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Martin Kettlers Opfer ist eine historische Erzählung von Walter Flex. Auszug: In einer rheinischen Garnison fanden sich, als in den Sturmtagen des Juli 1870 mobil gemacht wurde, einige eng befreundete junge Husarenoffiziere im Hause der Familie eines Kameraden zur Abschiedsfeier zusammen. Auch Angehörige aus näherer und weiterer Ferne waren herbeigeeilt und saßen nun in zwiespältigen Gefühlen um die lange eichenlaubgeschmückte Tafel, auf deren weißen Damast heute, ohne daß es die Hausfrau merkte, bei zornbegeisterten Toasten mancher Tropfen roten und goldnen Rebenblutes gespritzt war. Der Abend rückte heran, und die Erregung der jungen Menschen wurde leidenschaftlich und wild.
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Seitenzahl: 24
Veröffentlichungsjahr: 2022
In einer rheinischen Garnison fanden sich, als in den Sturmtagen des Juli 1870 mobil gemacht wurde, einige eng befreundete junge Husarenoffiziere im Hause der Familie eines Kameraden zur Abschiedsfeier zusammen. Auch Angehörige aus näherer und weiterer Ferne waren herbeigeeilt und saßen nun in zwiespältigen Gefühlen um die lange eichenlaubgeschmückte Tafel, auf deren weißen Damast heute, ohne daß es die Hausfrau merkte, bei zornbegeisterten Toasten mancher Tropfen roten und goldnen Rebenblutes gespritzt war. Der Abend rückte heran, und die Erregung der jungen Menschen wurde leidenschaftlich und wild.
Da nahm, fast zuletzt, ein alter weißbärtiger Freund des Hauses, der schon seit Jahren nicht mehr amtierende Arzt Dr. Wagner, noch einmal das Wort und zwang mit einer Erzählung aus alten Sturmtagen die Stimmung wieder in ernstere Bahnen. Der alte Weißbart, der auf altväterisch geschnittenem schwarzen Rock das Kreuz von 1813 trug, verschaffte sich mit seiner ruhig-ernsten, an tausend Krankenbetten geschulten Stimme in dem Aufruhr der Jungen mit den ersten Worten eine ehrerbietige Stille.
»Meine jungen Herren, manche wilde Völker – und wir Alten sitzen ja hier herzklopfend unter Ihnen wie inmitten eines wilden, kampftrunkenen Volkes – glauben, daß die Schatten ihrer Altvordern vor ihnen her ins Getümmel ziehen. Wir Menschen der neuen Zeit sind so klug geworden, daß wir davon nichts mehr wissen wollen. Nur manchmal, wenn die Leidenschaft in uns wühlt, vergessen wir unsere Weisheit und müssen glauben, was wir fühlen. Darum haben Sie Nachsicht, wenn ich alter Mann, der schon mehr den Toten als den Lebenden angehört, heute noch etwas wie Totenbeschwörung treibe und Schatten heraufrufe, die einst mit mir Fleisch und Blut waren. Ich bin heute töricht genug zu glauben, daß sie unsichtbar vor Euch Jungen herziehen. Und jedenfalls ist's das Beste, was ich alter Invalide Ihnen mitgeben kann. Wollen Sie mir eine Weile zuhören?«
Blicke und Worte drangen bittend in den Veteranen. Da fuhr er fort.
»Wir saßen in den ersten Maientagen des Völkerfrühlings 1813, eine Runde junger Studenten, die freiwillig den Rock des Königs trugen und in aller Eile in dem ABC der Kriegskunst ausgebildet wurden, ehe wir auf den Kriegsschauplatz abgeschoben werden konnten, in ähnlicher Stimmung wie Sie heute auf einer Studentenbude in Berlin bei Weißbier und Tabak beisammen, redend, singend, politisierend und trinkend. Ein Toast überjauchzte den andern, und die Begeisterung schwoll auf und schlug uns übermächtig über den Köpfen zusammen.
Diese Sitzungen gingen unter uns Kameraden reihum, und diesmal waren wir bei einem jungen Theologen, Ernst Junge, zu Gast. Nun wohnte da im selben Hause, ohne daß ich und die andern – der Junge ausgenommen – davon wußten, noch ein anderer Student, ein Jurist, kein Preuße, sondern ein junger sächsischer Edelmann Martin Kettler. Der ging damals in unsern schönsten Tagen durch eine harte Zeit.