war möglich, würde aber nichts Entscheidendes mehr verändern können. Normalerweise antworten die Frauen und ihre Partner in dieser Situation, dass sie trotz der Unheilbarkeit umgehend eine neue Behandlung beginnen wollen. Diese Patientin bat aber, erst in Urlaub fahren zu dürfen. Ich antwortete ihr, dass dies aus meiner Sicht möglich wäre und die Prognose nicht negativ beeinflussen würde. Wir verabredeten uns für nach dem Urlaub zur Festlegung der weiteren Behandlung.

Die beiden standen schon in der Tür, als ich die Patientin fragte, wohin sie reisen wollte. Sie schaute ihren Mann kurz an, als ob sie ihm ein Geheimnis beichten müsste: »Das wissen wir noch nicht, aber ich würde so gerne nach Marrakesch fahren.« Ich sagte zu ihrem Mann, dass er ihr das bitte ermöglichen solle. Tränen traten der Patientin in die Augen, aber sie wirkte befreit.

Nach einiger Zeit traf ich sie wieder und fragte, wie es in Marrakesch gewesen sei. Sie war nicht dorthin gefahren, 40 Grad waren ihr zu heiß erschienen. Sie hatte mit ihrem Mann Wien besucht. Die Patientin merkte mir meine Enttäuschung an. »Ich verspreche Ihnen, ich fahre Ostern hin«, sagte sie.

Ich antwortete, dass sie das Versprechen nicht mir, sondern sich selbst geben sollte. Sie erzählte, dass sie inzwischen noch mehr über Marrakesch und Marokko gelesen habe und dass ihre Sehnsucht, dorthin zu reisen, noch stärker geworden sei. Ich freute mich – sie war ja doch nach Marrakesch gereist, denn eine Reise beginnt nicht mit der körperlichen Präsenz eines Menschen an einem Ort oder bei einem Menschen, sondern mit dem ersten Gedanken, dem ersten Gefühl und mit der ersten Anstrengung, seinem Ziel nahezukommen. Sie hatte Bücher gelesen und von Marrakesch geträumt und damit die ersten und vielleicht wichtigsten Schritte ihrer Reise gemacht.

So sagt es der marokkanische Schriftsteller Mahi Binebine in seiner Geschichte Hinter den Mauern von Marrakesch: »Ja, so ist Marrakesch nun mal, mein Herz. Eine alte Hexe, deren Seele sich mit den Zeitläufen wandelt. Weltoffen und doch verschlossen, betörend und beängstigend zugleich. Eine Stadt wie diese gibt es kein zweites Mal.«

… und die Sonne in Marrakesch und überall woanders geht unter, und die Sonne in Marrakesch und überall woanders geht wieder auf …

Tage später erinnerte ich mich an eine Begebenheit, die schon etliche Jahre zurücklag. Eine Psychologin, die an einer Krebserkrankung litt, hatte trotz aktueller Fieberschübe und Fortschreiten der Erkrankung den Wunsch, nach Marrakesch zu reisen. Dass sie bald sterben würde, war ihr bewusst. Dennoch wollte sie sich den Wunsch, den sie schon lange in sich trug, endlich verwirklichen. Medizinische Gründe sprachen gegen diese Anstrengung; ihre Sehnsucht nach Marrakesch überzeugte mich aber davon, dass ihre Entscheidung für diese wahrscheinlich letzte Reise richtig war. Ich packte ihr einen Koffer mit Medikamenten und sie fuhr in das Abenteuer, vor dessen Ausgang sie keine Angst hatte. Ich wusste nicht, ob sie wiederkommen würde. Etwa zwei Wochen später brachte sie mir eine große Tüte mit schmackhaften Datteln aus Marrakesch. In Marrakesch findet man alle achtunddreißig Dattelsorten, von der schwarzbraunen Ajwa über die rötliche Khenaizy bis zur gelben Rushodia und der klassisch braunen Wannana.

Die Patientin hatte es vollbracht. Wenige Tage nach ihrer Rückkehr starb sie auf unserer Krankenstation. Wer weiß, wie lange sie sich hätte quälen müssen, wenn sie nicht nach Marrakesch gefahren wäre. Marrakesch half ihr loszulassen, Marrakesch half ihr, Abschied zu nehmen. Sie musste nach Marrakesch, um ihren Frieden zu finden. Sie musste sich von Marrakesch verabschieden, erst dann konnte sie Abschied von ihrem Leben nehmen.

In einem letzten Brief schrieb sie mir: »Sei still, beginne zu lauschen und du wirst es spüren: Marrakesch ruft nach dir.«

… und die Sonne in Marrakesch und überall woanders geht unter, und die Sonne in Marrakesch und überall woanders geht wieder auf …

Für den Jahreswechsel war geplant, dass ich ihn gemeinsam mit Freunden und meiner gerade von mir getrennt lebenden damaligen Frau verbringen würde. Da sich aber zwei der Freunde am Tag vor Silvester wegen einer Nichtigkeit zerstritten hatten, wurde diese Feier kurzfristig abgesagt. Eine Alternative ergab sich, als mich mein Doktorand Khalid anrief und meine damalige Frau und mich zum marokkanischen Silvester-Abendessen bei sich zu Hause einlud.

Ich freute mich sehr und fragte ihn: »Was wirst du denn kochen?« »Pastilla mit Fisch«, antwortete er fröhlich. »Pastilla mit Fisch?«, fragte ich skeptisch. »Das kenne ich gar nicht. Pastilla macht man doch nur mit Hühnchen.« »Nein, auch mit Fisch geht es«, konterte Khalid sofort, »ich habe das bei meiner Mutter gesehen und werde das morgen zum ersten Mal selber kochen.«