Martin Schulz - Der Kandidat - Manfred Otzelberger - E-Book

Martin Schulz - Der Kandidat E-Book

Manfred Otzelberger

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Beschreibung

Er ist frisch, frech und fröhlich – und er kommt von ganz unten. Jetzt will er Kanzler werden: Martin Schulz fordert Angela Merkel bei der Bundestagswahl 2017 heraus. Einschnitte in der Biografie wie der Abbruch der Schule und seine Alkoholsucht in jungen Jahren haben den Mann mit dem Bart stark gemacht. Heute sieht sich der gelernte Buchhändler und vielsprachige Autodidakt als Anwalt der „kleinen Leute" und „hart arbeitenden Menschen, die sich an Regeln halten". Doch ist er das wirklich? Ist also der ehemalige EU-Parlamentspräsident ein kantiger Klartext-Mann und charismatischer Erlöser, der die Erstarrung in der Politik aufbricht und Deutschland „gerechter" macht? Oder ist er in Wirklichkeit nur ein Blender und Verführer, ein Populist, der lediglich eigene Machtinteressen verfolgt und der Wirtschaft mehr schadet als nützt? Fest steht: Das unbedingte Streben nach oben kennzeichnet seinen Lebensweg. Gestern Parlamentsprimus in Brüssel, heute Kanzlerkandidat einer eben noch am Boden liegenden SPD. Der Jubel um ihn kennt kaum Grenzen, die Umfragewerte schießen nach oben. Entsteht da eine neue Lust auf Politik? Fast scheint es, als hätte man auf ihn, den wortgewaltigen Rheinländer und neuen Liebling der Nation, gewartet. Spannend, vielschichtig und voller unbekannter Details zeigt Manfred Otzelberger, wer Martin Schulz wirklich ist, woher er kommt und wohin er will. Eine faszinierende Aufsteigergeschichte, mit vielen Siegen und auch manchen dunklen Seiten: von der Kleinstadt Würselen an die Spitze der deutschen Politik.

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Seitenzahl: 249

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Manfred Otzelberger

Martin Schulz – Der Kandidat

DIE BIOGRAFIE

 

 

 

 

 

 

 

 

2. korrigierte und erweiterte Auflage

 

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2017

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

 

Umschlaggestaltung: Verlag Herder

Umschlagfoto: dpa Picture-Alliance

E-Book-Erstellung: Daniel Förster, Belgern

 

ISBN (E-Book) 978-3-451-81166-1

ISBN (Print) 978-3-451-37895-9

Inhalt

Einleitung – Der richtige Moment?
Ein Machtmann nimmt Witterung auf
Brüchige Biografie mit Kanten
Menschenfischer, Geschichtenerzähler
Martin Schulz von A bis Z – Ein Mosaik
Kleine Verhältnisse – Aus dem Märchenbuch des sozialen Aufstiegs
Power-Mutter – Und Ordnung muss sein
Rechts gegen Links – Debatten am Küchentisch
Rechtsfuß auf Linksaußen – Das Kampfschwein und ein geplatzter Traum
Eisenharte Lokomotive
Am Boden zerstört
Niederlage als persönliche Beleidigung
Dunkle Jahre – Alkohol und Absturz
Allmähliches Abgleiten
»In dieser Nacht wollte ich Schluss machen«
Ein Quäntchen Demut als ständiger Begleiter
Das Kanzlerholz und der Sausack – Ein Schulabbrecher im höchsten Amt?
Männlicher Pippi Langstrumpf – Und Schulsprecher
Ein Buchhändler als Retter – Und andere Wege zur Bildung
Fehlende »Dachstube mit Innenausbau«?
Privates Glück – Große Liebe, heilige Familie
»Ohne Inge bin ich eine arme Socke«
Eigenständigkeit
Lernort Würselen – Ganz nah an der großen weiten Welt: Erst Bart, dann Buch, dann Politik
Bekannter als der Fußballbundestrainer
»Ich fand, ein Juso muss einen Bart haben« – Geschenk für Karikaturisten
Ein Buchhändler im Bundestag
Junger Stadtrat – Hobbypolitiker und Kümmerer
Stadtchef mit 31 – Ausreizen und Grenzen verschieben: Aber nicht alles läuft rund
Kitakrise
Wirtschaftskrise
Flüchtlingskrise
Spaßbadkrise
Zu eng, nach Europa – Flucht oder Neuanfang?
Wieder zur richtigen Zeit am richtigen Ort
Schnelles Lernen, schnelle Profilierung
Das Duell mit dem reichen Italiener
Der Showdown
Weg mit Berlusconi
»Hier sitze ich eines Tages« – Üben an der Spitze
Eine neue Ära
Führungswille, Größenwahn, Kulturwandel
Spitzenkandidat von eigenen Gnaden
Keine gute Figur – Freundschaft statt Recht?
Das europäische Projekt – Krisen und Kämpfe, Werte und Preise
Heimlicher Außenminister
Krümmungsgrade, Flüchtlinge & Co – Frust statt Lust
Kontrolle der Finanzindustrie und freier Handel
Schrecken der Rechten – »Mit mir nicht«
Wie glücklich eine Medaille macht
Der Instinkteuropäer
Das katholische »C« in der Vita – (politischer) Beistand von oben?
Die Kandidatur – Willy Brandt, Sigmar Gabriel und ein wenig Theater
Vorbild Willy
Sigmar Gabriel – Freund und Konkurrent
Aufbruchstimmung
Hohe Redekunst – Oder: »Sonst hätte Martin immer weiter gequatscht«
Gegenwind aus Parlament und Presse
Gut versorgt – mit Geld
Das Schröder-Gen – »Du musst es wollen«
Urthema Gerechtigkeit
Zum Schluss – 10 Gründe, warum der Kandidat gewinnen könnte
1. Grund: Überdruss und Neugier
2. Grund: Richtig im Zyklus
3. Grund: Sprache des »demokratischen Populisten«
4. Grund: Unangefochten und geschlossen
5. Grund: Mobilisierung und Begeisterung
6. Grund: Krieg der Schwestern
7. Grund: Lebensgeschichten
8. Grund: Gift von rechts
9. Grund: Frauenversteher
10. Grund: Internethype mit Humor
Anhang – Familie und Sympathisanten, Wegbegleiter und Gegner: Kurzinterviews zu Martin Schulz
Doris Harst, Schwester von Martin Schulz • Simone Fleischmann, Lehrerverbandspräsidentin • Bernd Thränhardt, Anti-Alkohol-Coach • Arno Nelles, Bürgermeister von Würselen • Achim Mallmann, Karnevalist • Matthias Dovermann, Spaßbad-Chef in Würselen • Jürgen Flimm, Theaterregisseur • Werner Spinner, Präsident des 1. FC Köln • Gunter Gabriel, Sänger • Hermann Bühlbecker, Süßwarenfabrikant • Klaus Staeck, Künstler • Manfred Güllner, Wahlforscher • Graf Lambsdorff, stellvertretender EU-Parlamentspräsident • FDP-Chefin in Hamburg • Ulla Schmidt, Ex-Gesundheitsministerin • Jens Spahn, CDU-Vordenker • Ingo Friedrich, CSU-Europapolitiker • Ulrich Maly, Nürnberger Oberbürgermeister • Katharina Barley, Generalsekretärin der SPD • Bodo Ramelow, Ministerpräsident von Thüringen • Susi Neumann, Putzfrau • Hans-Olaf Henkel, Liberal-Konservative Reformer (LKR) • Johanna Uekermann, Juso-Vorsitzende • Reiner Hoffmann, Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbundes
Danksagung
Über den Autor

 

 

 

Einleitung – Der richtige Moment?

»Wenn Martin Schulz ins Wasser springt, wird er nicht nass. Das Wasser wird sozialdemokratisch.« Ein Witz, der seit Februar 2017 im Internet verbreitet wird. Der große Satiriker Harald Schmidt dämpft die Schulz-Begeisterung etwas mit folgender Pointe, die auf eine spektakuläre Handy-Rückrufaktion bei Samsung anspielt: »Martin Schulz ist das neue Galaxy Note der SPD. Hoffentlich brennt ihm der Akku nicht durch.«

Klar, es sind nur Witze, aber Witze spiegeln immer auch ein Stück Wirklichkeit.

Die schaut im Jahr 2017 plötzlich so aus: Politik ist nicht mehr berechenbar langweilig, Politik ist eine Wundertüte. Man weiß nicht, was drin ist, man weiß nicht, was rauskommt. Und Politik wird wieder das, was sie in der Demokratie sein soll: ein Wechselspiel der Gunst, aus neuen Stimmungen werden Stimmen. Nichts ist in der Demokratie so beständig wie die Veränderung.

Das Phänomen Schulz beschäftigt alle, die sich auch nur ein wenig für das Wohl des Landes interessieren – wird sein Aufstieg 2017 bestimmen, wird er der Mann des Jahres, der die Kanzlerin stürzen kann? Ist er nur ein »Illusionskünstler«, wie ihn die Frankfurter Allgemeine Zeitung beschreibt, oder ein deutscher Obama? Spiegel.de jedenfalls findet: »Und ob he can« Ist seine Zeit gekommen? Es scheint so, mit aller Vorsicht formuliert, als ob da ein Knoten geplatzt ist, ein Fenster geöffnet wurde. Der Mief der Behäbigkeit bei den Sozialdemokraten, ja bei der deutschen Politik insgesamt, wirkt wie weggeblasen.

»Time is on my side, yes it is« singen die Rolling Stones. Martin Schulz hat das in seiner Jugend gehört, über perfekte Momente in der Politik hat er lange nachgedacht. Schließlich war er schon vor dreißig Jahren Bürgermeister in der nordrhein-westfälischen Kleinstadt Würselen und danach, mehr als zwei Dekaden lang, in Brüssel und Straßburg EU-Parlamentarier. Er ist dennoch kein klassischer Karrierist – aber durchaus ein entschlossener Machtmensch, einer der vorneweg laufen will. Wann ist es Zeit zum Springen? Zur Veränderung? Die alte Rolle des Mr. Europa, aus Berliner Perspektive letztlich eine Nebenrolle, hinter sich lassen, ohne sich davon zu distanzieren?

Ein Machtmann nimmt Witterung auf

Schulz tritt sehr spät als ein Hauptdarsteller in das Zentrum der deutschen Politik. Normalerweise gilt die Regel: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben. Das Bonmot von Michail Gorbatschow, gemünzt auf die verdatterten Greise des DDR-Politbüros, ist ein politisches Gesetz – und bereichert als geflügeltes Wort den allgemeinen Sprachgebrauch, weil es auch für den Durchschnittsbürger auf fast alle Lebenssituationen anwendbar ist. Aber in der Politik ist dieser goldene Satz nur die Hälfte der Wahrheit. Hier gilt oft auch das Prinzip: Wer zu früh kommt, den bestrafen die Wähler – und am Ende kann ein Kanzlerkandidat so zerzaust und mitleidserregend dastehen wie der harmlose Frank-Walter Steinmeier 2009 oder der als geldgierig geschmähte Peer Steinbrück bei der Bundestagswahl 2013.

Es kommt also neben der politischen Performance auf das Timing an, wenn eine politische Figur die Bühne betritt. Ein Politiker muss das Momentum für sich haben, den Instinkt für den idealen Augenblick, die Kunst, zur richtigen Zeit am richtigen Platz zu sein. Martin Schulz hat, wie es aussieht, das Momentum, er hat einen Lauf – egal ob es pures Glück ist oder Ergebnis strategischer Weitsicht.

»Jetzt ist Schulz« und »Zeit für Martin« jubeln seine Anhänger, seit ihn Sigmar Gabriel zum Kanzlerkandidaten ausrief. Kaum zu glauben eigentlich: Innerhalb kürzester Zeit hat der neue Vorsitzende der SPD eine fast schon depressive Partei wieder stolz gemacht. Plötzlich ist gar das Undenkbare möglich, der Sieg gegen »Mutti Merkel«. Bei den Sozialdemokraten pfeifen sie seit dem 24. Januar, dem Tag der Kandidatenkür, innerlich den Gassenhauer »So ein Tag, so wunderschön wie heute, der dürfte nie vergehen...« Sie, denen niemand mehr einen kraftvollen Wahlkampf geschweige denn den Wahlsieg zugetraut hat, berauschen sich plötzlich an sich selbst und ihrem Chef. In der ältesten deutschen Partei, die nie ihren Namen ändern musste, werden deftige Plakate hochgehalten, die auch schlichte Naturen verstehen: »Martin, du geile Sau!«. Das sagt alles. Schulz wirkt wie ein Brustlöser.

Und er zieht auch immer mehr Nichtsozis in seinen Bann. Je nach Umfrage hat der ebenso freche wie fröhliche Bartträger aus dem Rheinland der seit Jahren chronisch darniederliegenden Sozialdemokratie in den ersten Monaten nach seiner Nominierung hohe einstellige, wenn nicht zweistellige Prozentzuwachswerte beschert. Mehr noch: Über 10 000 Menschen sind in nur wenigen Wochen in die SPD eingetreten, die Parteibücher sind ihr an manchen Orten ausgegangen – ein Mangel als Glücksgefühl. Wer hätte das gedacht: Der Ex-Bürgermeister, der ehemalige Präsident des Europäischen Parlaments, den bis vor Kurzem vor allem Politikinsider und Europaexperten näher kannten – er ist der Shooting Star der Berliner Republik.

Allerdings: Wer so schnell aufsteigt, kann auch schnell wieder fallen. Wenn Journalisten eine neue Figur hochschreiben, begleiten sie diese auch gerne wieder beim Abstieg. Aber ob man Martin Schulz nun mag oder nicht, ob man ihn für einen Dampfplauderer oder den Erlöser hält: Man muss ihn ernst nehmen. Fest steht: Politik ist durch sein Auftauchen auf der Bundesebene wieder spannend geworden. Wahlforscher sprechen von einem Wunder, einen derartigen Popularitätsgewinn von rund zehn Prozent in so kurzer Zeit haben sie in der jüngeren Vergangenheit noch nie erlebt. Sie staunen – und wer redet heute noch von Peer Steinbrück, der zu Beginn seiner glücklosen Kandidatur seine Partei auch mal über die 30-Prozent-Marke gehievt hatte, nur um dann wieder abzustürzen?

Dieses Mal scheint alles anders. Der Trend scheint ein Genosse zu sein, er ist stabil, verstetigt sich. Journalisten überschlagen sich mit Vergleichen und Überhöhungen. Der Spiegel titelt mit der ironischen Zeile »Der heilige Martin«, der Focus hält ganz ernst gemeint mit »Der Scheinheilige« dagegen, die Bild am Sonntag widmet dem Neuen drei doppelbödige Worte: »Alternative für Deutschland?« Egal, was diese meinungsbildenden Blätter schreiben: Entscheidend ist, dass sie Schulz zum Thema machen und seinen Bekanntheitsgrad laufend vergrößern. Und sich ganz offensichtlich freuen, dass der Bundestagswahlkampf ein frisches Gesicht hat, das den ganzen politischen Betrieb durcheinanderwirbelt. Und mit dem sie Auflage und Geschäft machen können.

Wie lässt sich so eine rasante Veränderung der politischen Stimmung in der SPD und in Deutschland insgesamt erklären? Das fragen sich viele. Kein Zweifel: Der Überraschungseffekt war wichtig. Da steht plötzlich ein überzeugender Kandidat zur Wahl, ein Mann, der vor Begeisterung sprüht und gerne zuspitzt, ein Herausforderer, der an seine eigene Bedeutung glaubt, ein Außenseiter, der die Favoritin stürzen will, ein volksnaher kantiger Typ, mit dem sich nicht wenige Menschen identifizieren können.

Doch das allein genügt nicht. Wie es aussieht, trifft er auf eine immer müder werdende Kanzlerin, die nach knapp 12 Amtsjahren ihre besten Tage plötzlich hinter sich hat. Eben noch wirkte sie wie ein Hort der Stabilität in unruhigen Zeiten. Vorbei. Und dann auch die ewigen Querschüsse aus der bayerischen Schwesterpartei CSU. Die herzliche Abneigung, mit der sich Angela Merkel und Horst Seehofer verbunden sind, war in den letzten zwei Jahren nicht zu übersehen. Sie wirken wie ein griesgrämiges Ehepaar, das sich längst auseinandergelebt hat. Merkel ist angeschlagen. »Ich rieche ihre Schwäche«, findet Arbeitsministerin Andrea Nahles, die am Kabinettstisch Tuchfühlung hat. Machtmann Schulz hat Witterung aufgenommen – und will sie zur Strecke bringen. Weil er sich »gefühlt und faktisch « für den besseren Kanzler hält.

Brüchige Biografie mit Kanten

Im plötzlich elektrisierenden Ringen hat Schulz einen entscheidenden Vorteil – seine Biografie. Im Gegensatz zu Merkel kommt er von ganz unten. Und er hat eine Story anzubieten, die viele Menschen fasziniert: Vom Saulus zum Paulus, vom Verirrten zum Vorbild, vom armen Jungen (»Ich bin der Sohn einfacher Leute«) zum Spitzenpolitiker. Er ist griffig, nicht aalglatt, er löst keine Gleichgültigkeit aus, er erscheint mutig und echt, als das Gegenteil eines Strebers, nicht als Karrierist.

Ein bisschen erinnert seine wilde Vita an den Taxifahrer und Steinewerfer Joschka Fischer, der – auch ohne Abitur und Uni – keinen kalt ließ und mit seiner mitreißenden Redekunst die Ökopartei von Erfolg zu Erfolg führte. Frechheit siegte und trug ihn bis zum Außenminister – mehr ging als Grüner nicht.

Für Schulz’ Ansprüche wäre das zu wenig. Er will nach ganz oben. Mit der Methode: Wenn du eine Schwäche hast, mache sie zu deiner Stärke. In der Tat: Schulz hat aus seinen Wunden ein Wunder gemacht. Stünde er sonst da, wo er steht? Sein Leben war phasenweise ein Drama, das die stets um Sachlichkeit bemühte Pfarrerstochter Angela Merkel, in der DDR eine abwartende Mitläuferin, nicht anzubieten hat. Die ihr eigene umsichtige Vorsichtigkeit erklärt dabei, warum sie als Kanzlerin bis heute eher moderiert als führt. Den Kopf lieber nicht zu weit rausstrecken – lange funktionierte das, durchaus als Erfolgsrezept. Und nun?

Ganz anders Schulz. Ganz anders seine Prägung. Ganz anders sein Politikstil. Er kennt die tiefen Löcher in der eigenen Geschichte, die Verzweiflung, wenn Lebensträume zerplatzen. Er verhehlt sie nicht. Eine schwere Knieverletzung beendete seinen Traum vom Fußballprofi – und er glitt jahrelang als junger Mann in den Alkohol ab. Dass er nicht völlig in der Gosse landete und heute überhaupt noch lebt, lag an seiner starken Familie, die ihn nie fallen ließ. Er besiegte seine Sucht, es gab, zumindest soweit bekannt, nie einen Rückfall. Der Zügellose wurde diszipliniert. Hinfallen darf man, aber nicht liegen bleiben – das ist sein Lebensmotto. Er stürzte, aber er blieb nicht liegen. Im Gegenteil: Seine Stürze trieben ihn noch mehr an. Ein Motiv, das vielen Respekt abverlangt. Und so ist es heute möglich, dass ein trockener Alkoholiker mit wachsenden Chancen nach dem höchsten Regierungsamt greift.

Das ist Deutschland 2017 – es gilt: Jeder hat das Recht, sich neu zu erfinden. Oder besser: Das galt schon immer, vor allem in den 1960er- und 70er-Jahren, als das Versprechen »Jeder kann aufsteigen – durch Lernen und ehrliche Arbeit« das Land nach vorne trieb. Das Versprechen beinhaltete im Übrigen, dass allen, die es nicht alleine schaffen, geholfen wird. Längst aber glauben diese in die Jahre gekommene Botschaft immer weniger. Vor allem seit Weltfinanz-, Euro- und Flüchtlingskrise wächst das Unbehagen am »System« und an den politischen und wirtschaftlichen Eliten. Die fetten Jahre erscheinen für viele vorbei, zu zahlreich sind die Krisen allerorten. »Die Welt ist aus den Fugen geraten, wo ist der Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält?«, fragte Frank-Walter Steinmeier noch als Außenminister. Und nun? Desorientierung? Wohin soll die Reise gehen? Und dann kommt plötzlich Schulz und erinnert mit seinem Aufstieg und seinen Kanten, mit seinen Siegen, Brüchen und Narben daran, was alles möglich ist. Einer mit Zuversicht, ein Neuer – der noch dazu Erfahrung hat. Mit ihm scheint sich plötzlich eine schöne alte Sehnsucht breitzumachen. Auch bei der jungen Generation. Vielleicht gerade bei ihr.

Dabei ist es gleichgültig, dass der Kandidat die Flasche durch die Droge Politik ersetzt hat. Im Bundestag, den er als Berliner Quereinsteiger ja noch nicht kennt, wird er viele heimliche Trinker treffen, die das nicht geschafft haben. Dieser Sieg über sich selbst ist ebenso bemerkenswert wie die Tatsache, dass Schulz kein Abitur hat – noch nicht mal auf dem zweiten Bildungsweg. Zweimal ist er durchgefallen und resignierte vor dem schnöden Lehrstoff, der ihn damals kaum interessierte. Mit Mathematik und Naturwissenschaften konnte er nichts anfangen, da nutzte das ganze Interesse für Sprachen, Geschichte und Deutsch nichts. Das Leben hat ihn klug gemacht, nicht die Schule.

Menschenfischer, Geschichtenerzähler

So ein Scheitern in einer Lebenskrise kennen viele. Auch darüber kommt man ins Gespräch, auch so etwas schafft Nähe. Schulz ist kein perfekter Erfolgsmensch. Gerade das spricht an. Im Unterschied zu Angela Merkel kann man sich ihn mit seiner Lust an der Selbstdarstellung, aber auch am Zuhören, an jedem Stammtisch vorstellen. Und danach wird er viele umgedreht haben. Wer ihn öfter erlebt hat, versteht: Schulz hat nicht vergessen, woher er kommt, er kann sofort auf das Volkstümliche umschalten, die sogenannten kleinen Leute fühlen sich von ihm ernst genommen. Er ist ein Menschenfischer, der mit einprägsamen Geschichten fesselt.

Und mit 61 Jahren ist er voller Energie. In diesem Alter sind manche schon in Frührente, zumindest in geistiger. Schulz dagegen fühlt sich auf dem Höhepunkt seiner politischen Leistungskraft. Vielleicht auch, weil er in seiner Jugend so viel Zeit mit Unsinn vergeudet hat. Die Kanzlerin, die beinahe gleich alt ist, wirkt deutlich mitgenommener, die Jahre der Macht zehren an jedem, es ist der anstrengendste Job, den Deutschland zu vergeben hat. Schulz hat als EU-Parlamentspräsident deutlich bequemer gelebt, auch wenn er wohl genauso umtriebig wie Merkel war und noch mehr Flugkilometer zurückgelegt hat.

Dieses Duell wird Deutschland bis zum 24. September beschäftigen – und sicherlich darüber hinaus. Gibt es eine neue große Koalition unter Führung von Angela Merkel, dann bleibt Schulz bei einem einigermaßen anständigen Ergebnis der starke Mann der SPD, der auf die nächste Wahl hofft. Und wenn die SPD stärkste Kraft wird, wird Angela Merkel wohl aus der Politik ausscheiden. Schwer vorstellbar, dass sie dann als Vizekanzlerin in ein Kabinett Schulz eintreten würde.

Es mag undankbar sein gegenüber einer Frau, die enorme Verdienste hat und zu Recht vom amerikanischen Nachrichtenmagazin Forbes als mächtigste Frau der Welt geadelt wurde. Aber in der Politik gibt es keine ewige Heiligsprechung, keine Dankbarkeit, dafür aber Überdruss auch an dem Erfolgreichen und in gewissen Zyklen die Lust auf etwas radikal Neues. Die Parole »Merkel muss weg«, dieser Schlachtruf der Rechtspopulisten und Ultrarechten, der in Ekel erregender Form immer wieder schrill hinausgebrüllt wurde, kann sich auf einer seriösen Ebene verfestigen. Und Martin Schulz und seiner Partei Wähler zutreiben, die bisher der SPD eher fernstanden. Auch gilt: Nicht jede Wählerin entscheidet sich lieber für eine Frau.

Wer kann mehr Begeisterung wecken, mit welcher biografischen und politischen Erzählung? Die Pastorentochter oder der Polizistensohn? Die promovierte Physikerin oder der Buchhändler ohne Hochschulreife? Das Prinzip »Weiter so, keine Experimente« oder der Aufruf »Neues wagen«? Die Krisenmanagerin, auf die man in unsicheren Zeiten setzt? Oder der Hauptstadt-Novize aus Würselen, der für die EU schon den Friedensnobelpreis entgegennahm? In der Tat muss man sich auch nach Würselen begeben, Schulz’ Heimatstadt im Dreiländereck Deutschland-Niederlande-Belgien, um seinen Aufstieg und seine Dynamik heute verstehen zu können. Schulz kommt aus der Provinz, aber er ist ganz und gar nicht provinziell. Dafür ist er zu belesen, zu international vernetzt, zu neugierig, zu weltläufig – er spricht außer Deutsch fünf weitere Sprachen (Englisch, Französisch, Niederländisch, Spanisch und Italienisch).

In diesem Wahlkampf wird es auch um Stimmungen und Psychologie gehen, nicht nur um Zahlen und Fakten, die durchaus für Merkels Regierungsbilanz mit der SPD als Juniorpartner sprechen. Aber die Menschen wählen jemanden weniger wegen seiner Verdienste in der Vergangenheit, sondern wegen einer Zukunftsperspektive. Die »hart arbeitenden Menschen«, von denen Schulz immer spricht und zu denen er sich selbst zählt, wollen, wie es scheint, auf eine neue Art angesprochen werden. Da könnte es dann durchaus heißen: Vorteil Schulz.

Aber wer weiß das schon – Politik ist mehr denn je eine Wundertüte (siehe oben). Doch es gilt: Ist die Zeit reif, kann Leidenschaft Berge versetzen. Victor Hugo, der berühmte französische Schriftsteller, schrieb in seinem Roman »Der Mann mit dem Lachen« einen Satz, der Schulz gefallen dürfte: »Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist.« Ist Schulz demnächst der Mann mit dem Lachen?

In der SPD ist Oskar Lafontaine heute eine Unperson, weil er die Partei verließ und zur politischen Konkurrenz der Linken wechselte. Aber sein Prinzip vom berühmten Mannheimer Parteitag 1995, bei dem er den lau und einschläfernd wirkenden Rudolf Scharping stürzte, ist bis heute gültig: »Es gibt noch Politik-Entwürfe, für die wir uns begeistern können, und wenn wir selbst begeistert sind, können wir auch andere begeistern.«

Da wird Martin Schulz lächelnd nicken. Er ist alles, nur nicht lau und langweilig. Und er hat einiges anzubieten. In Sachen Arbeit, Wirtschaft und Soziales, in Sachen Flüchtlinge, Brexit, Eurokrise, Europa, Sicherheit. Sachliches, Aufregendes, Widersprüchliches. Glaubwürdiges und kaum Glaubliches. Persönliches und Politisches.

Genügt das? Wer ist Martin Schulz? Woher kommt er, was prägte ihn, was treibt ihn? Und was will er – für sich, Deutschland und Europa? Davon handelt dieses Buch, dass durch Gespräche mit Martin Schulz und prägenden Figuren seines Lebens entstand.

 

 

 

Martin Schulz von A bis Z – Ein Mosaik

Was macht einen Politiker aus? Warum wird er gewählt oder verschmäht? Da gibt es zum einem seine Biografie, seine persönliche Geschichte. Da gibt außerdem ein politisches Programm, das er vertritt. Es gibt es zudem den richtigen Zeitpunkt, den ein Politiker für sich entdecken und nutzen muss – so wie ihn Angela Merkel für sich nutzen konnte, als sie handstreichartig die Chance ergriff, CDU-Vorsitzende zu werden.

Daneben aber gibt es auch Konturen eines Politikers, die einerseits wahrgenommen, andererseits gefühlt werden. So etwas wie bewusste oder unbewusste Sympathie oder Abneigung, festgemacht an Eigenschaften, Handlungen, Äußerlichkeiten, Anekdoten oder Geschichten.

Häufig werden sie zu wenig beachtet. Hier sind, gewissermaßen als etwas anderer, pointierter innovativer Einstieg zu Martin Schulz, ein paar Storys und Details über ihn versammelt die ihn charakterisieren.

Die Storys und Details sind von A bis Z geordnet. Sie beschreiben Menschliches und Allzumenschliches von Martin Schulz, manchmal auch etwas Abseitiges. Sie erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Und doch zeigen sie etwas an ihm und sagen vieles über ihn. Unter anderem lassen sie erkennen, dass Schulz offenbar so etwas wie ein »Typ« ist, einer mit Ecken und Kanten, und doch geschmeidig genug, sich anzupassen sowie Machtchancen zu sehen und zu ergreifen.

 

A wie Anzug: Martin Schulz war nie beim Militär, aber er bewegt sich in der Öffentlichkeit in einer seriösen Uniform, die ihm Sicherheit gibt: Anzug, weißes oder höchstens blaues Hemd, dezente Krawatte. Das alles bekommt er bei Männermode Lürken in Würselen, ein Fachgeschäft, das ihm seit 15 Jahren ans Herz gewachsen ist. Schulz trägt Anzüge von Eduard Dressler, einem deutschen Designer, die zwischen 500 und 700 Euro kosten. Langlebig, gehobene Mittelklasse, gediegen. Ein luxuriöser Brioni-Anzug, wie ihn Gerhard Schröder getragen hat, ist bei Schulz nicht vorstellbar. Seine Schuhe? Marke Hamlet. Sein oder Nichtsein …

 

B wie Bretagne: In der Bretagne macht Martin Schulz gerne Urlaub. Er kann sich sogar vorstellen, hier teilweise seinen Lebensabend zu verbringen. An der Küste kann er sich am besten erholen. Frankreich ist sein Sehnsuchtsland. Er genießt den Klang der Sprache und hatte eine Zeit lang auch ein Ferienhaus dort. Wie im Übrigen einst sein Vorbild Willy Brandt, eine kleine Parallele der beiden SPD-Größen.

 

C wie Chansons: Martin Schulz ist ein Mann, der über die Stimme kommt. Er ist bekanntermaßen nicht nur ein kraftvoller Redner, er singt auch leidenschaftlich gerne, zum Beispiel Chansons von Charles Aznavour, der ständiger Vertreter Armeniens bei den Vereinten Nationen in Genf ist und mit über 90 noch auf der Bühne steht. Deutsche Stimmungsschlager sind eher weniger Schulz’ Sache. Das »Tschingderassabumm« liegt ihm ebenso wenig wie das Liebespathos; er mag eher das dem Chanson eigene Gebrochene, das Tiefgründige, das Melancholische. (Ein leidenschaftlicher Karnevalist ist er trotzdem.)

 

D wie Dutroux: Es ist eine Begegnung mit dem Teuflischen in menschlicher Gestalt, die Martin Schulz bis heute nicht vergessen hat: Der Vater von zwei wohlgeratenen Kindern muss  sich als junger Europaabgeordneter um den Fall Dutroux, den größten Justizskandal Belgiens, kümmern. Marc Dutroux hat mehrere Kinder im Alter von 8 bis 19 Jahren entführt, vier junge Menschen verhungerten oder wurden ermordet.  Schulz verfasst einen Bericht über europäische Kinderschänderringe und trifft die Eltern der ermordeten Kinder Julie und Melissa. »Es war die bewegendste Begegnung, die ich je in meinem Leben gehabt habe«, erzählt er nachher erschüttert. Aber er sagt ebenfalls: Der Rechtsstaat gilt auch für  Sadisten und Mörder.

 

E wie Erasmus: Für Martin Schulz die Seele der europäischen Idee. Das nach dem großen Humanisten der Renaissance Erasmus von Rotterdam benannte EU-Programm für Bildung, Jugend und Sport hat seit seiner Gründung im Sommer 1987 Millionen von jungen Menschen zusammengeführt. Einmal abgesehen von vielen Stipendiengeldern sind angeblich auch über eine Million Erasmus-Babies durch das weltweit größte Förderprogramm von Auslandsaufenthalten an Universitäten inspiriert worden. Martin Schulz war als gescheiterter Abiturient zwar vom Erasmus-Programm ausgeschlossen, aber für die Idee wirbt er sehr. Und seinen Geist praktizierte er schon früh: Der Schüleraustausch nach Bordeaux war laut eigenem Bekunden ein Höhepunkt seines Lebens. Später heiratete er mit seiner Inge eine Frau, die als Kind mit ihren Eltern aus Polen ins Rheinland gekommen war. Keine Multikulti-Ehe, aber eine im besten europäischen (Erasmus-)Spirit.

 

F wie Fitness: Martin Schulz hat wie viele Politiker ein Problem: Während die Machtfülle wächst, wächst der Bauch auch. Das Leben eines Politikers besteht nun mal aus vielen Sitzungen und Flügen. Und das hat Folgen. Aber: Im Herbst 2016 sind Schulz’ Fettpolster plötzlich verschwunden. Plötzlich wirkt er drahtiger denn je. Seine Frau, die auf seine Gesundheit achtet, soll es erfreuen. 13 Kilo hat er ohne eine bestimmte Diät abgenommen. Er hat, wie er berichtet, einfach weniger gegessen – und musste dafür noch nicht einmal, wie einst Jo-Jo-Abnehmkünstler Joschka Fischer, der längst wieder ein Schwergewicht ist, die Laufschuhe anziehen. Anderen ehemaligen Fußballern nicht unähnlich mag Schulz das Joggen nicht so sehr – allein wegen seines lädierten Knies, das ihm in jungen Jahren die Fußballerkarriere kostete. Einen Schwächeanfall, wie ihn der damalige US-Präsident Jimmy Carter beim Laufen erlitt, will er sich auch ersparen. Er weiß: Solche Bilder kriegt er nie mehr los. Im Übrigen ist Martin Schulz nie wirklich dick gewesen. Von der Körperform eines Helmut Kohl, Ludwig Erhard, Franz Josef Strauß oder Peter Altmaier ist er zeitlebens meilenweit entfernt geblieben.

 

G wie Geißbock: Ein Tier, das Martin Schulz liebt. Hennes, der Geißbock, ist der Glücksbringer des 1. FC Köln, der bei jedem Bundesligaspiel im Stadion ist und auch meckert, wenn es läuft. So oft es geht, schaut Edel-Fan Martin Schulz den rheinischen Kickern zu. Ein Leben ohne Fußball, daraus macht er keinen Hehl, ist für ihn möglich, aber sinnlos. Hier kann er seinen Gefühlen freien Lauf lassen. Sein Geständnis »Ich bin ein kleiner Prolet« bezieht sich auch darauf, dass er lieber im Stadion sitzt als im Nationaltheater.

 

H wie Hippo: Martin Schulz ist kein Zoologe, aber ein leidenschaftlicher Vater. Er reist nie ohne sein Gummi-Nilpferd, das seine Tochter Lina ihm vor vielen Jahren als Glücksbringer geschenkt hat. »Das weitgereistete Hippo der Welt«, meint Schulz lachend. Auch er braucht offenbar etwas Magisches, woran er sich festhalten kann. Dass die afrikanische Tierart gefährdet ist, macht sie noch kostbarer. Arbeitsparallelen zum Nilpferd gibt es allerdings bei Schulz nicht: Hippos verbringen fast den ganzen Tag schlafend oder ruhend. Fünf bis sechs Stunden brauchen sie für die Nahrungsaufnahme. Wenn sie müssen, können sie zwar bis zu 50 Stundenkilometer schnell laufen – allerdings halten sie diese Geschwindigkeit nur wenige hundert Meter durch. Dagegen ist Schulz ein Wunder an Ausdauer – jedenfalls, wenn man seine elf Jahre als Bürgermeister seiner Heimatstadt Würselen oder die 23 Jahre im Europaparlament zum Maßstab nimmt. Im Wahlkampf wird er sie ebenfalls brauchen.

 

I wie Immobilien: Martin Schulz wohnt mit seiner Familie in einem normalen Eigenheim in Würselen, das nichts Protziges an sich an. Auffallen tun nur die Bodyguards und Sicherheitskräfte, die das Anwesen überwachen. Und die stehen da nicht ohne Grund. In der Vergangenheit gab es Farbanschläge auf sein Haus, offenbar aus dem linksradikalen Milieu. In der Zukunft? Wenn er Kanzler wird, wird sich auch der Schutz rund ums Schulz’sche Anwesen verstärken.

 

J wie Jenseits von Eden: Das Kultbuch des amerikanischen Schriftstellers John Steinbeck, das Martin Schulz immer wieder zur Hand nimmt. Zwei Brüder kämpfen um die Liebe ihres Vaters, die durchtriebene Cathy, eine femme fatale, die beide Männer betört, hat mit beiden ein Verhältnis, das böse endet. Demgegenüber ist das Liebesleben von Martin Schulz eher bürgerlich normal zu nennen. Jedenfalls soweit das von außen zu beurteilen ist. Und mit seinen beiden weitaus älteren Brüdern hat er sich auch nie um Frauen gestritten.

 

K wie Karnevalspreis: Martin Schulz, das ist bekannt im Rheinland, liebt den Karneval. Und doch gibt es für ihn Momente, an dem der Spaß aufhört. So, als er den berühmtesten deutschen Karnevalspreis ausschlägt, den Orden wider den tierischen Ernst, verliehen in Aachen. Es ist die begehrte Auszeichnung als Ritter des guten Humors, nach der sich viele Politiker sehnen. Er nimmt den Preis nicht an, obwohl damit die Chance verbunden ist, über die mit der Ordensverleihung verbundene Fernsehpräsenz zur besten Sendezeit bundesweit deutlich bekannter zu werden. Die Zeiten sind ihm zu ernst, die Griechenlandkrise fordert ihn. »Es ist undenkbar, dass ein Präsident in die Bütt steigt, während es in Griechenland brennt«, meint er. Ein Opportunist, der auf jede Bühne springt und an keinem Mikrofon vorbeigehen kann, ist Martin Schulz offenbar (und bislang) nicht.

 

L wie Lebensmittel-Discounter: Martin Schulz kauft gerne mal bei Aldi ein, wenn er am Wochenende Zeit dazu hat. Da wird er dann gesehen und angesprochen, besser ist Volksnähe kaum herstellbar. Ein cleveres Signal: bescheidener Lebensstil trotz Luxusgehalt (denn das hatte Schulz als EU-Parlaments­präsident, der er bis 2017 war). So ein Einkauf beim Discounter schützt in jedem Fall ein wenig gegen die Abgehobenheit in den Raumschiffen von Brüssel oder Berlin. Denn es ist gut zu wissen, wie viel ein Liter Milch, ein Kilo Kartoffeln oder ein Paket Waschmittel kostet. Auch Angela Merkel gönnt sich dieses Vergnügen im Hit Ullrich Verbrauchermarkt ab und zu. Natürlich speist ein freudiger Esser wie Schulz auch in edleren Restaurants, aber nur dort, wo es anständige Portionen gibt und keine gespreizte Atmosphäre. Da mag es Schulz »barocker«.

 

M wie Martini: Das letzte alkoholische Getränk des jungen Martin, bevor er sich von der legalen und weit verbreiteten Droge Alkohol löst. Schulz trinkt in seinen dunklen Jahren aber auch Bier, Wein und Schnaps, alles, was er kriegen kann. Seither rührt er keinen Tropfen mehr an. Ein Puritaner will er aber nicht sein und fordert daher auch kein Alkoholverbot. Für ihn liegt das Problem im Missbrauch, die Lösung im Maß.

 

N wie Nokia: Martin Schulz hält seinem silbergrauen Uralthandy aus dem Jahr 2002 lange die Treue – auch dann noch, als der finnische Nokia-Konzern 2008 seine Fabriken in Deutschland schließt und nach Rumänien auslagert. Es ist die Macht der Gewohnheit, keine Sympathieerklärung gegenüber den Finnen. Fotos kann Schulz mit seinem Gerät nicht machen, es ist kein Smartphone. Nokia ist längst out, aber Schulz hat auf seinem Nostalgiegerät wohl eine der exklusivsten Telefonlisten der Republik, inklusive die Privatnummer der Kanzlerin. Inzwischen nutzt er ein Smartphone.

 

O wie Offizier: Eine besondere Ehre für jemanden, dem das Militärische als Mann ohne Wehrdiensterfahrung fremd ist: Der damalige französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy macht Martin Schulz vor sieben Jahren im Elysée-Palast zum Offizier der französischen Ehrenlegion und überreicht ihm den entsprechenden Orden. Die prestigereiche Auszeichnung wurde 1802 von Napoleon gestiftet, um militärische und zivile Verdienste, ausgezeichnete Talente und große Tugenden zu belohnen. Schulz erhält ihn wegen seines langjährigen Einsatzes für die deutsch-französische Freundschaft. Er macht keinen Hehl daraus, dass er bis heute sehr stolz darauf ist.

 

P wie Powernapping: