Mary Engels - Mosaiksteine glitzern auch im Dunkeln - Heidi Stehbach-Braunreuther - E-Book

Mary Engels - Mosaiksteine glitzern auch im Dunkeln E-Book

Heidi Stehbach-Braunreuther

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Beschreibung

Das Leben der 14-jährigen Mary, die mit vollem Namen Maralen heißt, dreht sich um Schule, Turnen, Freundinnen und Jungs. Sie wird aus ihrem sorglosen Leben gerissen, als sie bei einem Turnunfall in der Schule erblindet. Mary ist völlig verzweifelt und weiß nicht, wie es weitergehen soll. Obwohl ihre Familie und ihre Freundinnen alles tun, um ihr Kraft zu geben, fühlt sie sich allein und zieht sich in ihr Schneckenhaus zurück. Im Internat für Blinde fasst sie wieder etwas Mut und beginnt, ihre Selbstständigkeit langsam zurückzuerobern, auch mit Hilfe von modernster Elektronik und diversen Handy-Apps. Als sie in den Ferien nach Hause kommt, wird sie von Zweifeln geplagt, ob es sich lohnt, für ihre Träume zu kämpfen. Doch dann treten verschiedene Menschen in ihr Leben und sie verliebt sich, gerade als sie es selber am wenigsten vermutet.

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Mary Engels -Mosaiksteine glitzernauch im Dunkeln

© 2022 Heidi Stehbach-Braunreuther

Lektorat: Angela Hochwimmer

ISBN Softcover: 978-3-347-56556-2 ISBN Hardcover: 978-3-347-56557-9 ISBN E-Book: 978-3-347-56558-6 ISBN Großschrift: 978-3-347-56559-3

Druck und Distribution im Auftrag des Autors: tredition GmbH, An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Germany

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", An der Strusbek 10, 22926 Ahrensburg, Deutschland.

Es war einer dieser stressigen Schultage, wie immer, wenn die Ferien kurz bevorstanden. Herr Schmidhans ließ auf sich warten – wahrscheinlich gab es eine Besprechung unter Kollegen. Die Schüler störte das nicht im Geringsten, im Gegenteil. Jeder wusste sich die Zeit zu vertreiben. Julie Bernauer starrte in ihr Geschichtsbuch, Mary und Florentina hockten auf dem Tisch und sahen sich ein Turnvideo auf Marys Handy an. Im Hintergrund lief „Unstoppable“ von Sia. „Mensch, die Turnerin hat was drauf. Die Musik ist auch super“, schwärmte Florentina. Sie warf ihre langen dunklen Haare nach hinten und grinste Mary an. „Ja, beim letzten Turnen ist der Song ständig rauf und runter gelaufen. Wenn ich ihn höre, denke ich daran, wie lustig es war“, gab Mary zurück. „Schau mal, die P 9 möchte ich beim Turnen heute Abend ausprobieren. Hoffentlich bauen wir den Sprung auf. Wenn ich genug übe, kann ich diese Übung vielleicht im Mai beim Wettkampf turnen.“ Mary musste laut sprechen, weil der Lärmpegel in der Klasse an diesem Morgen extrem hoch war. „Mit Hilfestellung hast du es ja schon gut gemacht“, sagte Florentina.

„Diese Landung ist hammermäßig“, stellte Mary fest. „Die müsste ich noch hinkriegen.“ Sie stoppte das Video immer wieder, um sich die Bewegungen genau einzuprägen. Als einige Jungen laut loslachten, blickten Mary und Florentina interessiert auf.

Moritz Hänfling stand in der offenen Klassenzimmertür, die Hände in den Hosentaschen. „Warn mich, wenn der Schmidhans kommt.“ Matze ergriff sein Skateboard, positionierte es auf dem Boden, stellte sich darauf und fuhr durch die Reihen. Einige Schüler feuerten ihn lautstark an. Svea nahm ihr Handy, um ihn zu filmen. Mary und Florentina lachten. Florentina sprang auf und machte einen Handstand im Raum. Matze schoss das Skateboard unter ihren Händen durch und rannte zum Pult, um wieder draufzuspringen. Moritz drehte sich an der Tür um. Mary sah ihn an. Moritz strich seine Haare aus dem Gesicht. Ihre Blicke trafen sich. Moritz lächelte; er schien nur noch Augen für Mary zu haben. Matze balancierte auf dem Board vom Pult zum Tageslichtprojektor. Plötzlich erstarrte er vor Schreck. Neben Moritz stand Herr Schmidhans in der Tür! Matze stolperte und fiel polternd gegen den Tageslichtprojektor. Das Skateboard rollte weiter, direkt vor die Füße des Lehrers. Die Klasse brüllte vor Lachen.

„Fuck, du solltest doch Schmiere stehen, du Arsch!“, schrie Matze. Erst da nahm Moritz Herrn Schmidhans neben sich wahr. Der bückte sich und hob das Skateboard auf.

„Setzt euch und haltet die Klappe!“, schimpfte er. „Matthias Fuchs, du kannst das Ding nach der letzten Stunde im Sekretariat abholen.“ Mit schnellen Schritten ging er zum Pult, Matze und Moritz schlichen sich wie geprügelte Hunde zu ihrem Platz. Der Lärm in der Klasse ging in leises Murmeln über. Herr Schmidhans ließ den Blick über die Schüler schweifen. „Packt euer Federmäppchen ein. Wir gehen in den Schulaufgabenraum.“ Entsetzt starrten sich die Schüler gegenseitig an. „Schreiben wir wohl eine Ex?“, fragte Karla aufgeregt.

Herr Schmidhans griente hinterhältig. „Hoffentlich seid ihr gut vorbereitet.“

Die Schüler stöhnten auf, erhoben sich murrend, verließen das Klassenzimmer und schlurften die Galerie entlang. Moritz lief neben Mary und Florentina her. „Mary, darf ich neben dir sitzen?“, bettelte er.

„Na klar“, lachte Mary. Sie blickte ihm in die bernsteinfarbenen Augen. Seine braunen Haare fielen ihm lässig in die Stirn. Mary grinste belustigt. Sie wusste genau, dass Moritz auf Teamwork aus war. Eher nach dem Motto „Toll, ein anderer macht‘s.“ In diesem Fall Mary, die oft Einsen schrieb. Julie Bernauer war auch eine sehr gute Schülerin, doch die ließ grundsätzlich niemanden abschreiben.

Mary und Florentina setzten sich in eine Reihe. Der Raum füllte sich langsam. Plötzlich erschien Matze links neben Mary und legte sein Mäppchen auf dem Platz ab. Moritz schob ihn grob zur Seite.

„Da habe ich reserviert, du Huso, hau ab“, knurrte er.

Matze grinste nur und hockte sich mit einer stoischen Gelassenheit hin. Moritz packte ihn am Arm. Plötzlich polterte Herr Schmidhans los. „Hänfling, Fuchs! Von euch habe ich für heute genug. Ihr geht an die freien Tische nach hinten.“

„Da kann ich nicht so gut vorschauen“, maulte Matze.

„Vorschauen? Ich glaube, du meinst, von Maralen abschauen. Vergiss es. Schleicht euch jetzt, alle beide.“

Leise fluchend erhob sich Matze und trottete zu seinem angewiesenen Platz. Moritz blieb einen Moment unschlüssig stehen und grinste. „Jetzt wäre da eigentlich frei“, frotzelte er. Er griff nach dem Stuhl, um sich niederzulassen.

„Moritz Hänfling, ich will nichts mehr von dir hören.“ Herr Schmidhans sah ihn streng an. „Beweg dich jetzt.“

Seufzend schlurfte auch Moritz in die letzte Reihe. Es wurde still. Herr Schmidhans teilte die Blätter aus. Mary blickte nachdenklich aus dem Fenster. Die Sonne schob sich durch die dichten Wolken. Der Baum im Pausenhof bekam schon dicke Knospen. Als Mary ihre Arbeit erhielt, schrieb sie Klasse, Namen und Datum darauf. Es war Donnerstag, der 8. März 2018. Fach Geschichte, zweite Stunde.

„So, ich werde euch jetzt die Schulaufgabe herausgeben.“ Herr Quellhorst stellte seinen Aktenkoffer auf das Pult, zog eine grüne Mappe heraus und stieß einen tiefen Seufzer aus. „Das war ja gar nichts“, polterte er los. „Ich frage mich ernsthaft, ob wir hier an einem bayerischen Gymnasium sind. Es gab sechs Sechser, acht Fünfer, vier Vierer und Dreier, drei Zweier und zweimal die Eins. Was bin ich froh, dass ich bald in Pension gehen kann.“

Einige Jungs in den hinteren Reihen johlten. „Ruhe!“, wetterte der Lehrer. „Genau ihr seid betroffen! Wie kann man Simple Present und Simple Past verwechseln? Leute, das ist Fünftklassstoff!“ „Das ist schon wieder so lange her“, maulte Moritz, grinste breit und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Die Klasse lachte.

„Das glaube ich dir, du hast ja schon eine Ehrenrunde gedreht. Für dich sieht es sehr schlecht aus. Es gibt keine zweite Chance in der Mittelstufe.“

Matze sprang auf und vollführte einen Fortnite-Tanz; er hampelte und deutete über der Stirn ein L an. Die Klasse brüllte.

„Ruhe!“, schimpfte Herr Quellhorst. „Letzte Warnung! Ich teile auch Verweise aus.“

Der Lehrer begann, die Schulaufgaben zurückzugeben. „Julie Bernauer, deine Leistung war großartig“, sagte er zu dem Mädchen, das in der ersten Reihe saß. Nun stand er bei Mary und Florentina. „Maralen, beste Arbeit, null Fehler, eine Eins.“

Mary bedankte sich und legte das Blatt schnell auf den Tisch. Es war peinlich, dass der Lehrer ihre Note so öffentlich anpries. Das war eine Angewohnheit von Herrn Quellhorst, die ihr nicht gefiel. „Florentina, das war gut.“

Florentina grinste übers ganze Gesicht. „Gott sei Dank, eine Zwei“, flüsterte sie, „hier, schau mal.“

Sie deutete nach vorn und verdrehte die Augen. Julie hielt ihr Blatt so hoch, dass die beiden Mädchen hinter ihr ihre Eins sehen konnten.

„Wie jedes Mal“, seufzte Mary, „immer diese Angeberei.“

Als hätte sie etwas gehört, drehte sich Julie um. „Ich hab auch eine Eins, nur zwei Fehler. Aber Eins ist Eins.“

„Passt doch“, murmelte Mary.

Julie straffte die Schultern und schaute wieder nach vorn.

In der Pause gesellten sich einige Jungs zu Mary, Florentina und Svea. Matze legte den Arm um Svea. „Geht ihr mit zum Döner?“

„Geht leider nicht, wir haben doch noch Sport“, entgegnete Mary.

„Ach, stimmt ja, es fällt ja nur bei den Jungs aus.“ Moritz grinste Mary an.

„Man kann es aber bestimmt bald nachholen.“ Mary lächelte zurück.

„Du musst mir mal Englischnachhilfe geben“, bat Moritz.

Die anderen Jungs prusteten los. „Schaut den alten Streber an!“, rief Matze, Erik setzte „Schleimer! Passt auf, dass ihr nicht auf der Spur ausrutscht“ hinterher. „Wir müssen leider gehen“, stellte Florentina fest. „Die Pause ist fast vorbei.“

Matze drückte Svea kurz an sich und warf ihr einen vielsagenden Blick zu. Die Freundinnen verabschiedeten sich. Mary sah nach oben. In der zweiten Etage entdeckte sie ihre Schwester Josy und deren Freundin Helan. Beide grinsten frech herunter und formten mit den Händen ein Herz.

„Diese Sechstklässler! Das ist ihnen wieder nicht entgangen“, schimpfte Mary. Am liebsten hätte sie ihnen einen gestreckten Mittelfinger gezeigt, doch das verkniff sie sich.

„Meinst du die Tatsache, dass Moritz auf dich steht und Matze auf dich, Svea?“ fragte Florentina geheimnisvoll.

„Bei Matze und Svea mag es stimmen, aber bei Moritz und mir nicht“, protestierte Mary. Sie sagte nicht, dass er ihr irgendwie schon gefiel mit seinen dummen Sprüchen und dem entwaffnenden Lächeln. „Das sieht doch ein Blinder“, lachte Svea, „und die Gören aus der Sechsten auch!“

Svea und Florentina kicherten. Es gongte.

„Wir müssen weiter“, drängte Mary, froh, das Thema wechseln zu können. Die drei liefen zum Klassenzimmer, ergriffen ihre Turnbeutel und rannten zur Turnhalle. In der Umkleide saßen schon viele Mädchen, die bereits umgezogen waren. Mary, Florentina und Svea beeilten sich.

„Hoffentlich spielen wir Volleyball'“, schwärmte Julie, „das kann ich echt gut.“

„Nicht nur du“, konterte Svea. Julies Prahlerei ging ihr auf die Nerven. Mary band ihre Haare im Nacken zusammen. Auf Ballspiele hatte sie weniger Lust; sie war keine gute Fängerin. Sie dachte an den Turnverein, dem sie im vorletzten Jahr mit Florentina beigetreten war. Bei dem Gedanken ans nächste Training fühlte Mary Freude in sich aufsteigen. Am Abend sollte es wieder so weit sein.

Frau Imhoffs Stimme riss sie aus ihren Gedanken. „Lauft euch jetzt in der Turnhalle warm.“

Die Mädchen schwärmten aus wie die Bienen aus dem Bienenstock. Frau Imhoff schaltete die Musikanlage an. „So, jetzt Hoppserlauf! Und nun langsam, bewegt euch im Takt zur Musik!“

Als das Aufwärmtraining beendet war, waren alle ziemlich aus der Puste. Die Schülerinnen ruhten sich auf dem Boden aus. Frau Imhoff ging in den Geräteraum. Sie zog den Schwebebalken hinter sich her. „Los, kommt, helft mit. Holt bitte den Mattenwagen.“ Einige Mädchen stöhnten lustlos auf.

„Können wir nicht Volleyball spielen?“, maulten zwei, die auf ihrem Platz sitzen blieben.

„Etwas mehr Elan bitte, meine Damen“, forderte die Lehrerin ungerührt.

Mary freute sich insgeheim, dass Geräteturnen angesagt war. Doch sie hielt lieber den Mund, um nicht anzuecken. Als der Schwebebalken und die Matten in Position gebracht waren, stellten sich die Mädchen hintereinander an, um Balancierübungen auf dem Gerät zu machen. Frau Imhoff gab bei Bedarf Hilfestellung. Am Ende durfte jedes Mädchen eine Übung ausprobieren. Mary wünschte sich, einen Flickflack auf dem Schwebebalken zu machen. Der Bogengang gelang ihr. Frau Imhoff ermunterte sie, es auszuprobieren. Es klappte. Mary betrachtete es schon als Training für die Turnstunde. Mit Salti, Flickflack und Handstand am Boden hatte sie keine Probleme. Jedes Mädchen kam ein zweites Mal an die Reihe. Als Mary dran war, begann sie zu rennen. Gekonnt federte sie sich vom Boden ab, balancierte, visierte den Schwebebalken an und bereitete den Flickflack vor. Irgendwie fühlte es sich beim Absprung anders an als sonst. Sie rutschte mit dem Fuß leicht ab und verlor an Höhe. Anstatt ihre Hände auf dem Balken zu platzieren, prallte sie mit der Stirn dagegen und fiel zu Boden. Entsetzt eilten ihre Klassenkameradinnen herbei. Mary lag auf dem Rücken und öffnete die Augen. Sie fühlte, wie jemand ihren Arm berührte.

„Mary, alles in Ordnung?“ Das war Frau Imhoffs aufgeregte Stimme. „Kannst du Hände und Füße bewegen? Versuch es bitte!“

Das Mädchen kam der Aufforderung nach. Ihre Arme und Beine funktionierten einwandfrei. Mary starrte nach oben und bemerkte jetzt, dass es dunkel war.

“Ich sehe nichts!“, schrie sie, bewegte ihre Hände vor dem Gesicht, in der Hoffnung, irgendetwas zu erkennen.

Florentina kniete sich neben ihr nieder. „Beruhige dich, bleib ganz still liegen.“

Panisch setzte Mary sich auf und versuchte, sich umzusehen. Sie vernahm aufgeregtes Stimmengewirr. Wo waren das Licht, die Farben, Frau Imhoff und die Mädchen? Im Dunkel verschwunden? In andere Welten abgetaucht? Fühlte es sich so an, wenn man sterben musste? Angeblich verabschiedete sich der Hörsinn zuletzt. Sie wollte nicht sterben. Mary presste die Hände auf den Mund, um nicht zu schreien. Entsetzt starrten die Mädchen sie an. „Mach deine Augen zu“, bat Frau Imhoff und strich ihr über den Rücken. „Alles wird gut!“

Sie wies die Klassenkameradinnen an, bei Mary zu bleiben, und verließ eilig den Raum. Florentina und Svea nahmen Mary in die Arme. Nach einer gefühlten Ewigkeit stürmten Rettungssanitäter in die Turnhalle. Frau Imhoff musste den Krankenwagen gerufen haben. Der Notarzt prüfte Marys Reflexe. Als er in ihre Augen leuchtete, stieß er einen tiefen Seufzer aus. Mary zitterte.

„Kannst du etwas sehen?“

„Nein!“, weinte Mary.

„Wir bringen dich ins Krankenhaus“, sagte der Arzt und tätschelte ihre Hand. „Mach dir keine Sorgen.“ Er erklärte Mary, was er jeweils tat. Sie wurde auf die Trage gehoben. Jemand legte ihr einen intravenösen Zugang in den Handrücken. Sie überkam eine eigenartige Müdigkeit und sie realisierte gerade noch, dass man sie wegtrug, bevor sie in einen traumlosen Schlaf fiel.

Ein Augenblick - der Augenblick, der Marys Leben für immer verändert hatte. Eine falsche Bewegung, ein Sekundenbruchteile andauernder Moment. Im Grunde ihres Herzens hatte sie es damals schon geahnt.

Mary verlebte die nächsten Tage in einem vakuumähnlichen Zustand. Sie hatte das Gefühl, nicht real zu existieren. Sie musste unzählige Untersuchungen über sich ergehen lassen, weil ihr Sehvermögen nicht zurückgekehrt war. Magnetresonanztomographien, Computertomographien des Kopfes, Sehnervenuntersuchungen und Verkabelungen bestimmten ihren Tagesablauf. Mary schien es, als würde alles nicht ihr selbst passieren. Das Mädchen, das im Krankenhaus lag und dieses Prozedere durchmachen musste, ohne nur einen Lichtschimmer wahrzunehmen, tat ihr unendlich leid.

Mary saß im Krankenhausbett, sie starrte stumm nach vorne. Ungeduldig warteten sie und ihre Schwester Josy auf die Arztvisite. Nervös verknotete sie die Finger ineinander.

„Soll ich dir Kuchen holen? Es gibt heute am Kiosk Nusskuchen, den magst du doch“, fragte Josy leise. Sie benahm sich seltsam anders seit dem Unfall. „Nein“, knurrte Mary.

„Du musst doch irgendwann etwas essen. Mom hat gesagt, dass du seit Tagen nichts angerührt hast“, widersprach Josy und berührte vorsichtig Marys Arm. Mary zuckte zusammen. „Lass das“, fauchte sie, zog ihre Hände weg und versteckte sie unter der Decke, die sie bis ans Kinn hochzog.

„Willst du auf den Balkon gehen? Die Sonne scheint heute voll warm.“ „Kannst du mich einfach in Ruhe lassen, Josy? Mir ist es scheißegal, wie das Wetter ist.“

Josy blickte ihre Schwester hilflos an.

„Wo bleibt denn der Arzt?“, murrte Mary schlecht gelaunt. Sie hatte die Ungewissheit so satt. Das Gefühl, in einer Warteschleife des Lebens zu hängen, drängte sich ihr auf. Die Stunden schlichen endlos dahin, eintönig, dunkel und voller verborgener Hindernisse. Josy zuckte mit den Schultern. Als ihr bewusst wurde, dass ihre Schwester diese Geste nicht sah, antwortete sie nur leise. „Ich kann in den Gang schauen, vielleicht sehe ich ihn.“

„Mir egal.“ Mary spielte mit ihren Händen und bewegte sie vor dem Gesicht hin und her in der Hoffnung, wenigstens Schatten wahrnehmen zu können. Nichts. „Der Unfall ist mehrere Tage her. Es ist immer noch dunkel. So, als ob jemand einen Stecker gezogen hätte. Weißt du, warum, Josy?“

„Nein. Der Arzt kann dir das bestimmt sagen“, versuchte Josy, Mary zu beruhigen.

„Was glaubst du, wann werde ich wieder etwas sehen können?“, fragte sie mit zitternder Stimme. „Bestimmt bald“, flüsterte Josy heiser.

„Heute ist es schon etwas besser, glaube ich. Manchmal habe ich das Gefühl, Farben vor mir erkennen zu können. Was denkst du?“

Josy schluckte. Ihr stiegen Tränen in die Augen. Ihr tat es weh, sich vorzustellen, wie es in ihrer Schwester aussehen mochte. Sie fühlte sich von ihren Fragen überfordert. Auf keinen Fall sollte Mary merken, dass sie weinte. Josy erhob sich vom Krankenbett. Mary spürte, dass sich die Matratze bewegte.

„Josy?“, fragte sie in das Dunkel, das sie gefangen hielt. „Wohin gehst du?“

„Ich muss nur mal auf die Toilette“, murmelte Josy ausweichend, schlurfte ins Bad und zog die Schiebetür hinter sich zu.

Plötzlich betrat jemand den Raum. Mary hörte schwere Schritte auf sich zukommen. „Hallo Mary, ich bin es, Dr. Fischer. Deine Eltern sind auch hier.“ Mary starrte ins Leere.

„Mein Lausmädchen.“ Herr Engels trat neben sie und umarmte sie.

Mary irritierte die Begrüßung ihres Vaters. „Lausmädchen? So hast du mich das letzte Mal in der Grundschule genannt.“ Sie brachte ein müdes Lächeln zustande. Sie fühlte, dass sich die Matratze auf der anderen Seite neben ihr absenkte.

„Hallo Mary“, sagte ihre Mutter und drückte ihre Hand. Mary erschrak. Die Stimme ihrer Mutter klang eigenartig fremd, ihre Finger waren kalt. Das war Mary nicht gewohnt. Ihre Mutter hatte nie kalte Hände.

Dr. Fischer zog sich einen Stuhl an das Bett heran. Josy trat aus dem Bad und starrte auf die Versammlung in Marys Zimmer.

„Mom, Dad? Ihr seid schon da? Ich dachte, ihr geht einkaufen!“

„Josy, sei still“, fuhr Herr Engels seine Tochter an. Josy war erstaunt über diesen ungewohnt schroffen Ton, lehnte sich gegen die Schiebetür, schmollte und verschränkte beleidigt die Arme.

Der Arzt holte tief Luft. „Mary, wir haben dich in den letzten Tagen genau untersucht, um herauszufinden, was mit deinen Augen nicht in Ordnung ist.“

Mary kaute nervös an ihren Fingernägeln. Sie schmeckte Blut. Es war ihr egal. Sie erwartete nun eine Rüge ihrer Mutter, die das Nägelkauen überhaupt nicht leiden konnte, doch nichts geschah. „Und? Wann werde ich endlich wieder sehen können?“

„Mary, hör mir zu.“ Der Arzt räusperte sich. Einmal. Zweimal.

„Deine Augen an sich wären in Ordnung. Die Störung liegt an einer anderen Stelle. Du weißt ja sicher, dass Lichtreize ans Sehzentrum ins Gehirn weitergeleitet und dort entschlüsselt werden.“

Mary nickte heftig. Natürlich wusste sie das. Das war Grundschulstoff der dritten Klasse. Am liebsten hätte sie das dem Arzt entgegengeschleudert, doch sie zog es vor, sich diesen Kommentar zu verkneifen. „Die Sehnerven sind für diese Weiterleitung verantwortlich.“

Mary spürte Wut in sich aufsteigen. Wann kam er endlich zur Sache? Im Moment waren ihr die biologischen Vorgänge in ihrem Körper herzlich egal. Etwas trotzig verschränkte sie die Arme.

„Mary“, sagte der Arzt warmherzig und berührte sanft ihre Schulter. Mary erschrak und rutschte zurück.

Der Arzt blickte ihr ernst ins Gesicht. „Du hattest einen Turnunfall, bei dem du sehr unglücklich auf den Kopf gefallen bist. Dabei wurde ausgerechnet deine Sehnervenkreuzung so schwer verletzt, dass die Verbindung von beiden Augen zum Gehirn komplett unterbrochen ist. Deshalb kannst du überhaupt nichts mehr sehen.“

Mary begann zu zittern. „Ich werde aber bald wieder sehen können, oder? Werde ich operiert?“

Traurig schüttelte der Arzt den Kopf. „Nein, Mary. Die Nervenleitungen waren von Anfang an durchtrennt, da lässt sich nichts machen.“

Mary fröstelte, obwohl es nicht kalt war. „Warum näht man diese bescheuerten Nerven nicht zusammen, damit sie wieder funktionieren? Oder geschieht das von alleine?“

Frau Engels schniefte.

„Mary, leider nicht“, sagte Dr. Fischer leise und strich ihr über den Arm. Er machte eine kurze Pause. Das Mädchen spürte, dass er nach Worten rang, bevor er fortfuhr. „Hör mir zu. Du musst jetzt stark sein. Deine Sehnerven sind irreparabel beschädigt. Wenn das Zusammennähen von Nerven so einfach funktionieren würde, gäbe es auch keine Querschnittlähmungen, wo ja die Rücken-marksnerven durchtrennt sind. Die Forschung arbeitet intensiv daran, doch nach derzeitigem Stand ist bei solchen Verletzungen wie auch bei deinen leider noch keine Heilung möglich. “

Diese Worte schlugen Mary wie eine Bombe ins Bewusstsein. Vollständig durchtrennt, irreparabel beschädigt? Das gab es in Filmen, aber nicht im wirklichen Leben! Mary hoffte, aus diesem Albtraum zu erwachen. Sie rieb ihre Augen fest und öffnete sie, in der Hoffnung, irgendetwas zu erkennen. Sie fühlte, wie ihr die Tränen die Wangen herunterliefen.

„Nein“, stammelte sie. „Sie lügen mich an! Bestimmt haben Sie mich nicht gründlich genug untersucht. Ich habe das Gefühl, teilweise Farben sehen zu können, das kann alles gar nicht sein.“

Energisch schüttelte sie den Kopf. Am liebsten wäre Mary aus dem Zimmer gerannt, irgendwohin, bloß weg von hier. Weg von dem Unheil, das sie bedrohte. So, als könnte sie ihm auf diese Weise entrinnen. Doch die Dunkelheit vor ihren Augen hinderte sie daran, vor der Erkenntnis der Wahrheit zu fliehen. Sie musste bleiben; niemand fragte sie, ob sie stark genug war für die Informationen, die auf sie warteten und ihr auflauerten wie hinterhältige Monster in der Finsternis.

Der Arzt tätschelte Marys Arm. „Das hat mit tatsächlichem Sehen nichts zu tun. Es ist das Sehzentrum, das dir einen üblen Streich spielt. Mary, du bist ein so starkes junges Mädchen. Auch wenn es dir jetzt unwirklich erscheint, du wirst lernen, damit gut zu leben. Die anderen Sinne werden deine Augen ersetzen. Du schaffst es, das weiß ich.“

Entsetzt drückte Mary die Hand ihrer Mutter und tastete mit der freien Hand nach ihrem Vater. Sie hatte jedes Wort verstanden, doch irgendwas in ihr weigerte sich, den Inhalt zu erfassen. „Mom, Dad, sagt, dass er lügt! Es stimmt nicht, was er erzählt!“

Herr Engels drückte Mary fest an sich. Sie fühlte, dass sein Gesicht nass war. Ihr Vater und weinen? Das passte nicht zusammen. Mary befreite sich aus der Umarmung und drehte sich zu Frau Engels hin. „Mom? Bitte sag mir die Wahrheit!“ Es klang fast wie ein Schrei.

Frau Engels legte den Arm um ihre Tochter. Wie von weit weg drang ihre verschnupfte Stimme zu ihr durch, als sie kaum hörbar flüsterte: „Es IST die Wahrheit, Mary.“

Ein verzweifelter Aufschrei zerriss die Luft. Frau Engels zog Mary fester in die Arme. Mary presste ihr Gesicht gegen die Schulter ihrer Mutter und schluchzte.

Josy stürmte aus dem Krankenzimmer.

Sie rannte den Gang entlang, die Treppen hinunter und durch den Eingangsbereich. Die Tür öffnete sich automatisch. Die Tränen liefen Josy übers Gesicht, doch sie registrierte es kaum.

Sie setzte sich auf eine Bank. Josy nahm die Welt um sich nur verschwommen wahr und wischte die Tränen aus ihren Augen. Die Sonne schien, kein Wölkchen trübte den strahlend blauen Himmel. Die Birken auf dem Gelände trugen schon winzig kleine Blätter. Auf der Wiese blühten unendlich viele Krokusse. Gelbe, weiße und lilafarbene. Schmetterlinge flatterten von Blüte zu Blüte. Diese Schönheit der Natur sollte ihre Schwester nie mehr sehen? Bei dem Gedanken daran vergrub Josy ihr Gesicht in ihren Händen und begann erneut zu weinen.

Florentina und Svea betraten den Krankenhausflur. „Liegt Mary noch in Raum 159?“, fragte Svea.

Florentina nickte. „Ja, wir sind gleich da.“ Die Mädchen lasen die Nummern an den Türen. Bei der 159 klopften sie an.

„Herein!“, rief Frau Engels. Florentina und Svea betraten das Zimmer. Florentina erschrak, als Mary mit weit geöffneten, geschwollenen Augen an die Wand starrte. Ihre Blicke trafen sich nicht, und das machte ihr irgendwie Angst. Frau Engels hielt Mary im Arm. „Florentina und Svea sind da“, sagte sie.

Mary lächelte. „Hallo“, sagte sie betont munter. Die beiden grüßten zurück und traten an Marys Bett. „Ihr könnt euch ruhig setzen“, bot Mary an. Frau Engels sah etwas irritiert von ihrer Tochter zu ihrem Mann, löste die Umarmung und stand auf. Herr Engels ergriff die Hand seiner Frau. „Sollen wir euch drei alleine lassen?“, fragte er und berührte Marys Schulter.

„Ja“, bat Mary leise.

Die Eltern verließen den Raum. Florentina ließ sich auf der rechten Seite des Bettes nieder, Svea auf der linken.

„Geht es dir schon besser?“, fragte Florentina.

„Ja“, antwortete Mary. „Ich sehe immer noch ziemlich schlecht, kann euch kaum erkennen, aber es wird von Tag zu Tag besser.“

Florentina lächelte. „Ich bin so froh. Wann kommst du nach Hause?“

„Ich weiß es nicht“, gab Mary zurück, „möglicherweise müssen meine Augen erst wieder halbwegs in Ordnung sein. Wie war es heute in der Schule?“

„Ach, langweilig wie immer“, maulte Svea.

Mary lachte. „Haben die Jungs denn nichts Lustiges angestellt?“

„Na ja, Matze hat heute den Stecker vom Tageslichtprojektor ein kleines Stück aus der Steckdose gezogen, so dass es nicht aufgefallen ist. Allerdings war der Stromkreislauf unterbrochen und der Projektor hat wieder mal nicht funktioniert. Der Quellhorst war dermaßen sauer, dass er mit dem Fuß gegen den Projektor getreten hat. Er hat uns gebeten, ein anderes Gerät zu holen. Matze und Moritz haben sich scheinheilig bereit erklärt, das zu tun, dann haben sie den Kasten rausgeschoben, sind damit munter durch das Schulhaus spaziert und nach fünf Minuten wieder zurück ins Klassenzimmer gelaufen. Mit demselben Teil.“

Marys Gesicht verfinsterte sich einen Moment, doch dann kicherte sie. „So kann man Zeit schinden! Was macht Moritz sonst noch?“

„Er vermisst dich. Wir sollen dir von ihm und von Matze ganz liebe Grüße ausrichten.“

„Die Klasse hat uns für dich etwas mitgegeben.“ Florentina legte Mary ein Päckchen in den Schoß.

Mary packte es aus, schüttelte es vorsichtig und roch daran. „Was ist das? Ferrero Rocher?“, fragte sie. „So gut sehe ich leider noch nicht, dass ich das genau erkennen kann.“

„Du siehst schon richtig“, lächelte Florentina. „Lass es dir schmecken.“ Mary öffnete die Schachtel und hielt sie ihren Freundinnen hin. „Hier!“ Die beiden nahmen sich etwas heraus. Auf der Bettdecke lag eine Karte. Svea ergriff sie. „Schau mal, die hättest du beinahe übersehen.“ Svea hielt ihr die Karte hin.

Mary reagierte nicht darauf.

„Hier!“

Marys Lächeln fror ein. „Was denn?“, fragte sie eine Spur zu unwirsch.

Svea wurde etwas nervös. „Du wirst die Karte wahrscheinlich nicht lesen können“, vermutete sie. „Sorry. Soll ich sie dir vorlesen?“

„Ja, bitte“, sagte Mary. Ihre Gesichtszüge wurden wieder weicher. Sie straffte die Schultern und streckte ihren Rücken durch. Nervös spielte sie mit ihren Haaren. Svea warf Florentina einen fragenden Blick zu. Sie begann: „Liebe Mary, wir wünschen dir von ganzem Herzen gute Besserung. Wir hoffen, dass du bald wieder bei uns bist. Heute haben wir eine Englisch-Ex geschrieben. Erhol dich gut! Liebe Grüße von der 9 A.“

Svea sah Mary an. „Alle haben unterschrieben, selbst Herr Quellhorst.“ Mary lächelte. „Danke, Svea. Richtet der Klasse bitte auch schöne Grüße aus.“ Sie holte tief Luft. „Mensch, mir ist so langweilig. Ich hoffe, dass dieser Scheiß hier bald vorbei ist. Wisst ihr was, das Turnen vermisse ich auch. Heute ist Donnerstag, stimmt‘s?“

Florentina nickte, und weil Mary nicht reagierte, bejahte sie.

„Was werdet ihr machen? Stufenbarren? Mensch, ich beneide dich, Florentina. Bitte, sag auch der Turngruppe liebe Grüße. Kannst du in Erfahrung bringen, ob in den Ferien das Turnen stattfindet? Ich hoffe es – ehrlich gesagt. Wenn ich heute schon nicht gehen kann und die letzten Wochen nicht war. Du kannst ja mal bitten, es in den Ferien nicht ausfallen zu lassen.“ Mary wirkte gekünstelt fröhlich, überhaupt nicht authentisch. Ihre Stimme klang eine Spur zu hoch und zu munter. „Habt ihr schon Mathe rausbekommen?“, plapperte sie weiter.

„Ja“, entgegnete Svea mürrisch. „Ich habe eine Drei plus. Mist. Um eine Zwei ins Zeugnis zu bekommen, muss ich in der nächsten Schulaufgabe unbedingt eine Zwei schaffen. Florentina hat eine Zwei.“

„Und Julie?“, fragte Mary neugierig und grinste.

„Was denkst du?“, maulte Florentina gelangweilt.

„Eine Eins, null Fehler!“, gluckste Mary und versuchte, Julie nachzuahmen. „Ich bin heute Klassenbeste!“

„Erraten!“, bestätigte Florentina und prustete los. „Sie hat es überall herumgeschrien. „Ich habe eine Eins, volle Punktzahl!“ Florentina verdrehte genervt die Augen.

„Das kann ich mir denken. Wisst ihr meine Note?“

„Nein, noch nicht“, entgegnete Svea. „Wir haben deine Arbeit hier in einem Kuvert.“

„Legt sie doch auf die Bettdecke“, schlug Mary vor. Als sie fühlte, dass etwas ihre Beine leicht beschwerte, griff sie danach. Sie zog die Arbeit heraus und hielt sie vors Gesicht. Florentina bemerkte, dass ihre Freundin das Blatt falsch herum hielt. Sie überlegte, ob sie etwas sagen sollte, und blickte Svea hilfesuchend an.

„Ich kann es nicht lesen, es ist zu verschwommen“, erklärte Mary entschuldigend.

Florentina war froh, keinen Kommentar abgegeben zu haben. „Na ja, die Schrift ist ja auch ziemlich blass“, versuchte sie zu trösten. „Nächste Woche kannst du dir die Arbeit bestimmt schon selbst durchsehen.“

Mary antwortete nicht. Florentina griff nach dem Papier. „Zeig doch mal her.“ Sie drehte es um und sah nach der Note. „Was denkst du, Mary?“, fragte sie grinsend.

„Eine Sechs minus“, flachste Mary.

„Beinahe“, feixte Florentina. „Auch eine Eins mit der vollen Punktzahl!“ „Das wird Julie so gar nicht passen“, frotzelte Svea.

„Da muss sie durch“, bekräftigte Florentina trocken und schob die Arbeit zurück ins Kuvert. „Es wird sich auch nichts daran ändern.“

„Zumindest nicht bis zur Oberstufe. So lange bleiben wir ja noch alle zusammen“, warf Svea ein.

„Es sei denn, du fällst durch, Mary. Oder du kommst auf die Idee, die Schule abzubrechen“, spöttelte Florentina.

Sie hatte erwartet, dass Mary lachte, aber sie tat es nicht. Sie verschränkte die Arme und starrte geradeaus, an ihren Freundinnen vorbei. Tränen traten in ihre Augen.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte Svea erschrocken. Da fiel ihr noch etwas ein. „Übrigens, in Geschichte hast du auch eine Eins. Hat der Schmidhans versehentlich ausgeplaudert.“

Mary antwortete nicht. Florentina sah nervös auf die Uhr. Sie hatte Angst, etwas Falsches gesagt zu haben. Sie erschrak, als sie sah, wie spät es war. „Mary, wir beide müssen gehen, es ist kurz nach fünf! Um fünf wollte uns meine Mutter abholen!“ Die Mädchen erhoben sich. Sie umarmten ihre Freundin und verabschiedeten sich. Mary hörte, wie sich ihre Schritte im Dunkeln entfernten. Die Tür wurde geöffnet und wieder geschlossen. Mary war wieder allein. Die Tränen begannen zu fließen. Ihre Nase triefte. Mary brauchte ein Taschentuch. Sie griff unter das Kopfkissen. Dort fand sie keines. Ihre Mutter hatte die Packung wahrscheinlich aufgeräumt. Mary biss sich auf die Lippen. Vielleicht lagen auf dem Nachtkästchen welche. Sie setzte sich und streckte ihre Hand danach aus. Wie sie das hasste! Es kam ihr vor, als ob die Dunkelheit alles um sie herum verschluckt hätte. Sie fühlte hartes, kaltes Metall. Sie vermutete, dass es das Beistelltischchen war. Suchend tastete sie darüber. Dabei stieß sie versehentlich gegen einen harten Gegenstand, der bei der Berührung umfiel, auf den Boden polterte und in tausend Teile zerschellte. In Mary explodierte etwas. Sie sprang auf und zog wütend mit dem Arm über das Nachtkästchen. Die Getränkeflaschen und ihr Glas fielen klirrend und scheppernd auf den Boden. Sie nahm ihr Kissen und warf es von sich weg. Sie ergriff alles, was sie auf dem Bett fand, um es durchs Zimmer zu schleudern. Als sie mit den Händen über die Matratze strich, berührte sie festes Papier. Das Kuvert mit der Mathearbeit! Mary zerriss es in unendlich viele Fetzen. Sie fühlte sich, als ob es ihr gesamtes Leben wäre, das in Scherben zerbrach und zerfetzt wurde. Sie handelte wie in einem Rauschzustand, nicht bereit, dem Schicksal das Ruder zu überlassen, und beteiligte sich aktiv an der Zerstörung. Mary wusste nicht, wie ihr geschah; sie begann zu schreien, wie sie noch nie geschrien hatte. Sie hörte erst auf, als sie irgendwann wie von weit her die Stimme ihres Vaters vernahm, der beruhigend auf sie einredete. Sie spürte die Arme ihrer Mutter, die sie wiegte wie ein kleines Kind, und nahm den Arzt wahr, der an ihrem Arm nestelte und ihr eine Spritze verabreichte. Danach überkam sie Müdigkeit, die sie in einen traumlosen Schlaf fallen ließ.

Mary saß angezogen auf ihrem Bett. Sie wartete darauf, abgeholt zu werden. Plötzlich ging die Tür auf. „Hallo Mary, jetzt geht es endlich nach Hause.“ Das Mädchen richtete den Blick in die Richtung, aus der die Stimme kam. Ihre Mutter.

„Hey“, rief Josy, „ich bin auch da.“ Mary fühlte, wie sich die Matratze neben ihr absenkte.

„Und ich auch“, plapperte Elly. Mary erinnerte sich daran, dass Osterferien sein müssten, deshalb waren ihre Schwestern hier. Frau Engels nahm Marys Gepäck. Mary stand auf.

„Hak dich bei mir unter“, schlug Josy vor. Mary ergriff Josys Arm. Sie verließen das Zimmer. Im Flur herrschte geschäftiges Treiben. Jemand klapperte mit Geschirr, Schritte waren zu hören. Irgendwo kicherten und schäkerten mehrere Personen. Lachten sie etwa über sie? Ohne Blickkontakt war es Mary nicht möglich, das herauszufinden. Sie presste ihre Augen zu und redete sich ein, nur deshalb nichts zu sehen und drückte sich ängstlich an ihre Schwester. Sie liefen eine ganze Weile, bis sie plötzlich einen warmen Luftzug fühlte und das Summen der Schiebetüren vernahm.

„Wir sind vor dem Ausgang“, erklärte Frau Engels.

„Das weiß ich“, erwiderte Mary patzig, „ich bin ja nicht blöd.“

Niemand sagte ein Wort. Mary atmete tief ein. Der Duft der erwachenden Natur stieg ihr in die Nase, Vögel zwitscherten und sie spürte die Wärme der Sonnenstrahlen in ihrem Gesicht. Ob die Sonne wohl blendete? Irgendwo weiter weg führte eine Straße vorbei, wo reger Verkehr herrschte. Der Auspuff eines mutmaßlich frisierten Motorrads röhrte und übertönte alles. Die Wirklichkeit hier draußen fühlte sich normal an, voller Leben. Mary wagte es nicht, ihre Augen zu öffnen.

Die Heimfahrt war eine Vollkatastrophe. Mary verlor jegliche Orientierung. In der ersten Linkskurve wurde sie auf die Seite gedrückt. Als ihre Mutter unerwartet auf die Bremse trat, weil die Ampel an der großen Kreuzung auf Rot wechselte, warf es sie nach vorn. Mary stützte sich am Handschuhfach ab. Frau Engels erkannte das Problem, das Mary zu schaffen machte, und kündigte nun vorher an, wenn sie bremsen oder abbiegen musste. Mary hielt die Hände vors Gesicht. „Mom, kannst du das Radio anmachen?“, bat Josy.

Frau Engels betätigte den Schaltknopf. „Auf der A 9 bei Denkendorf befinden sich Rinder auf der Fahrbahn. Bitte fahren Sie in beiden Richtungen äußerst vorsichtig, fahren Sie nicht nebeneinander und überholen Sie nicht. Ich wiederhole …“, sagte der Radiosprecher.

„Blöde Rindviecher“, meckerte Josy. Als die ersten Takte von „Thunder“ erklangen, gab sie sich zufrieden. Niemand sprach mehr, als unbedingt notwendig war, und Mary war froh, dass die seltsame Stille von der Musik ausgefüllt wurde. Nach einer Ewigkeit erklärte Frau Engels, dass sie fast daheim seien.

Mary merkte, wie sie den Wagen in die Garage manövrierte und schließlich den Motor abstellte. Ihre Schwestern kletterten rasch aus dem Auto. Josy machte die Beifahrertür auf und bot Mary an, sich bei ihr einzuhängen. Mary klammerte sich an ihren Arm. Josy führte sie aus der Garage.

Mary fühlte das Pflaster unter ihren Füßen. Eine sanfte, lauwarme Brise strich über sie hinweg. Sie hörte das Gezwitscher der Stare im Kirschbaum. Bestimmt waren sie schon eifrig beim Nestbau. Elly nahm ihre Hand und legte sie an die Hauswand. Sie zeigte ihr auch ein Fensterbrett. „Fühl mal.“

„Das Küchenfenster?“, fragte Mary.

„Ja“, antwortete Elly. In Marys Kopf tauchten Bilder auf. Sie kannte sich wieder aus. Plötzlich kam ihr eine fixe Idee. War sie möglicherweise wochenlang im Koma gelegen und ihre Erblindung ein reiner Irrtum? Mary hoffte, aus dem Albtraum zu erwachen, der sie in nicht enden wollende Dunkelheit zwang. Die Dunkelheit passte einfach nicht zum Leben eines fast 15jährigen Mädchens, das aus Spaß, Freunden, Schule und Turnen bestand. Auch nicht zu der Schönheit der Natur oder zu ihrem Zuhause, das sie vor ihrem inneren Auge deutlich sehen konnte. Mary fühlte sich wie in einem Film, in dem sie eine Rolle spielen musste, die sie nicht mochte. Davon hatte sie nun endgültig die Nase voll. Vorsichtig machte sie die Augen auf. Sie erwartete, das Haus, den Hof, den blauen Himmel und den Kirschbaum in diesem Moment zu sehen, doch es änderte sich nichts, absolut gar nichts. Die Realität stürzte mit voller Wucht auf Mary ein. Sie riss sich los und begann zu rennen, als könnte sie so der Wirklichkeit entfliehen. Vor Schreck ließ Frau Engels das Gepäck fallen und eilte hinterher. Sie bekam ihre Tochter gerade noch rechtzeitig zu fassen, bevor sie über die Stufe vorm Eingang stolperte, und fing sie auf. Sie drückte sie fest an sich. Mary fing an zu schreien.

„Mary, beruhige dich!“

Beruhigen? Das war unmöglich.

„Bringt mich in mein Zimmer, bitte!“, weinte sie voller Verzweiflung. „Lasst mich allein! Und – macht die Scheißrollos runter!“

Mary erinnerte sich nicht daran, wie sie in ihr Zimmer gekommen war. Sie vernahm weder die Stimme ihrer Mutter, die versuchte, sie zu trösten, noch die sich entfernenden Schritte und die Tür, die ins Schloss fiel.

Sie schlüpfte unter die Bettdecke und presste ihr Gesicht ins Kopfkissen, das angenehm nach Weichspüler roch. Apfelduft – den mochte sie gern. Sie drehte sich erst um, als das Brummen der Rollladenmotoren verstummte. Sie starrte nach oben. Jetzt war die Dunkelheit für sie erträglicher, weil sie wusste, dass es tatsächlich stockdunkel war.

Die Tage zogen sich ins Unendliche. Schlaf- und Wachphasen wechselten sich ab, völlig unabhängig davon, ob es Tag oder Nacht war. Mary hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Non-24 nannte sich dieses Phänomen, hatte ihr ihr Vater erzählt. Es interessierte Mary nicht. Den Tag gab es für sie ohnehin nicht mehr. Manchmal hörte sie jemanden im Flur reden, ab und zu kam jemand zu ihr ins Zimmer.

„Mary, willst du frühstücken?“ Ihre Mutter. Es war also Morgen.

„Ich bring dir einen Teller mit einem Marmeladenbrötchen und stelle ihn auf das Nachtkästchen.“

Mit dem Essen war Mary auf Kriegsfuß. Sie weigerte sich vehement, mit ihrer Familie gemeinsam im Esszimmer zu sitzen. Die Vorstellung, dass ihr andere peinlich berührt dabei zusahen, wie sie auf dem Teller herumtastete, war ihr ein Graus. Wenigstens hatte ihre Mutter das nun verstanden und ihren Wunsch, alleine zu essen, schweren Herzens akzeptiert. Trotzdem hatte Mary keinen Appetit. „Nein“, antwortete sie heiser.

„Willst du duschen?“

Mary strich ihre Haare zurück. Okay, das tägliche Pflegeprogramm war jetzt angesagt. Es war ihr völlig gleichgültig, wie sie aussah, aber es tat ihr gut, sich wieder frisch zu fühlen.

„Oder lieber baden?“

„Okay“, gab Mary tonlos zurück. Im Grunde war es ihr egal. So, wie ihr alles egal war. Die Anrufe von Florentina und Svea. Die Kartengrüße, die ihr ihre Klasse und die Turngruppe schickten. Der Besuch ihrer Großeltern, die sie komplett ignorierte, obwohl sie beide mochte. Die Osterfeiertage, an denen ein Familienmitglied im Haus bei Mary blieb, während die anderen die Gottesdienste am Karfreitag und am Ostersonntag besuchten. Die warme Frühlingssonne und das Zwitschern der Vögel. Sie igelte sich in ihrem Zimmer ein, um nichts von ihrer unsichtbaren Umwelt hören, fühlen und riechen zu müssen. So, als ob nichts mehr von all dem existierte.

„Ich lass dir Wasser ein“, verkündete Frau Engels und verließ das Zimmer. Weil sie die Tür offenstehen ließ, hörte Mary, wie sie das Wasser aufdrehte und wieder zurückkam. „Komm, ich bring dich ins Bad.“ Mary stand auf. Sie hakte sich bei ihrer Mutter unter und biss sich auf die Lippen. Im Bad legte Frau Engels Marys Hand auf die Waschmaschine. Sie rumpelte laut und vibrierte. Mary berührte verschiedene Stoffe.

„Da liegt deine Unterwäsche, eine Jeans und dein blaues T-Shirt mit dem Spruch …“

Mary fühlte einen Stich im Herzen. Sie wollte nicht wissen, was andere sehen konnten. „Hör auf“, fauchte sie.

Frau Engels holte tief Luft. „Daneben, auf dem Trockner, findest du ein großes Handtuch. Hier.“ Sie führte Marys Hand dorthin und ließ sie los. Mary blieb stehen. Frau Engels schraubte an einer Flasche und hielt sie ihrer Tochter unter die Nase. „Hier, riech mal. Badeschaum. Möchtest etwas davon im Wasser haben?“

Mary atmete ein. Apfel. Den Geruch mochte sie. Sie nickte. Frau Engels schüttete eine Kappe voll davon ins Wasser und drehte den Hahn ab. „Ich stelle das Fruchtshampoo an den Badewannenrand.“

Mary nickte wieder. Frau Engels bewegte sich nicht vom Fleck.

„Mom“, sagte Mary schließlich. „Kannst du mich jetzt bitte alleine lassen?“

„Klar“, gab Frau Engels zurück. „Sperr die Tür nicht zu und rufe mich, wenn etwas ist, okay?“

Ihre Tochter nickte. Ihre Mutter verließ den Raum. Mary zog ihre Sachen aus, legte sie auf den Boden und tastete sich langsam zur Badewanne. Ihre Finger stießen gegen den kalten Rand. Mary strich daran entlang und stieg hinein. Das Wasser war angenehm warm. Dampfender Apfelduft stieg ihr in die Nase. Das Wasser umschloss sanft ihren ganzen Körper. Mary begann, sich etwas wohler zu fühlen. Hier wusste sie, was sie umgab, auch wenn sie es nicht sehen konnte. Sie spielte mit dem Schaum, der auf der Wasseroberfläche schwamm, und versuchte, soviel wie möglich auf die Hände zu laden. Nach einer Weile hatte sie davon genug. Sie schloss die Augen, lehnte sich zurück und rutschte immer tiefer ins Wasser, bis ihr Kopf untergetaucht war und hielt die Luft an. Wenn sie einfach nicht mehr atmete, bis sie ohnmächtig würde? Sie erschrak nicht einmal über diesen Gedanken; er drängte sich ihr geradezu als Lösung auf. Plötzlich ergriff sie Panik. Prustend tauchte sie auf, ruderte mit den Armen und rang nach Luft. Dabei berührte Mary etwas, das mit Schwung über den Boden schlitterte. Mary strich mit den Händen über die Ablage. Sie fand das Shampoo nicht. Ihr war klar, dass sie es versehentlich weggeschleudert hatte. Sie kniete sich hin, beugte sich über den Badewannenrand und tastete über den Boden. Sie fühlte nur kalte Fliesen und einen cremigen Klecks. Sie roch an ihren Fingern. Beeren mit Vanille! Anscheinend war das Shampoo ausgelaufen. Wo sollte Mary jetzt suchen? Sie würde ausrutschen. Tränen stiegen ihr in die Augen. Mary begann zu frieren. Sie rief nach ihrer Mutter und weinte hemmungslos. Frau Engels kam, versuchte, ihre Tochter zu trösten und wusch ihr die Haare. Sie half ihr beim Abtrocknen, Anziehen und beim Föhnen. Sie kämmte die langen blonden Locken und bot ihr an, eine Flechtfrisur zu machen. Mary lehnte ab. Frau Engels drückte ihr die Zahnbürste mit der Zahnpasta darauf in die Hand. Als Mary fertig war, schniefte sie immer noch leise. Sie bedauerte es, nicht ertrunken zu sein. Sie hasste dieses Leben, ja, sie hasste es wirklich.

Mary fiel auf, dass sie nun vieles über das Gehör wahrnahm, ob sie es wollte oder nicht. Einige Tage später wurde sie Ohrenzeuge, wie ihre Eltern diskutierten.

„Wie soll es nur weitergehen?“ Die Stimme ihrer Mutter. „Sie liegt den ganzen Tag in ihrem Zimmer, hat an nichts mehr Interesse und boykottiert alles.“ Mary begriff sofort, dass es um sie ging. Sie ging vorsichtig durch den Raum, tastete sich zur Tür und drückte ihr Ohr dagegen, um besser lauschen zu können. Anscheinend saßen die Eltern bei offener Tür in der Küche. Herr Engels seufzte. „Ich befürchte, wir können ihr das nicht geben, was sie braucht. Sie nimmt von uns nichts an.“

„Wir können alle sehen, Philipp, sie nicht. Sie fühlt sich verdammt einsam“, sagte Frau Engels. Stille. Nach einer Weile unterbrach Herr Engels das Schweigen. „Du hast recht. Ich glaube kaum, dass es funktioniert, wenn wir ihr jetzt die Mobilitätstrainerin vor die Nase setzen. Sie wird sich einfach verweigern. Mary muss Menschen kennenlernen, denen es genauso geht wie ihr.“