Märzchen im November - Peter Coon - E-Book

Märzchen im November E-Book

Peter Coon

4,6

Beschreibung

»Ein Ereignis hatte unser Leben durchkreuzt. Es stand unserer gemeinsamen Bahn im Weg, wie ein Glasprisma einem weißen Lichtstrahl im Physikunterricht.« Dieses Buch handelt von Menschen in heiklen Situationen. Manche haben Glück, andere erleben persönliche Katastrophen, nichtsahnend oder sehenden Auges – in jedem Falle aber verstrickt im Netz besonderer Eigenheiten und Umstände. Dennoch fehlt es diesen Geschichten nicht an Humor – versteckt in der Sprache, in Absurditäten oder überraschenden Wendungen, schüchtern und hintergründig. Und hier und da, erstaunlich oft sogar, keimt ein wenig Hoffnung. Zwei dieser vierzehn Erzählungen wurden bei Literaturwettbewerben mit Preisen ausgezeichnet.

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Seitenzahl: 93

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Inhaltsverzeichnis

Titelseite

Abgedrängt, umgelenkt, gebrochen

Blind Date

So viel Zeit muss sein

Die Fremde unter Tage

Stolze zehn Jahre

Leben ohne Faustkeil

Gute Unterhaltung

Dabei sein ist alles

Nicht einmal bis vor die Haustür

Siebzehn

Redegewalt

Wer, wenn nicht ich?

Märzchen im November

Melanies Rat

Über den Autor

Impressum

Peter Coon

Märzchen im November

Dreizehn nicht unerhebliche Erzählungen

und eine nur so zum Spaß

Abgedrängt, umgelenkt, gebrochen

Karl erschien mir immer als blau. Wir kannten uns schon seit unserer gemeinsamen Kindergartenzeit und waren dicke Freunde, auch später auf der Grundschule und dem Gymnasium. Fast jeden Nachmittag trafen wir uns, und während all dieser Zeit kam er mir irgendwie blau vor. Ich meine damit nicht seinen Alkoholspiegel, obwohl dieser zuletzt immer öfter auch diese Art von Blau-Sein verursachte. Nein, ich meine wirklich die Farbe Blau. Natürlich war er nicht wirklich blau. Nicht, dass man hätte sehen können, wie er blau gefärbt gewesen wäre – an Händen oder Füßen oder gar im Gesicht. Vielmehr war es mein Bild von ihm, das ihn in dieser Farbe zeigte. Für mich hatte er immer etwas Blaues, in etwa so, wie die Zahl Zwei für mich weiblich und meine EC-Karten-PIN eine bestimmte Melodie ist.

Karl hatte eine große Schwester. Anne ist ein gutes Jahr älter als er und besuchte ebenfalls unser Gymnasium. Sie drehte aber in der Acht eine Ehrenrunde, und so kamen wir in dieselbe Klasse, Anne, Karl und ich, und mogelten uns später gemeinsam durchs Abitur. Wie ihr Bruder hatte auch sie immer schon diesen Hang zum Blau. Mit den Jahren mischte sich jedoch etwas Grün hinzu, sodass sie dieses zarte Türkis umgab, in das ich mich verliebte.

Auch nach unserer Hochzeit verbrachten wir viel Zeit mit Karl. Wir feierten stets gemeinsam und fuhren oft zu dritt in den Urlaub. Auch im August ’88 war er dabei, als wir wieder einmal nach Ramstein fuhren. Wir alle waren verrückt nach Flugzeugen. Keiner von uns hatte einen Flugschein, doch die militärische Flugschau auf der Ramstein Air Base war für uns seit jeher ein fixer Punkt im Jahr gewesen. Bis zu diesem Tag verliefen die Strahlen unserer drei Leben so parallel wie die dreifarbigen Rauchstreifen der heranjagenden Frecce Tricolori, die zur Begrüßung über uns hinwegdonnerten. Zehn Piloten in zehn Kampfmaschinen begeisterten uns und einige tausend Gleichgesinnte mit ihren Kunstflug-Figuren, die sie in den italienischen Nationalfarben an den Himmel malten. Wir beobachteten jede Wende, jeden Looping und dann die Form eines imposanten Herzens, das sich senkrecht vor uns erhob. Gespannt erwarteten wir das Finale der Show, doch als drei der Maschinen vor unseren Augen zerschellten, genau in diesem Augenblick, tauchten wir gemeinsam ein in eine andere Zeit. Die Sekunden, in denen sich der Feuerball in die Zuschauermenge bohrte, dehnten sich nicht etwa, wie sie es in einem Kinofilm getan hätten. Statt in Zeitlupe verstrichen sie so schnell, als hätte jemand den Vorspulknopf gedrückt. Wie Pfeile rauschten sie an uns vorbei und ließen uns das Inferno nicht begreifen. Warum war der Himmel mit einem Mal leer? Warum blieb das Finale aus? Irgendetwas hatte es verschluckt und unser Erleben auf die Erde zurückgeworfen. Wie in Trance taumelten wir durch dichten Qualm über eine Art Schlachtfeld, uns fest an den Händen haltend. Wir fragten niemanden nach Hilfe und brachten auch keine. Wir suchten nur einen Ausweg aus diesem Albtraum, und als wir ihn erreicht hatten, wussten wir nicht, wie wir ihn gefunden hatten. Wir schauten uns fragend an und fielen uns heulend in die Arme. Genau in diesem Moment kehrten wir wieder in die normale Zeit zurück. Wir tauchten auf aus etwas, für das wir keinen Namen hatten. Wir waren hindurch durch etwas, für das uns die Worte fehlten. Ein Ereignis hatte unser Leben durchkreuzt. Es stand unserer gemeinsamen Bahn im Weg wie ein Glasprisma einem weißen Lichtstrahl im Physikunterricht. Wir waren eingetaucht, hatten es durchstoßen, um auf der anderen Seite wieder herauszutreten – abgedrängt, umgelenkt, gebrochen, jeder gemäß seiner Farbe. Den Aufschlag, die Flammen, den Lärm, die Schreie, die Gerüche und die verzerrten Gesichter konnten wir kaum klar erinnern, und doch hatten sie unsere Lebenswege stärker gefächert, als wir noch am Ende des Tages glaubten.

Zunächst bemerkten wir dies an Karl. Er zog sich zunehmend zurück, kam nur noch selten zu Besuch und lud auch nicht mehr ein. Anne und ich trafen ihn nur noch sporadisch und merkten bald, dass er zu trinken begonnen hatte. Stets umgab ihn eine Fahne, immer öfter fanden wir ihn betrunken in seiner Wohnung vor. Innerhalb weniger Wochen war er zum Alkoholiker geworden. Fragten wir ihn, warum das so sein musste, antwortete er immer: »Die Träume. Es sind die Träume.«

Unter den Träumen litten wir alle. Was wir hatten sehen müssen, quälte uns zeitweise jede Nacht und bereitete uns Schlaflosigkeit und Depression. Wir alle waren in psychologischer Betreuung, bekamen Tipps und Methoden an die Hand, die Last der Erinnerung zu ertragen. Ich war der erste von uns dreien, der auf diese Weise wieder Schlaf und damit den Weg zurück ins Leben fand. Auch Anne schreckte nachts immer seltener auf. Ich arbeitete viel, und Anne trat einen neuen Job an, als Karl seinen verlor. Als er eines Tages fast an einer Alkoholvergiftung starb, rastete ich aus.

»Er soll sich mal zusammenreißen!«, ließ ich Anne wissen.

»Das geht nicht so einfach«, nahm sie ihren Bruder in Schutz.

»Bei uns ging es doch auch.«

»Er ist eben anders als wir. Du weißt doch, wie ihn all das verfolgt.«

»Uns hat es auch verfolgt.«

»Aber er ist nicht wie wir. Er kann es einfach nicht überwinden.«

»Kann-nicht ist der kleine Bruder von Will-nicht!«, ließ ich mich hinreißen und bereute es noch in derselben Sekunde. Schlagartig wurde uns beiden bewusst, wie weit auch wir uns voneinander entfernt hatten seit August. Hielt uns bisher der gemeinsame Kampf um unseren Schlaf noch beisammen, so drifteten wir jetzt umso deutlicher auseinander. Keine Entschuldigung, keine lieben Worte oder innigen Umarmungen brachten uns je wieder auf denselben Kurs.

Etwa vier Wochen, nachdem Karl sich schließlich das Leben genommen hatte, verließ mich Anne. Bevor ich sie aus den Augen verlor, sah ich sie noch ein einziges Mal, als unsere Ehe geschieden wurde. Ihr grünlicher Ton war verflogen. Über die Monate hatte sie Karls ursprüngliches Blau angenommen.

Blind Date

Halb gefüllte Weingläser, Salzstangen, die brennende Kerze – Lena überfliegt die Anordnung auf dem niedrigen Couchtisch. Die Gläser schiebt sie – sicher ist sicher – weiter zur Tischmitte und setzt sich. Ihr Blick wandert von ihren Füßen bis zur Wohnzimmertür; der Weg zwischen ihr und dort ist frei. Zufrieden lehnt sie sich zurück.

Es klingelt.

»Ist offen!« Nach wenigen Sekunden hört sie die Tür ins Schloss fallen. »Geradeaus den Flur entlang ins Wohnzimmer!«

Er wird sie schon finden, weiß sie, und pustet die Kerze aus. Lichtschwaden tanzen vor ihren Augen. Einen Moment lang ist sie nicht sicher, dass es absolut dunkel ist. Sind die Jalousien wirklich dicht? Dann aber senken sich doch die ersehnten schwarzen Schleier über sie und vertreiben ihr das letzte Augenlicht.

Lena liebt die Dunkelheit. Dunkelheit bietet ihr Schutz vor Blicken. Lena hasst Blicke. Blicke kommen stets uneingeladen. Sie stoßen vor ins Private, schamlos und jeden Anstandsabstand missachtend. Sie stochern und pulen und begrapschen das Intime. Nackt fühlt sie sich, wenn es an Dunkelheit fehlt, entblößt und hilflos dargeboten. Nur in der Dunkelheit ist sie sicher. Nur in der Dunkelheit kann sie vertrauen. Und nur die Dunkelheit ist in der Lage, ihr größtes Handicap zu verbergen: ihr Aussehen.

»Lena? Bist du hier?«

Na, das Wohnzimmer scheint er gefunden zu haben. Seine Stimme ist nah – aber nicht nah genug.

»Drei Schritte bis zur Couch links von dir.«

Lena ahnt, wie er nach der Couch tappt. Sie hört das Rascheln seiner Kleidung. Jetzt fährt seine Hand über den Bezug, suchend, vorsichtig, um ihr nicht zu schnell zu nah zu kommen. Das Polster wippt, als er sich neben sie setzt.

»Du hattest eine Kerze an?« Keinen Meter ist seine Stimme jetzt von ihr entfernt.

»Wegen der Romantik«, gesteht sie.

»Verstehe«, lügt er.

Lena beugt sich vor und tastet nach den Weingläsern.

»Ich habe einen Roten ausgesucht, nicht zu trocken.«

Es ist schon ein kleines Wunder, als sie fast perfekt anstoßen, ohne Kleckern oder Glasbruch. Lena nippt ein, zwei mal, hört ihren Atem in ihrem Glas und seinen in seinem.

»Sehr gut«, schwärmt er. »Wir haben keinen besseren.«

Lukas ist Kellner. Er kennt viele gute Weine. Und jetzt sitzt er neben ihr auf der Couch und lobt ihren. Glücklich stellt sie ihr Glas zurück und klemmt die Hand unter ihre Pobacke, um sie unter Kontrolle zu haben. Die andere legt sie rücklings auf ihre Knie – als Einladung gewissermaßen, freimütig und kühn.

Doch vorerst bleibt sie unerhört. Lukas rührt sich nicht. Sie schweigen. Bisher hatten sie sich immer viel zu erzählen, aber jetzt will ihr einfach kein Thema einfallen. Ihm hoffentlich auch nicht.

Tatsächlich bleibt es still. Nicht einmal seinen Atem kann sie jetzt noch hören. Ist er überhaupt noch da? Sitzt er noch neben ihr? Er könnte hinter dem Sofa stehen, und sie würde es nicht merken. Er könnte Grimassen schneiden, ihr einen Kuss zuwerfen, sie wüsste nichts davon. Er könnte sonst was mit ihr anstellen, sie würde es nicht vorhersehen. Nichts, gar nichts weiß sie auch nur über den allernächsten Augenblick. Und genau das war ihr Ziel, genau so wollte sie Lukas begegnen. Durch das Löschen des Lichtes hat sie sich ihm ausgeliefert und die Schwelle zu seiner Welt überschritten, in der er im Vorteil ist und sie hilflos. Alle Macht hat er nun über sie, über ihre Haut und ihre Haare. Doch mit dieser Macht überlässt sie ihm auch die Last der Initiative und sich selbst die Lust der Ungewissheit. Diesem Zauber wollte sie erliegen, als sie sich blind zu ihm in diese Finsternis stürzte.

Lena vertraut Lukas. Außer ihm vertraut sie so gut wie niemandem. Diebe auf den ersten Blick sind ihre Mitmenschen. In Bruchteilen einer Sekunde rauben sie ihr das Offensichtliche vom Leib und starren wie gebannt auf ihre Beute. Kaum jemand, der sie einmal ansieht, hat anschließend noch ein Auge für all das Verborgene in ihr, sucht ihr eigentliches Wesen oder forscht nach ihrem Mysterium. Zu sehr befängt ihre äußere Erscheinung Männer wie Frauen; denn Lena ist wunderschön. Das fand bereits ihre Mutter, als sie sie im glitzernden Prinzessinnenkleid ins Rampenlicht stellte und sagte: »Und jetzt immer schön lächeln«. Lena gehorchte und gewann viele Preise. Sie wurde älter und beinahe erwachsen. Vergeblich hoffte sie auf Pickel und Speckfalten. Doch ihre untadeligen Gesichtszüge, ihre makellose Haut und später ihre Traumfigur überzeugten fast jede Jury. So sammelte sie Krönchen und Schärpen und ihre Mutter die Preisgelder. Als die Kleidchen jedoch immer knapper wurden und die Blicke begannen, ihr selbst diese noch auszuziehen, entschied sie sich, das Lächeln zu verlernen und ihre Schönheit zu hassen. Seither ist gutes Aussehen für sie eine Behinderung und ein Geschwür und eine Krankheit wie die Pest.