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Die Zehntklässlerin Mary, die mit vollem Namen Maralen heißt, muss sich einer unerwarteten Herausforderung stellen. Nach einem Turnunfall ist sie blind, lässt sich davon aber nicht abhalten, alle Dinge zu tun, die ihr wichtig sind. Sie hat gelernt, die anderen Sinne zu benutzen, um die Welt um sich herum wahrzunehmen. Auf ihren Freund, ihre Clique und ihre Familie kann sie immer zählen. Allerdings ist ihr nicht bewusst, wie attraktiv sie in den Augen anderer Menschen mit ihren langen blonden Haaren ist. Als sie mit ihrem Klassenkameraden Moritz in einer Eisdiele jede Menge Spaß hat, wird sie bereits von einem fremden Mann beobachtet. Mary lebt ihr Leben normal weiter, doch bald ist das Beobachten für den Fremden nicht mehr genug. Warum jedoch kommt Mary die Stimme des Mannes bekannt vor? Wer ist der Fremde und warum lässt er sie nicht in Ruhe? Mary und ihre Clique stoßen auf manches Geheimnis, das es zu lüften gilt, und sogar auf einen alten Kriminalfall. Die Spuren führen Mary und ihren Freund nach Mayenfeld ...
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Seitenzahl: 385
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© 2020 Heidi Stehbach-Braunreuther
Lektorat: Angela Hochwimmer
ISBN Softcover: 978-3-347-00908-0
ISBN E-Book: 978-3-347-00910-3
Druck und Distribution im Auftrag des Autors:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Autor verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag des Autors, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Deutschland.
Heidi Stehbach-Braunreuther
Mary Engels - Dunkelheit hinterm Glanz des schönen Scheins
Für meine KinderMelissa und Anton
Moritz sah Mary von der Seite an.
„Wer macht dir eigentlich immer deine Frisuren?“
„Ich selbst“, antwortete Mary. „Ich habe irgendwie einen Frisurentick.“
„Du kriegst das prima hin und es steht dir auch. Wie geht das? Ich meine, du kannst dich ja nicht im Spiegel betrachten?“
„Schau mal“, sagte sie fröhlich und strich mit den Fingern über das Flechtwerk. „Ich sehe mit meinen Händen. Eine Bekannte von mir ist Friseurin auf Rädern. Die kennt mein Faible. Wenn sie zu uns ins Haus kommt, um uns die Haare zu schneiden, nimmt sie sich immer Zeit und zeigt mir Frisuren, die ich erfühlen und nachmachen kann.“
Die Bedienung brachte kleine Tabletts. „Einmal Stracciatellabecher, einmal Erdbeerbecher.“
„Wir zahlen gleich.“ Mary hielt der Frau einen Fünf-Euro-Schein hin. Moritz kramte ebenfalls in seinem Geldbeutel und gab ihr fünf Euro in Münzen. Die Frau stellte die Bestellung ab und bedankte sich. Mary nahm den Becher vor sich hoch und roch daran. „Hm, das ist deiner, Moritz. Stracciatella.“ Sie schob ihn grinsend zu ihm hinüber. „In diesem Fall benutze ich meine Hände lieber nicht.“ Moritz lachte und stellte den anderen Eisbecher vor Mary. Sie hörte es, griff danach und begann zu essen. „Dieser Quellhorst geht mir richtig auf den Senkel“, seufzte Moritz. „Hat der mir doch tatsächlich ein Sauschwänzchen gegeben! Oiiink.“ Er grunzte laut. Mary prustete los: „Sauschwänzchen? Was bedeutet denn das?“
„Na, die Note, die wie das Ringelschwänzchen eines Schweins aussieht.“
„Eine Sechs?“, riet sie.
„Genau“, bestätigte Moritz, „in der letzten Schulaufgabe muss ich unbedingt eine Vier schreiben, sonst wird es ernsthaft eng für mich.“ Er klang gequält.
Mary überlegte. „Meinst du nicht, dass du noch einige ordentliche mündliche Noten hast?“
„Ich denke nicht.“ Moritz zerriss einen Bierdeckel in viele Teile.
„Wie wäre es mit einem Referat? Der Quellhorst ist immer dazu bereit. Das ist eine prima Möglichkeit, deine Sechs wieder auszubügeln“, schlug Mary vor.
„Ach nö, dieser Aufwand!“, stöhnte Moritz.
„Wir können auch zusammen lernen“, bot Mary an.
„Lernen? Das ist jetzt nicht dein Ernst!“, fragte Moritz gespielt entsetzt.
Vor ihrem geistigen Auge tauchte schemenhaft sein Bild auf. Sie konnte seinen Blick regelrecht fühlen und lachte. „Moritz Hänfling, du bist so eine faule Socke! Dir bleibt tatsächlich nur die Option, ordentlich zu spicken und dich nicht erwischen zu lassen.“
„Ich müsste neben dir sitzen“, überlegte er.
„Aber du könntest ja nicht lesen, was ich schreibe“, warf Mary ein. „Die Vorlesefunktion bringt dir auch nichts, weil du keine Kopfhörer trägst.“
„Stimmt“, gab er zu. „Fuck. Da müsste ich glatt noch Braille lernen.“
„Du bist verrückt. Genauso gut könntest du etwas für Französisch tun!“, konterte Mary.
„Na ja, es gibt ja auch noch Mathe, Englisch, Geschichte, Religion, Physik, Wirtschaft und so weiter. Braille bräuchte ich mir nur einmal anzueignen. Es würde für alle Fächer zum Spicken reichen. Wäre wie so eine Art Breitbandantibiotikum für mehrere Krankheiten.“
„Ich traue es dir zu“, gluckste Mary. Sie ergriff die Speisekarte, tat so, als ob sie sie ihm über den Kopf ziehen würde und legte sie wieder auf den Tisch. „Kein Lehrer würde je vermuten, dass du es kannst, weil jeder weiß, wie stinkfaul du bist.“
Moritz kicherte albern. „Ist doch gut, oder?“
Mary grinste. „Ja. Sie würden dich deshalb wahrscheinlich sogar zu Anne und mir ins kleine Zimmer lassen. Ohne mit der Wimper zu zucken.“
„Meine besseren Noten lägen dann eben an meiner guten Konzentration“, frotzelte er.
Mary lachte lauthals los und drehte den Kopf in seine Richtung. „Du hast es faustdick hinter den Ohren, Moritz Hänfling. Ich stelle mir gerade dein Gesicht vor. Leider bleibt es nur bei der vagen Vorstellung“, platzte sie gedankenlos heraus. Erschrocken hielt sie die Hand vor den Mund. Ihr wurde bewusst, dass sie Moritz in Verlegenheit gebracht haben könnte.
„Äh“, machte Moritz, „hast du nicht vorhin gesagt, dass du deine Hände benutzt, wenn du etwas sehen willst?“
„Ja“, antwortete Mary.
„Na ja, dann mach es doch einfach“, bot er an.
„Hier? In der Öffentlichkeit?“, fragte Mary ungläubig und grinste.
„Warum denn nicht?“, erwiderte Moritz. „Nur zur Info. Ich schaue dich ja auch gerade an.“
„Ja, mit deinen Augen“, konterte Mary. „Das ist normal.“
„Es ist aber auch normal, dass du es anders machst, weil es mit deinen Augen nicht funktioniert.“
Mary lächelte. Sie freute sich, dass Moritz so dachte.
„Die meisten, die ich in Mayenfeld kennengelernt habe, tun das zwar nicht, aber ich vermisse Gesichter manchmal sehr. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich bis zu dem Turnunfall sehen konnte. Ja, ich komme gern auf dein Angebot zurück“, sagte sie leise.
Er nahm ihre Hände in die seinen und legte sie an sein Gesicht. Das Mädchen begann, seine Haare zu erfühlen, dann seine Augen, Schläfen und das Kinn. Moritz lachte. Mary tastete nach seiner Nase und seinem Mund. Das allerdings tat sie normalerweise nie, aber sie war einfach etwas übermütig. „Ich kenne dein dreckiges Grinsen. Hast du was vor?“, feixte sie.
Moritz sah in ihre strahlend blauen Augen. Ihm war, als würden sich ihre Blicke direkt treffen. Für einen Moment vergaß er, dass sein Gegenüber blind war. Er grinste noch breiter. Mary hielt inne und ließ ihre Finger auf seinen Lippen liegen. Es gefiel ihr irgendwie, wenn er sie angrinste. Plötzlich streckte er seine Zunge heraus und leckte über ihre Finger.
„Hey!“, schrie Mary auf und zog die Hand weg. „Pfui Teufel! Ich weiß schon, warum ich grundsätzlich weder Nase noch Mund anfasse. Du Wildsau, du!“
Er begann lauthals zu lachen. Reflexartig schmierte sie die Spucke an seine Wange. „Sorry“, kicherte er, „bitte nicht böse sein. Mir war jetzt einfach danach.“ Er grunzte wie ein Schwein.
Da begann auch Mary zu schmunzeln. „Ich hätte es wissen müssen! Kenne dich ja schon lang genug.“
„Ich bring dich zur Toilette, wenn du deine Hände waschen willst“, bot Moritz an.
„Wäre nicht schlecht“, stimmte Mary grinsend zu. „Die finde ich aufs erste Mal nicht alleine, ohne ewig zu suchen.“
„Ich muss auch erst einmal schauen, wo sie ist. Es ist ja alles komplett neu hier“, murmelte Moritz.
„Machst du hier auch wirklich keinen Scheiß? Womöglich führst du mich noch ins Männerklo. Mal so versehentlich." „Nein“, entgegnete er mit ernster Stimme. „Du kannst mir vertrauen. Ehrlich.“
Mary zeigte ihm den Vogel. „Na klar“, spöttelte sie und grinste. „Blind vertrauen – ausgerechnet dir, Moritz Hänfling?“
„Ernsthaft“, beteuerte Moritz. Er jammerte beinahe, um seine aufrichtigen Absichten zu untermauern.
„Dann gebe ich dir eben eine Chance“, schmunzelte Mary. „Aber ich warne dich!“ Beide erhoben sich.
„Es ist sehr eng hier“, murmelte Moritz.
„Am besten gehst du voraus. Ich halte mich an deinen Schultern fest“, schlug Mary vor.
Auf diese Art lotste er sie sicher durch die Sitzgruppen. Vor einer Tür blieb Moritz stehen. „Hier, schau. Der Beweis.“ Er führte ihre Hand zu einer Figur an der Tür. Mary ertastete sie. Es war eine Frau mit einem langen Kleid. „Damentoilette. Das ist dein Glück“, stellte sie kichernd fest. Sie öffnete.
Moritz warf einen kurzen Blick hinein. „Geh zwei Schritte geradeaus. Das Waschbecken ist links von dir. Wenn du davorstehst, findest du neben dem Waschbecken rechts die Klotür. Du musst nur deinen Arm ausstrecken.“
Mary lächelte in Moritz' Richtung. „Danke.“
„Ich warte hier auf dich.“
„Okay“, antwortete Mary und schloss die Tür hinter sich. Moritz steckte die Hände in die Hosentaschen und ließ seinen Blick über den Raum schweifen. Das Eiscafé war gut besucht. Direkt neben ihrem Platz saß ein Mann mit Anzug und Krawatte an einem Zweiertisch. Er bestellte gerade. Die Toilettentür ging auf. Mary kam zurück.
„Halt dich wieder fest“, bot Moritz an. Sie legte ihre Hände auf seinen Rücken. Während sie zu ihrem Platz gingen, stellte Moritz fest, dass der Mann mit der Krawatte zu ihnen herübersah. Moritz nahm Marys Hand in die seine und zeigte ihr die Stuhllehne. Mary tastete nach der Sitzfläche und setzte sich. Der Junge hockte sich daneben. Der Mann vom Nachbartisch starrte sie an. Moritz stöhnte.
„Was ist denn?“, fragte Mary.
„Gaffer am Werk“, flüsterte er mürrisch. „So ein Schnösel neben uns schaut dich ununterbrochen an. Er ist geschniegelt und gestriegelt. Wirkt vom Aussehen wie ein Firmenchef; zumindest wie irgendein höheres Tier. Vom Alter her könnte er unser Vater sein.“
Mary seufzte. „Wahrscheinlich ist ihm noch nie ein blindes Mädchen begegnet. Muss schon sehr interessant sein!“
Moritz löffelte eine Praline aus seinem Eisbecher. „Soll ich ihm was rüberschießen?“, fragte er belustigt. „Schokolade mit Sahne?“
Mary lachte. „Moritz Hänfling, untersteh dich. Wir kriegen Hausverbot!“
„Quatsch! Ich stelle mir das gerade so schön vor, die ganze Sauerei genau auf seinen Brillengläsern, und wie die Sahne auf seine Krawatte tropft“, alberte Moritz, hob den Löffel hoch und tat so, als ob er ihn als Katapult verwenden würde. Mary saß so nah neben ihm, dass sie seine Bewegungen fühlte. Sie fürchtete, er könne sein Vorhaben in die Tat umsetzen. „Du zielst. Echt jetzt?“, kicherte sie und griff nach seinem Arm. Dabei rutschte ihm die Praline mitsamt Sahne vom Löffel und klatschte auf den Tisch. Mary prustete los. Moritz lachte und wischte alles mit seiner Serviette weg. „Ich glaube, wir gehen lieber“, sagte er plötzlich.
„Ich wette, die Bedienung schaut schon zu uns rüber“, gluckste Mary.
„Du hast recht“, bestätigte Moritz.
Mary klappte ihren Stock auf. Beide erhoben sich. Als sie die Eisdiele verließen, sah ihnen der Fremde hinterher, bis sie aus seinem Blickfeld entschwunden waren.
Das Klassenzimmer füllte sich. Moritz führte Mary an ihren Platz. Anne, ihre Schulbegleitung und ausgebildete Blindenlehrerin, war schon da. Sie half Mary, ihre Unterlagen für das Fach Wirtschaft herauszusuchen. Mit ihrer Hilfe funktionierte es so schnell wie bei den anderen. Svea und Florentina kamen auch zurück. Sie hatten in der Pause noch für Latein gelernt, da beide fürchteten, ausgefragt zu werden. Mary hatte das bereits doppelt hinter sich.
Die Schüler stürmten auf ihre Plätze, als Frau Weber den Raum betrat. Sie grüßte, die Schüler grüßten murmelnd zurück. Frau Weber stellte ihre Tasche mit Nachdruck auf das Pult. Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. Die schlechte Laune war ihr anzusehen. „Die Ex habe ich bereits korrigiert. Man merkt, dass ihr wenig gelernt habt.“ Matze und Moritz unterhielten sich.
„Mathias, nenne die Prinzipien der freien Marktwirtschaft.“
Moritz boxte Matze in die Seite.
„Hä“, machte der.
„Hier vorne spielt die Musik. Mathias, du sollst aufpassen!“, schimpfte Frau Weber. „Du hast es dringend nötig. Also, nun nenne mir die Prinzipien der freien Marktwirtschaft“, wiederholte sie.
„Aus Prinzip Leute bescheißen“, antwortete Matze und grinste von einem Ohr zum anderen. Die Klasse brüllte. „Mathias, willst du einen Verweis haben? Dein Verhalten lässt zu wünschen übrig, deine Leistungen auch“, klagte Frau Weber. „Lange schaue ich mir das nicht mehr an.“ „Machen Sie halt die Augen zu“, frotzelte er. Die Schüler johlten.
„Letzte Warnung!“, drohte die Lehrerin. Sie wandte sich an Julie. „Kannst du mir die richtige Antwort nennen?“ Julie lächelte siegesgewiss, setzte sich aufrecht hin und hob selbstbewusst den Kopf. „Marktprinzip, passive Rolle des Staates, dezentrale Planung, Wirtschaftlichkeits- und Rentabilitätsprinzip, allgemeine Freiheitsverbürgung, Konkurrenz- und Wettbewerbsprinzip.“
„Prima, Julie“, lobte Frau Weber. „Das wäre die richtige Antwort gewesen.“
Julie ließ einen abfälligen Blick über ihre Klassenkameraden schweifen.
Frau Weber holte tief Luft. „In der Ex gab es drei Einser, drei Zweier, einen Dreier, acht Vierer, sechs Fünfer, der Rest sind Sechser!“ Sie verteilte die Arbeiten. Frau Weber gab Florentina ihre Arbeit.
„Glück gehabt!“, seufzte sie erleichtert.
„Was hast du denn?“, fragte Mary neugierig.
„Eine Eins minus.“
„Super, dann kriegst du die Eins ins Zeugnis!“ Mary lächelte und drückte Florentinas Hand. Als Mary ihr Blatt erhielt, suchte sie mit den Fingern nach der Note und der Punktzahl. Sie stellte fest, dass es eine glatte Eins ohne Fehler war. Julie drehte sich um. „Ich habe eine Zwei plus mit 28 Punkten. Die letzte Frage war einfach unfair gestellt. Da habe ich vier Punkte verloren. Was hast du, Mary?“ Ihre Stimme klang gequält, als sie die Arbeiten der Mädchen begutachtete. Die Note stand bei Mary nicht nur in Braille, sondern auch in normaler Schrift. „Sagt bloß, ihr habt beide eine Eins?“
Mary hörte Julies Entsetzen aus dieser Frage heraus.
„Ja“, antwortete sie leise.
„Wie viele Punkte hast du, Mary?“
Mary stöhnte. Ihr war Julies Feilscherei um die Leistungen zuwider. Jedes Mal das gleiche Drama: War sie besser als Mary, erzählte sie es gefühlt jedem in der Klasse, egal, ob er es hören wollte oder nicht. Hatte sie schlechter abgeschnitten, lamentierte sie den anderen vor, wie ungerecht die Bewertung sei. Oder sie beschwerte sich beim Lehrer.
„Wie viele?“, fragte Julie noch einmal, diesmal etwas nachdrücklicher.
„Acht“, sagte Mary mit einem Anflug von Zorn in der Stimme.
„Verarschen kann ich mich selber“, zischte Julie und sah Mary giftig an.
„Zahlvorzeichen, c und b“, gab Mary knapp zur Antwort, „sind zusammen acht.“ Florentina gluckste. „Stimmt.“ Sie wusste genau, dass ihre Freundin von der Anzahl von Punkten in Blindenschrift bei der Zahl 32 sprach. Julie ärgerte sich grundsätzlich, wenn offensichtlich war, dass sie auf dem Schlauch stand und nicht mit Wissen prahlen konnte. Geschah ihr recht. Mary grinste in Florentinas Richtung.
Julie ignorierte Marys Aussage, beugte sich weiter über den Tisch und konnte nun die Punktzahl erkennen, die neben der Note stand. 32.
„Soll ich die Arbeit gleich einräumen?“, fragte Anne, „dann kannst du dich um andere Sachen kümmern.“
Mary nickte lächelnd. „Ja. Danke, Anne.“
„Das gibt es doch nicht“, jammerte Julie. „Woher hast du denn bloß immer deine Bestnoten? Kann es sein, dass du hier jedem Lehrer leidtust und deshalb bevorzugt wirst? Ich meine, vielleicht drücken sie bei dir ja beide Augen zu.“ Marys Magen krampfte sich zusammen.
„Ganz bestimmt nicht“, mischte sich Anne ein. Mary hätte Julie am liebsten geschüttelt.
„Julie Bernauer“, mahnte Frau Weber. „Du bist eine ausgezeichnete Schülerin. Doch es ist ein No-Go, dass du andere schlechtmachst. Marys Leistungen sind eben auch sehr gut. Ihre Noten haben überhaupt nichts damit zu tun, dass sie blind ist. Ich möchte so etwas nie mehr hören, hast du verstanden?“
„Ja“, brummte Julie beleidigt.
Julie saß mit ihrer Mutter gerade beim Abendessen, als ihr Vater von der Arbeit kam. „Was für ein blöder Tag“, schimpfte er.
Frau Bernauer erhob sich. „Ach, Klaus, setz dich doch erst einmal hin.“
Er stapfte ins Esszimmer und ließ sich ächzend auf der Eckbank nieder. Sein Blick verfinsterte sich, als seine Frau mit einem Bier zurückkam und es ihm öffnete. Er hob die Flasche und betrachtete sie genau. „Du weißt doch, dass ich dieses Gesöff nicht mag! Kannst du kein ordentliches Bier kaufen?“, polterte er los. Er kniff die Augen zusammen. Was bedeutete, dass mit ihm im Moment nicht gut Kirschen essen war.
Frau Bernauer nahm Platz und sagte nichts.
„Julie“, brummte Herr Bernauer, „gib mir das Fleisch.“ Sie griff nach der Platte und hielt sie ihm hin. Er spießte ein Stück auf seine Gabel und legte es auf seinen Teller.
„Wie war die Schule?“, fragte er, ohne seine Tochter anzusehen. „Hast du irgendeine Arbeit zurückbekommen?“
„Ja“, antwortete Julie. Sie klang resigniert.
„Und?“, fragte er forschend und hob den Blick.
„Eine Zwei plus in Wirtschaft“, antwortete Julie gequält. „Gab es auch Einsen?“
„Ja“, murmelte Julie.
„Wer hat denn eine?“
Julie zuckte mit den Schultern.
„Tu bloß nicht so, als ob du es nicht wüsstest“, knurrte er. „Wahrscheinlich hat diese blinde Göre auch wieder eine.“ Julie nickte.
„Na klar, was auch sonst“, brummte er. „Die hat doch allemal einen Sonderstatus wegen ihrer Blindheit.“
„Klaus, bitte“, warf Frau Bernauer ein, „das kann und darf doch gar nicht sein. Das Mädchen war eine der Besten, als sie noch sehen konnte.“
„Ach, sei du doch ruhig“, fuhr er sie an. Er blickte Julie ins Gesicht. „Ist sie auf dem Abschlussballfoto auch drauf?“, fragte er.
„Natürlich“, antwortete Julie, „warum denn nicht? Sie hat den Tanzkurs mitgemacht wie alle anderen.“
„Hol es mal.“ Er forderte Julie mit einer unwirschen Handbewegung auf, sich zu erheben. Julie verließ das Zimmer und kam mit einem großen Foto wieder zurück. Er riss es ihr aus den Händen. „Wer ist sie denn jetzt?“
„Warum interessiert dich das?“
Er ignorierte ihre Frage. „Zeig sie mir mal!“
Julie deutete auf Mary. Herr Bernauer sah sich das Foto genau an. „Eine kleine Schönheit ist sie auch noch“, brummte er. „Blonde lange Locken, schlank, die wird den Lehrern den Kopf verdrehen.“
„Klaus“, schalt Frau Bernauer.
Er sah genervt von seiner Frau zu Julie. Die schob sich gerade ein Stück Semmel in den Mund. „Iss nicht so viel. Streng dich an, damit deine Noten besser werden als ihre“, sagte er zu seiner Tochter.
Julie nickte. „In Französisch habe ich beim Aufsatz kleine Probleme. Mary fällt das natürlich leicht. Vielleicht könnte ich sie fragen, ob sie mir hilft?“, schlug sie vor.
„Das ist eine gute Idee“, bestätigte Frau Bernauer freundlich. „Lade sie doch zu uns ein.“
Julie lächelte. „Ich weiß allerdings nicht, ob sie mag.“
„Ich war heute nicht nett zu ihr“, fügte sie in Gedanken hinzu, froh darüber, dass ihr Vater die nicht lesen konnte. „Schmier' ihr etwas Honig ums Maul, das funktioniert meistens“, entgegnete ihr Vater. Er grinste. Seine Laune schien sich wesentlich gebessert zu haben. Erleichtert nickte Julie. Sie erhob sich, um mit ihrer Mutter gemeinsam den Tisch abzuräumen.
Am nächsten Tag bat Julie Mary nach dem Unterricht um Nachhilfe wegen der anstehenden Französischschulaufgabe. Mary tat, als ob sie Julie ansehen würde.
„Was willst du eigentlich? Du behauptest doch, dass ich meine Noten nur bekomme, weil die Lehrer Mitleid mit mir haben. Laut deiner Meinung könnte ich dir nicht einmal helfen, weil ich zu blöd dazu bin“, gab sie schnippisch zurück und wandte sich wieder ihren Schulsachen zu, die sie gerade einräumte. Sie verabschiedete sich von Anne, dann warf sie den Rucksack auf den Rücken und zog ihren Stock in die Länge.
Julie fasste sie am Arm. „Es tut mir leid. Das war nicht so gemeint.“
„Wie sollte es denn dann gemeint sein, Julie?“, fragte Mary forschend. „Deine Behauptung gestern war sehr verletzend.“
„Ich mach das nie wieder“, jammerte Julie, „bitte nimm meine Entschuldigung an. Wahrscheinlich war ich sauer, weil ich nur eine Zwei hatte.“
„Ihr habt vielleicht Probleme“, warf Moritz lachend ein, „was soll ich da sagen? Sauschwänzchen, oink!“
Mary kicherte und drehte den Kopf zu ihm hin.
„Komm, der Bus fährt gleich. Heute ist wieder Reger der Raser an der Reihe. Der hat es immer so eilig“, drängte Florentina. Mary griff nach dem Arm ihrer Freundin.
„Bis morgen, Moritz“, sagte sie lächelnd.
„Mary, bitte“, flehte Julie.
„Also gut“, seufzte Mary. „Passt es dir morgen Nachmittag?“
Julie überlegte einen Moment, bevor sie antwortete. „Prima sogar. Danke.“ Sie verabschiedete sich.
„Welche Laus ist der denn über die Leber gelaufen?“, fragte Florentina, während sie und Mary aus dem Klassenzimmer gingen. Die Mädchen beeilten sich. Mary zuckte lachend mit den Schultern. „Das weiß ich auch nicht. Ich hätte nie gedacht, dass sie sich jemals dazu herablassen würde, ausgerechnet mich zu fragen, ob ich mit ihr lerne!“
Julie öffnete die Tür. „Hallo, komm herein.“
Mary lächelte und betrat das Haus. Sie zog ihre Schuhe aus und stellte sie neben die Garderobe. Da sie noch nie hier war und sich überhaupt nicht auskannte, bat sie ihre Klassenkameradin, sie in ihr Zimmer zu führen. Mary ergriff Julies Arm. Nach wenigen Schritten blieb Julie stehen.
„Alles okay?“, fragte Mary, als sich Julie bückte.
„Ja, aber Papas Schuhe stehen voll im Weg. Ich räume sie schnell zur Seite.“
„Wozu habt ihr Augen im Kopf?“, rief eine mürrische Stimme vom anderen Ende des Flurs her. Zigarettenrauch stieg Mary in die Nase. Mary drehte ihren Kopf in die Richtung. Die Stimme kam näher, der Geruch wurde intensiver. „Sportlich sein, drüberspringen!“
Mary biss sich auf die Lippen. Sie ärgerte sich über diese plumpe Aufforderung. Da sie den Stock benutzte, musste ihre Sehbehinderung für den Mann offensichtlich sein. Sollte sie ihn extra darauf hinweisen? Als ob sie Gedanken lesen könnte, nahm Julie ihr diese Entscheidung ab. „Papa, das ist meine Klassenkameradin Mary Engels. Sie ist das Mädchen, das letztes Jahr diesen Turnunfall hatte und seitdem blind ist.“
Mary spürte, dass der Fremde sie anstarrte. In ihr stieg ein mulmiges Gefühl auf. „Ach, ja! Woher kommt sie?“
„Aus Immenbach“, erwiderte Mary schnell. Sie hasste es, wenn man anderen Fragen über sie stellte, obwohl sie anwesend war und selbst antworten konnte. Am liebsten hätte sie ihm unter die Nase gerieben, dass sie blind, aber nicht taub sei, doch sie schluckte diese bissige Antwort tapfer hinunter. Julies Vater holte tief Luft. „Aha“, machte er. Er musterte Mary von oben bis unten. „Deine Augen sehen ganz normal aus, überhaupt nicht trüb oder milchig. Nicht so, wie man sie sich vorstellen würde“, stellte er fest. „Himmelblau. Einfach nur wunderschön himmelblau“, wiederholte er.
„Komm, lass uns gehen“, bat Julie schnell und führte Mary weiter, die Treppe hoch, und von dort aus bis zu ihrer Zimmertür. Mary war froh, von dem fremden Mann wegzukommen, der ihr so viel Unbehagen bereitete. Die Mädchen betraten das Zimmer.
„Setz dich doch auf meinen Schreibtischstuhl“, bot Julie an, „ich hole etwas zu trinken. Ich bin gleich wieder da. Magst du Wasser?“
Mary nickte. Bevor sie etwas erwidern konnte, verließ Julie den Raum, ohne die Tür zu schließen. Schreibtischstuhl? „Wäre gut zu wissen, wo er ist; ich kenne dieses Zimmer nicht und habe auch keine Zeit, es in Ruhe zu erkunden“, dachte Mary etwas grimmig und tastete sich durch den Raum. Wenn sie etwas abgrundtief hasste, war es, sich nicht zurechtzufinden und hilflos zu wirken. Sie hoffte, dass Julies Vater nicht auf die Idee kam, heraufzustiefeln und sie zu beobachten. Nach einer Weile stieß ihr Stock gegen ein Metallgestell. Mary streckte die Hand danach aus, fühlte auf Brusthöhe etwas Gepolstertes und erkannte die Rückenlehne eines Bürostuhls. Sie ging herum und tastete nach der Sitzfläche. Erleichtert ließ sie sich darauf nieder. Der Schreibtisch befand sich vor ihr. Das stellte sie fest, als sie mit den Händen danach suchte. Sie fühlte sich hier irgendwie fehl am Platz. Mary hörte Julies Schritte. Ihre Klassenkameradin kam zurück, schloss die Tür hinter sich zu und hockte sich auf irgendeine Sitzgelegenheit neben sie. Sie goss Wasser in ein Glas, ergriff Marys Hand und gab ihr das Getränk. Mary zuckte zusammen, wie immer, wenn sie ohne Vorahnung berührt wurde. Julie bemerkte es nicht. „Darf ich dir nun meinen Französischaufsatz vorlesen?“, fragte sie.
„Natürlich“, antwortete Mary lächelnd, nahm einen Schluck und stellte das Glas auf den Schreibtisch, „schieß los!“
Julie begann. Mary hörte aufmerksam zu. Wenn ihr ein grammatikalischer Fehler auffiel, stoppte sie Julie, verbesserte und erklärte, warum etwas falsch war. Sie schlug ihr vor, die Fehlerquellen schriftlich festzuhalten. Nach einer Weile waren sie fertig. Zum Schluss kontrollierte Mary noch einmal, ob Julie ihre Fehler begriffen hatte. Alles funktionierte einwandfrei. „Danke, Mary“, sagte Julie.
„Kein Problem“, erwiderte Mary lächelnd. „Dein Aufsatz war wirklich gut.“
„Trotzdem bist du immer besser als ich“, entgegnete Julie kläglich.
„Da ist doch kaum ein Unterschied“, widersprach Mary. Da klopfte es an der Tür.
„Herein“, rief Julie.
Ihre Mutter trat ein. „Hallo Mädchen. Du bist Mary, stimmt's?“
Mary drehte sich lächelnd zu ihr hin. „Ja.“
Julies Mutter stellte etwas auf dem Schreibtisch ab; es klang nach Geschirr „Ich habe Zitronenkuchen gebacken und dir ein Stück auf den Teller gelegt. Er steht neben der Tastatur rechts, genau vor dir, Mary. Hoffentlich schmeckt er dir.“
„Bestimmt“, antwortete Mary.
„Wenn du mehr magst, hole ich dir Nachschub“, bot Julie an und begann, von ihrem Kuchen zu essen
Mary nickte. „Danke.“
„Vera!“, brüllte plötzlich eine tiefe, mürrische Stimme von unten. „Wo bleibt mein Kaffee? Musst du wohl erst die Bohnen verschiffen lassen?“
„Klaus, ich komme gleich. Er ist schon fertig“, murmelte Julies Mutter hastig, wünschte den Mädchen einen guten Appetit und eilte auf leisen Sohlen aus dem Zimmer.
Mary schüttelte den Kopf. Sie fragte sich, ob Herr Bernauer etwa nicht in der Lage sei, seinen Kaffee selbst zu kochen. Dieses Statement verkniff sie sich allerdings.
„Dein Vater ist heute wohl nicht besonders gut drauf“, sagte sie stattdessen.
„Er hat ziemlichen Stress in der Arbeit“, erklärte Julie, „seine Mitarbeiter sind ständig blöd und ekelhaft zu ihm. Die Kunden und Geschäftspartner sowieso.“
„Wo arbeitet dein Vater?“, fragte Mary.
„Er ist Teilhaber des Kartonagenwerks ‚Pappendeckel‘.“
„Okay, ein ziemlich hohes Tier also.“
„Ja“, bestätigte Julie.
Das Sprichwort: „Wie es in den Wald hineinschallt, so hallt es zurück“, lag Mary auf der Zunge, doch sie hielt den Mund. Irgendetwas ließ sie verstummen. Sie aß von ihrem Kuchen. So musste sie schon keine Antwort geben, obwohl sie es gerne getan hätte.
Am späten Nachmittag holte Frau Engels Mary ab. Sie klingelte. Frau Bernauer ging zur Haustür, bat sie herein und hielt mit ihr ein wenig Small-Talk über das Unkraut im Garten, während Mary ihre Schuhe schnürte. Mary verabschiedete sich von Julie und ihrer Mutter und bedankte sich. Ob Julies Vater auch hier war? Sie atmete tief ein. Sie konnte keinen Rauch mehr riechen. Mary war erleichtert, weil er sich anscheinend nicht mehr in ihrer Nähe befand.
„Wer ist denn das da drüben, ganz weit drin im Wald?“, wollte Florentina wissen. Sie und Mary saßen auf der Turnmatte vor dem Blockhaus neben dem Bach. Sie hatten vorher Räder geschlagen und Flickflacks geübt. Nun waren sie ziemlich erschöpft.
Mary schmunzelte. „Das fragst du ausgerechnet mich?“
„Oh, das war jetzt blöd, ich weiß. Es tut mir leid“, murmelte Florentina. Sie starrte betreten auf ihre Füße.
„Macht doch nichts, Florentina“, entgegnete Mary lachend. „Beschreib mir einfach, was du siehst. Vielleicht finden wir es heraus.“
„Okay“, begann Florentina. „Ganz weit weg von uns ist ein Jägersitz.“ Mary streckte einen Arm nach vorne aus. „Stimmt die Richtung?“ „Ja.“ „Alles klar. Den kenne ich.“ „Dort hockt jemand. Ein Mann mittleren Alters. Seine Haare und sein Vollbart sind dunkelbraun, er hat einen Seppelhut auf, seine Statur ist kräftig, aber nicht dick. Er trägt eine dunkelgrüne Jacke und hält ein Fernglas vor sein Gesicht. Mehr kann ich nicht erkennen.“
Mary grinste. „Ach, das ist wahrscheinlich der Mann, dem seit kurzem die Blockhütte im anderen Waldstück gehört. Vielleicht seit etwa zwei Wochen. Er ist Jäger und ziemlich oft draußen in der Natur. Zwei oder drei Mal ist er zu uns gekommen. Mein Dad hat ihm vor ein paar Tagen geholfen, Brennholz zu machen. Ich glaube, Stefan Meier heißt er.“ „Den habe ich noch nie gesehen.“
„Ich kenne ihn auch nicht, nur vom Hörensagen. Zumindest habe ich ihn noch nie selbst bei uns daheim angetroffen“, sagte Mary.
Florentina sah zu dem Mann hinüber. „Ob er wohl auf die Jagd geht?“ „Wahrscheinlich“, antwortete Mary, „ich glaube aber nicht, dass ihm jetzt was vor die Flinte läuft.“ Florentina rückte dichter an ihre Freundin heran und fasste sie am Arm. „Er richtet das Fernglas auf uns!“
„Wir sind aber keine Wildschweine“, alberte Mary. „Soll ich mal winken?“
„Nein, lass es“, entgegnete Florentina. „Er scheint wie eingefroren zu sein. Er bewegt sich keinen Zentimeter!“ „Das heißt, er beobachtet uns?“
„Ich befürchte es“, gab Florentina zur Antwort. Mary kaute nervös an ihren Fingernägeln. „Blödes Gefühl, von Fremden angestarrt zu werden. Das mag ich nicht.“
„Weiß er, dass du blind bist?“ Mary zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich habe es ihm nicht erzählt. Vielleicht aber meine Eltern oder Schwestern. Was macht er jetzt, Florentina?“
„Immer noch das Gleiche. Ist der penetrant! Langsam müsste er sich doch dumm vorkommen! Möglicherweise denkt er, wir können beide nicht sehen und merken nicht, dass er ständig zu uns herüberschaut. Als wäre das ein Freibrief zum Gaffen.“
„Jetzt reicht es mir aber“, knurrte Mary, sprang auf und zeigte einen gestreckten Mittelfinger in Richtung Hochsitz. Florentina kicherte. „Mary Engels, das hätte ich dir nicht zugetraut. Hoffentlich beschwert er sich nicht bei deinem Dad.“ Mary grinste. „Wieso? Dann müsste er ja seine Spannerei zugeben und ihm wäre ganz schnell klar, dass du Adleraugen hast.“
„Stimmt.“ Florentina seufzte. „Ich glaube allerdings kaum, dass ihn deine Geste beeindruckt hat. Er glotzt uns immer noch an.“
Florentina stand bei den Engels in der Küche. Mary öffnete den Kühlschrank, erkundete den Inhalt des Gemüsefachs mit den Händen und nahm eine Schüssel mit Tomaten heraus. „Wir grillen heute. Mom hat schon einen Nudelsalat zubereitet. Sie hat mich gefragt, ob ich einen Tomatensalat machen will.“
„Oh, lecker“, schwärmte Florentina. „Darf ich dir helfen?“ Mary legte den Kopf schräg. „Kommt drauf an, aus welchem Grund.“
„Na, weil es mir Spaß macht und ich keinen Bock darauf habe, dumm herumzustehen.“
Mary grinste zufrieden. „Okay, sehr gerne. Das sind gute Argumente. Wir können beide schneiden, dann geht es schneller“, schlug sie vor, öffnete eine Schublade, holte Schneidbretter und Messer heraus und platzierte alles auf der Arbeitsfläche. In der Spüle wusch sie die Tomaten, die sie in eine Schüssel legte. Sie verließ das Zimmer und kam kurz darauf mit Zwiebeln zurück. Florentina stöhnte. Schon die Vorstellung vom Zwiebelschneiden trieb ihr Tränen in die Augen. „Alles gut, Florentina?“, fragte Mary lachend, als ob sie Gedanken lesen könnte. „Wenn du willst, kannst du mit den Tomaten anfangen, ich schneide die Zwiebeln. Damit habe ich kein Problem, weil ich einfach meine Augen zumache.“
„Okay“, antwortete Florentina erleichtert. Als die Mädchen fertig waren, würzte Mary den Salat. Sie öffnete den Schrank, tastete über die Dosen und nahm diejenigen heraus, die sie benötigte. Florentina betrachtete das Gitterregal. Jeder Platz war mit Brailleaufklebern versehen, jede Gewürzdose auch. So konnte Mary schnell finden, was sie brauchte.
Frau Engels kam von der Terrasse herein und brachte den Geruch glühender Holzkohle mit, der sogleich durch das Haus zog. Sie probierte den Salat. „Schmeckt super! Kommt doch raus, ich habe schon aufgedeckt. Dad legt das Fleisch auf.“ Mary und Florentina nahmen Platz. Elly und Josy waren schon da. Sie schaufelten sich die Teller mit Salat voll und gaben die Schüsseln weiter. Herr Engels stellte das fertige Fleisch und die Grillwürstchen auf den Tisch und setzte sich. „Wir haben Pute, Bauch und Bratwürste.“ Weil der Teller genau vor Mary stand, strich sie mit der Fleischgabel darüber. „Ich möchte austeilen.“
„Pute bei zwölf Uhr, Würste bei vier Uhr und Bauch bei acht Uhr“, erklärte Frau Engels lächelnd. Mary gab jedem das auf den Teller, was er wollte. Es dauerte zwar eine ganze Weile, aber es funktionierte.
„Wie geht das?“, fragte Florentina ungläubig. „Wie kennst du den Unterschied zwischen Pute und Bauch, obwohl du es nicht siehst?“
„Ich weiß ja ungefähr, wo was liegt. Außerdem fühlen sich die Fleischsorten unterschiedlich an. Die Schwarte am Bauch ist ziemlich hart und beinahe gerade“, erklärte Mary. „Probier es doch mal selbst aus.“ Florentina ergriff die Fleischgabel und machte es wie ihre Freundin vorher. „Du hast recht, es ist mir nur noch nie aufgefallen.“
Frau Engels erhob sich plötzlich und lief schnell ins Haus. „Oh je, ich glaube, Mom ist wieder schlecht“, vermutete Josy. „Ja, weil ein Baby im Bauch ist“, platzte Elly heraus. Florentina glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. „Du bekommst noch ein Geschwisterchen?“, fragte sie ihre Freundin.
„Ja“, antwortete Mary und errötete leicht. „Kurz vor Weihnachten. Ich weiß es seit gestern, sollte aber nichts weitersagen. Drum habe ich dir das noch nicht erzählt.“
„Ein Baby! Das ist ja schön!“, rief Florentina aus. „Wisst ihr schon, was es wird?“
„Nein, wir wollen uns überraschen lassen“, antwortete Herr Engels. „Wir haben gar nicht mehr mit einer Schwangerschaft gerechnet, wir sind ja nicht mehr die Jüngsten, beide Anfang 40. Ungeplant, aber herzlich willkommen.“
„Namen haben wir uns auch schon welche überlegt“, sagte Josy.
„Wahrscheinlich wird es einer, den man gut mit einer y-Endung abkürzen kann“, vermutete Florentina lächelnd. „Stimmt“, bestätigte Mary, „in der engeren Auswahl sind für ein Mädchen Annelie, Lisabeth oder Ingalill. Für einen Jungen Kilian, Silvian oder Samuel.“
Florentinas Gedanken wanderten zu der Zeit vor neun Jahren zurück. Da war Marys kleiner Bruder Benedikt an einem Gehirntumor verstorben. Kurz vor seinem ersten Geburtstag.
Auf einmal bog jemand um die Ecke. „Engels, du Zipfel, ich habe es gehört. Habt ihr eigentlich keine anderen Hobbys?“ Eine tiefe Stimme, die begann, schallend zu lachen. „Das ist möglicherweise der Gaffer vom Wald“, zischte Florentina Mary zu, „aber leider bin ich mir nicht sicher.“ Mary seufzte. Herr Engels ignorierte die Anspielung. „Servus, Meier. Du kannst etwas mit uns essen. Setz dich her.“ Er legte ihm ein Stück Bauchfleisch auf den Teller. „Engels, ich habe eine Bitte: Könnten wir morgen Abend etwas Holz an mein Blockhaus schlichten?“
„Das ist kein Problem“, antwortete dieser und reichte ihm ein Bier. Mit einem lauten „Ahh“, öffnete Herr Meier die Flasche. Ein Plopp war zu hören. „Hopfenblütentee, ein Scherer-Bräu! Na ja, der Durst spült es hinunter!“ Er hob die Flasche an und trank sie beinahe in einem Zug leer. Florentina stellte fest, dass er Mary intensiv betrachtete, die ihm genau gegenübersaß. Am liebsten hätte sie ihm die Zunge herausgestreckt. Wenn Mary etwas hasste, dann war es, von Fremden angegafft zu werden. Florentina dachte an Marys Stinkefinger vom Nachmittag und grinste in sich hinein.
Frau Engels kam zurück. Sie war kreidebleich im Gesicht. „Geht es dir wieder besser?“, fragte ihr Mann besorgt. Sie nickte. Mary tastete über den Brotkorb vor ihr, nahm eine Kastanie heraus und legte sie auf ihren Teller. Florentina schenkte sich etwas ein. „Ist das Apfelschorle?“, fragte Mary. Florentina bejahte. „Kann ich die Flasche mal haben?“, bat Mary. Florentina stellte sie so ab, dass ihre Freundin es hörte. „Hier. Rechts neben deinem Teller.“ Mary griff zielsicher danach. Sie goss sich ein, indem sie einen Finger an die Innenseite des Glases legte. So wusste sie genau, wann es voll war. Elly nahm die Flasche, schraubte sie auf und schloss ihre Augen. „Ich schenke mir ein und mach es jetzt mal so wie Mary.“ „Hör auf damit“, schalt Frau Engels. „Du hast gesunde Augen.“
Der Mann meldete sich zu Wort. „Engels, deine große Tochter ist blind, stimmt's? Was ist mit ihren Augen passiert?“ „Sie ist vor über einem Jahr bei einem Turnunfall in der Schule auf den Kopf gefallen. Dabei wurde ihre Sehnervenkreuzung verletzt“, erklärte Frau Engels.
„Kann sie hell und dunkel unterscheiden?“ „Nein“, antwortete Herr Engels.
„Kann sie alleine irgendwo hingehen?“
„Kommt drauf an. Dort, wo sie sich auskennt, kommt sie sehr gut alleine zurecht. Sie hat Mobilitätstraining absolviert, damit sie für sie wichtige Strecken ohne Hilfe bewältigt.“
„Und in einer fremden Umgebung?“
„Da macht sie auch Mobilitätstraining, damit sie den Weg kennenlernt, falls er für sie von Bedeutung ist.“
„Ich meine, wie ist es in einer Umgebung, die sie nicht kennenlernen muss?“
„Das ist schwierig. Sie braucht in jedem Fall ihr Handy, damit sie eine ihrer Apps nutzen kann.“
„Was? Sie hat ein Handy?“ Der Besucher warf diesen Satz ungläubig in die Runde.
„Ja“, bestätigte Frau Engels. „Es funktioniert größtenteils mit Sprachsteuerung.“Er nickte interessiert und fuhr fort: „Welche Schule besucht sie?“
„Sie geht nach Erlenreuth ins Gymnasium.“
Er zog die Augenbrauen hoch. „Sie kann doch nicht einmal was von der Tafel abschreiben und auch sonst nichts lesen!“
„Dafür hat sie eine Schulbegleitung, die jahrelang an einer Blindenschule unterrichtet hat. Sie schreibt mit und scannt die Unterrichtsmaterialien für Mary ein. Mary benutzt im Unterricht den Computer mit Braillezeile. Sie liest alles in Blindenschrift. Das gelingt ihr mittlerweile sehr gut. Bei Prüfungen bekommt sie etwas mehr Zeit. Für Geometrie braucht sie die, weil sie ja alles fühlen muss, statt es auf einen Blick zu sehen. Für Sprachen nicht. Da ist sie genauso früh fertig wie andere. Zum Lernen benutzt sie oft die Voice-Over-Funktion.“
In Mary stieg Wut hoch. Warum sprach man über sie, als ob sie gar nicht hier wäre? Das passierte so oft. Mit schlechter Laune im Anflug biss sie in ihre Kastanie.
„Fahrt ihr sie nach Erlenreuth?“
„Nein, Mary fährt mit dem Bus, wie ihre Freundinnen auch.“
„Es ist hier ziemlich abgelegen. Findet sie den Weg zur Bushaltestelle denn alleine? Wenn ja, wie macht sie das?“ Mit Marys Beherrschung war es endgültig vorbei. Sie schleuderte die Kastanie über den Tisch in die Richtung, aus der die Stimme des Mannes kam. Sie landete im Nudelsalat. Elly fischte sie aus der Schüssel, grinste und biss selbst hinein. Frau Engels sah ihre älteste Tochter entsetzt an. Sie brachte keinen Ton heraus. Mary schob den Stuhl polternd nach hinten und sprang auf. „Ich bin blind, aber nicht blöd! Das hier muss ich mir nicht geben! Und jetzt lasst mich in Ruhe! Alle!“, schrie sie. „Florentina, bist du schon fertig?“ Mary berührte mit zitternden Fingern Florentinas Schulter.
„Ja“, antwortete Florentina und erhob sich.
Mary ergriff den Arm der Freundin und zog sie an sich heran. „Kannst du mich bitte schnell reinbringen?“, flüsterte sie, weil sie keine Lust hatte, ihren Weg ins Haus zu ertasten, was länger dauern und den Nachbarn zum Glotzen animieren würde. Sie wollte nichts wie weg. Und zwar ganz schnell.
„Maralen! Du kannst dich hier nicht so aufführen“, schimpfte Frau Engels. Mary gab keine Antwort und stapfte wütend ins Haus, während sie sich am Ellbogen ihrer Freundin festhielt. Mary knallte die Terrassentür hinter sich zu und ließ sich auf der Wohnzimmercouch nieder, Florentina setzte sich daneben. „So ein neugieriger Volltrottel.“
Mary nickte. „Wozu musste er das alles wissen? Fehlt bloß noch, dass er fragt, ob ich mein Papier auf dem Klo selbst finde“, knurrte sie, „und ob ich als Blinde überhaupt in der Lage bin, meinen Hintern alleine abzuwischen.“ Unwillkürlich musste Florentina lachen. „Nein, du machst es wie meine Brüder früher“, gluckste sie. „Du hockst dich aufs Töpfchen und plärrst laut durch das ganze Haus: „Maaaama! Aaaaabputzen!““
Mary prustete los. Florentinas Lachen war einfach ansteckend. Vor allem, wenn sie einen Lachanfall bekam und ihn nicht mehr stoppen konnte so wie jetzt.
„Hey“, rief Mary, suchte mit der Hand nach einem Sofakissen, packte es und schleuderte es ihrer Freundin kichernd um die Ohren, bevor sie es zurück auf die Couch warf.
Doch dann wurde sie wieder ernst. „Am meisten stinkt mir, dass er nicht einmal mit mir selbst geredet hat, obwohl es andauernd um mich ging. Und meine Eltern geben selbstverständlich schön brav Auskunft, und das auch noch ausführlich.“
„Ich verstehe dich. Der Kerl ist mir absolut unsympathisch“, sagte Florentina. Sie erzählte ihrer Freundin nicht, dass er sie ständig beobachtet hatte.
„Dad nannte ihn Meier. Hast du es gehört?“, fragte Mary. „Er muss der Gaffer vom Wald gewesen sein. Sein Verhalten passt dazu.“
„Ja, das denke ich auch. Seine Haare sind dunkel, er trägt einen Vollbart, er hat richtig klobige Arbeitsschuhe an. Passt auch zu dem, was …“, antwortete Florentina. Sie unterbrach sich selbst, weil die Terrassentür schwungvoll geöffnet wurde.
Frau Engels betrat das Zimmer und ging auf ihre Tochter zu. Sie blickte ihr ins Gesicht und ergriff ihre Hände. „Mary. Was war los mit dir?“ Mary zog die Hände weg, verdrehte die Augen und verschränkte trotzig die Arme. „Ich konnte mir diese blöde Fragerei nicht mehr anhören.“ „Es war nicht angenehm, das weiß ich. Trotzdem ist das kein Grund, dich dermaßen im Ton zu vergreifen und mit Essen um dich zu werfen.“
„Wenn ich ihn nur getroffen hätte!“
„Mary! Du solltest dich bei Herrn Meier entschuldigen.“ „Das kannst du vergessen“, widersprach Mary. „Maralen Engels …“
„Eva!“, rief der Nachbar laut ins Wohnzimmer hinein. „Ich mach mich auf den Heimweg. Ich muss noch eine Menge Drecksarbeit erledigen. Mann, Mann, Mann! Danke für das Essen! Dein Liebesgatte kann froh sein, dass er so eine gute Köchin hat, gell, Engels? Pass auf deine hübsche Frau auf. Dass sie dir nicht abhandenkommt, du Zipfel!“ Er entfernte sich schlurfend, während er sprach. Mary war froh, dass sie um die Entschuldigung herumkam. Sie hielt inne. Wie er da so gerufen hatte, kam ihr seine Stimme auf einmal bekannt vor. Sie wusste nur nicht, wem sie ähnelte.
Am Wochenende trafen sich Mary, Florentina und zwei sehr sportliche Mädchen aus ihrer Klasse, Hannah und Therese, bei den Engels, um für das Schulfest ihre Tanzakrobatik zusammenzustellen. Florentina schaltete die Musikbox an. Die Mädchen hörten sich den Song „What a feeling“ an, zu dem sie sich Figuren ausdenken sollten. Mary war glücklich. Sie konnte sich hier sehr gut einbringen. Da auch Therese und Hannah sich mit dem Turnen auskannten, entstanden keine Missverständnisse. Es fiel Mary leicht, sich die Figurenabfolge zu merken. Sie holte einen Block und einen Stift, damit Florentina sie notieren konnte. Die Mädchen fürchteten, dass sie sonst bis zum nächsten Mal in Vergessenheit geriet. Nach kurzer Zeit hatten sie ihre Choreographie fertig und probierten sie draußen auf dem Rasen aus. Sie enthielt Elemente wie Flickflacks, Spagatsprünge, Räder und Salti.
Josy trat aus dem Wohnzimmer auf die Terrasse und beobachtete die Mädchen, während sie ihren Fahrradhelm aufsetzte. „Hey, das sieht ja gut aus!“, rief sie, als die letzten Takte verklungen waren.
„Danke“, sagte Hannah.
Mary berührte ihren Arm. „Hannah hat früher in einem amerikanischen Turnverein trainiert, davon haben wir alle voll profitiert.“ Sie drehte sich zu ihrer Schwester hin. „Mega“, schwärmte Josy.
Eine Tüte raschelte. Josy naschte Fruchtgummi. Mary hörte das. „Lass uns doch bitte auch mal hineinlangen.“
Josy ging zu den Mädchen und hielt ihnen die Tüte hin. Sie bedienten sich.
„Ah, Lachgummi“, schwärmte Florentina, „die sind so lecker.“
„Am besten schmecken mir die grünen“, sagte Mary, holte eines aus der Tüte und schob es in ihren Mund.
„Tatsächlich grün“, stellte Hannah verwundert fest. „Woher weißt du, dass es grün ist?“
„Das hat eine Blattform. Schau doch! Die sind immer grün“, erklärte Mary grinsend und zog noch einmal eines heraus.
„Ach so, stimmt! Das ist mir noch nie aufgefallen“, sagte Hannah. „Ich bin immer nach den Farben gegangen. Ich mag die roten.“
„Kirsche?“, fragte Mary und griff wieder in die Tüte. Sie gab Hannah ein rundes. „Hier, das ist rot. Für dich.“ „Danke“, grinste Hannah und nahm es.
Josy sah auf ihre Uhr. „Ihr könnt sie behalten. Ich fahre jetzt eh mit Severin und Emilian in unseren Wald.“ Sie drückte Mary die Tüte in die Hand.
„Was macht ihr denn dort?“, fragte Florentina neugierig. „Wir bauen eine Fahrradstrecke“, erklärte Josy. „Dad hat es uns erlaubt, solange wir nur Sachen aus der Natur, Hammer und Nägel benutzen und keine Bäume verletzen.“ Sie ergriff eine Schaufel, die an der Wand lehnte.
„Ich dachte, Emilian hat Hausarrest“, entgegnete Florentina.
„Nein, das war Handyverbot!“, widersprach Josy grinsend.
Mary zuckte schmunzelnd mit den Schultern. „Und täglich grüßt das Murmeltier …“
„Du weißt Bescheid“, warf Florentina trocken ein und lachte. „Es vergeht kein Tag, an dem sie nicht irgendeinen Scheiß machen.“
Josy sah auf ihre Uhr. „Ich muss jetzt fahren, die zwei warten schon im Wald auf mich! Tschüs!“ Josy setzte sich auf ihr Rad und fuhr vom Hof. In der linken Hand hielt sie die Schaufel. Sie konnte es nicht lassen, auf dem Flurweg einen Wheelie zu machen.
„Deine Schwester ist ja cool drauf“, staunte Hannah. „Mit ihrer Ausrüstung sieht sie aus wie ein Downhillfahrer.“
Mary lächelte. „Radfahren ist ihr großes Hobby. Vor allem gemeinsam mit Florentinas Brüdern. Die sind genauso alt wie sie. Seit ihre beste Freundin Helan weggezogen ist, verbringt sie jede freie Minute mit ihnen.“
„Hier könnten wir doch eine Steilkurve bauen“, schlug Severin vor und deutete auf den Weg, den sie geplant hatten. „Vielleicht finden wir irgendwo einen dicken, gebogenen Ast. Daran könnten wir Bretter nageln.“
„Das ist eine gute Idee. Hinter unserer Blockhütte stehen doch noch einige Bretter“, sagte Josy. „Na los, worauf warten wir?“
Die drei legten die Fahrräder ab und gingen im Gänsemarsch in Richtung Blockhaus. Dort angekommen, nahm jeder ein Brett und klemmte es unter den Arm. Josy holte die Werkzeugkiste aus dem Haus. Die Freunde kämpften sich durch das Dickicht zurück.
Severin dachte nach. „Jetzt brauchen wir noch einen langen, dicken, krummen Ast, der unsere Kurve werden kann. Wir könnten alle drei Bretter daran befestigen.“
„Ja“, seufzte Josy, „wir müssen bloß noch einen passenden Ast oder Stamm auftreiben.“
Die drei begannen zu suchen. Doch außer dürren Ästen, die irgendwo abgebrochen waren und den Waldboden übersäten, fanden sie nichts.
„Die sind alle zu dünn“, seufzte Emilian, „was machen wir denn jetzt?“
„Vielleicht gibt es im Nachbarwald einen?“, überlegte Severin.
„Wir können doch nicht einfach etwas aus dem Nachbarwald holen“, protestierte Josy.
„Ach, komm schon, ein abgebrochener Ast, der schon lange herumliegt. Das ist doch kein Problem!“, entgegnete Severin.
„Einfach mal schauen“, pflichtete Emilian bei.
„Also gut“, brummte Josy. Ganz wohl war ihr bei der Sache nicht. Sie folgte ihren beiden Freunden trotzdem.
Auf einmal blieb Severin stehen. „Da drüben ist ja noch eine Blockhütte. So ähnlich wie eure.“
Josy blickte auf. „Ach, die hat kürzlich ein Mann gekauft. Stefan Meier heißt er. Er war schon bei uns zu Hause, weil er Dad um Hilfe gebeten hat. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie der saufen kann! Eine Flasche Bier ist in fünf Minuten leer!“
Severin und Emilian lachten.
„Er ist so ein richtig grobes, brummiges, unfreundliches Urviech mit Vollbart, Seppelhut und alten Gummistiefeln“, fuhr Josy fort. „Alleine möchte ich ihm nicht begegnen.“
Severin überlegte. „Meint ihr, er ist da?“
„Das Auto sehe ich nicht“, entgegnete Josy.
„Wahrscheinlich nicht.“
„Wo wohnt er denn?“, fragte Severin neugierig. „In echt, meine ich.“
Josy zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung.“
Emilian wies seine Freunde mit einer Handbewegung an, ihm zu folgen. „Los, kommt schon, steht nicht herum.“ Er ging voraus, die anderen liefen ihm hinterher. Als sie sich dem Blockhaus näherten, drehte er sich um, legte den Finger auf seine Lippen und flüsterte: „Sehen wir uns die Bude einmal an?“ Seine Augen blitzten vergnügt.
Energisch schüttelte Josy den Kopf. „Das können wir nicht machen.“
„Ach, komm schon, Josy“, warf Severin ein, „wir schauen doch nur. Da ist doch nichts dabei!“
Josy gab sich geschlagen. Es stand zwei zu eins. „Also gut“, seufzte sie. Als die drei zum Blockhaus schlichen, versuchten sie, so leise zu sein, dass keine Äste unter ihren Füßen knackten. Emilian war als Erster am Ziel. Er lugte durch das Fenster. „Die Vorhänge sind zu. Man sieht ja gar nichts“, murrte er im Flüsterton.
Severin schlich auf die Terrasse. In der Ecke stand ein Stuhl, darauf lag ein Fernglas. Er hob es auf und hielt es vor die Augen. „Hab voll den Durchblick!“, frotzelte er. Emilian kicherte. Er holte etwas aus seinem Rucksack, setzte sich und beschäftigte sich mit dem Fernglas.
„Was tust du denn da?“, wisperte Josy.
Emilian reichte es ihr. „Schau mal durch!“
Josy befolgte die Anweisung. Ein schwarzer, dicker Schriftzug erschien vor ihren Augen. „Sag mal, spinnst du?“, zischte sie.