Marxismus und Religion - Sozialistische Organisation Solidarität (HG.) Arnsburg - E-Book
6,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Während Deutschland formal ein laizistischer Staat ist, sieht die Realität ganz anders aus. Die Kirche ist eines der größten Unternehmen in der BRD und besitzt ausgedehnte Ländereien. Von einer wirklichen Trennung von Staat und Kirche kann keine Rede sein, wenn konfessionelle Einrichtungen staatliche Fördergelder kassieren und das Finanzamt die Kirchensteuer vom Lohn der Beschäftigten einsammelt. In dieser Textsammlung wird aus marxistischer Sicht geschildert, warum die Religion zwar die freie Entscheidung jeder einzelnen Person, aber niemals eine unpolitische Sache ist, der Revolutionär*innen gleichgültig gegenüber stehen sollten. Der erste Teil beinhaltet eine Auseinandersetzung mit der Haltung von Sozialist*innen zur Religion heute und dem Kampf gegen Islamfeindlichkeit der letzten Jahre. Im zweiten Teil sind grundsätzliche historische Reden und Texte versammelt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Islamfeindlichkeit als neuer Rassismus – Auszug aus Anti-Sarrazin von Sascha Stanicic

Islam und Sozialismus

Befreiungsbewegungen und islamischer Fundamentalismus

Muslimische Frauen und der Schleier

Geschichte und Alltag der „Unberührbaren“ in Indien

Ein neuer Papst: Aufbruch im Vatikan?

Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung (1843/44, Anfang)

Karl Marx: Fleur de Marie (Abschnitt aus „Die heilige Familie“)

August Bebel: Rede im Deutschen Reichstag zum Gesetzentwurf über die Aufenthaltsbeschränkung der Jesuiten (17. Juni 1872)

August Bebel: Die parlamentarische Tätigkeit 1871-1874 (1874, Auszug)

August Bebel: Christentum und Sozialismus (Februar 1874)

August Bebel: Rede im Deutschen Reichstag zur Freiheit der Religionsausübung (5. Mai 1902)

Rosa Luxemburg: Kirche und Sozialismus (1905)

Wladimir I. Lenin: Sozialismus und Religion (Dezember 1905)

Wladimir I. Lenin: Über das Verhältnis der Arbeiterpartei zur Religion (Mai 1909)

L. Trotzki: Kommunismus und Freimaurertum (Dezember 1922)

G. Sinowjew: Die Frage über die Religion (6. Juli 1923)

Impressum

Marxismus und Religion – eine Textsammlung

Religion und Gesellschaft

Über die Bedeutung der Religion in der heutigen Zeit und die Haltung von MarxistInnen1

In Großbritannien fördert New Labour „Glaubensschulen“, in den Medien wird über das Zeigen religiöser Symbole und das Tragen entsprechender Kleidung diskutiert, es gibt den „Krieg gegen den Terror“ und den politischen Islam, in Birma wurde die Bewegung der buddhistischen Mönche „Safranrevolution“ getauft… all das sind Beispiele für die häufige Präsenz von Religion und damit verwandten Themen in den heutigen Schlagzeilen. Wie The Economist kürzlich schrieb: „Heutzutage ist Religion ein unausweichliches Thema der Politik“.

von Niall Mulholland (Komitee für eine Arbeiterinternationale)

Im 19. und 20. Jahrhundert haben die religiösen Institutionen mehr und mehr an Einfluß und Macht verloren. Die Gesellschaften wurden modernisiert und verweltlicht, und große Teile der Bevölkerung leben inzwischen in Städten. Die organisierte ArbeiterInnenbewegung wurde zu einer ernsthaften Bedrohung für die herrschende Klasse und mit ihr die etablierten prokapitalistischen Kirchenhierarchien.

Die Situation heute ist komplex und widersprüchlich. In Großbritannien haben geschätzte 36 Prozent (17 Millionen Erwachsene) „eine humanistische Grundhaltung“ (British Humanist Association). Eine 2004 durchgeführte Studie ergab, dass 44 Prozent der Bevölkerung an Gott glaubten und 35 Prozent „seiner Existenz widersprechen.“ Aber dennoch machten in der Volkszählung 2001 sieben von zehn BewohnerInnen Großbritanniens ihr Kreuz bei „christlich“, als es um den Glauben ging. Atheismus-Bücher wie The God Delusion (Der Gotteswahn) von Richard Dawkins sind internationale Bestseller. Und doch sind es jeden Sonntag mehr als eine Million Menschen, die an den Gottesdiensten der Church of England teilnehmen. Und dazu gehören auch extrem ausgebeutete Immigranten aus ärmeren Ländern.

Während es auf der Welt mindestens 500 Millionen „erklärte Nichtgläubige“ gibt, zählen die Hauptreligionen 2,1 Milliarden Christen, 1,5 Milliarden Muslime, 900 Millionen Hindus, 376 Millionen Buddhisten und 23 Millionen Sikhs sowie Millionen von Anhängern anderer Religionen und Glaubensrichtungen. Angehörige der vier größten Religionen machten im Jahr 1900 rund 67 Prozent der Weltbevölkerung aus, 2005 war dieser Anteil auf 73 Prozent gestiegen, und wenn sich der aktuelle Trend fortsetzt, wären es 2050 ungefähr 80 Prozent.

Zwar sind organisierte „traditionelle“ Kirchen in vielen Ländern auf dem absteigenden Ast, aber dafür wachsen andere Kirchen und Religionen schnell. Die katholische Kirche wird von Sex-Skandalen geschüttelt und verliert in vormaligen Hochburgen wie Spanien, Italien und Irland viele AnhängerInnen, so dass die Beteiligung an den wöchentlichen Messen auf unter 20 Prozent gefallen ist. Die Church of England und anglikanische Gemeinden weltweit sind am Punkt der Aufnahme schwuler und lesbischer Priester und bezüglich gleichgeschlechtlicher Ehen gespalten. In den USA sind 35 episkopale2 Kirchen zur Position von Nigerias Bishop Akinola übergelaufen, der sich offen gegen schwule Ehen ausgesprochen hat.

Gleichzeitig gewinnen evangelikale Kirchen3 viele neue Mitglieder, vor allem in Afrika, Lateinamerika, Westeuropa und Teilen Asiens. Evangelikale, Charismatiker (v.a. Freikirchen, A.d.Ü) und Pentekostale (Pfingstbewegung, A.d.Ü) machten im Jahr 2000 rund 8 Prozent der europäischen Bevölkerung aus, was fast einer Verdoppelung des Anteils in den 70er Jahren entspricht. In den brasiliansichen Favelas breitet sich die Pfingstbewegung rapide aus. In Südkorea wächst sie um 3.000 Leute pro Monat – in Seoul sind 5 Prozent der Stadtbevölkerung Mitglied.

Auch der Islam wächst schnell, vor allem im Nahen Osten, in Asien, im subsaharischen Afrika und in Minderheitengemeinden in den westlichen Industrienationen. Die in Ostlondon geplante „Mega-Moschee“ wird 12.000 Menschen fassen – das fünffache der St Paul’s-Kathedrale.

Etwa die Hälfte bis zwei Drittel der Russen bezeichnen sich als russisch-orthodox, ein großer Anstieg seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991. Und: „Wenn die derzeitige Entwicklung anhält, wird China das größte christliche Land der Welt werden – und vielleicht auch das größte muslimische“, schrieb der Economist am 3. November 2007.

Auch in Indien steigt die Anzahl von Christen, teilweise aufgrund von Übertritten ehemals unterdrückter Hindus, den so genannten „Unberührbaren“. Als Reaktion haben mehrere indische Bundesstaaten „Anti-Konvertierungs“-Gesetze erlassen.

Religiöse Ideen haben weiterhin starken Einfluß, auch in den USA, dem fortgeschrittensten kapitalistischen Land. Obwohl der Anteil der US-Bürger, die angeben, „keine religiöse Präferenz“ zu haben, bei 14 Prozent liegt (bei jungen Leuten sind es 20 Prozent), gehen geschätzte 40% der Bevölkerung jede Woche in die Kirche. Ungefähr die Hälfte denkt, ihr Land sei „von Gott besonders gesegnet“, und 48 Prozent meinen, „Gott schuf die Menschen in ihrer derzeitigen Form“ in den letzten 10.000 Jahren.

Des weiteren werden viele Regionen der Welt von religiösen Spaltungen und Konflikten – oder solchen, die mit Religion zu tun haben – heimgesucht. „Von Nigeria bis Sri Lanka, von Tschetschenien bis Bagdad wurden und werden Menschen im Namen Gottes abgemetzelt.“ (The Economist). Sektiererische Spaltungen zwischen schiitischen und sunnitischen Muslime sind im Irak seit der US-geführten Invasion explosionsartig gewachsen und haben enormes Blutvergießen verursacht.

Warum haben Menschen religiöse Überzeugungen?

Manche aufgeklärt-bürgerlichen Kommentatoren finden es unerklärlich, dass Menschen angesichts der Wunder der modernen Wissenschaft und unseres besseren Verständnisses der Natur noch religiöse Überzeugungen haben können, insbesondere fundamentalistische kreationistische Ideen. Aber es gibt viele Faktoren, die auf die Religiösität einwirken, darunter die Gesellschaft, Klasse, Geschichte, „Tradition und Kultur“, Identität und Politik.

Vor über 100 Jahren hat Karl Marx in brillanter Weise den Kern der Sache getroffen, als er Religion beschrieb als „Stoßseufzer der unterdrückten Kreatur, Herz einer herzlosen Welt, Seele in seelenlosen Zuständen.“

In unserer materialistischen Gesellschaft mit ihrem Ellenbogenkapitalismus – einer Welt voller Kriege, Armut, Analphabetismus und wirtschaftlicher Instabilität – bieten die Religionen vielen Menschen ein Schlupfloch. Die sonntäglichen Gottesdienste oder die freitäglichen Gebete bieten gemeinschaftliche Tröstung im Gegensatz zum grassierenden kapitalistischen Individualismus. In den heruntergekommenen Innenstädten und in Kleinstädten sind es häufig die Kirchen, welche den durch jahrzehntelange Sozialkürzungen hart getroffenen Familien konkrete Sozialhilfe leisten.

Die von evangelikalen Kirchen angebotene „Gewissheit“ ist angesichts der unberechenbaren Welt ein Grund für ihr starkes Wachstum. Für Muslime, die in der westlichen Welt leben und täglich mit Bigotterie, Diskriminierung, Repression und Superausbeutung konfrontiert werden, bietet ihre Religion eine Art Gemeinschaft und Identität. Junge muslimische Frauen tragen oftmals Kopftücher, die von der Immigrantengeneration ihrer Eltern noch abgelehnt wurden. In mehrheitlich islamischen Ländern wird der Islam als Trutzburg gegen die Ausbreitung der imperialistischen westlichen Macht und Kultur gesehen.

Der Zuwachs der Religionen, Kulte und Aberglauben ist auch eine Folge des Niedergangs des Organisationsgrades der Arbeiterklasse und der sozialistischen Bewegungen in den letzten Jahrzehnten, insbesondere nach dem Zusammenbruch des Stalinismus. Eine starke sozialistische ArbeiterInnenbewegung kann hingegen der Arbeiterklasse und den Armen eine brauchbare Alternative zu den blinden, anarchischen Kräften des Kapitalismus bieten und sie aus der sozialen, kulturellen und ideologischen Sackgasse des Profitsystems herausführen.

Neue Religionen und Mystizismen, wie die “New Age-Welle”, kamen in den westlichen Industrieländern auf und zeigten, wie groß die Entfremdung vom modernen Kapitalismus bei den Mittelklassen und den ArbeiterInnen ist – die Menschen suchten eine Alternative zum Profitsystem. Sogar im angeblich „kommunistischen“ China haben Kulte wie Falun Gong Wurzeln geschlagen. Diese Sekte traf den Nerv von Millionen ChinesInnen, denen es immer schlechter geht.

Das Wachstum des politischen Islam wird durch die schrecklichen sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen verursacht, in denen Millionen Muslime leben. Massenorganisationen der ArbeiterInnen wie die kommunistischen Parteien versagten bei der Durchführung der sozialistischen Revolution im Nahen Osten und in Asien. Der politische Islam – der im kalten Krieg vielerorts durch die westlichen Mächte ermutigt und gefördert wurde und den auch die saudischen Öleinnahmen anheizten, um wahhabitische Auslegungen des Islams voranzutreiben – füllt teilweise die Lücke aus, die das Scheitern der Linken und des arabischen Nationalismus gerissen haben. Er ist eine opportunistische Ausdrucksmöglichkeit für wütende Muslime, welche durch die Armut und Unterdrückung, die sie durch diktatorische Regime und durch den Imperialismus erfahren, gedemütigt werden.

Wie entstehen Religionen?

In den frühesten menschlischen Gesellschaften (Jäger-und-Sammler-Wirtschaften) spiegelten „magisch-religiöse“ Überzeugungen den Versuch wider, Phänomene zu erklären, die einen großen Einfluß auf das Leben der Menschen hatten: Feuer, Wechsel der Jahreszeiten, astronomische Ereignisse, Naturkatastrophen, die Wanderungsbewegungen von Tierherden…

Als sich diese frühen Gesellschaften zu Klassengesellschaften entwickelten, entstand eine privilegierte Schicht von Priestern und Magiern. Besondere Institutionen, Ideen und Moralvorstellungen entstanden, um die neue soziale und wirtschaftliche Ordnung zu rechtfertigen. Religionen wurden zur ideologischen Rechtfertigung für die Verslavung der Mehrheit der Menschen, denen als „Belohnung“ für das auf der Erde erlittene Elend ein Leben nach dem Tode versprochen wurde.

Aber Marx wies auch darauf hin, dass Religion neben der Flucht vor dem Elend und der Armut auf der Welt auch ein Protest dagegen ist. Das Christentum war ursprünglich eine revolutionäre Massenbewegung gegen priesterliche Ausbeuter und das Römische Imperium. Aber die Elemente von Klassenzorn wurden bald entfernt, und als römische Staatsreligion wurde das Christentum dazu benutzt, die unteren Schichten zur Akzeptierung ihrer Lebensumstände zu bringen.

Die protestantische Reformation reflektierte die Erhebung der neuen Kapitalistenklasse gegen den im Niedergang befindlichen Feudalismus, zu dessen Hauptpfeilern die mächtige Kirche gehörte. Dennoch ließen die neuen europäischen kapitalistischen Mächte den Kirchen gewisse Macht und Einfluß, um die arbeitenden Massen dort zu halten, „wo sie hingehörten“. Und im aufkommenden Imperialismus wurde die christliche Ideologie benutzt, um die kolonialen Völker zu unterjochen.

Um ihre Macht und Privilegien zu verteidigen, schlugen sich die Kirchenspitzen offen auf die Seite der Ausbeuter und der Großkapitalisten. Die katholische Kirche unterstützte Mussolini in Italien und Hitler in Deutschland. Evangelikale Kirchen unterstützten in Lateinamerika in den 1970ern und 1980ern verschiedenste rechte Diktatoren.

Aber SozialistInnen erkennen an, dass es einen himmelweiten Unterschied gibt zwischen der Religion der Armen – beispielsweise der armen Muslime im Nahen Osten – und dem „Glauben“ der herrschenden Klassen – beispielsweise der diktatorischen arabischen Regimes. Für die herrschende Klasse dient Religion dem „Teile und Herrsche“ über die arbeitenden Menschen und der Ruhigstellung der Massen.

Religion und der Staat

Die heutigen Vertreter der herrschenden Klasse, wie George Bush und Gordon Brown, identifizieren ganz offen das Christentum mit dem Kapitalismus des „freien Marktes.“ Die etablierte Church of England wurde sogar als „die Tory-Partei beim Gebet“ bezeichnet. Und Bush hat Gott als einen seiner Gründe bezeichnet, den Irak zu überfallen.

Trotz der Tatsache, dass die „Gründerväter“ der USA die Trennung von Kirche und Staat in den Verfassungsrang erheben wollten, versucht Bush mit dem Banner der rechten christlichen Ideologie, seinen Unterstützerkreis zu verbreitern.

Er unterstützte eine Verfassungsänderung, die schwule Hochzeiten in den USA verbieten sollte. Während seiner Präsidentschaft wurden die Finanzhilfen für rechte christliche Organisationen massiv aufgestockt, unter anderem durch die Förderung von „glaubensbasierten“ Schulprogrammen und der bibelkreationistischen „Intelligent Design“-Bewegung. Letzten Juni legte Bush sein Veto gegen ein Gesetz ein, welches der Stammzellenforschung mehr Bundesmittel zur Verfügung gestellt hätte, und berief sich dabei auf seine christlich-“ethischen“ Sorgen – obwohl die Stammzellenforschung die Möglichkeit essentieller wissenschaftlicher Durchbrüche bietet, die zur Heilbarkeit mehrerer Krankheiten führen können. Die mächtige „religiöse Rechte“ der US-Christen wird jetzt auch in anderen Länderen kopiert, zum Beispiel durch die südkoreanische „Neue Rechte“-Bewegung mit 200.000 Anhängern, die einen rechtsgerichteten Präsidentschaftskandidaten unterstützt.

SozialistInnen sind gegen jedwede staatlichen Privilegien für irgendeine Religion, wie zum Beispiel die 26 Sitze im nicht gewählten House of Lords, welche Bischöfen der Church of England zugeteilt sind. Wir fordern die vollständige Trennung von Kirche und Staat und die Rücknahme aller Gesetze, die – wie diejenigen zur Blasphemie – Menschen im Zusammenhang mit Religion bestrafen.

Seit dem 11. September machen dem Großkapital nahestehende Parteien in den westlichen Industrienationen Stimmung gegen Muslime und gegen Immigranten, um sie als Sündenböcke für die sozialen und wirtschaftlichen Probleme in der kapitalistischen Gesellschaft darzustellen. SozialistInnen kämpfen gegen jede Art von Diskriminierung, ob wegen Religion, Geschlecht, Rasse, Nationalität und so weiter. JedeR sollte das Recht haben, seine/ihre Religion zu praktizieren – oder gar keine. Der Ausgangspunkt für SozialistInnen ist der Kampf um die Einheit der ArbeiterInnen und für Sozialismus. Um die Gesellschaft zu verändern, muss sich die Arbeiterklasse, einschließlich der religiösen ArbeiterInnen, unter einem sozialistischen Programm vereinen.

Gleichzeitig kämpfen SozialistInnen gegen reaktionäre religiöse Führer und Gruppen, insbesondere, wenn diese die Rechte von Frauen und der Jugend attackieren. Die römisch-katholische Kirche wird von einem sehr konservativen Papst geführt, der Verhütungsmittel, Scheidung, Abtreibungen und gleiche Rechte für Schwule und Lesben ablehnt. Der russisch-orthodoxe Patriarch Alexei II. beschreibt Homosexualität als „Sünde und Krankheit“ – und die körperlichen Angriffe auf Schwule und Lesben nehmen in Russland zu. Frauen in „islamistischen Staaten“ wie Saudi-Arabien werdem besonders schlimm unterdrückt.

Religion und der Kampf der unterdrückten Massen

Religion hat soziale Wurzeln und reagiert somit auf die Klassenkämpfe. Die Kirchen können, insbesondere in der neokolonialen Welt, mit hineingezogen werden. In Lateinamerika ist die Befreiungstheologie ein Instrument für die niederen Ränge der katholischen Kirche, sich für die Interessen der Armen und Unterdrückten einzusetzen – in der sandinistischen Regierung im Nicaragua der 80er Jahre waren vier Priester. Für dieses Eintreten werden sie oft von den lokalen Regimes und von der Establishment-freundlichen vatikanischen Hierarchie angegriffen. Heutzutage sind „linkslastige amerikanische Evangelen“ „besorgter über Globalisierung“, kommentiert der Economist, und „Evangelikale unterstützen linke AktivistInnen in einigen der ärmeren Regionen Brasiliens.“

Junge buddhistische Mönche in Burma, die vor allem aus den ärmeren Bevölkerungsschichten kommen, waren bei den Protesten gegen das brutale burmesische Regime im September 2007 in vorderster Front dabei. Teile der buddhistischen Hierarchien wurden hingegen von der Militärjunta ins Regime kooptiert, was „die jüngeren Mönche empörte und entfremdete.“4

Aber die Theologie der Befreiung und andere religiöse Ideologien haben die ArbeiterInnen nicht aus der sozialen und wirtschaftlichen Unterdrückung befreit. Und in den letzten Jahrzehnten sind vormals radikale christliche Organisationen „zunehmend von einer generellen Opposition zum Kapitalismus dazu übergegangen, seine Exzesse einzudämmen.“ (The Economist, 3. November 2007) Auch wenn viele Leute aus vollem Herzen die christlichen „fair trade“- (fairer Handel, A.d.Ü) und „ArbeiterInnenrechte“-Kampagnen unterstützen wollen – es braucht mehr als solche Flickenteppiche, um alle Übel des Kapitalismus zu heilen. Nämlich den Aufbau machtvoller unabhängiger Parteien der Arbeiterklasse und der Armen mit sozialistischen Programmen, welche ArbeiterInnen aus allen Schichten im Widerstand gegen den Kapitalismus vereinen.

Millionen von Muslimen sehen im politischen Islam eine Lösung für Arbeit und Unterdrückung. Er umfasst ein sehr breites Spektrum: Von der Hamas (Islamische Widerstandsbewegung) im Gaza-Streifen über die Hisbollah (Partei Gottes) im Libanon bis zur großkapitalistischen, „postislamistischen“ AKP (Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung), die in der Türkei an der Regierung ist. Ein extrem entfremdeter Teil junger Muslime, davon einige auch in den westlichen Insutrieländern, orientieren sich sogar am Terrorismus so reaktionärer Gruppen wie Al Qaida. Islamistische Schulen in Pakistan, die Madrassas, welche vom Westen der Heranziehung neuer Generationen von „Jihad-Kämpfern“ beschuldigt werden, sind oftmals die einzige Möglichkeit für arme Familien, ihren Kindern eine reale Ausbildungsperspektive zu bieten.

Aber alle Formen des politischen oder „radikalen“ Islam werden sich als schwere Enttäuschung für die Massen herausstellen, weil sie keinen Bruch mit dem Profitsystem und der Klassenausbeutung darstellen. Die Massen führten Ende der 1970er eine Revolution im Iran durch, welche das verhasste Schah-Regime stürzte – und sahen sie in der Sackgasse der Mullah-Herrschaft enden. Das schreckliche Leben im Afghanistan der Taliban zeigte, dass der fundamentalistische Islam keine Lösungen bereit hält. Auf der anderen Seite des Spektrums setzt die „gemäßigt islamistische“ AKP-Regierung in der Türkei eine schonungslos neoliberale Politik, die vor allem die Armen trifft, durch.

Religion und Sozialismus

Vor neunzig Jahren wurde durch die Russische Revolution der erste ArbeiterInnenstaat geschaffen. Das war nur möglich, weil die Bolschewiki die Masse der vom Zarismus unterdrückten ArbeiterInnen und Bauern – aus verschiedensten Völkern, Millionen von ihnen religiös – für sich gewonnen hatten.

Im Vorfeld der Revolution entwickelte Lenin eine prinzipielle und feinfühlige Herangehensweise an Religion. Er schrieb 1905: „Der Staat darf sich nicht mit Religion beschäftigen, und religiöse Gesellschaften dürfen nicht mit dem Staat verquickt sein. JedeR muss absolut frei sein, die Religion auszuüben, welche er oder sie möchte, oder gar keine.“ Lenin verurteilte auch die „pseudo-revolutionäre Ansicht, dass Religion in einer sozialistischen Gesellschaft verboten würde.“ Solch eine Herangehensweise wäre eine Ablenkung vom politischen Kampf und würde die Religionen nur stärken.

Lenin stellte zwar klar, dass der Marxismus die materialistische Weltsicht vertritt, aber die Reihen der Bolschewiki waren auch für religiöse Mitglieder offen. An erster Stelle standen aber die konkreten Forderungen des Klassenkampfes. Dieser umfassende Ansatz Lenins und der Bolschewiki ermöglichte es der Oktoberrevolution, die religiösen und abergläubischen Bauernmassen aufzuwecken. Geschätzte 15 Prozent der Parteimitglieder in Zentralasien waren islamischen Glaubens.

Der obszöne Reichtum der russischen orthodoxen Kirche, deren Führer sich mit der gnadenlosen kapitalistischen Konterrevolution verbündeten, wurde in Staatshände genommen, um der ganzen Bevölkerung zu dienen. Das durch die noch junge Sowjetunion 1918 erlassene Dekret zur „Freiheit des Bewußtseins und der religiösen Organisationen“ schaffte die enormen Subventionen und Privilegien des zaristischen Regimes für die orthodoxe Kirche komplett ab. Ihr wurde der Status einer freiwilligen Gesellschaft gegeben, die für ihre Aktivitäten Beiträge ihrer Mitglieder annehmen konnte. Das Dekret gab auch vorher verfolgten religiösen Sekten größere Freiheiten. Die Bolschewiki führten auch Bildungskampagnen durch, in denen fortschrittliche Ideen, Kultur und Wissenschaft vermittelt wurden. Aber Lenin und Trotzki hatten immer sehr viel Gespür für die religiösen Gefühle der Armen und Unterdrückten.

Eine sozialistische Gesellschaft würde das Leben der Menschen verändern, und in der demokratisch geplanten Wirtschaft würde es riesige Fortschritte in Wissenschaft und Technik geben. Karl Marx sagte, Religion sei notwendig wegen der „unglücklichen Lebensumstände“ in der Klassengesellschaft. Er glaubte, dass solche Überzeugungen abnehmen würden, wenn die sozialen Bedingungen, die zu ihrem Aufstieg geführt hatten, ausgemerzt seien. Seine Voraussage war, dass in einer sozialistischen Gesellschaft der Hauptgrund für das allmähliche Verschwinden von Religion „die soziale Entwicklung, in welcher Bildung eine große Rolle spielen muss“ sein wird.

Während der stalinistischen Konterrevolution entwickelte sich in Russland aber ein monströser bürokratischer Staatsapparat, und es gab Repressalien gegen die orthodoxe Kirche und Gläubige allgemein sowie gegen wirkliche SozialistInnen. Der freie Austausch der Ideen, eingeschlossen religiöser, wurde nicht toleriert.

Während des zweiten Weltkrieges wurde hingegen eine Allianz zwischen dem Regime und den Spitzen der orthodoxen Kirche geschlossen. Stalin förderte einen plumpen russischen Chauvinismus – und die russisch-orthodoxe Kirche. In den Nachkriegsjahren hielt das stalinistische Regime seine Allianz mit den orthodoxen Hierarchien großteils aufrecht, was die Autorität der Kirche hob, und unterdrückte religiöse Oppositionelle.

Die Wiedereinführung des Kapitalismus in der ehemaligen Sowjetunion in den 1990ern brachte die Rückkehr der Macht und des Einflusses der Hierarchie der orthodoxen Kirche. Präsident Putin stützt sich auch auf die Kirche, um seine Herrschaft zu festigen. Diese versucht derzeit, ihren Religionsunterricht in den Schulen durchzusetzen, und schürt so Spaltungstendenzen im multi-religiösen Russland.

Die Geschichte der internationalen ArbeiterInnenbewegung lehrt uns, dass SozialistInnen im Kampf um die Abschaffung des Kapitalismus alles tun müssen, um alle Arbeiterinnen und Arbeiter einzubeziehen – dies gilt ganz besonders in Ländern, in denen Religionen Masseneinfluss haben. SozialistInnen können mit Gläubigen zusammen für gemeinsame politische Ziele kämpfen.

Heutzutage kämpfen SozialistInnen gegen religiöse Diskriminierung und Ungerechtigkeit, aber an die ArbeiterInnen wenden sie sich vor allem auf Basis gemeinsamer Klasseninteressen und des Kampf für Sozialismus.

am 30. November 2009 auf sozialismus.info erschienen↩

anglikanische↩

(fundamentalistische Christen, A.d.Ü)↩

(International Herald Tribune, 1. Oktober 2007)↩

Islamfeindlichkeit als neuer Rassismus – Auszug aus Anti-Sarrazin von Sascha Stanicic

Während Sarrazins Aussagen zum „Juden-Gen” auch von PolitikerInnen und JournalistInnen aus dem Establishment viel Widerspruch erfahren haben, erhält er für seine Thesen zur angeblichen Integrationsunwilligkeit von Muslimen aus denselben Kreisen Unterstützung. Damit treibt er nur eine Debatte voran, die ohnehin seit Jahren läuft und die das Bild des Islam und von Muslimen in der Öffentlichkeit mittlerweile nachhaltig prägt – und damit die Lebenssituation für Muslime (und Menschen aus islamisch geprägten Ländern) zum Negativen verändert hat.

Muslime und Menschen aus islamischen Ländern stehen heute unter vielfältigem Generalverdacht. Angeblich sind sie potenzielle Bombenleger, Frauenunterdrücker und Sozialschmarotzer, und die Kopftuch tragende Frau steht unter Zwang, Aufsicht und Kontrolle von Ehemann, Vater oder Bruder oder ist selber Fundamentalistin.

Sarrazin behauptet, eine „Zuwanderungs- und Integrationsproblematik” gebe es zu 95 Prozent mit MigrantInnen muslimischen Glaubens, zwei Seiten später spricht er dann von siebzig bis achtzig Prozent1. Mit Zahlen und Fakten nimmt er es ohnehin nicht so genau, aber die Botschaft seiner Aussage ist eindeutig: Die Muslime sind ein Problem, ja der wesentliche Faktor für die Probleme im Bildungswesen, auf dem Arbeitsmarkt, bei Gewaltkriminalität und bezüglich der von Sarrazin an die Wand gemalten Bedrohung von dem, was er als deutsche oder abendländische Kultur bezeichnet.

Er schreibt: „Das westliche Abendland sieht sich durch die muslimische Immigration und den wachsenden Einfluss islamistischer Glaubensrichtungen mit autoritären, vormodernen, auch antidemokratischen Tendenzen konfrontiert, die nicht nur das eigene Selbstverständnis herausfordern, sondern auch eine direkte Bedrohung unseres Lebensstils sind.”2

Merkmale von Islamfeindlichkeit

In diesem Zitat stecken zwei wesentliche Merkmale islamfeindlicher Argumentationen. Zum einen wird der Islam von einem vermeintlich fortschrittlichen Blickwinkel kritisiert, indem er als „autoritär”, „vormodern” und „antidemokratisch” bezeichnet wird. Im Hinblick auf die Stellung der Frau gibt es eine starke und aggressive Islamfeindlichkeit aus einer bürgerlich-feministischen Richtung, für die Alice Schwarzer stellvertretend ist. Tatsächlich findet sich Kritik am Islam beziehungsweise der Lebensweise von Muslimen, die zum Teil das Ausmaß von Islamfeindlichkeit annimmt, in verschiedensten Teilen der nichtmuslimischen Bevölkerung - deutsch wie nichtdeutsch. Und inklusive der politischen Linken: als Reaktion auf eine Vorankündigung dieses Buches erhielten wir eine Email, in der die Herausgabe eines „Anti-Sarrazin” scharf kritisiert wurde - mit dem Hinweis darauf, dass in den „linken Kreisen” des Absenders viele von Sarrazins Thesen auf Unterstützung treffen. So genannte „antideutsche” Gruppen haben sich in den letzten Jahren zu militanten IslamhasserInnen entwickelt, IslamkritikerInnen wie Necla Kelek haben Thilo Sarrazins Buch auf öffentlichen Veranstaltungen propagiert. Kelek nennt Sarrazins Buch einen „Befreiungsschlag“ und unterstützt ihn in der „Unmöglichkeit, zwischen Islam und Islamismus zu unterscheiden“.

Sie schreibt: „Ich definiere den Islam nicht nur als Glauben, sondern als eine politische Ideologie und ein gesellschaftliches System: ein System, das die Trennung von Religion und Staat, also die Säkularität und die Aufklärung, verleugnet, das die vertikale Trennung von Männern und Frauen praktiziert, das heißt Frauen diskriminiert. Durch den Versuch, das System der Scharia, die religiöse Normsetzung, neben oder über das säkulare Recht zu stellen und zu leben, ergibt sich ein anderes Welt- und Menschenbild, ergeben sich andere Werte und Normen, die zu einer generellen Integrationsunwilligkeit großer Teile der muslimischen Gesellschaft geführt haben.”3

Zum anderen benennt Sarrazin durch die Begrifflichkeit „unser Lebensstil” eine „Wir”-Gruppe, die nicht definiert wird. Es ist aber offensichtlich, wen Sarrazin mit „Wir” meint, nämlich alle, die nicht Muslime sind und sich der deutschen Kultur, was auch immer das ist, zugehörig fühlen. Damit wird ein Keil in die in Deutschland lebende Bevölkerung getrieben, um die eigentlichen Trennlinien in der Gesellschaft zu verbergen. Man muss sich nur einmal fragen, ob der Lebensstil des deutsch-christlichen Daimler-Arbeiters oder der atheistischen Krankenpflegerin tatsächlich mehr mit dem Lebensstil des ebenso deutsch-christlichen oder atheistischen Millionärs gemeinsam hat oder nicht doch mit dem muslimischen Kollegen oder Nachbarn. Doch dazu an anderer Stelle mehr (siehe Kapitel 4).

Islamfeindlichkeit zeichnet sich unter anderem durch zwei Dinge aus: erstens durch die Gleichsetzung der Religion Islam mit politischen Strömungen, dem so genannten politischen Islam oder islamischen Fundamentalismus, die die Religion für politische Zwecke instrumentalisieren. Zweitens durch ein hohes Maß an Pauschalisierungen und der Weigerung, die Vielfältigkeit und Komplexität der Lebensrealität von Muslima und Muslimen anzuerkennen. Wenn man bedenkt, dass nur fünf Prozent der Muslime in der Bundesrepublik Mitglied einer islamischen Organisation sind, wird deutlich, dass die Religion für die große Mehrheit gar keine zentrale Rolle in ihrem Leben einnimmt.4

Sineb El Masrar hat letzteres in ihrem Buch „Muslim Girls“ aus der Perspektive einer Muslima so ausgedrückt: „In der Regel wird nicht mit uns geredet, sondern gerne über uns. Wenn uns dann jemand nicht wieder in Frage, sondern eine Frage stellt, dann sind das Fragen meist dieser Art: Kannst du islamisch sprechen? Würdest du deine Tochter auch beschneiden? Darfst du hier im Schwimmbad überhaupt schwimmen? Bist du schon jemandem versprochen? Wurde dein Mann von deiner Familie ausgesucht? Haben deine Eltern kein Problem damit, dass du hier im Ausland arbeitest? Oder ganz kreativ: Gehst du auch mit Kopftuch unter die Dusche? (...)

Eine andere Frage lautet, warum ausgerechnet Muslimas, deren Eltern aus den entlegensten und rückständigsten Ecken Marokkos, Pakistans oder der Türkei gekommen sind, sich Jahre später im freien Deutschland für das Tragen eines Kopftuchs oder – der absolute Horror! – einer ‘Burka’ entscheiden.

Was ist da nur in unserer Erziehung schiefgegangen? Wer hat uns das Gehirn gewaschen? Aber was ist, wenn nicht wir diejenigen sind, denen das Gehirn gewaschen worden ist? Denn wie kommt jemand auf solch brillante Fragen? Die, die solche Fragen formulieren, haben ja meist gar keinen oder nur flüchtigen und einseitigen Kontakt mit uns. Das vorherrschende Bild von uns wird von Meinungsmachern aus Politik und Medien mit schnellen Pinselstrichen auf eine Leinwand gemalt, mit Farben, die alles andere als bunt sind. (...) Diese Bilder sind mittlerweile in den Köpfen so fest verankert, dass es manchem gar nicht mehr gelingt sich davon zu trennen.“5

Solche Bilder werden durch Medien gemalt, die Berichte über MigrantInnen mit Bildern Kopftuch tragender Frauen illustrieren, oder die wie das Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL ihre Titelseiten zum Thema Islam in der Regel mit Bildern und Schlagzeilen versehen, welche Gewaltbereitschaft, Frauenunterdrückung und kulturelle Differenzen assoziieren. Ebenso dadurch, dass bei Berichterstattungen über Kriminalität meistens auf den migrantischen Hintergrund des Täters hingewiesen wird, wenn es denn einen solchen gibt. Als im Dezember 2010 bei einer Auseinandersetzung zweier Jugendgangs in Berlin-Wittenau ein Beteiligter getötet wurde, fiel auf, dass darauf verzichtet wurde, bei Opfer und Täter auf die Nationalität hinzuweisen. Das Opfer war Türke, der Täter Deutscher.6

El Masrar hat in Bezug auf Sarrazin auch mit einer anderen Beobachtung Recht – denn dieser hat mit Türken nach eigener Aussage nur indirekten Kontakt, schreibt also über die Einstellungen, Denk- und Lebensweise einer Gruppe von Menschen, mit denen er nicht einmal selber spricht. Auf die Frage „Hatten Sie jemals etwas mit Türken zu tun?”, antwortete er in einem Interview mit der türkischen Tageszeitung Hürriyet: „Ich hatte indirekt etwas mit der Ausbildung von Türken zu tun. Meine Frau ist Lehrerin und übte ihren Beruf in Köln aus. Ein Großteil ihrer Schüler waren Türken.”7

Abgesehen davon, dass es viel über die so genannten Volksvertreter in einer kapitalistischen Demokratie aussagt, wenn diese nur indirekten Kontakt zu einer wichtigen Bevölkerungsgruppe haben, gibt Sarrazin tatsächlich zu, KEINEN Kontakt zu Türken jemals gehabt zu haben. Seine Aussage ist vergleichbar mit der berühmten Werbung der Ehefrau eines Zahnarztes für Zahnpflegeprodukte ....

„Die sind anders als wir” ist die Botschaft, die allenthalben vermittelt werden soll. Dass verschiedenste Studien darauf hinweisen, dass die Unterschiede zwischen Muslimen und Nichtmuslimen in Deutschland erstens geringer und zweitens komplexer sind, wird dabei übergangen.

Muslime als Bedrohung

Vor allem wird suggeriert, dass von Muslimen eine Bedrohung ausgeht. Wenn der Berliner Innensenator Körting im Rahmen der Warnungen vor terroristischen Anschlägen im Herbst 2010 sagt, man solle Nachbarn, die sich auffällig verhalten und in arabischer oder einer anderen Sprache sprechen, die man nicht versteht, melden, so ist das ein offensichtlicher Fall von Generalverdacht gegenüber der arabischen Bevölkerung.8 Körtings Aussage wurde durch seine am nächsten Tag folgende Relativierung, er hätte vor Waffen und verdächtigen Paketen warnen wollen, nicht besser. Dass er Muslime unter Verdacht stellt, machte er auch in seiner Klarstellung deutlich: „Das gilt im Übrigen auch für die Moslems in der Hauptstadt. Wer in einer Moschee ein verdächtiges Gespräch mitbekommt, der soll sich sofort bei den Sicherheitsbehörden melden.”9

Wenn der CSU-Generalsekretär Dobrindt in einer Rede über die GegnerInnen der Atomkraft und von Stuttgart 21 mit den Worten herzieht, diese müssten sich nicht wundern, wenn morgen ein Minarett in ihrem Vorgarten steht, dann ist das zwar von einer so unfassbaren Dummheit, dass man dazu geneigt ist, verzweifelt den Kopf zu schütteln ob der Tatsache, dass solche Menschen in einer Regierungspartei hohe Posten bekleiden können (was nun wirklich Sorgen über einen intellektuellen Verfall der Deutschen berechtigt erscheinen lässt). Aber auch das sind wohlkalkulierte Schreckensbilder, die den Islam als eine überall (sogar im Vorgarten von Atomkraftgegnern!) lauernde Bedrohung darstellen sollen.10

Achim Bühl hat in seiner Studie Islamfeindlichkeit in Deutschland ausgeführt, dass Islamfeindlichkeit kein neues Phänomen ist, sondern eine Kontinuitätslinie im Christentum seit den Kreuzzügen im elften Jahrhundert existiert. Dieser interessante Umstand hilft zweifelsohne dabei, den Charakter und die genaue Ausprägung der heutigen Islamfeindlichkeit besser zu verstehen. Trotzdem ist es gerechtfertigt, die Islamfeindlichkeit als einen neuen Rassismus zu bezeichnen, der insbesondere nach dem Wegfall des Ost-West-Gegensatzes zwischen der kapitalistischen Welt und den nichtkapitalistischen bürokratischen Diktaturen der Sowjetunion und des Ostblocks zugenommen und nach den Terroranschlägen auf das World Trade Center am 11. September 2001 eine neue Qualität erreicht hat.

In der aktuellen Debatte gibt es verschiedene Aspekte, die dominieren, auch wenn sie letztlich nur Teilbereiche der allgemeinen Islamfeindlichkeit sind. Dabei handelt es sich unter anderem um das Tragen des Kopftuchs, den Bau von Moscheen beziehungsweise Minaretten, die so genannten „Ehrenmorde” und den islamistischen Terrorismus. Auf diese Fragen gehen wir in diesem Kapitel ein. Andere von Sarrazin den Muslimen angehängten Dinge – Kriminalität, Bildungsferne, Sozialschmarotzertum etc. – werden in den nächsten Kapiteln behandelt.

Der Umgang mit islamischer Geschichte

Ein zusätzlicher Aspekt ist der Umgang mit islamischer Geschichte beziehungsweise der Verzicht auf einen Umgang damit. Sarrazin versucht sich in seinem Buch auch als Historiker und reitet auf sechs Seiten vom alten Ägypten in die Moderne. Islamische Geschichte kommt nur in einem Halbsatz vor. Er schreibt, das oströmische Reich sei Opfer der Islamisierung des Orients geworden. Kein Wort über die ökonomischen, sozialen und wissenschaftlichen Errungenschaften, die mit der Ausdehnung des Islams einher gingen.

Achim Bühl weist darauf hin, „dass die 'europäische Kultur' zutiefst durch den islamischen Einflussbereich geprägt und ohne ihn nicht denkbar ist, dass der Islam bereits seit Jahrhunderten integraler Bestandteil 'Europas' ist“, und betont die Rolle des maurischen (islamischen) Spaniens ab dem 11. Jahrhundert bei der Rettung des Erbes und der Weiterentwicklung der griechischen Philosophie, Mathematik und Medizin. Letzteres wurde auch in der populären Literatur durch Noah Gordons „Der Medicus” einem breiteren Publikum bekannt. Doch generell wird in deutschen Schulen und Universitäten kaum über große arabische Mediziner wie Abu Bakr Muhammad ibn Zakariya ar-Razi oder Mohammed al Gafequi, den „Marco Polo Marokkos” Ibn Battuta oder den Mathematiker Al-Chwarizmi gelehrt. Von den Errungenschaften arabisch-muslimischer Wissenschaft und Kultur zeugen viele Worte, die arabischer Herkunft sind, wie Algebra, Alkohol, Konditorei, Chemie, Gitarre und viele mehr.11

Claus Ludwig geht auf die Rolle des Islam bei der ökonomischen Weiterentwicklung der Gesellschaft ein:

„Der Koran formulierte die Interessen der aufsteigenden Händlerklasse. Allah war der einzige Gott für alle Stämme und Völker, weil der Handel einen allgegenwärtigen Gott brauchte, der nicht willkürlich handelt, sondern allgemein verbindliche Regeln festlegt. Die Scharia war in dieser Phase der sozialen Entwicklung keine Ansammlung grausamer Bestrafungen, sondern ein in sich geschlossenes Rechtssystem mit, soweit dies in einer Klassengesellschaft möglich ist, rechtlichen Garantien für Alle. Große Teile der Stämme und Völker in Nordafrika und dem Nahen Osten schlossen sich der muslimischen Gemeinschaft freiwillig an. Islamische Regierung und Rechtssystem erschienen als Garantie für Handel, ökonomischen Aufschwung und sozialen Aufstieg.”12

Unerwähnt bleibt in der Debatte über den Islam zumeist auch, dass in der Blütezeit der islamischen Gesellschaften in diesen eine verhältnismäßig ausgeprägte offene Kultur der Debatte und des Meinungsstreits herrschte und religiöse Minderheiten, wie Christen und Juden, weitaus bessere Lebensbedingungen hatten als die religiösen Minderheiten im christlichen Mittelalter . Allein der Unterschied des Umgangs der christlichen Kreuzritter nach ihrer Eroberung Jerusalems mit den muslimischen und jüdischen BewohnerInnen mit dem Umgang der muslimischen Streitkräfte Saladins nach der Rückeroberung Jerusalems im Jahr 1187 sollte jedem, der über die vermeintlichen Vorzüge der abendländisch-christlichen Kultur spricht, zu denken geben: die Kreuzritter richteten ein schreckliches Blutbad an, während Saladins Truppen niemanden abschlachteten und sich die Christen mittels Lösegeld freikaufen konnten.13

Die Rolle der Frau

Sineb El Masrar schreibt in Muslim Girls:

„Ja, es gibt sie. Die Muslim Girls, die von ihren Eltern schlechter als ein Hund behandelt werden. Die mit niemandem sprechen, mit niemandem Kontakt halten dürfen und am besten immerfort schweigen sollen. Es gibt Ehemänner, die ihre Braut aus dem Heimatland einfliegen lassen und wie eine unterwürfige Haussklavin halten, weil ihre Mütter ihnen das von Kindesbeinen an eingetrichtert haben und sie ihre Macht später gleich mit an dem unschuldigen Ding ausleben können.

Es gibt Frauen, die die Schläge ihrer Väter, Brüder und Ehemänner nicht mehr aushalten und Hilfe in einem Frauenhaus suchen. Mädchen, die eben noch mit ihrer Puppe Kaffeekränzchen gespielt haben und im nächsten Moment im Flieger nach Mali oder Somalia neben ihrer Mutter sitzen, um einer Genitalverstümmelung unterzogen zu werden.

Und ja, es gibt kleine Mädchen, die von ihren Eltern gezwungen werden, gegen ihren Willen ein Kopftuch zu tragen. Es gibt auch Mädchen, die zur Ehe mit einem völlig Fremden mitten in Deutschland genötigt oder im Namen der ‘Ehre’ erschossen werden.”14

Diejenigen so genannten IslamkritikerInnen, die aus diesen von El Masrar beschriebenen Realitäten ihre pauschale Islamfeindlichkeit und ihren antimuslimischen Rassismus ableiten, werfen ihren KritikerInnen oft vor, die Augen vor diesen Dingen zu verschließen. Das ist aber nur der Versuch, einer wirklichen Debatte aus dem Weg zu gehen. Denn die Vorschläge dieser selbst ernannten FrauenrechtlerInnen helfen den real betroffenen muslimischen Frauen nicht. Denn die Realität ist komplexer. Zu ihr gehört auch eine wachsende Zahl von Muslimas, die ohne äußere Zwänge das Kopftuch anlegen - und die Tatsache, dass aus den Worten des Koran weder Kopftuchzwang noch so genannte Ehrenmorde herauszulesen sind.

El Masrar schreibt dementsprechend:

„Aber: Hatten wir etwa zwei verschiedene Koranversionen? Ich kann mich nicht erinnern, dass man Menschen gegen den eigenen Willen heiraten soll oder eine Frau im Namen irgendeiner Schafherdenehre auf offener Straße erschießen darf. Werden die Heuchler nicht immerwährend im heiligen Buch der Muslime ermahnt?

Können wir tatsächlich nur selbstbewusste, moderne und glückliche Menschen sein, wenn wir uns von unserer Religion abwenden und zum Christentum konvertieren oder an gar keinen Gott glauben? Sind tatsächlich alle Muslime hinterwäldlerische, pädophile, frauenverachtende und gewaltbereite Irre, die sich in die Luft sprengen, um ins Paradies zu kommen?

Liegen die Gründe für Gewalt gegen Frauen womöglich gar nicht in der Religion, sondern in der Psychologie der Täter? Denn wie sonst kann man erklären, dass derartige Gewalttaten in jeder Kultur, in jeder Religionsgemeinschaft, in jeder sozialen Schicht, in jeder Nation, in jedem Viertel und in jeder Gemeinde existent sind?”15

Tatsächlich ist die Gewalt gegen und die Unterdrückung von Frauen ein Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse, so wie auch die jeweilige Religion nicht frei von den gesellschaftlichen Verhältnissen existiert, sondern ihre konkrete Ausformung und Rolle ein ebensolcher Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse ist.

„Die heutige Rolle des Islams ist Produkt des ökonomischen Zurückbleibens der arabischen und muslimischen Länder gegenüber dem europäischen und später amerikanischen Kapitalismus; sie ist untrennbar verbunden mit dem Aufkommen des Imperialismus und der Aufteilung der Welt durch die führenden imperialistischen Länder.”16

Es ist Ausdruck der gesellschaftlichen Verhältnisse, dass der Islam heute in wirtschaftlich weniger entwickelten Gesellschaften eine größere und reaktionärere Rolle spielt. Das galt für das Christentum in früheren Zeiten auch. Nicht der Katholizismus oder der Protestantismus haben die Gesellschaft verändert, sondern beide sind aus gesellschaftlichen Veränderungen entstanden bzw. mussten sich solchen anpassen, um nicht völlig in der Bedeutungslosigkeit zu versinken. In rückständigeren Gesellschaften, also solchen, in denen es keine starke Arbeiter- oder Frauenbewegung gibt, in denen die Wissenschaften keine große Rolle spielen und das allgemeine Bildungsniveau relativ niedrig ist, spielen die christlichen Religionen auch heute noch eine größere Rolle und haben eine reaktionärere Ausprägung als in Westeuropa. In Nigeria kommt es vor, dass AnhängerInnen des Katholizismus verunglückte Kinder nicht in ein Krankenhaus bringen, sondern sie in der Hoffnung auf ein Wunder Gottes in einer Kirche auf den Altar legen – und die Priester schicken die Eltern nicht ins Krankenhaus. Und an den Orten, an denen der kirchliche Einfluss auch in entwickelten Industriestaaten groß ist – in Klöstern, Kirchengemeinden, Internaten – herrschen meistens „antidemokratische, autoritäre und vormoderne Tendenzen” vor. Oder ist die katholische Kirche etwa demokratisch aufgebaut, der Papst antiautoritär und das Verhältnis der katholischen Kirche zu Verhütung, Abtreibung und Homosexualität modern?

Der rückständige Inhalt einer Religion, ob Islam oder Katholizismus, wirkt sich gesellschaftlich also entsprechend der Rückständigkeit der ökonomischen und sozialen Verhältnisse aus. Aufgrund der Diskriminierung von MigrantInnen und Muslimen und aufgrund der Tatsache, dass MigrantInnen auch durch ihre Herkunftsländer geprägt sind, werden Traditionen und Denkweisen, die Ausdruck der Rückständigkeit der Herkunftsländer sind, nach Deutschland importiert – dies liegt jedoch nicht zuletzt in der Verantwortung jahrzehntelanger imperialistischer Dominanz, für die das kapitalistische Deutschland mitverantwortlich ist.

Die Benachteiligung der Frau ist Produkt einer jahrtausendealten gesellschaftlichen Macht- und Arbeitsteilung.

---ENDE DER LESEPROBE---