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Mary Wigman (1896-1973), die Tänzerin, die «den Expressionismus in Bewegung umgesetzt hat», wie Oskar Kokoschka schreibt, gehört zu den interessantesten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Tanz ist eine vergängliche Kunst, das wusste sie nur zu gut: «Was ist mir Zukunft, was Vergangenheit, Gegenwart bin ich, mein Leben ist Tanz», das war ihr Bekenntnis und ihre Lebensweise zugleich. Sie hat alles für den Tanz getan, sie empfand ihn als Glück und Aufgabe. Sie nahm die Umbrüche ihrer Zeit auf und entwickelte sich in ihnen zur Künstlerin. Ihr Einfluss auf den modernen Tanz ist unbestritten und hält bis heute an. Das Bildmaterial der Printausgabe ist in diesem E-Book nicht enthalten.
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Gabriele Fritsch-Vivié
Mary Wigman (1886–1973), die Tänzerin, die «den Expressionismus in Bewegung umgesetzt hat», wie Oskar Kokoschka schreibt, gehört zu den interessantesten Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Tanz ist eine vergängliche Kunst, das wusste sie nur zu gut: «Was ist mir Zukunft, was Vergangenheit, Gegenwart bin ich, mein Leben ist Tanz», das war ihr Bekenntnis und ihre Lebensweise zugleich. Sie hat alles für den Tanz getan, sie empfand ihn als Glück und Aufgabe. Sie nahm die Umbrüche ihrer Zeit auf und entwickelte sich in ihnen zur Künstlerin. Ihr Einfluss auf den modernen Tanz ist unbestritten und hält bis heute an.
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Gabriele Fritsch-Vivié studierte Theaterwissenschaft, Musik, Philosophie und Psychologie und promovierte über Ödön von Horváth. Nach dem Studium lernte sie 1968 Nelly Sachs in Stockholm kennen. Praktische Theaterarbeit bei Oskar Werner, danach als Regieassistentin und Dramaturgin an verschiedenen Theatern. Schriftstellerische Tätigkeit, Essays, Libretti, Mitspieltheater, Kindertheaterstücke.
Veröffentlichungen in Anthologien und freie Mitarbeit an Zeitungen als Rezensentin. Für rowohlts monographien schrieb sie auch den Band über Nelly Sachs (1993, rm 50496). Publikation zum Jüdischen Kulturbund: «Gegen alle Widerstände – Der Jüdische Kulturbund 1933–1941», Berlin 2013. Dazu die Biographie: «Kurt Singer. Arzt, Musiker und Gründer des Jüdischen Kulturbunds», Berlin 2018. Außerdem als Herausgeberin: «Ich hoffe wieder auf Zukunft. Dr. Kurt Singer. Briefe – Aufzeichnungen. Amsterdam 1941–1943 Theresienstadt», Berlin/Leipzig 2022. Gabriele Fritsch-Vivié erhielt den Würzburger Literaturpreis.
rowohlts monographien
begründet von Kurt Kusenberg
herausgegeben von Uwe Naumann
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Dezember 2023
Copyright © 1999 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Für das E-Book wurde die Bibliographie aktualisiert, Stand: Dezember 2023
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Redaktionsassistenz Katrin Finkemeier
Covergestaltung any.way, Hamburg
Coverabbildung aus Rudolf Bach: «Das Mary Wigman-Werk. Mit Beiträgen von Mary Wigman und 80 Abbildungen». Dresden 1933 (Mary Wigman, «Todesruf» aus dem Tanz «Opfer», 1931. Foto von Charlotte Rudolph, Dresden)
ISBN 978-3-644-02050-4
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Die Darstellung einer Frau von epochaler Größe und Wirkung wie Mary Wigman, die man nur in einer so flüchtigen Kunst wie der des Tanzes kennt und auch darin nur mehr im Abglanz der Bilder und Berichte über sie, unterliegt unvermeidlich einer subjektiven Sicht. Wohl gibt es sehr viele persönliche Zeugnisse, Tagebücher, theoretische Abhandlungen aus verschiedenen Zeiten, Vorträge, Artikel, Aufzeichnungen aller Art, dazu Berichte und Rezensionen über ihr künstlerisches Wirken und immer wieder Biographisches. All dies ist meist spontan, manchmal in späterer Erinnerung, und sicher auch manches Mal mit Blick auf eine öffentliche Einsichtnahme geschrieben worden (ausgenommen die frühen Tagebücher). Mary Wigman war sich eines weitergehenden Interesses nicht nur an ihrem Werk, sondern auch an ihrer Person bewusst. Dabei schrieb sie kurz und oft stichwortartig nur über Persönliches und über ihre künstlerische und pädagogische Arbeit, wenig über Zeiterscheinungen, Ereignisse in ihrer Umgebung oder über Dinge, die sie beeindruckten oder beeinflussten. Briefe, die über ihre ungezählten Freundschaften und die ausführlichen Gespräche hätten Auskunft geben können, hat sie nicht aufbewahrt, weil sie sonst in der Papierflut untergegangen wäre, wie sie einmal sagte. Ihre schriftlichen Zeugnisse konnten fast alle über den Krieg gerettet werden, sie sind heute als Nachlass in der Akademie der Künste in Berlin einsehbar. Einen weiteren Teil bewahrt ihre Nichte Marlies Heinemann auf, der an dieser Stelle für ihre liebevollen und sorgfältigen Bemühungen um das Werk Mary Wigmans gedankt sei.
Der Tanz wurde Mary Wigman mehr als alles andere zum Symbol des Lebens, seines unbedingten Jetzt in dynamischer Veränderung. Und wenn sie sich selbst auch immer wieder im Blick der Öffentlichkeit sah, ging es ihr doch ausschließlich um den Tanz, was ist mir Zukunft, was Vergangenheit, Gegenwart bin ich, mein Leben ist Tanz[1]. So sei die Beschreibung ihres Lebens der Rahmen um das, was sie wirklich gewesen ist, eine Künstlerin und Persönlichkeit mit Charisma durch sehr unterschiedliche, doch immer ganz außerordentliche Zeitläufte hindurch, die sich bei allem Selbstbewusstsein nur als wirkenden Teil eines großen Ganzen sah.
Die Schaffenskraft, die unausweichliche innere Notwendigkeit, schöpferisch tätig zu sein, und die dazu erforderliche Energie, das ist es, was das Leben der Mary Wigman ausmacht. Das Wort, unter dem dieses Kapitel steht, stammt aus den ersten Seiten des Rom-Tagebuchs, das als die erste Aufzeichnung von Mary Wigman erhalten ist. Und an diesen ersten Eintragungen (zusammen mit dem zweiten Tagebuch, das die Romreise reflektiert) lassen sich bereits die Vitalität, das wache und aufnahmebereite Wesen und der elementare Schaffensdrang dieser Frau ablesen. Es ist erstaunlich, dass sich innerhalb jener stimulierenden Umgebung in Rom und innerhalb nur weniger Wochen das Sich-Öffnen eines jungen Menschen hin zu seiner konkreten Bestimmung so konzentriert vollzieht und sich gleichzeitig in der spontanen Niederschrift eines Tagebuchs dokumentiert.
Das Rom-Tagebuch, geführt von November 1912 bis April 1913, und das zweite Tagebuch vom Frühsommer 1913 spiegeln die Frau und Künstlerin Mary Wigman in fast vollkommener Weise, und dies nicht einmal nur in Ansätzen, sondern schon in vitaler Fülle und in einer bereits offenen Perspektive in die Zukunft. Hier beginnt Mary Wigman die Saiten am Instrument ihres Lebens zu spannen. Zwar lässt sich dies erst im Überblick über ihr gesamtes Leben so deutlich erkennen, aber auch in unvoreingenommener Lesart geben die ersten Tagebücher Zeugnis von der schöpferischen Potenz Mary Wigmans, mit der allein sie ihren alle Traditionen und Tabus durchbrechenden Weg als Tänzerin zu einer völlig neuen Ausdrucksform gehen konnte.
Nach Rom ist sie nicht allein gekommen, sie reist mit einem Maler, den sie als alten Mann (ihre Vater-Sehnsucht?) bezeichnet, doch mit einem jungen Herzen, der sie liebt und den sie auch liebt, der ihr Impulse gibt und sicherlich ihr überaus sinnliches Gespür für alles sie Umgebende und ihre wahrhaft opulente Wahrnehmung für den Raum, für Farben, Formen und Materialien verstärkt und mit dessen Augen sie zum erstenmal den Wunsch hat, zeichnen zu können.[2] (Später hat sie auf ihren Reisen immer gezeichnet.) Sie ist gerade 26 Jahre alt, hat noch nicht mehr an körperlich-rhythmisch-tänzerischer Ausbildung erfahren als die kurzen zwei Jahre in der «Bildungsanstalt für Rhythmische Gymnastik» des Émile Jaques-Dalcroze in Hellerau bei Dresden, die sie mit einem Diplom als «Rhythmiklehrerin» abgeschlossen hat. Als einzigen Anhaltspunkt für die nächsten Monate hat ihr Jaques-Dalcroze eine neue Aufgabe als Rhythmiklehrerin in Köln im Rahmen der Werkbund-Ausstellung zugesagt, die erhoffte Berufslaufbahn scheint möglich zu werden. Doch ist es das, was sie sucht? Sie ist sich dessen, was sie nun eigentlich will und auch kann, noch gar nicht bewusst.
Aber das Aufbruchsverlangen ist stark und drängend, sie gibt sich dem Erlebnis Rom ganz hin. O Rom, du wundervollstes, du größtes, wie schwer ist es, dich zu erleben. Ich bin der Schönheit nicht gewachsen, das ist es! Und hier ist alles schön, überall, immerzu! Jeden Tag neue Erlebnisse, neue Eindrücke. Kann man so viel Schönheit denn ertragen? Ist es nicht zuviel? Wohin mit all dem, was sich drinnen bei dir aufhäuft? Schaffen solltest du, aus dir heraus etwas Ganzes, Eigenes schaffen, das wäre Erlösung. Mir aber sind die Hände, die Gedanken, der ganze Körper wie gebunden. Gerade als ob eine Macht von irgendwo mich bannt und mich zwingt untätig zu verharren.[3]
Sie spürt die Fülle des Daseins und den unbändigen Drang, daran erleidend und gestaltend teilzuhaben, weiß aber für sich noch keinen Weg. Diese Hingabe und Erlebniskraft tragen viel von ihrer sie lebenslang begleitenden schöpferischen Vitalität in sich. In den Tagebüchern klingt schon an, was sie immer wieder von sich sagen wird, dass der Drang nach eigenständigem Schaffen und Gestalten übermächtig spürbar sei. Viel später wird sie in einem Lebensresümee bekennen: Was hat die Kraft gegeben zum Kämpfen, Durchhalten, Tragen der weitverzweigten Lebensaufgabe? Und was war das Schönste? Ich habe nur eine Antwort darauf: der schöpferische Prozess selber, das Erleben und Erschaffen, das Erfinden und Gestalten – jene kurzfristigen Stunden der Fülle, in denen man der Begnadung teilhaftig wird: der Begegnung und Vermählung des eigenen, ungeteilten Seinsgefühls mit der Ganzheit des lebendigen Lebens selbst.[4]
In allem, was sie in jenen frühen Tagebüchern schreibt, spürt man ihre Erlebnisfähigkeit, ihren Lebensgenuss und die Lebensbejahung, nicht in hybridem Anspruch, sondern als Antwort auf ein tiefes Angesprochensein. Bezeichnend ihre Beschreibungen der Werke des Michelangelo: Sie sieht die Skulptur des Moses und sieht die Macht, Kraft, Größe und Herrlichkeit, sie sieht die Kuppel des Petersdoms und empfindet Jubel und Staunen, sie sieht die Sixtinische Kapelle und ward ergriffen, sie sieht sein Bildnis und wird stille vor dem Leiden deines Angesichts, nun knie ich vor dir, Michelangelo.[5]
Diese vier Attribute, Kraft und Größe, Jubel und Staunen, Ergriffenheit und Stille vor Erhabenheit und Leid könnte man als Schlüsselbegriffe ihres Schaffens bezeichnen. Und wenn es auch gewagt erscheint, sie in die Nähe Michelangelos zu rücken, so sei doch darauf hingewiesen, dass später immer wieder die durchgeistigte Plastizität und Skulpturhaftigkeit ihrer Tanzgestaltungen genannt werden und dass in der Rezension eines ihrer Tanzabende von 1925, geschrieben von dem sensibel beobachtenden Kritiker Alfred Jürgens, sie als eine «fast michelangelesker Intuition nahe, schaffende Künstlerin» bezeichnet wird.
Ihre sinnliche Wahrnehmung ist stark und ausgeprägt, überall spürt sie Raum, Rhythmus, Bewegung und Ausdruck. Und dort, wo in den Museen die Statuen restauriert und von den Spuren der Zeit gereinigt sind, sieht sie sie durch Restaurieren und Ersetzen als verstümmelt an, weil sie ihrer Authentizität, ihrer Einmaligkeit und Jetzthaftigkeit und ihres ursprünglichen Rhythmus beraubt sind. Bereits in ihrer Wahrnehmung erweist sich Mary Wigman als schöpferisch und ganz und gar als ein Jetzt-Mensch, der das Hic et Nunc als Lebenskern erlebt, wie ja dann auch der Tanz nur im Jetzt existiert. Die absolute Gegenwärtigkeit des Mediums Körper hat sie in Rom im Eingehen auf die steingehauenen Götterbilder bereits angesprochen und es ein Leben lang so empfunden. Im Lebensresümee spricht sie es deutlich aus: Das Wissen um die Vergänglichkeit des tänzerischen Kunstwerkes hat mich nie mit Schmerz erfüllt. Es schien so selbstverständlich wie das Werden und Vergehen in der Natur.[6]
Besonders eindrucksvoll ist ihr intuitives Eingehen auf die griechischen Vasenbilder, die sie in den Museen des Vatikans lange betrachtet und die sie dann, nach Hellerau zurückgekehrt, zu beschreiben beginnt: O Eros, gewaltiger! aus diesem Empfinden stürzen sich die Amazonen in den Kampf, tanzt der Satyr, rasen die Mänaden – wir heute wissen nicht, was und wie sie tanzten, aber es gibt für uns ein nachträgliches innerliches Erleben, das uns von all den geschauten Gestalten her kommt. Ein Wissen gibt es nicht. Es tut auch nicht not, aber ein Verstehen, ein Begreifen ohne zu wissen, das gibt es für uns. Und zu diesem gelangen wir durch ein Erfassen des Lebens, des pulsierenden, warmen Blutes in all den Gestalten.[7]
In den Aufzeichnungen zu den Vasenbildern ist angesprochen, was im schöpferischen Arbeiten Mary Wigmans je eine Rolle spielen wird; und es ginge am Wesen jener Zeilen vorbei, wollte man sie als erste theoretische Niederschrift über Tanz ansehen, sind sie doch spontane Tagebuchaufzeichnungen, die ihre Empfindungen unmittelbar widerspiegeln. Es ist eine ganz persönliche und assoziative Antwort auf ein Sehen und Erkennen, es ist das Lesen einer Lebensschrift, die sie als die ihre zu begreifen beginnt.
Ob Amazonen, Mänaden oder Tänzerinnen und Tänzer: Eines verbindet dies alles und was auch uns es möglich macht, das bewegte Leben als Tanz zu empfinden: die Form! die künstlerische Form, der sich alles unterordnet und die wohl durchtränkt ist von warmem Leben, aber niemals von ihm zersprengt wird. Und so durchglüht von lebendigem Empfinden ist die reine Form, daß man sie nicht mehr als etwas Selbständiges herausfühlt, […] sondern Form und Leben als eine höhere Einheit empfindet. Über sie wird es später heißen: «Ihre Tänze sind das Leben selbst. In geklärter und geläuterter Form offenbaren sie uns unser eigenes Leben.»[8]
Und ein drittes tritt hinzu: das ist der Rhythmus! Wohl ist Rhythmus Leben, aber gebändigtes, beherrschtes Leben. Und all die rhythmisch bewegten Gestalten auf den Vasen und Reliefs zeigen uns klar und eindringlich, bis zu welch hohem Grade eine lebendige Körperbeherrschung möglich ist, wie sie entwickelt ist zu einer solchen Höhe, daß man auch sie nicht mehr als etwas Selbständiges empfindet, sondern sie einordnet in den Gesamtbegriff: Griechischer Tanz. Gesteigertes Lebensgefühl in künstlerische Form gebannt und beherrscht vom Rhythmus, das ist, was wir von griechischen Vasen verstehen lernen. Die Kritik wird schreiben: «Nur eine Tänzerin, bei der die meisterlichste Technik so völlig im gleichsam selbsttätigen Körperschwung aufgegangen ist, ist solcher Tänze fähig.»[9]
Bis zu welchem Grad die Musik an dem Gesamteindruck beteiligt ist, bleibt uns verschlossen. […] War Musik für sie Notwendigkeit, war sie der Ausgangspunkt für allen Tanz? Sie war wohl oft das Mittel, welches das Lebensgefühl steigerte […], sie machte Seele und Körper bereit zum Tanz. […] Sobald sie diesen Zweck erfüllt hatte, […] sank sie nur mehr zur Begleitung herab. Denn der Körper in der Bewegung folgt seinen eigenen Gesetzen, wie die Musik ihre eigenen Gesetze hat und eine Geste entwickelt aus sich mit unerbittlicher Logik eine andere, ganz gleich, welchen Weg die Musik daneben geht. Etwas anderes war es, sobald die Musik von vornherein nichts sein wollte als Rhythmus. Da war sie beherrschend und ordnete sich die Bewegung unter. […] In solchem Falle wurde die Musik, der musikalische Rhythmus das ordnende Element, intuitiv fügte sich ihr der Tanzende. Als Erste in der Geschichte der europäischen Tanzkunst wird sie Tänze ohne Musik oder nur mit Rhythmusgeräuschen entwickeln. Das Wundervollste aber ist, daß diese Tanzenden in all ihrer rhythmischen Bewegtheit, in ihrer freudigen und schmerzensvollen Ekstase, im streng stilisierten Gebundensein der Gesten nie zur Maniriertheit herabsinken, daß sie einfach und natürlich bleiben und nie vergessen lassen, daß es das Leben selbst ist, das ihren Tanz geboren hat.[10] «Nur wer die körperliche Geste restlos als Sprache des Inneren verwirklichen kann, vermag diese Dinge so zwingend, so einfach zu sagen», wird ein Kritiker noch 1934 feststellen.[11]
Aus der Kenntnis dieses künstlerischen Urerlebens lässt sich begreifen, wie Mary Wigman als nicht mehr ganz junge Anfängerin in zehnjährigem Lernen und Arbeiten ohne irgendwelche Vorbilder zu so bahnbrechender Neuerung und darin zu so weltweiter Anerkennung hatte gelangen können. Was in ihren ersten Tagebüchern an Vitalität, Sinnlichkeit, Raumgefühl, rhythmischem Empfinden, Bewegungserfahrung und tänzerischem Impuls zum Ausdruck kommt, das ist ihre tatsächliche «Begabung», alles weitere, ihre körperlichen Fähigkeiten, Phantasie, Geschmack, klarer Verstand und Disziplin sind «nur» die Zutaten, deren es zu einer solchen Karriere allerdings auch bedurfte. Ihre Gefühle und Gedanken zu Raum, Rhythmus, Bewegung, Körper, Geste, Musik und alles in allem zu Form sind hier richtungsweisend vorformuliert und warten nur darauf, von ihr selbst künstlerisch entwickelt und ausgeformt zu werden.
Mary Wigman ist am 13. November 1886 in Hannover geboren. Der Name ist ihr Künstlername, den sie auf Anraten ihres Lehrers Rudolf von Laban seit 1918 benutzt. Getauft ist sie auf den Namen Karoline Sofie Marie Wiegmann, wird aber Mary gerufen, in stolzer Verbundenheit mit dem englischen Königshaus, mit dem das Kurfürstentum Hannover bis 1837 in Personalunion gestanden hatte.
Ihr Vater, Heinrich Friedrich Wiegmann, geboren am 16. November 1840 in Linden bei Hannover, führt zusammen mit seinem Zwillingsbruder Dietrich und einem weiteren Bruder, August, in Hannover ein Geschäft in einem großen Bürgerhaus in der Schmiedestraße 33, mit Blick auf die breite, backsteinschwere Marktkirche. Kurze Zeit hatte Wilhelm Busch in diesem Haus gewohnt. Gegenüber liegt das (im Zweiten Weltkrieg zerstörte und später wieder aufgebaute) Leibnizhaus. Im Wiegmann’schen Geschäft werden Fahrräder produziert und verkauft und Nähmaschinen, aber auch fernöstliche Waren aus den Kolonialgebieten wie chinesisches Porzellan, Tee, Vanille oder Zigarren angeboten. Das geheimnisvolle Theezimmer war ein fensterloser Raum im hinteren Teil des großen Nähmaschinenladens, mit Glasbehältern voller schwärzlicher Vanillestangen, mit bunt und aufreizend beklebten chinesischen Theekisten. Das Geheimnisvollste aber waren die fremdländischen Gerüche, verwirrend und berauschend für empfindliche Kindersinne, wie die Märchen aus Tausend und eine Nacht. – Spielen und Träumen! Nie habe ich die Leidenschaft dafür verloren.[12]
Es ist das Ende der «Gründerzeit», in das Mary Wigman hineingeboren wird; Industrien, Gewerbebetriebe, Geschäfte und Handelsfirmen blühen in Deutschland und in Übersee. Kolonialwaren, wie sie Mary Wigmans Vater verkauft, sind Statussymbol und Phantasiewirklichkeit, bedeuten nationalen Stolz und fremdländische Ferne zugleich. Das wilhelminische Bürgertum am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dem Mary Wigman entstammt, ist bis ins Innerste konservativ und antiliberal und sieht sich im Nachvollzug nationaler historischer Größe. Die bürgerliche Welt fühlt sich stark, mächtig und gesichert, ihr Lebensstil ergeht sich in patriarchaler Bestimmung und gefälliger Weiblichkeit, ihre Werte sind Wohlanständigkeit und Wohlergehen. Doch dagegen regen sich um die Jahrhundertwende auch revolutionäre Tendenzen, die die kulturelle und sozialpolitische Entwicklung bestimmen werden. Bedürfnis und Notwendigkeit wachsen, alle Gebiete des Lebens und der Kunst umzugestalten; die wilhelminische Enge und ihre strikte Reglementierung und Saturierung des Daseins sind außerhalb der bürgerlichen Welt und vor allem bei der Jugend zu ihrem Ende gekommen. In dieser prägenden Spannung von gelebter Konvention und revolutionären Tendenzen erlebt Mary Wigman eine freie und glückliche Kindheit und Jugend, an die sie sich später erinnert als an ein einziges glückliches Spiel-Paradies, dem Spieltrieb waren keine Grenzen gesetzt, und die Phantasie machte sich noch die nackteste Wirklichkeit untertan.[13]
Kindheitserinnerungen hat Mary Wigman erstmals und ganz unvermittelt in ihrem Tagebuch von 1937 aufgeschrieben. (Nahezu alles hierzu Dargestellte und Zitierte ist diesem einen Tagebuch entnommen.)[14] Sie steht an einem beruflichen Wendepunkt, ist mittlerweile 50 Jahre alt, und ihr gesamter Lebensweg scheint ihr erneut Besinnung und Rechenschaft abzuverlangen.
Diese schriftlichen Erinnerungen skizzieren ihre Kindheit, sie beschreiben die tatsächlichen Kindheitsmuster, sind keine – wie oft bei Künstlern – Verklärungen und narzisstischen Beschönigungen. In allem schwingt der Ton einer glücklichen und voll ausgelebten Kindheit mit. Mary Wigman hat davon ihr Leben lang gezehrt.
Die glückliche Kindheit, schreibt Mary Wigman, verdanke sie vor allem dem liebenden Verständnis ihrer Mutter. Diese Frau, Amalie Wiegmann, geb. Jacobs, geboren am 17. Februar 1857 in Linden bei Hannover, muss eine außergewöhnliche Frau gewesen sein. Im Alter von über 70 Jahren (1933/34) schreibt sie auf Drängen ihrer Kinder ihre Lebenserinnerungen auf, die im einfachen, sachlichen Erzählen das faszinierende Genrebild einer Jugend und einer jungen Frau im bürgerlichen Milieu der wilhelminischen Zeit entwerfen.[15] Vor allem von Pflichten und Arbeiten ist die Rede, vom Mitwirken im Geschäft des Ehemanns, doch auch von fröhlichem Theaterspielen, von Scharaden und Stegreifstücken im weitverzweigten Familienkreis. Es existiert noch ein gedruckter Theaterzettel von 1901, «Das Wohlenbergtheater», mit der Ankündigung zur «Polterabendfeier des Herrn Carl Reuther mit Frl. Martha Wohlenberg» (1881–1959), jener Cousine, mit der Mary Wigman zeitlebens eine tiefe Freundschaft verbindet. Kurzum, die musische Begabung liegt in der Familie. Und Amalie Wiegmann hat daraus und trotz ihres so arbeitsreichen, verantwortungsvollen und vielfältigen jungen Lebens die Kraft und Freiheit entwickelt, ihren eigenen Kindern eine wunderbare Mutter zu sein. Die Wohnung war ein Chaos, aber niemals hat meine Mutter uns die Spielfreude verdorben, erinnert sich Mary Wigman, und an andrer Stelle schreibt sie, meine Mutter hat die funkelnde Weihnachtsherrlichkeit über meine ganze Kindheit gebreitet, voller Seeligkeit und Herzklopfen – heute noch ist das Weihnachtsfest der Höhepunkt aller Feste – liebe, liebe Mutter! Und wie oft haben später Mary Wigmans Schülerinnen und Schüler und Freunde an diesem Fest teilgehabt.
Im großen Familienkreis ist Mary Wigman geborgen, nach dem früh verstorbenen Bruder Bruno (1885–1887) spielt sie mit dem Bruder Heinrich (geboren am 17. Februar 1890) und der Schwester Elisabeth (geboren am 19. Dezember 1894), die als Puppe mit geringeltem Haar und blauen Kulleraugen im Puppenwagen lag und schrie. Das geräumige Haus in der Schmiedestraße 33 ist der Tummelplatz aller wilden Kinderausgelassenheiten. Mary Wigman schreibt von aufregenden Schaukelabenteuern im Treppenhaus, die Mut und Angstgefühle hervorriefen, von waghalsigen Fahrradkünsten und von Träumereien in verschwiegenen Kinderverstecken.
Den tiefsten Eindruck ihrer Kinderzeit aber macht der leidgezeichnete Vater, seine Krankheit und sein Sterben. Sie erinnert sich, wie er die Kinder liebevoll empfängt, «min lütte Deern», die Hand auf ihren Kopf legt und ihnen aufmerksam und teilnahmsvoll zuhört. Und dann im Sterbezimmer, das schwere Atmen des sterbenden Vaters, die weinende Mutter, alle Verwandten. Mary weint mit, ohne zu wissen warum – sie spürt nur die grenzenlose Vereinsamung und das Ausgeliefertsein an ein unbegreifbar waltendes Gesetz. Der Vater stirbt am 9. April 1896, Mary ist neun Jahre alt. Das Wort Vater hat für sie immer einen zärtlichen, wehmütigen Klang behalten.
Die Trauer ist groß. Heinrichs Bruder August war bereits 1894 gestorben, Bruder Dietrich nimmt sich der vaterlos gewordenen Familie an, wie Heinrich gebeten hatte. Nach einigem Zögern heiraten Amalie und Dietrich zwei Jahre später, am 29. April 1898, der Stiefvater wird den Kindern ein guter Freund und Kamerad.
Mary Wigman wird 1892 in die Höhere Töchterschule in Hannover eingeschult, Lesen, Schreiben machen ihr besonderen Spaß, ab 1894 bekommt sie Klavierunterricht, später kommt noch Gesangsunterricht dazu, die Ausbildung der Stimme scheint vielversprechend. Auch erhält sie Unterricht in Literatur und Kunstgeschichte. Mit 14 Jahren wird sie aus der Schule bereits entlassen, als gute Schülerin würde sie gerne studieren, aber eine studierte Tochter ist für den bürgerlichen Haushalt der Wiegmanns dann doch zu viel. Wie üblich in gutsituierten Familien, darf sie Sprachen lernen, Englisch in einem Pensionat in Peterborough und danach in Folkestone und nach der Konfirmation am 6. April 1902 Französisch in einem Höheren Töchterpensionat in Lausanne. Sie hat später ohne Sprachschwierigkeiten Vorträge in den USA und in Paris an der Sorbonne gehalten.
Verliebte Schwärmereien hat sie wie andre Mädchen auch, doch ihre beiden Verlobungen 1904 und 1908 werden wieder aufgelöst. Sie ist viel zu wissbegierig und zu erlebnishungrig, um sich jetzt schon ein Leben als Hausfrau und Mutter vorzustellen, ihre Neigungen und Begabungen sind vielfältig, eine künstlerische Betätigung mag naheliegen, vor allem aber will sie selbständig sein.