Marvel | Untold: Die Liste der Patrioten - David Guymer - E-Book

Marvel | Untold: Die Liste der Patrioten E-Book

David Guymer

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Beschreibung

S.H.I.E.L.D. existiert nicht mehr, die Avengers sind gefallen – die Einzigen, die die Welt noch verteidigen können, sind ihre größten Schurken, die Dark Avengers.   Unter Norman Osborns Leitung wurden die Avengers im Geheimen wieder aufgebaut, bestehend aus einem Haufen tödlicher Superschurken. Dies ist Osborns Chance, den Green Goblin endlich hinter sich zu lassen und der Iron Patriot zu werden, den die Welt braucht. Aber aus Schurken lassen sich nicht so einfach Helden machen – und die Schadensbegrenzung bringt sein Imperium ständig in Gefahr. Als treue S.H.I.E.L.D.-Anhänger in den Avengers Tower einbrechen und die geheime Liste mit den Ersatzleuten für sein Team von Wahnsinnigen stehlen, wird die Bedrohung für seine Herrschaft untragbar. Osborn entfesselt das größte Böse, um die Verantwortlichen zu vernichten … Es ist eben nicht leicht, ein Held zu sein!

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UNTOLD

DIE DARK AVENGERS IN:

DIE LISTE DER

PATRIOTEN

EIN ROMAN VON

DAVID GUYMER

INS DEUTSCHE ÜBERTRAGENVON RENÉ ULMER

FOR MARVEL PUBLISHINGVP Production & Special Projects: Jeff YoungquistAssociate Editor, Special Projects: Caitlin O’ConnellManager, Licensed Publishing: Jeremy WestVP, Licensed Publishing: Sven LarsenSVP Print, Sales & Marketing: David GabrielEditor in Chief: C B Cebulski

Special Thanks to Tom Brevoort

© 2022 MARVEL

Die deutsche Ausgabe von DIE LISTE DER PATRIOTEN

wird herausgegeben von Cross Cult, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg.

Inh. Andreas Mergenthaler; Verlagsleitung: Luciana Bawidamann; Übersetzung: René Ulmer; Programmleitung Romane/Sachbücher: Markus Rohde; Lektorat: Katrin Aust; Korrektorat: Peter Schild; Satz: Rowan Rüster; Layout: Cross Cult; Cover-Illustration: Fabio Listrani; Leitung Vertrieb: Peter Sowade; Marketing: Jana Rahders;

Druck: Printausgabe gedruckt von CPI book GmbH, Leck. Printed in the EU.

Titel der Originalausgabe:

THE PATRIOT LIST

First published by Aconyte Books in 2021

Aconyte Books is an imprint of Asmodee Entertainment Ltd

German translation copyright © 2022 MARVEL.

Print ISBN 978-3-98666-067-3 (Dezember 2022)

E-Book ISBN 978-3-98666-068-0 (Dezember 2022)

WWW.CROSS-CULT.DE

Die Welt wurde vor eineraußerirdischen Invasion gerettet.Die gescheiterte planetare VerteidigungsorganisationS.H.I.E.L.D. wurde aufgelöst.Ihre Befehlshaber sind in Ungnadegefallen und auf der Flucht.Die Bürger der Erde haben einen neuen Helden.Er heißt Norman Osborn.Und er bürgt für diese Avengers.

INHALT

PROLOG

TEIL EINS: NEW YORK

KAPITEL 1: Es ist klasse, gut zu sein

KAPITEL 2: Gewalttätig und kriegerisch

KAPITEL 3: Hohes Superschurkenaufkommen

KAPITEL 4: Nur Mord mit bedingtem Vorsatz

KAPITEL 5: Beeindruckt

KAPITEL 6: Zu viele schlechte Dinge

KAPITEL 7: Keine Verschnaufpause, keine Gnade

KAPITEL 8: Kleine Jungs mit Umhängen

KAPITEL 9: Der Eine

KAPITEL 10: Immer wieder eine Enttäuschung

KAPITEL 11: Vorsicht ist besser als Nachsicht

KAPITEL 12: Das Nervtötende an Plänen

KAPITEL 13: Gefahren und Möglichkeiten

KAPITEL 14: Die Macht von einer Million explodierender Sonnen

KAPITEL 15: Warum spielen wir nicht ein kleines Spielchen?

KAPITEL 16: Das Unmögliche möglich machen

KAPITEL 17: Der Höhepunkt seines Wahnsinns

TEIL ZWEI: BOSASO

KAPITEL 18: Berühmte Gesichter

KAPITEL 19: Eine ein kleines bisschen bessere Welt

KAPITEL 20: Direktorin Sofen

KAPITEL 21: In Japan angesagt

KAPITEL 22: Den Eintrittspreis wert

KAPITEL 23: Etwas, das anderen Leuten widerfährt

KAPITEL 24: Dreißig Minuten

KAPITEL 25: Nah genug, um sie fluchen zu hören

KAPITEL 26: So sieht ein Erfolg aus

KAPITEL 27: Guter Bulle

TEIL DREI: KUWAIT

KAPITEL 28: Nicht wahnsinnig

KAPITEL 29: Kryptisch und eigenartig

KAPITEL 30: Desert Sword, versammelt euch

KAPITEL 31: Berufliche Höflichkeit

KAPITEL 32: Alles andere als heldenhaft

KAPITEL 33: Eine nachtragende Buchhalterin

KAPITEL 34: Wie es sich anfühlt

EPILOG

PROLOG

Mehrere Dutzend große Bildschirme badeten Norman Osborns unterirdische Büroräume in ein unstetes Licht. Es war seit sechsundneunzig Stunden das erste Mal, dass Norman in irgendetwas badete. Er trug dasselbe weiße Oberhemd mit der dunkelgrünen Krawatte wie schon während seines Flugs zur Andrews Air Force Base am Freitagnachmittag.

Jetzt war es Montag, mitten in der Nacht.

Schlaf war etwas für geringere Männer.

Dunkle Schweißränder nahmen große Teile seines Hemds ein. Er hatte seine Krawatte gelockert und nun lag sie auf seiner Brust, als wäre sie über seine Schulter gekrochen und dort verendet. Sein Medienteam wies ihn ständig darauf hin, sich nicht mit irgendetwas Grünem an seiner Kleidung fotografieren zu lassen. »Negative Assoziationen im öffentlichen Unterbewusstsein«, behaupteten sie, aber ohne Krawatte konnte man nicht vor die Oberbefehlshaber der Streitkräfte treten. Und eine andere hatten seine Mitarbeiter so kurzfristig nicht an Bord des Quinjets auftreiben können.

Victoria war wütend gewesen. »Grüne Krawatten schleichen sich nicht in den Kleiderschrank des Direktors von H.A.M.M.E.R.« Sie hatte damit gedroht, die gesamte Belegschaft zu feuern. Doch Norman hatte größere Sorgen als die Frage, in welcher Farbe er auf Seite neun der Washington Post zu sehen war, oder die Jobs von ein paar Mitarbeitern.

Ihn plagten echte Sorgen.

Ernsthafte Sorgen.

Der Verteidigungsminister hatte ihn ins Pentagon zitiert, um über die Unruhen zu sprechen, die sich derzeit von Ostafrika aus in Richtung des Nahen Ostens ausbreiteten. Tatsache war, niemand von den Männern und Frauen an diesem Tisch hatte sich auch nur im Geringsten darum geschert, was am anderen Ende der Welt geschah. Für sie war nur wichtig, welchen Eindruck sie zu Hause machten.

Eigentlich wäre es einfach nur zum Lachen gewesen.

Auf den Bildschirmen, die eine Wand seines Büros ausfüllten, zeigten die regionalen Sender stumm Bilder von Protesten und Unruhen. Bagdad. Kairo. Daressalam. Die laufenden Nachrichten präsentierten sie in einer Endlosschleife. Auf einem Bildschirm mit dem digitalen Stempel von Kenia NMG waren neben dem Lauftext in Swahili maskierte Männer zu sehen, die Plakate schwenkend eine H.A.M.M.E.R.-Einrichtung in Kisumu stürmten. Eine andere Meldung von Al Jazeera zeigte flüchtende Zivilisten in den Straßen der jemenitischen Hauptstadt Sanaa. Norman kritzelte eine dringende Notiz an sich selbst, herauszufinden, wer im Sender von Sanaa das Sagen hatte, und dafür zu sorgen, dass diese Person eine enorme Gehaltserhöhung und eine Beförderung bekam.

Nachdem er fertig war, musterte er die krakelige Handschrift.

Er konnte sie kaum lesen.

Er riss das oberste Blatt des Notizblocks ab, zerknüllte es und warf es weg. In ein oder zwei Tagen vielleicht. Sobald sich die Weltlage entspannt hatte. Es hatte keinen Sinn, die Dinge noch schlimmer zu machen.

Soweit man Norman informiert hatte, schienen die Einheimischen in diesen Ländern nicht gerade begeistert zu sein, dass H.A.M.M.E.R. die S.H.I.E.L.D.-Außenposten, die sich seit dem Zweiten Weltkrieg auf ihren Territorien befanden, ohne weitere Rücksprache übernommen hatte. Zusätzlich schienen die Regierungen ein Problem damit zu haben, wie man mehrere hochrangige Agenten, Verbindungsleute und Nick Furys Schützlinge ersetzt oder an die USA ausgeliefert hatte. Sofern sie nicht gleich auf mysteriöse Weise über internationalen Gewässern verschwunden waren. Auch die Tatsache, dass der Präsident der Vereinigten Staaten Norman Osborn mit dieser Aufgabe betraut hatte, gefiel ihnen nicht besonders.

Was redeten die sich denn ein, wie Fury den Posten bekommen hatte?

Auf göttliches Dekret hin?

Im kalten grauen Licht der Bildschirme schürte er seine Verbitterung über die Undankbarkeit der Welt und gab sich dieser Wut hin. Hatten sie auch nur die geringste Ahnung, was er für sie tat, welche Bedrohungen er jeden Tag bewältigte, damit ihre Kinder nachts unbehelligt schlafen konnten? Oder wussten sie es, dachten sich jedoch, jemand mit einem Pass anderer Farbe könnte es besser machen?

Er verfolgte die Nachrichtensendungen nebenher, während er die Zusammenfassung des vierteljährlichen Finanzberichts durchging, einen Blick auf die neuesten Entwicklungen in der Forschungs- und Entwicklungsabteilung warf, die Einsatzberichte von Ares’ neuer Spezialeinheit durchlas, die Ergebnisse der heimlichen Überwachung überflog, unter die er seine diversen Kinder überall auf der Welt gestellt hatte, und eine Pressemitteilung über die »widerspenstige Minderheit« im Nahen Osten für die Nachrichten am Montagmorgen verfasste. Er öffnete ein Pillenfläschchen, ohne auf das Etikett zu achten, um dann zwei mit einem Glas Wasser hinunterzustürzen.

Norman brauchte selten mehr als ein paar Stunden Schlaf pro Nacht. Sein Verstand war schon immer in der Lage gewesen, mehrere Aufgaben gleichzeitig zu bewältigen. Er verstand nicht, warum das andere nicht auch konnten. Seiner Meinung nach demonstrierte das eine tragische Willensschwäche.

War es da ein Wunder, dass sich geringere Menschen die Zeit nahmen, sich zu waschen, zu essen, sich umzuziehen und …

Ruckartig drehte er sich in seinem Sessel um.

Victoria Hand hatte sich geräuspert.

Die stellvertretende Direktorin von H.A.M.M.E.R. war eine junge Frau mit den strengen, emotionslosen Zügen, die man bei solchen hochgradig motivierten Menschen häufig fand. Sie trug ihr schwarzes Haar straff zu einem langen Pferdeschwanz zurückgebunden, ein paar rot gefärbte Strähnen ihres Ponys hingen ihr über die elegante Brille ins Gesicht. Sie trug ein lavendelfarbenes Kostüm mit einer Glock 18 im Holster unter dem Blazer. Sie sah zu jeder Tages- und Nachtzeit adrett aus.

»Was gibt es, Miss Hand?« Am liebsten hätte er sie angefahren, doch er hielt sich unter Kontrolle. »Wie Sie vermutlich sehen können, bin ich der Inbegriff von sehr beschäftigt.«

»Sir, Sie arbeiten schon das ganze Wochenende ununterbrochen an dieser Sache. Sie müssen lernen zu delegieren.«

»Ich traue niemandem sonst zu, das Notwendige zu tun oder dass es richtig gemacht wird. Anders als Stark und Fury werde ich nicht versagen. Diese Genugtuung werde ich ihnen nicht geben.« Er deutete beiläufig auf die riesige Wand aus Bildschirmen, als würden sie rein zufällig laufen. »Denken Sie, dass sie undankbar sind, Miss Hand? Oder leiden sie an einer Art kollektiver Paramnesie? Ich erinnere mich, was nach meiner Ernennung in Teheran und Nairobi los war. Sie waren genauso froh wie jeder amerikanische Bürger, dass die Invasion der Skrulls zurückgeschlagen worden war.«

»Ich denke, Sir, Sie müssen sich ausruhen. Die Welt braucht Sie. In Hochform. Sie braucht nicht …«, sie musterte ihn und ihre geschäftsmäßige Fassade bröckelte unter ihrer offensichtlichen Sorge um sein Wohlergehen, »das.«

Norman riss den Blick von den Bildschirmen. Er sah sie einen Moment lang an und sein Zorn auf die Welt verflüchtigte sich. »Sie sind aus einem bestimmten Grund hier, Miss Hand. Worum geht es?«

Victoria seufzte. Nachdem sie bereits so weit gekommen war, übergab sie ihm nur widerwillig ein Stück Papier. »Eine Reporterin hat angerufen. Für Sie. Sie bittet um einen Kommentar zu dieser Angelegenheit.«

Norman nahm den Zettel und las den Text.

»Woher hat sie das?«, fauchte er. Die Maske, die er jeden Tag trug, verrutschte nur kurz und der Goblin nutzte diesen kurzen Moment des Kontrollverlusts, um sein Gesicht zu zeigen.

»Woher?«, wiederholte Norman.

»Das hat sie nicht gesagt.«

»Haben Sie überhaupt gefragt?«

»Ich habe nicht mit ihr gesprochen«, entgegnete Victoria gefasst. Die stellvertretende Direktorin Hand war eine der wenigen Personen in diesem Gebäude, in diesem Land, die sich weigerte, sich von Norman Osborn herumschubsen zu lassen. Deshalb hatte Norman sie überhaupt erst eingestellt. »Sie hat mit der Medienabteilung von H.A.M.M.E.R. telefoniert.«

»Na schön.« Norman riss sich zusammen. »Feuern Sie sie alle.«

»Sir?«

»Die gesamte Abteilung. Und machen Sie sie mundtot. Buchstäblich. Oder rechtlich. Mir egal. Ist irgendwas davon schon an die Öffentlichkeit gelangt?«

»Noch nicht, Sir. Ich habe ihnen gesagt, jemand würde sich mit einem Kommentar bei ihr melden.«

»Gut.« Norman zerknüllte den Zettel. »Rufen Sie die Avengers zusammen.«

»Sir, glauben Sie wirklich, dass …«

»Sie wollten, dass ich delegiere, Miss Hand, also delegiere ich. Schicken Sie die Avengers los.« Er strich die dunkelgrüne Krawatte auf seinem zerknitterten Hemd glatt, lehnte sich in seinem Sessel zurück und konzentrierte sich wieder auf die Wand aus Bildschirmen, auf denen in einer vierundzwanzigstündigen Dauerschleife die offensichtliche Undankbarkeit von etwa vier Milliarden Menschen für Norman Virgil Osborn zu sehen war. »Sie brauchen eine Erinnerung, wer die Helden sind.«

TEIL EINS

NEW YORK

KAPITEL 1

Es ist klasse, gut zu sein

Das New York Bulletin befand sich im elften Stockwerk eines Gebäudes in der East 53rd Street.

Bullseye las keine Zeitungen. Nicht mehr, seit er YouTube für sich entdeckt hatte. Doch das Bulletin gehörte zu denen, bei denen selbst ein gebürtiger New Yorker erstaunt wäre, zu hören, dass es sie noch gab. Anstelle grausamer Verbrechen und kostümierter Rächer, die sich in den Aufmerksamkeit heischenden Berichten des Bugle tummelten, widmete sich das Bulletin der Art von seriösem Lokaljournalismus, den das Internet eigentlich schon abgeschafft haben sollte und für den sich ohnehin niemand interessierte. Der Daily Bugle residierte inzwischen in einem funkelnden Wolkenkratzer mit sechsundvierzig Stockwerken in Midtown Manhattan, während sich das Bulletin seine Räumlichkeiten mit einer billigen Anwaltskanzlei, ein paar ausgelagerten Büros der Empire State University und einer Menge leer stehender Büroräume eines symkarianischen Steuerflüchtlings teilte.

Der Bugle bekam vermutlich auch keine mitternächtlichen Anrufe von Avengers mit ernsthaft wütenden Vorgesetzten.

Natürlich nicht.

Der Empfangstresen in der Lobby im Erdgeschoss war schwarz, verchromt und groß genug, um einen Bus aufzuhalten. Während der Bürostunden saß dort eine Empfangsdame, wahrscheinlich hübsch, mit einem leichten Lächeln und lockerem Umgangston am Telefon. Bullseye hätte das Ganze lieber während der Bürostunden durchgezogen, und das nicht nur wegen der vermutlich hübschen Empfangsdame. Zeugen waren unvermeidlich, sogar nachts, und ein Besuch am Tag war leichter zu erklären.

Außerdem hatte er seit Wochen kaum eine Nacht frei gehabt.

Hätte er geahnt, dass die Tätigkeit als Avenger so viel Ähnlichkeit mit Arbeit haben würde, hätte er Osborn verklickert, wo er sie sich hinstecken könnte, und seinen Vertrag mit den Thunderbolts gemütlich zu Ende gebracht.

Als er sich durch die Tür schob und die Kälte abschüttelte, hob die Frau hinter dem Empfangstresen den Blick.

Sie war etwas kleiner als der Durchschnitt, irgendwo in ihren Fünfzigern, trug ihr graues Haar als schmalen Bob und auf ihren Fingerknöcheln waren verblasste Tätowierungen zu erkennen. Auf ihrer schwarzen kugelsicheren Weste prangte das Firmenlogo einer privaten Sicherheitsfirma. Ihre Haltung hatte etwas an sich, das Bullseye sofort in Alarmbereitschaft versetzte. Sie saß zurückgelehnt auf ihrem Drehstuhl und las in einem verschlissenen Thriller, der in einem Plastikumschlag der Bibliothek steckte. Eine einzelne Schreibtischlampe und ein paar schwarz-weiße Sicherheitsmonitore stellten die einzigen Lichtquellen dar. Auf dem Tresen stand ein großer Milchshake aus dem türkischen Laden auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

Was Bullseye sah, war eine hauchdünne Fassade der Entspannung über einem angespannten Kern aggressiver Wachsamkeit.

Das alles schrie nach Ex-Militär, und das Ex war dabei kein Grund zur Freude.

Als sich Bullseye näherte, bekam sie große Augen. Sie legte das Buch weg. »Hey, du bist Hawkeye. Ich hab dich im Fernsehen gesehen. Ihr habt in San Francisco gute Arbeit geleistet.«

Bullseye feixte.

Er hatte auch Spaß dabei gehabt, sein Wochenende damit zu verbringen, auf friedliche Demonstranten zu schießen und Mutantenkinder von der Westküste zur Strecke zu bringen. Wer hätte gedacht, dass das auch beim Durchschnittsbürger so gut ankommen würde? Osborn war eine ganze Woche lang fast glücklich gewesen. Selbst nachdem ihm die X-Men live im Fernsehen in den Arsch getreten hatten. Bullseye hatte den dreißigsekündigen Ausschnitt, in dem er von Cyclops die Hucke voll bekam, auf dem riesigen Bildschirm im Besprechungsraum des Avengers Towers als Bildschirmschoner eingerichtet.

Die Wache deutete enthusiastisch zu einem der Besucherstühle. »Was kann ich für dich tun, Kumpel?«

Bullseye blieb stehen. »Du kannst mich in den elften Stock lassen.«

»Die Büros des Bulletin?«

»Eine ihrer Reporterinnen war ein böses Mädchen. Sieht so aus, als hätt sie was in die Finger bekommen, was sie nicht haben sollte.«

Zischend sog die Wächterin die Luft ein und schüttelte den Kopf. »Im Moment ist niemand da.«

»Ja, ist vermutlich auch besser so.«

»Tut mir leid.« Die Frau spreizte die Hände. »Ohne das Einverständnis meines Chefs kann ich dich nicht hoch lassen.« Sie öffnete eine Schublade und holte einen Block mit Post-it-Zetteln heraus. Dann kramte sie nach einem Stift. »Ich kann dir ihre Handynummer geben.«

Bullseye hob den Blick. Er entdeckte die beiden Überwachungskameras in den hinteren Ecken, deren Erfassungsbereiche den Eingang abdeckten und sich am Sicherheitstresen kreuzten. Dabei stellte er sich vor, wie er der Nachtwächterin mit dem Milchshake-Strohhalm ein Auge ausstach oder ihr mit einem Lesezeichen die Halsschlagader durchtrennte. »Hör mal. Dein Boss arbeitet für meinen Boss. Im Grunde arbeitet jeder in diesem Land, der ’ne Waffe und ’ne Marke hat, für meinen Chef. Also, mach einfach den verdammten Aufzug klar.«

»Ich trage keine Dienstmarke. Und vielleicht hätte sich dein Boss einen Durchsuchungsbefehl besorgen sollen.«

Bullseye beugte sich über den Tresen. Sein Körperpanzer, ein flexibler Verbund aus Karbonstahl und Fiberglas in einem dunklen Violett, knarrte bedrohlich. »Ich bin ’n Avenger, weißt du?«

»Ich weiß. Ich hab dich im Fernsehen gesehen.«

Sie griff wieder in die Schublade im Tresen.

Wahrscheinlich auf der Suche nach einer Waffe.

Bullseye hoffte, dass es eine Waffe war.

»Zwing mich nicht, diesen Kerl zu bitten, sich einzumischen.« Sein Blick zuckte nach oben.

Die Frau sah ebenfalls nach hinauf.

»Hi.«

Spider-Man, oder das Ding, das einem leichtgläubigen Planeten dank einer Kombination aus starken Drogen und hervorragender Pressearbeit vorgaukelte, es sei Spider-Man, baumelte an einem Faden aus glitzerndem schwarzem Schleim von der hohen Decke der Lobby. Er sah mehr oder weniger humanoid aus, ein athletischer Körper, der in einen schwarzen Latexanzug gehüllt war. Allerdings tropfte sein Oberkörper wie Kerzenwachs, das Zeug lief in Richtung des Kopfs, der jetzt schon zu groß war und viel zu viele Zähne aufwies. Der Geruch war allerdings kaum auszuhalten und etwas, das die Fernsehkameras nicht einfangen konnten. Er stank wie etwas, das man aufgeschnitten und zum Sterben in der Kanalisation liegen gelassen hatte.

Und Bullseye wusste genau, wie so was roch.

»Er hasst die Mainstream-Medien«, stellte er fest.

»Ich hasse sie sehr.«

»Und die von der Zeitung hasst er am meisten.«

»Ich will sie fressen.«

Bullseye lächelte nachsichtig und tippte neben der Computertastatur mit dem Finger auf den Tresen. »Elfter Stock. Bitte, bitte.«

»Ich hab … ich hab keine Angst vor euch.« Ihr Blick war starr nach oben gerichtet. Venom war verflucht nervtötend, aber er hatte so eine Art, die Aufmerksamkeit einer Person zu fesseln. Ihre Hand schloss sich um etwas in der Schublade. Bullseye sah die Beugung in ihrem Bizeps und die Anspannung der Sehnen in ihren Armen. Eindeutig Ex-Militär. Aber er bezweifelte, dass sie jemals etwas gesehen hatte, das dem nahekam, was sie gerade herausforderte. »Das ist Amerika.«

»Das ist Osborns Amerika, Süße. Der Rest von uns lebt nur hier.«

»Osborn gibt mir Pillen, damit ich keine Menschen mehr fressen will«, fügte Venom hinzu. Sein Maul war zu weit geöffnet, sein Hals streckte sich, als wäre sein Kopf ein Gewicht und seine Wirbelsäule nur geschmolzenes Plastik. Ekelhafter, außerirdischer Schleim tropfte auf die teuren Fliesen und die Oberfläche des schwarz verchromten Tresens. »Manchmal funktionieren sie.«

Die Wächterin zog einen militärischen X-26-Taser aus der Schublade.

Venoms Kiefer schlossen sich um die Schultern der Frau.

Sie strampelte, während sie von ihrem Stuhl gehoben und geschüttelt wurde. Als sie den Taser im Inneren seines Mauls auslöste, zuckte Elektrizität um Venoms Zähne. Aus seinen Nasenlöchern quoll schwarzer Rauch, als wäre er eine Art langhalsiger chinesischer Drache. Kevlar knackte und ein knirschendes Würgegeräusch war zu hören, als Venom versuchte, die Frau zu schlucken, während er nach wie vor kopfüber über dem Tresen baumelte. »Widerlich«, kommentierte Bullseye und schlürfte den Shake der toten Frau.

Banane. Seine Lieblingssorte.

Es war klasse, gut zu sein.

KAPITEL 2

Gewalttätig und kriegerisch

Es war halb zwei Uhr nachts, im März, und Irkan’s Kitchen an der Ecke 53rd und 1st war sehr gut besucht.

Ares, der Gott des Krieges, bewunderte die ölige Pita, die ihm ein erbärmlicher, Schürze tragender Tagelöhner gebracht hatte. Sie passte perfekt in seine massige Hand.

Er liebte Amerika.

Als er hineinbiss, lief ihm das würzige Fleisch über das stoppelige Kinn und tropfte wie das Blut von Feiglingen auf den Teller, auf dem man es ihm serviert hatte. Während er stur kaute, so entschlossen wie jeder gute Soldat, starrte er durch das riesige, halbtransparente K des Schriftzugs IRKAN’S auf dem beschlagenen Fenster.

Der Verkehr rollte auf vier Spuren von rechts nach links, Stoßstange an Stoßstange. Auf den Gehwegen drängten sich Fußgänger in warmen Wintermänteln. Direkt vor seinem Fenster parkte ein Fahrzeug der örtlichen Polizei am Bordstein. Darin saßen zwei Beamte, ein Mann und eine Frau, und genehmigten sich dasselbe schlechte türkische Essen wie Ares. Dank der Kälte war auch die Windschutzscheibe des Streifenwagens beschlagen. Zwei Biker lungerten über die Lenker ihrer massigen Maschinen gebeugt herum und unterhielten sich in einer Sprache, die Ares hätte verstehen können, wenn er gewollt hätte. So aber wusste er nicht mal, was es für eine war.

New York war vielleicht nicht die Hauptstadt dieses Landes, aber es war das, was man noch am ehesten als Erben Athens und Roms bezeichnen konnte. Alle Wege führten hierher und sie zog alle Völker an.

Die Stadt, die niemals schlief.

So nannten ihre Bewohner sie.

Ihm gefiel die Selbstbeweihräucherung dieser Worte. Er bewunderte sie geradezu. Die Stadt, die niemals schläft. Die Stadt. Sie erinnerte ihn an Athen, an Sparta, sogar an Makedonien während seiner Blütezeit, als Alexander die bekannte Welt mit dem Schwert geteilt hatte. Deshalb hatte er Amerika für sich und seinen halbmenschlichen Sohn als Heimat während seines Exils gewählt. Deshalb war er geblieben, um dafür zu kämpfen, anstatt einfach zu gehen und sich woanders niederzulassen. Deshalb kämpfte er noch immer für seine Stadt. Obwohl Tony Stark inzwischen seine eigenen Erfahrungen mit dem Exil machte und das Superheldenregistrierungsgesetz, mit dem er Ares dazu gezwungen hatte, Teil seiner mächtigen Avengers zu werden, nicht länger existierte. Und obwohl sich sein Sohn auf die Seite seiner Feinde geschlagen hatte.

Die Stadt, die niemals schlief.

Eine Metapher, ja, denn keine Stadt schlief im eigentlichen Sinn, trotzdem zutreffend.

Die Stadt schlief nicht, allerdings veränderte sich in der Dunkelheit ihr Charakter, wie die Harpyien des Orkus, die gleichzeitig schön und monströs anzusehen waren.

Unter den Sterblichen war Ares ein Riese.

Sein Hals war dick. Sein Rücken war breit. Seine Muskeln spannten seine schwarze Weste. Er war haarig wie ein Wildschwein. Und egal wie trainiert jemand sein konnte, Ares war schlichtweg mehr, als er hätte sein sollen. Die anderen Gäste des Lokals spürten instinktiv, was er war, auch wenn sie es nicht in Worte fassen konnten, und keiner wagte sich zu nah an ihn heran. Trotzdem spürte er die Angst, die die Männer und Frauen hier vor ihm hatten – und voreinander. Er spürte sie durch die Scheibe von den Fußgängern auf dem Bürgersteig. Von den vier Fahrspuren des Verkehrs und darüber hinaus, über die Betonschluchten der großen Metropole hinweg, wo acht Millionen unruhige Seelen in ständiger unbewusster Angst voreinander lebten, sich dieser Tatsache aber sehr wohl bewusst waren und sich selbst dafür hassten.

Es war verachtenswert.

Die Menschheit war eine gewalttätige und kriegerische Spezies. Sie blühte in der Dunkelheit auf, auch wenn sie sich vor ihrem eigenen Schatten fürchtete.

Und inmitten dieses Paradoxons bewegte sich Ares.

Das nächtliche New York kam ihm vor, als stünde er in einem ruhigen See, umgeben von der Spiegelung von acht Millionen Sternen. Nur dass jeder Lichtpunkt ein Mensch war, der stillschweigend, oft unbewusst, einem anderen Unheil wünschte.

Die beiden Biker beispielsweise …

Ihnen schwebte eine bestimmte Gewalttat vor.

Ares spürte es. Er spürte es und hatte nicht die geringste Absicht, etwas dagegen zu unternehmen. Damit würde er jemand anders diese Ehre vorenthalten. Vielleicht war das die Nacht, um New Yorks nächsten Spider-Man, Daredevil oder Punisher hervorzubringen.

Er grüßte das nichtsahnende Duo.

Wo wäre man, ob Mensch oder Olympier, ohne einen Konflikt, der einem seine Bestimmung gab, ohne Feind, an dem man sich messen konnte?

Erneut biss er in seine Pita, bevor er seinen Begleiter ansah. Der Mutant redete sich in seiner maßlosen Arroganz ein, furchtlos zu sein, doch selbst er hielt einen Platz Abstand zum Gott des Krieges.

»Iss etwas, Wolverine«, forderte er ihn auf, wobei Ares halb gekautes Fleisch aus dem Mund fiel. »Es gibt hier genug, um unser beider Stiefel zu füllen.«

Daken, wie Wolverine tatsächlich hieß, lehnte sich auf der Eckbank zurück. Er hatte die Arme auf der gepolsterten Rückenlehne ausgestreckt und die Beine unter dem Tisch übereinandergeschlagen, als wäre völlige Gleichgültigkeit die Tugend der Könige und ein Elixier, das man zu seiner Quelle zurückverfolgen und bei Bedarf trinken konnte. Trotz seiner Tätowierungen, des glatten Kinns und des hohen Irokesenschnitts erkannte man ihn dank seiner gold-braunen Uniform und der Maske sofort als Wolverine.

Doch das schien niemanden sonderlich zu interessieren.

Schließlich war das hier New York. Die Heimat des Avengers Towers. Der Fantastic Four. Der Taylor Foundation. Stephen Strange. Selbst in halbwegs annehmbaren mediterranen Restaurants in East Midtown war die Anwesenheit eines bekannten Superhelden um halb zwei Uhr morgens weniger aufsehenerregend als das Fußballspiel der türkischen Süper Lig im Radio.

»Ich würde eher meine mittlere Klaue frittieren und essen«, stellte Daken mit einer der Welt überdrüssigen Verachtung fest, die nicht zu seiner offensichtlichen Jugend passte.

»Eine Armee marschiert mit ihrem Bauch«, erklärte Ares.

Wolverine grinste breit. »Selbst wenn mir Norman nichts davon gesagt hätte, wüsste ich, dass du der Gott des Krieges bist. Du benutzt ähnliche Phrasen wie Napoleon Bonaparte.«

Ares runzelte verärgert die Stirn, um sich dann wieder seiner Pita und dem Blick aus dem Fenster zuzuwenden.

»Jetzt sei nicht gleich eingeschnappt«, scherzte Daken. »Gib mir etwas Sun Tzu, du mediterraner Hengst, und dann versetz mir mit ein bisschen Churchill den Todesstoß.«

Ares stützte den Kopf in die Hand.

Als jemand, dessen bloße Existenz dazu diente, die niedersten Instinkte der Menschen um ihn herum zu manipulieren, bemerkte er, dass Daken einen ähnlichen, wenn auch subtileren Einfluss auf ihn hatte. Er begriff nur nicht, wie das möglich war. Er war ein Gott, oder etwa nicht? Kein Schurke wie Bullseye, Moonstone oder Venom, von denen es keiner mit Daken am selben Tisch aushielt, ohne jemandem die Augen auszustechen.

Osborns Avengers waren mächtig und übertrafen ihre Gegenstücke, deren Platz sie eingenommen hatten.

Mac Gargan war ein überlegener, wenn auch unzuverlässiger Spider-Man. Karla Sofen hatte bewiesen, dass sie sich mit der wahren Miss Marvel im Kampf messen konnte, obwohl sie, wie es die Menschen dieser Zeit und dieses Ortes ausdrücken würden, eine gefährliche Soziopathin war. Lester war sowohl ein besserer Schütze als auch ein gefährlicherer Nahkämpfer als Clint Barton, mit dem kleinen Nachteil, dass er ein blutrünstiger Irrer war. Daken hingegen war im Vergleich zu seinem Vater zweifellos der geschicktere und intelligentere Kämpfer. Würde er diese Fähigkeiten für mehr nutzen als nur zu seinem eigenen Vergnügen, könnte er endlich aus Logans Schatten treten.

Und dann war da noch Sentry.

Was konnte man über Sentry sagen?

Er war vermutlich das mächtigste Wesen, dem Ares je begegnet war. Er war ein Gott, selbst in den Augen eines Gotts. Der einzige Held, an dessen Seite Ares gestanden hatte und von dem er nicht wusste, wie er ihn töten konnte. Er schämte sich nicht, zuzugeben, dass die Gewissheit, eines Tages dazu gezwungen zu sein, ihm ein wenig Sorgen bereitete.

Zeus selbst würde zittern, wäre er gezwungen, gegen Sentry zu kämpfen.

Dennoch wusste Ares, er war dem Gott aus Asgard haushoch überlegen.

Das einzige Mitglied von Osborns Avengers, das Ares nicht mit gutem Gewissen als eine Verbesserung seines Vorgängers bezeichnen konnte, war Osborn selbst.

Doch selbst der Gott des Krieges konnte die Augen nicht vor den Lehren der Ereignisse verschließen: Wären Tony Stark, Nick Fury und Steve Rogers würdiger gewesen, dann würde jetzt nicht Osborn von ihrer ehemaligen Zitadelle aus regieren.

Er hob den Kopf und sah seinen Begleiter wieder an. Daken war inzwischen halb von seiner Bank aufgestanden und widmete ausnahmsweise ihrem Ziel auf der anderen Straßenseite etwas Aufmerksamkeit.

Ares wandte sich ebenfalls wieder dem Fenster zu, als ein großer schwarzer Stryker-Truppentransporter die vier Fahrspuren überquerte und vor dem Haupteingang des Bulletin-Gebäudes zum Stehen kam. Die Hecktüren flogen auf und ein fünfköpfiger Trupp Privatsoldaten in taktischer Schutzkleidung und mit Sturmgewehren bewaffnet sprang heraus, um sofort auf das Gebäude zuzustürmen. Die Türen schlossen sich bereits hinter ihnen, als die beiden erschrockenen Polizeibeamten im Streifenwagen vor Irkan’s Kitchen ihre Türen öffneten und ihre Waffen zogen. Die Frau sprach eindringlich in das an ihrer schusssicheren Weste angebrachte Funkgerät.

Daken überprüfte gelangweilt die Uhrzeit auf seinem schlanken Mobiltelefon. »Weniger als zehn Minuten. Ich schulde Karla fünfzig Dollar.«

Ares wischte sich den Mund an seinem Oberarm ab, um dann ebenfalls aufzustehen.

Er nahm seine Axt, die er gegen die Tischkante gelehnt hatte. Niemand im Restaurant zollte der Waffe auch nur die geringste Aufmerksamkeit.

Ares liebte Amerika wirklich.

»Folge ihnen.«

KAPITEL 3

Hohes Superschurkenaufkommen

Während die Kabine nach oben fuhr, pfiff Bullseye zur Musik des Fahrstuhls. Die Lichter unter den Plastikknöpfen blinkten entsprechend der Etage. Fünf. Sechs. Sieben. Er kniete sich hin, um seinen Kompositbogen auszupacken und zusammenzusetzen, und geriet dabei immer mehr aus dem Takt. Die Wurfarme bestanden aus Fiberglas, das Mittelstück mit dem Griff aus Aluminium war mit einem Sammelsurium aus Zielhilfen, Kameras und Stabilisatoren versehen. Vervollständigt wurde seine Ausrüstung durch einen automatischen Köcher, der mit einer RFID-Erkennung in seinem Handschuh verbunden war, was es ihm ermöglichte, die Munition mit einem Knopfdruck zu wechseln. Und dann war da noch das schamlose Oscorp-Logo am Griff.

Eine von Osborns ersten Handlungen als Direktor von H.A.M.M.E.R. – natürlich erst nach der Beseitigung aller Personen auf Nick Furys Kurzwahlliste – hatte darin bestanden, sämtliche Verträge, die Stark Industries mit dem US-Militär und dem inzwischen aufgelösten S.H.I.E.L.D. abgeschlossen hatte, zu zerreißen und die Aufträge an Oscorp-Tochtergesellschaften zu vergeben. Ganz zufällig war er dadurch um eine halbe Milliarde Dollar reicher geworden, als er es noch als Anführer der Thunderbolts gewesen war.

Ein Held ganz nach Bullseyes Geschmack.

Er brachte die Bogensehne an und überprüfte die Spannung.

Der Bogen war vollständig zusammenklappbar, sodass er in eine herkömmliche Tragetasche passte, trotzdem hatte er ein Zuggewicht von über zweihundert Pfund.

Acht. Neun. Zehn.

In der elften Etage hörte die Musik auf. Über den Lautsprecher ertönte ein zufriedenes Klingeln, als hätten sie gemeinsam Berge erklommen, dann glitten die Türen auf.

Venom war bereits da und hing etwa einen halben Meter von den Fahrstuhltüren entfernt mit allen vieren an der Decke. Die Decke war nicht besonders hoch, was bedeutete, obwohl er kopfüber hing, war sein Gesicht auf gleicher Höhe mit Bullseyes. Es sah so aus, als würde er schon eine Weile warten. Die Sabberpfütze unter ihm war beachtlich.

»Niedlicher Trick, Mac, aber erwarte nicht, dass du mich erschrecken kannst.«

Gargan klappte kopfüber das Maul auf, seine Zunge rollte wie eine Strickleiter heraus und baumelte einen Zentimeter über dem unscheinbaren Büroteppichboden.

Bullseye hob seinen Bogen. Mit geübter Hand legte er einen achtundsiebzig Zentimeter langen Stahlpfeil mit hochexplosiver Spitze an die Sehne.

Vermutlich hatte Mac Gargan einst über irgendeine nützliche Eigenschaft verfügt. Man musste was auf dem Kasten haben, um in dieser Stadt lange genug als Privatdetektiv zu überleben, damit man jemandem auffiel. Wenn man allerdings bedachte, dass er sich für Geld zum Scorpion hatte machen lassen, musste man davon ausgehen, dass er wohl nie besonders helle gewesen war. Seit er sich mit dem Venom-Symbionten verbunden hatte, bemerkte man noch weniger von dem ursprünglichen Menschen in dieser sich ständig verändernden Haut voller außerirdischem Hunger und neurotischen Wutanfällen. Nur ein Cocktail aus gefährlichen, nicht zugelassenen Oscorp-Medikamenten und eine gemeinsame Abscheu vor dem Helden, dessen Identität sie missbrauchten, zügelten ihn.

»Pack die Zähne weg, Mac, sonst kannst du dich auf sechs Kilotonnen von Osborns feinstem Zeug freuen, da, wo’s besonders wehtut.«

Venom grinste wahnsinnig, sein Maul wurde breiter, bis es sich in der Mitte spaltete und auf einem Meer aus Teer zwei groteske Münder schwammen.

»Ich hab mehr Münder als du Pfeile«, versicherte ihm Venom, wobei sich seine Stimme wie Gülle aus beiden Mäulern gleichzeitig ergoss.

Bullseye verzog das Gesicht. »Verdammt noch mal, Mac. Du hast heute echt zu wenig von deinen Pillen geschluckt.«

»Willst du tauschen?«

»Nein. Ich hab ganz andere Probleme.«

Venom ließ sich von der Decke fallen, wobei er irgendwie seine Ausrichtung änderte, sodass er mit dem Gesicht nach unten auf allen vieren auf dem Teppich landete.

»Du bist nur so laaaangsaaaam.«

Bullseye ließ seinen Bogen sinken und entspannte die Sehne. »Tja, Osborn traut dir nicht zu, dass du allein was geregelt bekommst, also find dich damit ab.«

Er verließ die Fahrstuhlkabine.

Bullseye war zeit seines Lebens schon in einigen Redaktionen gewesen. Normalerweise, um Journalisten zu töten. Manchmal, wie heute, ging es darum, etwas zu zerstören, das die Mächtigen und Reichen für belastend oder peinlich hielten. Oft war es beides. Er hatte auch schon einige Interviews gegeben. Er verstand die Macht der Medien genauso gut wie Osborn.

Und wie Tankstellen waren sie überall gleich.

Die Büros des Bulletin entsprachen genau dem, was er kannte.

Die Energiestatusleuchten und Monitore im Stand-by-Modus zeichneten zwischen den etwa zwei Dutzend Schreibtischen ein Labyrinth aus sich kreuzenden Wegen.

Bullseye nahm sich einen Moment, damit sich seine Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnen konnten.

»Wie heißt diese Reporterin?«, fragte Venom.

»Greene, glaub ich.«

»Klingt lecker. Gesund. Hat sie hier ’nen Schreibtisch?«

»Ne, die sind für die unbedeutenden Leute. Sie hat ’n Büro zur Straße raus.«

»Wenn wir sie finden, können wir sie dann fressen?«

Bullseye feixte. Ihm fiel kein guter Grund ein, der dagegensprach. »Wenn du da drin noch Platz hast.«

Venom gab ein Geräusch von sich wie ein Hund, der ein Eis fraß.

»Hier lang«, sagte Bullseye.

Unterstützt von einer Reihe taktischer Zielfernrohre und mit einem Pfeil auf der Sehne, bewegte sich Bullseye im Zickzack zwischen den Schreibtischen hindurch. Unterwegs kam er an allem möglichen Krimskrams vorbei. Gerahmte Fotos von bedeutenden Leuten an berühmten Orten. Auszeichnungen, für die sich niemand interessierte. Altmodische Telefone. Große beige Computergehäuse. Aktenschränke. Drahtkörbe voller Zeitungsausschnitte. Alles funkelte kurz in Bullseyes Zielhilfen und versank wieder im Dunkel, sobald er es hinter sich ließ.

An einer düsteren, mit Glasfronten versehenen und nach Kaffee riechenden Küchenzeile bog er links ab, dann noch einmal, machte instinktiv kehrt und ging in Richtung der Vorderseite des Gebäudes. Er kam an einer Reihe billiger Sperrholztüren vorbei, hinter denen die Büros auf der Straßenseite lagen, und murmelte leise die Namen auf den satinierten Scheiben, bis er zu der Tür kam, auf der S. GREENE stand.

Bullseye legte das Ohr an die Scheibe und lauschte.

Nichts.

Wenn es auf diesem Stockwerk auch nur einen lebenden Menschen gegeben hätte, hätte Venom ihn gerochen und gefressen, lange bevor Bullseye etwas davon bemerkt hätte. Aber er war nicht zum berühmtesten lebenden Attentäter der Welt geworden, indem er zuließ, dass andere Leute etwas vermasseln konnten.

Nicht Osborn und schon gar nicht Gargan.

Er schlich sich zur Tür und nahm den Pfeil von der Sehne, bevor er sich den Bogen über die Schulter schob, um dann die Klinke herunterzudrücken.

Es war nicht abgeschlossen.

Er lachte leise.

Trottel.

Er ging hinein.

Greenes Büro war das Heiligtum eines Ordnungsfanatikers. Ernsthaft, das war das Zimmer eines Menschen mit Problemen, und Bullseye hatte selbst genug davon, um das zu erkennen. Unterlagen und Schreibutensilien lagen in ordentlichen Stapeln in Aktenablagen. Vor dem Gehen hatte man den Stuhl ordentlich unter den Tisch geschoben. An der Wand hing nichts weiter als irgendeine Berufszulassung der Empire State University, was Bullseye überraschte.

Von seinen Erfahrungen mit dem Daily Bugle wusste er, jeder Depp mit einem Laptop konnte Journalist werden.

Der vorbeifahrende Verkehr ließ die Fenster zur East 53rd Street leise klappern. Selbst im elften Stockwerk waren sie vergittert, eine Feststellung, die dem Nichteinheimischen ein süffisantes »So ist New York« und ein schiefes Schulterzucken einbringen würde.

Das war der Preis, den man zahlen musste, wenn man in der Stadt mit der höchsten Dichte an Superschurken in der Welt Geschäfte machen wollte.

Venom hätte mit diesem besonderen Sicherheitsmerkmal kurzen Prozess gemacht, doch die Menge der Zuschauer auf der Straße machte den Weg durch die Rezeption zu einer besseren Option. Selbst mit einer verspeisten Sicherheitsfrau stand er zu seiner Entscheidung. Moonstone wäre mithilfe ihrer Körperlosigkeit direkt durch das Dach eingedrungen, aber Karla hatte mit ihrem eigenen Auftrag alle Hände voll zu tun. Und Sentry … tja, es sah so aus, als gehörte Osborn zu den Menschen, die Manhattan ohne große Glaskrater bevorzugten.

Da denkt man, man kennt jemanden …

Venom ließ schwer atmend den Blick schweifen. »Sie ist nicht hier.«

»Ja, war uns schon vorher klar.«

Venom wirkte verwirrt. »War es? Warum sind wir dann hier?«

»Warum machst du dir überhaupt die Mühe, bei Osborns Besprechungen dabei zu sein?«

»Vicky bringt Pizza mit.« Venom sabberte erfreut. »Sentry gibt mir seine Salami.«

Sentry aß nicht. Das war Bullseye ein wenig unheimlich.

Er fischte einen daumennagelgroßen USB-Stick mit einem weiteren schamlosen Oscorp-Logo auf dem Gehäuse aus dem Aufschlag seines Handschuhs und ging zum Computer der Frau.

»Wofür ist das?«

»Hab nicht gefragt. War mir egal. Ist immer noch so, wenn ich ganz ehrlich bin.«

»Was hat diese Reporterin eigentlich gegen Osborn in der Hand?«

Bullseye zögerte.

Er wusste noch immer nicht, was ein kleiner Schmierfink gegen den mächtigsten Mann der Welt in der Hand haben könnte. Osborn verfügte über eine buchstäbliche Armee von H.A.M.M.E.R.-Schlägern, um Probleme wie dieses aus der Welt zu schaffen. Ganz zu schweigen davon, dass er jede städtische, staatliche und bundesbehördliche Strafverfolgungs- und Heimatschutzbehörde des Landes fest im Griff hatte. Soweit es Lester betraf, war das eine Aufgabe für die lächerlich aufgeblasene Rechtsabteilung von H.A.M.M.E.R. Wenn Osborn stattdessen die Avengers einsetzte, dann schoss er entweder mit Kanonen auf Spatzen oder er wollte jemandem etwas damit sagen.

Doch egal wie, es verriet ihm, auf diesem Computer gab es etwas, das dieses Vorgehen rechtfertigte. Bullseye war nicht der Typ, der sich dafür interessierte, was reiche Leute mit ihren USB-Sticks machten. Er tötete einfach Menschen. Dafür bezahlt zu werden war eine Art Bonus. Trotzdem konnte er einen Anflug von Neugier nicht abstreiten.

Venom legte seine Hand auf Lesters Schulter. »Lass mich.«

Bullseye schloss seine Faust um den USB-Stick. »Ich glaub nicht, dass ich deine Griffel auch nur in die Nähe dieses Sticks lasse.«

»Den brauch ich nicht. Ich traue Osborn nicht.« Venom beugte sich über den Computer, ein Augenpaar und ein geiferndes Maul wölbten sich aus der tintenschwarzen Haut zwischen seinen Schulterblättern. Er grinste Bullseye an. »Ich bin besser als ein USB.« Während er sprach, streckte er seine Hände aus und spreizte die Finger, von denen sich jeder in weitere Finger teilte, die sich wiederum zu Tentakeln verjüngten, die zu den Anschlüssen des Computers krochen. Sie gruben sich in das Computergehäuse, breiteten sich über den Bildschirm aus und hüllten den Tower samt seiner Peripheriegeräte in ein schwarzes, schleimiges Netz aus außerirdischem Gewebe.

Der Computer ächzte, blinkte und leitete seine Startsequenz ein, während der Venom-Symbiont die winzigen Tasten drückte.

Bullseye sah angewidert und doch fasziniert zu. Es war noch nicht mal zwei Uhr nachts und das war erst das Zweitekelhafteste, was er heute gesehen hatte.

Es gefiel ihm.

Der Bildschirm flackerte auf und zeigte eine Passwortabfrage, bevor sie dank Venoms abscheulichen Vorgehens wieder verschwand.

Das Betriebssystem wurde hochgefahren.

Genau wie das Büro war auch der Desktophintergrund aufgeräumt und schlicht.

Ein wahrhaft kranker Verstand.

»Du bist wirklich zu was gut«, lobte Bullseye.

Venom fletschte die Zähne. »Wonach suchen wir?«

»Denkst du, Norman sagt mir so was? Deshalb wohl der USB-Stick.«

»Vielleicht kann ich …« Aus Venoms Hinterkopf stülpte sich ein zweites, grässliches Gesicht. Bullseye zuckte vor dieser Entwicklung tatsächlich zurück, bevor er angewidert knurrte, um über seinen Schrecken hinwegzutäuschen. »Frischfleisch«, grollte Venom. »Fünf. Sie kommen mit dem Aufzug, bewaffnet.« Er leckte sich über die Lippen. »Schwer bewaffnet.«

»Das kommt davon, wenn man in Manhattan Wachpersonal frisst«, stellte Bullseye fest. Er war von Venoms neuester Zurschaustellung beunruhigender Seltsamkeit schockiert, und er hasste sich dafür.

Die Bodycam der Nachtwächterin hatte wohl alles live an ein mobiles Hauptquartier in der Nähe gesendet. In den Jahren, seit Bullseye in der Stadt lebte, hatten sich die privaten Sicherheitsdienste in New York beachtlich weiterentwickelt.

Er sah Venom an. »Mit fünf kommst du doch klar.«

Beide Mäuler Venoms grinsten, doch unter der ganzen Drogentherapie und der teerigen Alienhaut verbarg sich gerade genug Menschlichkeit, um misstrauisch zu sein. »Und dich mit dem Computer allein lassen?«

»Es ist deine Schuld, dass sie überhaupt hier sind, Gargan. Zeit, was fürs Team zu tun.«

»Es war deine Idee, den Haupteingang zu benutzen.«

»Sollen Osborns Ärzte wirklich erfahren, dass sie die Dosis deiner Medikamente wieder erhöhen müssen?«

Venom schrumpfte deutlich zu einer menschlicheren Form. »Mit fünf werd ich fertig.«

Aus dem Stand sprang er auf das Fenster zu, passte seinen Körper perfekt an dessen Größe und Form an und durchschlug es wie ein Schwall Abwasser einen verstopften Abfluss. Auf die East 53rd Street rieselten zerbrochenes Glas und verbogene Stahlteile.

Begleitet von den entfernten Schreien vom Bürgersteig unter ihm zog Bullseye den Bürostuhl heran und legte vorsichtig, falls Venom etwas von sich hinterlassen hatte, die Hand auf die Maus.

»Na dann, Norman«, sagte er, während er sich vorbeugte und das Rattern der automatischen Schüsse am anderen Ende des Flurs ignorierte. »Was hast du für ein schmutziges kleines Geheimnis?«

KAPITEL 4

Nur Mord mit bedingtem Vorsatz

Doktor Karla Sofen, promovierte Psychologin, alias Moonstone, hatte ein Büro im obersten Stockwerk des Avengers Towers. Sie konnte fliegen, körperlos werden und die grenzenlose Energie ihres Kree-Gravitationssteins manipulieren, um fast alles zu tun, was sie wollte, trotzdem ließ sich das alles nicht mit dieser Aussicht vergleichen. Die Lichter des Empire State Buildings, des Bank of America Towers, des Chrysler Buildings und zahlreicher kleinerer Wolkenkratzer erhellten die Skyline der Stadt wie Weihnachtsschmuck, den man nur für sie neun Monate zu früh herausgeholt hatte. Natürlich war es technisch gesehen nicht ihr Büro, genauso wenig wie es Normans Gebäude war (eine Art Steuerschlupfloch, das offenbar vom Vormieter übrig geblieben war), aber da Besitz neun Zehntel des Gesetzes ausmachte und so weiter … So wie sie es sah, gab es genau sieben Leute im Gebäude, die die Befugnis hatten, sie rauszuwerfen, und die wussten es entweder nicht (Victoria), es war ihnen egal (Norman) oder sie waren irgendwo in New York unterwegs (so ziemlich alle anderen).

Der letzte saß ihr gegenüber an einem gläsernen Konferenztisch und flutete einen ansonsten unbeleuchteten Raum mit seiner goldenen Aura.

Es gab nicht vieles, was Karla Angst machte.

In der inoffiziellen Welthierarchie der Kräfte ordnete sie sich selbst unbewusst unter den ersten dreißig ein. Vielleicht sogar unter den ersten fünfzehn. Sie war die Anführerin der Thunderbolts gewesen und jetzt befehligte sie die Avengers. Selbst in der von Norman Osborn entworfenen Version des Teams waren sie immer noch die führende Superheldengruppe des Planeten. Angeber und Faulpelze hatten da nichts verloren.

Die Kurzfassung: Sie konnte es mit fast allen aufnehmen.

Doch dann war da noch Sentry.

Er sah wie das Erste aus, woran die meisten Leute denken würden, wenn man sie aufforderte, sich einen Helden vorzustellen, was nur zeigte, wie trügerisch der Schein sein konnte. Strahlend wie ein Sonnenaufgang. Makellos wie eine Götterstatue. Seine Augen waren kreisrunde Goldscheiben, sein langes Haar wie gesponnenes Sonnenlicht. Und ja, er sah auch gut aus. Gäbe es auch nur ein bisschen mehr Gerechtigkeit in der Welt, wäre Sentry ihr bekanntester Held. Doch zu seinem Pech ließ er sich nur schlecht fotografieren. Bilder mit ihm neigten dazu, überbelichtet zu sein, sogar digitale. Oder eine ansonsten perfekt aufgenommene Szene zeigte einen schillernden Lichtfleck, wo eigentlich Sentry hätte sein sollen. Mit ihm zusammenzusitzen, allein mit dieser Präsenz, vermittelte einem eine Ahnung davon, was die Kamera wohl einfangen würde. Es war, als stünde man über einem Kernreaktor. Oder auf einer zur Selbstzerstörung bereiten, abstürzenden orbitalen S.W.O.R.D.-Plattform. Es verschwand nicht. Es ließ nicht nach. Er war die Macht von einer Million Supernovae in menschlicher Gestalt. An Sentry gewöhnte man sich nicht.

Karla griff über den Schreibtisch und nahm einen Schluck von dem sehr starken schwarzen Kaffee.

Sentry brauchte keinen Schlaf.

Karla schon.

Sie stellte die Tasse ab und kritzelte ein paar ihrer letzten Beobachtungen auf ihren Notizblock.

Sentry sah sie mit ausdruckslosen, nachdenklichen, leuchtenden Augen an.

»Weißt du, warum Norman mich gebeten hat, heute mit dir zu sprechen?«, begann sie.

»N… Norman sagt, du könntest mir helfen.«

Wenn man bedachte, wie mächtig er war, machte das sein Stottern ziemlich entzückend. Karla lächelte beruhigend. Ihr »Doktor Sofen«-Gesicht. Es war schon eine Weile her, dass sie es hatte aufsetzen dürfen, aber man verlernte es nie. Sentry mochte praktisch allmächtig sein, allerdings war er auch ein sozial unbeholfener, agoraphobischer Schizophrener mit einem Gedächtnis wie Schweizer Käse, und sie war seine Ärztin.

Hier gab es nur einen Gott.

»Hast du schon mal mit einem Therapeuten gesprochen?«

»Ja.«

»Ja, natürlich. Doktor …« Sie sah bedeutungsschwanger auf das Gekritzel, das auf ihrem Block als Notizen durchging.

»Worth«, half ihr Sentry aus. »Cornelius Worth.«

Karla tippte mit dem Radiergummi am Ende ihres Bleistifts auf ihren Notizblock. »Ah, ja. Natürlich. Doktor Worth. Hier steht es ja.« Sie kannte ihn beruflich. Psychiater waren wie Superhelden, zumindest in dem Punkt, dass sie sich alle kannten. Er genoss auf seinem Gebiet hohes Ansehen und war ein bisschen als Spielverderber bekannt. »Aber ich glaube, der Grund, warum Norman mich gebeten hat, mit dir zu reden, und nicht irgendeinen Seelenklempner von H.A.M.M.E.R., ist, dass ich darauf spezialisiert bin, die besonderen Belastungen zu verstehen, die Personen wie wir durchmachen. Ich denke, ich bin viel besser dafür qualifiziert, zu verstehen, wie sich Kräfte wie deine und meine auf den Verstand eines Menschen auswirken können.«

Karla beobachtete ihn, um seine Reaktion zu beurteilen.

Sentry war jedoch plötzlich wie versteinert.

Angesichts dieser völligen Bewegungslosigkeit war die darauffolgende Veränderung seines Aussehens nur schwer zu erklären. Ein kupferfarbener Schimmer trübte seinen goldenen Heiligenschein; da er die einzige Lichtquelle war, schien sich der Raum zu verdunkeln.

»Deine Macht«, sagte er gleichermaßen kaltblütig und deutlich. »Und meine.« Ein Riss zog sich durch sein Gesicht. Karla begriff, es war ein Lächeln. »Soll das ein Scherz sein?«

Karla schob sich auf ihren Sessel zurück, schlug abwehrend die Beine übereinander und trat dabei versehentlich gegen die Unterseite des Tischs. Ihr Kaffee schwappte über.

Sie fluchte, als er über den Rand lief und ihren Schoß verbrannte.

Als sie den Blick hob, war Sentry wieder da und ihr Büro so gut beleuchtet, wie es sein sollte.

»Bob?«

Sentry lächelte freundlich. »Ja, Karla?«

Sie stand vorsichtig auf und ging um den Tisch herum zu einem anderen Sessel. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie Sentry, nahm ihren kaffeebefleckten Notizblock und wischte ihn ab. Danach ordnete sie einige ihrer Moleküle neu an, um die nasse Hose durch eine trockene zu ersetzen.

Sie räusperte sich erneut. »Tut mir leid, Bob. Wo waren wir stehen geblieben?«

»Ich glaube, es ist in Ordnung, wenn du ein wenig nervös bist, Karla.«

»Warum sollte ich nervös sein?«

»Weil es schon lange her ist, dass du legal praktizieren durftest.«

Karla starrte ihn einen Moment lang an, zu erschüttert, um zu wissen, was sie sagen sollte.

»Als ich ihm von unserem Termin erzählt habe, hat sich CLOC bereit erklärt, dich zu überprüfen«, erklärte Sentry. CLOC war der unheimliche KI-Haushälter, der in den Fluren des Watchtowers herumspukte. Der überhaupt nicht unheimliche Hüter der Festung, die eines Tages über dem Dach des Avengers Towers aufgetaucht war. Sentry behauptete, CLOC gebaut zu haben, aber Sentry behauptete viel, wenn der Tag lang war, und Karla würde dem Kerl vor ihr nicht mal zutrauen, einen Toaster bedienen zu können. »Er sagte, du warst im Gefängnis und hast deine Zulassung verloren.«

»Hat er dir auch erzählt, dass ich die verbesserten Verhörmethoden entwickelt habe, die von der CSA bei supermenschlichen Wesen eingesetzt werden, und dass ich Norman bei den Thunderbolts als Psychoanalytikerin assistiert habe?«

»Ja, das hat er.«

Karla blinzelte.

Schön für CLOC.

»Was hast du getan?«, fragte Sentry.

»Hat CLOC dir das nicht gesagt?«

»Es war nicht Teil seiner Suchparameter, also nein.«

Während sie sich zusammennahm, beschloss Karla, dass es am besten war, ehrlich zu sein. Immerhin machte Vertrauen einen wichtigen Teil einer erfolgreichen Therapie aus. »Ich habe mehrere meiner Patienten dazu überredet, zu versuchen, Suizid zu begehen.«

»Warum?«, fragte er nach längerem Schweigen.

»Ich weiß es nicht. Das war, bevor ich meinen Mondstein fand und dadurch meine Kräfte bekam. In gewisser Weise war es, als hätte ich schon davor eine Superkraft gehabt. Ich konnte ein Leben zerstören oder einfach eins nehmen, nur mit meiner Stimme.«

»Wie viele sind mehrere?«

Karla zuckte mit den Schultern. »Man hat mich nur zu vierzehnmal lebenslänglich verurteilt. Also sagen wir mal so viele. Es war ja nur Mord mit bedingtem Vorsatz. Du solltest CLOC noch ein paar Bundesgesetze brechen und dir irgendwann Lesters Vorstrafenregister besorgen lassen.«

»Willst du mit mir was Ähnliches versuchen?«

Karla lächelte. »Würdest du das wollen?«

Sentry wirkte seltsam reumütig. »Es würde nicht funktionieren.«

»Du wärst überrascht, wie überzeugend ich sein kann.«

Und für jemanden, der so unvorstellbar mächtig war, war Sentrys Verstand erstaunlich anfällig. Das war einer der Gründe, warum Norman unbedingt auf einer Therapie bestand.

»Ich behaupte nicht, dass du mich nicht überreden könntest, es zu versuchen«, räumte er ein. »Nur, dass es nicht funktionieren würde. Ich hab mal versucht, mich umzubringen.«

Karla beugte sich von morbider Neugier getrieben vor. »Wie?«

»Ich hab mich in die Sonne gestürzt.«

Karla sackte zurück. »Normalerweise sollte das reichen.«

»Ich dachte, ich könnte so Void töten«, fuhr Sentry fort. »Aber es hat nicht geklappt. Er versprach mir, er würde zurückkommen, was er auch getan hat.« Er beugte sich vor, stützte die Ellbogen auf den Tisch, vergrub den Kopf in den Händen und raufte sich die Haare. Der Glastisch reflektierte sein Licht in strahlenden Wirbeln. »Was er auch getan hat.«

»Erzähl mir von Void.«

»Direktor Osborn sagt, es gibt keinen Void«, zischte Sentry. »Er existiert nur in meinem Kopf.«

»Was denkst du?«

»Ich weiß es nicht … Ich weiß es nicht mehr. Jemand hat mir mal gesagt, ich hätte Void selbst erschaffen, um einen telepathischen Angriff auf meinen Verstand abzuwehren und zurückzuschlagen. Angeblich bin ich selbst leicht telepathisch.«

»Ah ja.« Karla schwang ihren Bleistift wie einen Zauberstab. »Was denke ich gerade?«

»Ich bin nicht … ähm … die Art von Telepath. Glaube ich.«

»Natürlich.« Sie ergänzte ihre Notizen. »Vielleicht kannst du mir was über dich erzählen. Etwas aus deiner Vergangenheit?«

»Was zum Beispiel?«

»Wie bist du zu deinen Kräften gekommen? Das ist immer ein guter Anfang.«

»Es war ein Unfall im Chemielabor an der Uni.« Er sah zu Boden. Eindeutig gelogen. »Ich … erinnere mich nicht mehr an viel davon.«

Karla beschloss, nicht weiter nachzuhaken. Es gab immer ein nächstes Mal. »Dann erzähl mir was anderes.«

Sentry wirkte unentschlossen, geradezu zögerlich, als wäre er hin- und hergerissen. Zwischen dem, was er tun wollte, und dem, was ihm der Teil von ihm, der sich immer noch danach sehnte, ein Held zu sein, sagte, er solle es nicht tun. Karlas Erfahrung nach waren Helden, bei denen das Über-Ich über das egoistische Es siegte, eine Seltenheit.

»Ich war der Mentor des Hulk«, sagte er leise.

»Der Hulk-Hulk?«

»Und ich habe gegen Galactus gekämpft.«

»Natürlich hast du das.«

Es schien, als könnte ihn nun nichts mehr zurückhalten. »Reed Richards war bei meiner Hochzeit Trauzeuge.«

»In Ordnung.«

»Captain America war auch da. Sue Storm war Lindys Brautjungfer.«

Karla legte ihren Stift beiseite, bevor sie sich durch das ständige Kritzeln noch eine Sehnenscheidenentzündung zuzog.

Lindy war die schlichte, ewig ängstliche graue Maus, die man gelegentlich dabei beobachten konnte, wie sie von einem Ort zum anderen huschte. Und wenn sie sich einmal aus dem Watchtower herauswagte, dann nur mit dem stets wachsamen CLOC als Anstandswauwau. Sie war relativ hübsch, doch ein Adonis wie Sentry spielte in einer anderen Liga. Karla war sich nicht mal sicher, ob die beiden dasselbe Spiel spielten. Sie schätzte, dass Lindy mindestens zehn Jahre älter als ihr Ehemann war. Allerdings wusste niemand wirklich, wie alt Sentry war oder ob er überhaupt alterte. Und Norman war zurzeit mit der Ex seines eigenen Sohns zusammen, ohne dass jemand mit der Wimper zuckte, also wer von ihnen konnte sich schon ein Urteil erlauben?

»Aber ich habe dafür gesorgt, dass mich die Welt vergisst«, fuhr Sentry fort. »Ich habe es auch vergessen. Das war die einzige Möglichkeit, da Void ein Teil von mir war. Das war Reeds Idee, glaube ich. Wir verloren den Watchtower und mieteten eine Wohnung in Queens. Ich nahm Drogen. Ich trank. Ich lebte von Sozialhilfe. Lindy litt. Aber wir haben uns geliebt. Niemand erinnert sich an Void.«

Er hob den Blick von seinem gleißenden Spiegelbild in der gläsernen Tischplatte und Karla erschrak, als sie seine völlig schwarzen Augen sah. Das Licht ging immer noch von ihm aus, aber es kam in Impulsen, unregelmäßig, und erschuf Schatten, die sich von ihm aus in alle Richtungen zu erstrecken schienen. Sie krochen an der Decke und den Wänden entlang und streckten sich langsam, aber unaufhaltsam wie krallenbewehrte Finger über den Tisch hinweg. Selbst die Lichter Manhattans schienen in einer anderen Galaxie zu liegen. Karla klammerte sich an die Armlehnen ihres Sessels, drängte sich gegen die Rückenlehne und suchte in ihrem Inneren nach dem Mondstein, der Quelle ihrer Kräfte. Das Kree-Artefakt existierte schon lange nicht mehr als physisches Objekt, da ihr Körper seine Energie in sich aufgenommen hatte. Doch in Zeiten der Gefahr, in Zeiten wie diesen, war es beruhigend, etwas Greifbares zu haben, auf das sie sich konzentrieren und aus dem sie Mut schöpfen konnte.

Sie wusste, sollte Sentry auch nur versehentlich versuchen, sie zu töten, könnte sie nicht viel dagegen tun. Sollte er sich vornehmen, die Welt zu zerstören, konnte niemand etwas dagegen tun.

»Wollen Sie wissen, was ich mich frage, Doktor Sofen?«

Schaudernd stellte Karla fest, dass Sentry sie nie Doktor Sofen nannte. Er sprach sie immer mit Karla an.

»Ja, Bob. Ich wüsste gern, was du jetzt gerade denkst.«

»Ich frage mich … ob ich das mit einer ganzen Welt machen könnte. Wenn ich sieben Milliarden Menschen dazu bringen könnte, ihren größten Helden zu vergessen, wozu wäre ich dann noch fähig? Was ist, wenn das alles nichts weiter als eine weitere Täuschung ist, die ich der Menschheit aufgezwungen habe, weil sich Robert noch immer danach sehnt, ein Held zu sein?« Die Dunkelheit mit Sentrys Gesicht lachte verbittert. »Können Sie sich eine solche Welt vorstellen, Doktor Sofen? Eine, in der Sie und ich Avengers sind?« Das Lachen verstummte. Seine Miene wurde ernst. »Ich hatte mal einen Hund namens Norman. Es ist fast zu offensichtlich.«

»Das hier ist echt, Bob.«

Sentry beugte sich vor, sein goldfarbenes Kostüm schimmerte, als stünde der Raum in Flammen, und Karla duckte sich tiefer in ihren Sessel. »Ich könnte so leicht aufhören, an Sie zu glauben, Doktor. So leicht. Ein Gedanke von mir und Sie würden aufhören zu existieren. Ist das nicht ein Anzeichen für eine Wahnvorstellung?«

»Das reicht jetzt, Bob. Bob?«

Sentry verzog die Lippen zu einem Seelen vernichtenden Grinsen.

Karla spürte ihr Herz in ihrer Brust hämmern, ihr Blick klebte an seinen schwarzen Augen. »Void?«

»Norman sagt, es gibt keinen Void.«

»Manchmal redet Norman eine Menge Mist.«

Die Schatten erstreckten sich weiter über den Tisch. Sie erreichten die Kante. Karla zog die Knie auf die Sitzfläche hoch.

Kalt plapperte Sentry die hohle Phrase nach, die Therapeuten so häufig benutzten. »Was denken Sie, Doktor Sofen?«

Karla antwortete heiser, ohne es zu wagen, ihn aus den Augen zu lassen. »Void existiert.«

Sentry lehnte sich grinsend zurück. Die Schatten schrumpften in seine Richtung. »Bleiben Sie aus diesem Kopf, Doktor Sofen. Wenn Norman Sie das nächste Mal bittet, hier drin rumzustochern, sagen Sie ihm, er soll kommen und es selbst erledigen.« Dann blinzelte er, seine Augen leuchteten golden und das Licht kehrte in den Raum zurück. Seine Miene wurde besorgt.

»Karla? Alles … alles in Ordnung?«

»Ich …«

Steif, fast ruhig, sammelte Karla ihre Sachen vom Tisch auf.

Sie brachte sogar ein Lächeln zustande.

»Ich glaube, das reicht für heute.«

KAPITEL 5

Beeindruckt

Daken betrat den Bürgersteig vor dem Irkan’s Kitchen und atmete den Geruch der East 53rd Street tief ein. Es war die absolut passende Ergänzung zu dem Geruch von verbranntem Asphalt und Reifengummi, der von dem gepanzerten Transporter vor dem Bulletin