Masken der Macht - Anke Schiller - E-Book

Masken der Macht E-Book

Anke Schiller

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Beschreibung

Masken der Macht Tauchen Sie ein in ein fesselndes Spiel aus Verbindungen und Täuschungen mit "Masken der Macht", wo die Grenzen zwischen Freundschaft und Verrat, Emotionen und eiskaltem Kalkül verschmelzen. Die kreative und kluge Lilly findet sich in einem Netz aus Intrigen wieder, als der einflussreiche Mark Seeberger sie in die Zwangsversteigerung des Hofs ihrer einst besten Freunde verwickelt. Doch hinter den Masken, die jeder Protagonist trägt, verbirgt sich mehr als persönliche Ambitionen. Für wen ist "Masken der Macht" geeignet? Leser, die nach einem spannenden Drama voller Machtspiele und Intrigen suchen. Fans von Geschichten, die emotionale Konflikte, persönliche Opfer und dramatische Wendungen thematisieren. Menschen, die sich für die Schattenseiten von persönlichen Ambitionen und ausgleichender Gerechtigkeit interessieren. Tierliebhaber, die eine besondere Beziehung zwischen Lilly und ihrem Hund Vincent schätzen. Warum "Masken der Macht" kaufen? Ein tiefgehendes Drama, das die Schattenseiten von Macht und persönlichen Ambitionen aufdeckt. Meisterhaft gestaltete Charaktere, die zwischen Machtspiel und persönlichen Opfern gefangen sind. Ein fesselndes Spiel um Einfluss und Raffinesse, bei dem jeder Protagonist seine Masken fallen lässt. Die zentrale Frage, ob der Zweck tatsächlich die Mittel heiligt oder ob Zweck und Mittel bereits untrennbar miteinander verbunden sind.

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Inhaltsverzeichnis

Sonntag

Trudi und Willy

Die Begegnung

Robert Johnes

Dr. Arnold Baum

Männerabend

Die Falle macht schnapp

Madame Trèsjolie

Das Geschäftsessen

Simone Schlüter

Arbeitsfrühstück

Lichtgeschwindigkeit

Kündigung

Schicksal und Zufall

Masters of the Universe

Der Gerichtstermin

Im Spital

Nichts ist, wie es scheint

SONNTAG

„Lilly, bitte entspanne dich! Das ist alles kein Hexenwerk, du erledigst das mit links.“

Mark ist an diesem späten Sonntagvormittag fast am Verzweifeln. Hatte er doch alles hinlänglich und ausführlich im Vorfeld erläutert, was zu tun ist, damit dieses Kapitel in ihrer beider Leben endlich und erfolgreich abgeschlossen werden kann. Er holt tief und hörbar Luft und fährt mit betont ruhiger Stimme fort.

„Gut, dann also noch einmal von vorne und gerne zum Mitschreiben.

Wenn die Versteigerung bei einer Million Euro angekommen ist, gibst du deine Zustimmung. Vorher nicht. E-i-n-e M-i-l-l-i-o-n Euro. Ich buchstabiere: E wie Emil, I wie Ida, N wie…“

„Hör auf! Ich bin doch nicht geistig umnachtet, nur weil ich diesen bescheuerten Gerichtstermin für dich nicht wahrnehmen will. Kannst du das bitte einfach akzeptieren und dir eine andere Lösung einfallen lassen? Ich will nicht! Kapierst du das nicht?“

„Lilly. Stopp. Und jetzt hör mir mal gut zu“, Mark wird ungeduldig. „Du hast mich damals darum gebeten, dass ich deinen beiden Freunden helfe, richtig?“

„Ja. Aber das war damals. Heute ist alles anders. Weißt du überhaupt in was für eine Situation du mich da bringst? Was soll ich denn sagen, wenn Trudi und Willy auch im Gerichtssaal sitzen?“

„Dann sagst du nett und freundlich „Hallo“, suchst dir einen Platz, der muss ja nicht direkt neben den beiden sein, und machst alles so, wie wir es gerade besprochen haben. Wo ist dein Problem?“

„Du willst mich nicht verstehen, oder? Ich kann das nicht tun! Ich will es nicht!“

Lilly ist kurz davor loszuheulen. Mit aller Kraft unterdrückt sie die aufsteigenden Tränen, denn sie will sich auf keinen Fall eine Blöße geben.

„Ich habe dich nach deinem Problem gefragt. Nicht danach, was du kannst, oder auch nicht kannst. Dir ist der Unterschied zwischen ‚Können‘ und ‚Problem‘ bekannt? Oder soll ich es dir sicherheitshalber nochmal erklären, damit wir in dieser Sache weiterkommen?“

Lilly schüttelt schweigend den Kopf. Sie will nichts sagen, denn sie ist sich nicht sicher, ob ihre Stimme in diesem Moment fest genug ist, um von Mark als ernstzunehmendes Gegenüber wahrgenommen zu werden.

„Gut. Dann weiter im Text. Wir waren uns doch schon vor Wochen einig, dass du morgen für mich zur Zwangsversteigerung gehst, weil ich dafür keine Zeit habe. Außerdem sollte dies der Meilenstein sein, dass du mit deiner Vergangenheit abschließen und frei und gelöst in die Zukunft blicken kannst. Ist das so korrekt?“

Lilly nickt stumm.

„Korrekt?“, sein Tonfall nimmt deutlich ich an Schärfe und Lautstärke

zu. „Wenn ich dich etwas frage, dann erwarte ich eine Antwort, oder hat es dir die Sprache verschlagen?“

Lilly fallen keine passenden Worte ein, ihr Unbehagen, ihr Unwohlsein in seiner Gesamtheit auszudrücken. Sie stottert vor sich hin: „Mark, entschuldige bitte, ich…“

Marks Hände umfassen ihre Handgelenke. Fest, sehr fest.

„Aua, du tust mir weh!“

„Lilly! Sieh! Mich! An!“

Es sind nicht seine Worte, nicht der Schraubstockgriff um ihre Handgelenke, die ihr den Atem rauben und sie mental in ein tiefes Loch einer Ohnmacht stoßen, die sich mit dem Gefühl der Hilflosigkeit, des Ausgeliefertseins, vermischt. Es sind Erinnerungen, die Erinnerungen an ihren Vater, wenn er sie dazu aufforderte, Dinge zu tun, vor denen sie Angst hatte. Es war der gleiche Tonfall, es waren fast die gleichen Worte, egal, ob es darum ging, vom Fünf-Meter-Turm im Freibad zu springen oder mit dem Gewehr auf ein lebendes Tier zu zielen und abzudrücken.

„Lilly! Du kannst das! Du bist stark! Tue es für mich. Für uns!“

War es jetzt Mark der da sprach, oder ihr Vater?

„Ist Dr. Baum auch mit dabei?“

Lillys Frage klingt fast wie ein Hilferuf.

„Nein, dafür brauchst du keinen Anwalt. Du hast die Unterlagen und die Vollmacht, das genügt.“

„Kann ich vielleicht vorher nochmal mit ihm sprechen?“

„Gut, ruf ihn an, er wird dir auch nichts anderes sagen als ich. Aber, wenn es dich beruhigt, bitte schön.“

Mark lockert seinen Griff um Lillys Handgelenke, seine Hände gleiten langsam in ihre und ganz sanft hält er sie fest, schaut Lilly dabei tief in die Augen und flüstert leise, aber dafür umso eindringlicher.

„Schade. Ich dachte, du vertraust mir. Da habe ich mich wohl gründlich getäuscht.“

Er lässt Lillys Hände fallen, gibt ihnen dabei einen kleinen, aber einen deutlichen Stoß von sich weg, dreht sich um, nimmt sein Sakko, das er wie immer über die Lehne des Sessels geworfen hatte, um im Hinausgehen noch zu sagen: „Die Unterlagen liegen übrigens auf dem Küchentisch. Es ist deine Entscheidung. Du bist alt genug und solltest inzwischen wissen, was du tust!“

Lilly bleibt für einige Sekunden reglos und irritiert im Raum stehen, zuckt kurz zusammen, als die Wohnungstür krachend ins Schloss fällt, geht in die Küche und, statt die Mappe mit den Unterlagen an sich zu nehmen, öffnet sie den Kühlschrank.

Vince sitzt vor ihr und schaut sie erwartungsvoll an.

„Tja, Vince, man muss nicht alles im Leben verstehen, oder?“

Vince neigt seinen Kopf ein wenig zur Seite, so als würde er gespannt auf die nächsten Worte von Lilly warten und muntert sie mit einen kurzen ‚wuff‘ auf, weiterzuerzählen. Dabei schielt er unverhohlen auf die Packung mit den Mini-Wiener-Würstchen, die Lilly für besondere Anlässe und für ihn dort drinnen aufbewahrt.

Statt zu der Packung mit den Mini-Wienern zu greifen, greift Lilly zu der Flasche Schnaps, die in der Kühlschranktür steht. Hält sie in die Höhe und schaut auf das Etikett, so als ob sie diese Flasche das erste Mal sehen würde.

„Aquavit, Vince, das ist das Wasser des Lebens, das einmal im Holzfass über den Äquator geschippert wurde, bevor er hier bei uns in dieser Flasche im Kühlschrank landete. Ziemlich dekadent, findest du nicht?“

Mit einem etwas vehementeren ‚wuff‘ und inzwischen stehend, verleiht Vince seiner Forderung nach ein paar Mini-Wienern etwas mehr Nachdruck. Lilly bemerkt seinen Einwand nicht. Sie ist damit beschäftigt, die Flasche zu öffnen. Endlich ploppt der Korken aus dem Flaschenhals, Lilly setzt an und nimmt einen kräftigen Schluck.

„Oh, ich habe den Trinkspruch vergessen! Das schickt sich nicht. Wenn man schon trinkt, dann bitte auch mit Kultur. Also, auf ein Neues und auf die Freundschaft! Zum Wohl, Vince, mein treuer Freund!“

Lilly setzt die Flasche erneut an. Vince wird deutlicher, um nicht leer auszugehen und bevor die Kühlschranktür einfach wieder geschlossen wird. Er drückt seine Schnauze ganz fest an Lillys Oberschenkel, schnauft und schaut sie mit seinen großen Kulleraugen durchdringend an.

„Huch, jetzt hätte ich dich doch fast vergessen“, kichert Lilly. Sie nimmt einen weiteren tiefen Schluck aus der Flasche und greift zur Packung Mini-Wiener.

„Hier, für dich, außer der Reihe.“

Sie reißt die Packung auf und eine ganze Kette kleiner Mini-Wiener fallen direkt vor ihre Füße.

„Nicht alles auf einmal, schön langsam essen und nicht schlingen“, ermahnt Lilly, bevor sie die Packung zurück in den Kühlschrank legt und sich auf einen Küchenstuhl fallen lässt. Die Flasche Aquavit stellt sie mit einem lauten Knall neben sich ab und blickt schweigend auf die blaue Mappe, auf der ein quietschrosa Post-it klebt, auf das Mark wohl in aller Eile, weil ziemlich unleserlich, kritzelte: ‚@ LS: bitte Termin wahrnehmen. Thx MS‘. Die Kurzfassung der vor wenigen Minuten geführten Unterhaltung.

Lilly seufzt tief. Vincent tut es ihr gleich. Legt seinen Kopf auf ihren Oberschenkel, seine Stirn in noch mehr Falten und lässt die Ohren hängen. Das ist seine Art, Mitgefühl zu zeigen. Lilly tätschelt ihn liebevoll.

„Weißt du was, Vince, was noch besser gegen Frust als Aquavit und Mini-Wiener hilft? Frische Luft! Komm, wir drehen eine Runde!“

Sie erhebt sich etwas unsicher und Vince rennt, einem alten Ritual folgend, im Galopp vor die Wohnungstür, wieder zurück in die Küche und wieder vor die Wohnungstür.

„Vince, es reicht. Es geht ja gleich los. Ich brauche nur noch mein Handy und die Schlüssel.“

Fast drei Stunden waren die beiden an diesem herrlichen Sommertag unterwegs, als sie durchgeschwitzt und erschöpft wieder zu Hause eintreffen. Lilly verschwindet im Badezimmer unter der Dusche und Vincents‘ Weg führt ihn auf direktem Weg in die Küche zu seinem Wassernapf. Kurze Zeit später finden sich beide auf dem Balkon wieder ein. Lilly sitzt mit einem kühlen Bier und der blauen Mappe in der Hand auf dem Liegestuhl und Vince liegt flach ausgestreckt auf den kühlen Balkonfliesen vor ihr.

„So, Vince, dann schauen wir uns das ganze nochmal in Ruhe und mit einigermaßen klarem Kopf an.“

Lilly schlägt die Mappe auf und findet drei Schriftstücke. Anscheinend alle von offizieller Stelle, weil auf grauem Umweltschutzpapier gedruckt.

„Na, super! Der Termin ist ja schon morgen früh um 10:00! Und hier steht, dass wir vorher da sein sollen, wegen der Einlasskontrollen. Wie lange dauert denn sowas? Wann müssen los, damit wir pünktlich sind? Ich weiß ja auch gar nicht, ob Hunde mit in den Gerichtssaal dürfen.“

Sie blättert um. Auf der nächsten Seite die rechtlichen Belehrungen zur Zwangsversteigerung und dessen Verfahrensablauf, eine Kurzübersicht des Gutachters und schließlich der Verkehrswert von Trudis und Willys Hof: EUR 1.200.000,- .

Dann sollte es mit der von Mark postulierten Mindestgrenze von EUR 1.000.000 wohl kein Problem geben. Lilly schlägt die blaue Mappe zu, reißt das quietschrosa Post-it ab und wirft beides im hohen Bogen auf den Tisch.

Ein wenig entspannter als nach ihrem Treffen und dem lauten Abgang von Mark heute Mittag, blinzelt sie in die Abendsonne. Inzwischen ist sie optimistischer Grundstimmung, dass der morgige Gerichtstermin gut verlaufen wird. Lilly fragt sich, warum sie heute Mittag alles so dramatisch empfand. Warum musste sie so überzogen reagieren? Jetzt, mit ein wenig Abstand betrachtet, geht es doch bei dem Gerichtstermin nur darum, dass sie teilnimmt und der Ausgang hat keinerlei Auswirkungen auf sie selbst. Mal abgesehen von der Symbolik des Meilensteins. Das ist aber auch schon alles. Warum nur hat sie Mark wieder ihre unbeholfene Seite zeigen müssen?

Daran muss ich noch arbeiten, ich muss meine Gefühle besser im Griff haben und unerschrocken und zuversichtlich an unangenehme Situationen herangehen, fordert sie sich selbst in Gedanken auf. Sie stellt die leere Bierflasche zu den anderen in den Kasten, als plötzlich, wie aus dem Nichts, ein kleiner Gedanke durch ihre Überlegungen huscht, der aus nur einem Wort besteht und ihr einen stechenden Schmerz in ihr Herz versetzt. Trudi.

Lilly reißt die Kühlschranktür auf und greift zur Flasche Aquavit. Bier reicht in dieser Situation nicht mehr. Dieser Schmerz verlangt nach härteren und wirkungsvolleren Bekämpfungsmethoden. Drei große Schlucke hintereinander lassen sie sich zwar kurz schütteln, aber mit dem warmen und wohligen Gefühl, das sich von ihrer Magengegend langsam in ihrem ganzen Körper ausbreitet, kehrt auch ihr Optimismus wieder zurück.

„Vince, du kannst über das Arschloch Mark sagen, was du willst, aber von gutem Schnaps versteht er was! Ich ruf ihn gleich mal an.“

Vince, der neben ihr steht, so, wie er eigentlich jedes Mal neben Lilly steht, wenn sie den Kühlschrank öffnet, dreht seinen Kopf leicht schräg zur Seite und beobachtet Lilly. Dieses Wasser des Lebens hat Zauberkräfte, denkt er. Jedes Mal, wenn Lilly aus dieser Flasche trinkt, wird sie von Schluck zu Schluck komischer. Ich bevorzuge noch eine Portion Mini-Wiener. Li-lly, lass dich nicht immer bitten!

Die Flasche mit dem Zauberwasser wandert in den Kühlschrank zurück und wird gegen eine Flasche Bier ausgetauscht. Die Kühlschranktür fällt zu und Lilly fast über Vince.

„Mensch, Vince! Steh nicht immer im Weg rum! Ach so, ja, ich verstehe.“

Die Kühlschranktür geht wieder auf und die restlichen Mini-Wiener landen auf dem Küchenboden.

„Wohl bekommt‘s, der Herr“, säuselt Lilly und verschwindet Richtung Balkon.

Sie nimmt ihr Handy und zögert. Ihr Entschluss, Mark anzurufen, scheint sich mit einem Mal wie in Luft aufzulösen. Statt ihre PIN einzugeben, legt sie das Handy wieder zurück auf den Tisch. Der kleine Gedanke und der große Stich in ihrem Herzen sind wieder da. Trudi.

Was ist nur in den letzten Wochen, nein, es sind Monate, vorgefallen? Was ist eigentlich passiert, dass unsere Freundschaft ein so jähes Ende fand? Lilly gerät ins Grübeln. Niemals vorher hatte sie gezögert, Trudi anzurufen. Ganz im Gegenteil. Der Gedanke war meistens noch gar nicht zu Ende gedacht, da wählte ihr Handy bereits Trudis Nummer. Und heute? Tränen steigen in ihre Augen, diesmal hält Lilly sie nicht zurück und lässt ihrer Traurigkeit freien Lauf.

Vincent, hoch zufrieden, weil eine doppelte Portion Mini-Wiener immer besser schmeckt, als eine einfache, mit der festen Absicht, jetzt ein Nickerchen zu machen, trottet Richtung Balkon. Als er Lillys Schluchzen vernimmt, bleibt er für einen kurzen Moment stehen. Oh, dieses Zauberwasser und seine Auswirkungen. Hatte er es doch geahnt, dass das dicke Ende erst noch kommen würde. Er hat jetzt aber so überhaupt keine Lust auf Drama, denn er will doch einfach nur seine Ruhe. Kurzentschlossen macht er kehrt, um seinem Körbchen den Vorzug vor dem Balkon zu geben, als er Lilly leise wimmernd seinen Namen sagen hört. Vince, die treue Hundeseele kann nicht anders, als sein Vorhaben zu verwerfen und zu seinem Frauchen auf den Balkon zu traben.

Vielleicht kann er sie etwas aufmuntern, vielleicht mit einem Vince-Spezial-Kuss, dann hat sie am nächsten Tag immer so eine schöne dicke Lippe. Gedacht, getan. Vince schlabbert Lilly nicht nur die Tränen von den Wangen, sondern schafft es auch, ihr einen dicken Kuss zu geben. Lilly springt auf, spuckt und wischt sich über den Mund.

„Ihh, Vince, du alter Saubär, du weißt doch ganz genau, dass ich das so was von ekelhaft finde, wie werde ich morgen wieder aussehen?“

Lilly stürzt ins Bad, um sich ihren Mund auszuwaschen und auszuspülen und Vince lässt sich auf den Balkonboden plumpsen. Na, wenigstens ist jetzt der Katzenjammer verflogen, denkt er noch, bevor er zufrieden ein-schläft.

TRUDI UND WILLY

„Willy, komm, sie sind da! Lilly und ihr Nachwuchs!“

Trudi krakeelt ihre Freude laut und unüberhörbar für die gesamte Nachbarschaft über den Hof, während Lilly damit beschäftigt ist, den immer noch friedlichen schlafenden Vincent aus dem eigenes für ihn konstruierten Hunde-Fahrrad-Anhänger zu heben.

„Er ist schwerer, als er aussieht.“ Lilly ist ein wenig außer Atem, als sie sich mit Vince auf ihren Armen zu Trudi dreht.

„Oh, ist der süß. Bitte gib ihn mir mal.“

Vince wacht langsam auf, gähnt herzhaft und ausgiebig, streckt dabei seine rosa Zunge raus, rollt sie von der Spitze bis zur Mitte wie zu einer Schnecke, zeigt seine schneeweißen Milchzähne um dann mit einem lauten Schmatz sein Maul wieder zu schließen. Er blinzelt und liegt inzwischen in Trudis Armen, die verzückt und entrückt ihr Gesicht ganz dicht an seines hält, um das weiche Hundefell an ihren Wangen zu spüren. Vince ist irritiert, er kennt weder den Geruch noch die Stimme, die ihn plötzlich umfangen. Das gefällt ihm überhaupt nicht. Er braucht die Übersicht, fängt an, sich zu drehen, zu strampeln, zu hecheln und zu bellen.

Als ihn seine Umklammerung freigibt, fällt er, begleitet von einem

Schmerzensschrei, auf weichen Sandboden. Schüttelt sich und sucht nach seinem sicheren Halt: Lilly. Aber statt Lilly sind da dicke, rote Tropfen, die den weichen, beigen Sand, der ihn eben noch so sanft auffing, direkt vor seinen Pfoten in einen dunkelroten See verwandeln.

„Trudi, du blutest! Das tut mir leid, das war bestimmt keine Absicht. Ich hätte es dir sagen sollen, dass Vince es nicht mag, wenn man ihn einengt. Tut es doll weh? Zeig mal her.“

Das ist Lilly, die da so aufgeregt spricht. Und wer ist Trudi? Vince, eben noch ganz in die Versuche versunken, den Hergang und das Geschehen um sich herum einzuordnen, verliert abermals den Boden unter seinen Pfoten. Zwei große und kräftige Hände, an ebenso beeindruckenden und muskulösen Armen, heben ihn in eine schwindelerregende Höhe. Der Zenit ist erreicht, Vince blickt in die blaubeerblauen Augen von Willy.

„So, mein lieber Fellfreund, dessen Namen ich noch nicht einmal kenne. Du bist so frank und frei und dringst in meinen Hof ein und verletzt meine Frau? Dein Eindringen sei dir verziehen, die Verletzung meines Weibes ebenso. Es ist nicht dein Verschulden, sondern das der Weiberleut! Ich, Willy der Wesentliche, heiße dich herzlich willkommen. Lass uns essen, trinken, singen und tanzen, um deine Ankunft in unserer Mitte gebührend zu feiern.“

„Willy, lass ihn sofort runter und gib ihn mir!“

Ah, Erleichterung breitet sich in Vince aus. Lilly! Endlich liegt er nun wieder sicher in ihren Armen.

„Was ist eigentlich passiert?“

Willy interessiert sich jetzt für die Einzelheiten, als er sich die lädierte Nase seiner Frau ansieht.

„Das kann ich gar nicht sagen, es ging alles so schnell. Es sieht so aus, als ob Vince bei seinem Befreiungsversuch mit einem seiner Fangzähne an Trudis Nase hängengeblieben ist.“

Willy kann sich ein Lachen nicht verkneifen.

„Mensch, Mädels, wenn man euch mal alleine lässt, dann geht es gleich ans Eingemachte. Trudi, mach dir nichts draus, einen schönen Menschen kann nichts entstellen, auch keine aufgeschlitzte Nase. Das wächst von ganz alleine wieder zusammen, keine Sorge. Außerdem bist du, zumindest für kurze Zeit, in prominenter Gesellschaft. Ich sag nur ein Wort. Chinatown. So, und nachdem wir auch das geklärt haben, dürfte der Grill seine Betriebstemperatur erreicht haben. Los geht’s! Ab zur Grill-Lounge, bevor die Sonne für heute hinter dem Horizont versinkt.“

Willy ist in seinem Element. Ein weiteres von ungezählten Bieren rinnt durch seine Kehle.

„Euer Wohlfühlen ist meine Mission. Deshalb bitte unbedingt beachten: Tofu-Tonis und Veggie-Veras ganz links. Der Rest des Grills ist für die Fleisch-Fetischisten! Ich wünsche uns allen, die sich hier und heute versammelt haben, um gemeinsam das friedliche Miteinander von Fleisch, Gemüse und Gerstensaft zu zelebrieren, einen guten Appetit. Lasst uns die Gläser erheben und unser neues Familienmitglied, Vince, den Freiheitsliebenden, in unserer Mitte herzlich willkommen heißen!“

Willy setzt die Flasche an, leert sie fast in einem Zug und sieht zu Trudi und Lilly hinüber, die Willys Begeisterung nur bedingt teilen und lediglich aus Höflichkeit kurz an ihren Bierflaschen nippen.

„Was ist los mit euch? Habt ihr keinen Durst oder keine Lust zu feiern?

Trudi und Lilly geben sich einen Ruck und prosten Willy zu.

„Wie geht es deiner Nase?“ Lilly ist ein wenig beunruhigt, über den Flurschaden, den Vince in Trudis Gesicht angerichtet hat.

„Passt. Ich kann ihm nicht böse sein, schau ihn dir doch nur mal an!“

Vince liegt ausgestreckt auf Trudis Füßen und schläft tief und fest. Trudi sinniert vor sich hin.

„So fühlt sich Glück an, wenn man doch diesen Moment einfach und für immer festhalten könnte.“

„Nein, mein holdes Weib, das kannst du nicht. Wie sagte schon Heinrich Heine?

‚Das Glück ist eine leichte Dirne, und weilt nicht gern am selben Ort;

Sie streicht das Haar dir …“

„Willy, es reicht! Ich habe für heute von deinen gesammelten Weisheiten und Gedichten genug. Ich bin mehr als bedient!“ Trudi unterbricht den literarischen Ausflug ihres Gattens gnadenlos.

„Wenn ich schon mein Gedicht nicht bis zu Ende aufsagen darf, dann möchte ich wenigstens meine Gedanken zum Thema Glück mit euch teilen“, Willy wartet nicht auf eine Antwort und er lässt sich auch grundsätzlich nicht den Mund verbieten. „Weder Glück noch Unglück, weder die schönen, noch die schlechten Momente dauern ewig. Alles ist im Wandel. Diese Tatsache ist doch ungeheuer beruhigend, oder etwa nicht?“

Trudi nickt und wendet sich zu Lilly.

„Lilly, weißt du, dass der große Meister des geflügelten Wortes und ausdruckstarken Bildes heute mal eben so ganz lässig einen Auftrag, einen richtig großen Auftrag, aufgrund von Gewissenskonflikten abgelehnt hat?“

„Nein, wusste ich bis eben nicht. Woher auch…soll das heißen, dass der potentielle Auftraggeber Willy zu viel Geld geboten hat?“

„Genau das heißt es.“

„Er hätte doch für umsonst arbeiten können, wenn es ihm dann leichter fällt, morgens in den Spiegel zu schauen. Oder er hätte das Honorar auch ganz einfach mir geben können. So als kleine Anerkennung meiner Schaffenskraft.“

„Meine Damen, darf ich Sie darauf aufmerksam machen, dass man von jemanden, der anwesend ist, nicht in der dritten Person spricht? Und Lilly, dir sei gesagt, dass deine Schaffenskraft niemals durch den schnöden Mammon Anerkennung findet! Allein die Tatsache, dass du Dinge in die Welt bringst, die es vorher nicht gab, ist Anerkennung genug. Das ist das, was wirklich zählt.“

„Willy, bei aller Liebe, aber ich glaube, dass mein Vermieter und die Kassiererin im Supermarkt lieber das langweilige Geld als kluge Sprüche annehmen. Mit Idealismus komme ich nicht weit, wenn meine EC-Karte nicht funktioniert, weil einfach keine Kohle mehr auf dem Konto und der Dispo bis zum Anschlag ausgereizt ist.“

„Lilly, steht es finanziell so schlecht um dich?“, Trudi legt ihre Hand auf die von Lilly. „Wieviel brauchst du? Ich helfe dir aus, überhaupt kein Thema. Du kannst mit Vince auch gerne hier bei uns auf dem Hof eine Zeitlang leben, wenn es dir hilft. Bitte, sag es mir ganz offen, es ist keine Schande, Menschen um Hilfe zu bitten, wenn man nicht mehr weiter weiß.“

„Ich danke dir für dein Angebot. Und ja, es sieht im Moment nicht ganz so rosig aus, aber deswegen bin ich heute nicht hier. Ich wollte, dass ihr, als meine besten Freunde, Vince kennenlernt. Und ich wollte, dass wir mal wieder über die alten Zeiten plaudern und es uns gemeinsam gut gehen lassen. Das ist schon alles. Aber sag mal, was war das denn für ein Auftrag, den Willy abgelehnt hat? Welche finsteren Mächte wollten seine Ideen käuflich erwerben?“ Lilly dachte, sie hätte ihre Frage leise gestellt, so leise, dass Willy, der inzwischen ein wenig entfernt am Grill steht und sich um Glut, Fleisch und Gemüse kümmert, sie nicht hören kann. Aber Willy hat sehr gute Ohren und postwendend erhält Lilly die gewünschte Antwort.

„Das war keine finstere Macht. Das waren nur die Jungs von der Schnösel-Partei, die ich vor die Tür gesetzt habe.“

„Warum denn?“ will Lilly wissen.

„Weil es Idioten sind, die denken, dass der Rest der Welt aus Idioten besteht und man mit Geld Idioten kaufen kann, die dann die Ideen der Idioten an die Idioten, die noch nicht so ganz begriffen haben, wie der Hase läuft, diese Ideen an die zuletzt genannten Idioten verkaufen kann, um damit eine Wahl zu gewinnen. Ganz einfach. Und da ich noch nicht mal zu einem Idioten tauge, habe ich den Verkauf meiner Seele an die Schnösel abgelehnt.“

Willy stellt einen großen Teller mit Kreationen von Tofu, Gemüse und Fleisch auf den Tisch und lässt sich schnaufend in einen Sessel fallen.

„Greift zu und lasst es euch schmecken. Ein Hoch auf die alten Zeiten! Und ein doppeltes Hoch auf das, was kommen wird, auf welche Abenteuerreise uns unser Fellfreund – wie war nochmal gleich sein Name? - mitnehmen wird. Was auch immer kommen mag, egal, was passiert, wir stehen füreinander ein! Und ich wiederhole mich heute, wie gestern und vorgestern und wie schon mein ganzes Leben lang: Genießt den gegenwärtigen Moment!“

Lilly greift zu. Nimmt sich ein Nackensteak, von wegen Veggie-Vera! Dazu gibt es die Willy-Spezial-Sauce mittelscharf und frisches Roggenbrot, wobei die Scheibe Brot wahrscheinlich dem fünffachen der Dicke einer handelsüblichen Brotscheibe entspricht. ‚Offiziers-Stullen‘ nennt Willy seine Brotscheiben, weil auf denen eine ordentliche Portion Butter und viele Scheiben Wurst Platz haben.

Lillys Gedanken beginnen sich nach dem ersten Bissen in das wunderbar zarte und saftige Nackensteak zu verselbständigen. Sie blickt in die Feuerschale, die in der Mitte der Lounge steht. Willys Sessel steht genau gegenüber, so dass er alles im Blick hat und jeder an ihm vorbei gehen muss, der zum Grill oder zur Toilette möchte.

Es ist ein alter Ohrensessel, mit einem inzwischen, oder wahrscheinlich schon immer, verschlissenen rotbrauen Bezug. Passend dazu ein kleiner Schemel, auf dem man, in diesem Fall: Willy, seine müden Füße ruhen lassen kann. Und so sitzt Willy vor ihr. Nur die Feuerschale trennt sie. Willy, ein großer und sehr kräftiger Mensch mit dem Ansatz eines Bierbauchs und seit Lilly ihn kennt, immer im gleichen Outfit unterwegs. Jeans, kariertes Hemd, hier bevorzugt Willy grelle Farbkombinationen wie Orange und Grün oder Lila und Pink oder Gelb und Schwarz oder auch alle Farben zusammen. An seinen Füßen befinden sich, je nach Jahreszeit, gar keine Schuhe oder ausgelatschte Turnschuhe. Die meiste Zeit des Jahres ist er barfuß unterwegs, um in jeder Lebenssituation möglichst fest geerdet zu sein. Heute trägt er barfuß.

Der Feuerschein wirft ein warmes und flackerndes Licht auf die Grill-runde. Der bei Tageslicht so abgelebt und verblichen erscheinende rotbraune Bezug erwacht zu neuem Leben. Er leuchtet und lässt damit die Gesamterscheinung von Willy, so, wie er vor ihr sitzt, mit den gefalteten Händen auf seinem Bauch, die einer Bierflasche sicheren Halt vor dem Auslaufen geben, in einem vollkommenen neuen Licht erscheinen. Mit den lässig ausgestreckten Beinen auf dem Schemel, verwandeln sich Willy und der Ohrensessel in ein fast sakral anmutendes Bild.

Lilly driftet in ihren Gedanken weiter und tiefer in die Vergangenheit ab. Da sitzt er nun auf seinem Thron, auf den wir ihn als Studenten, gerade in unseren Anfangszeiten, immer wieder gerne gehoben haben. Willy, der Ausnahmedozent mit dem Ausnahmefach der Plakativen Kunst. Wie Bild und Sprache eines werden. Wenn man es denn richtig macht. Und Willy erklärte anhand seiner Theorie, die in keinem Lehrbuch stand, wie genau das funktioniert. Er war lustig und immer für eine kontroverse Diskussion zu haben. Groß und kräftig gebaut. Mit schwarzen, lockigen und wilden Haaren. Karo-Hemd und Jeans. Diesen Mann werde ich heiraten. Das waren Trudis Worte, als sie Willy zum ersten Mal sah. Er hatte noch kein Wort gesprochen, sondern betrat gerade den Seminarraum. Damals wollte Lilly die Worte von Trudi nicht gelten lassen, sondern nahm den Federhandschuh auf. Fast wäre ihre Freundschaft im Kampf um Willy zerbrochen. Heute Abend ist Lilly froh darüber, dass Trudi es war, die Willy einfangen konnte.

Denn von dem einstmals ‚heiligem Willy‘, der da vor ihr auf seinem Thron sitzt, sind nur noch die wilden Wortgefechte übrig geblieben, die ansatzweise an sein Charisma von damals erinnern.

Lilly schüttelt sich kurz, um die Gespenster der Vergangenheit loszuwerden.

„Ich muss jetzt mal los. Danke für das tolle Essen und für alles andere drumherum, es war, wie immer fantastisch. Vince, auf geht’s!“

Vince, der inzwischen von Trudis Füßen zu Willy umgezogen ist, macht keinerlei Anstalten zu gehorchen.

„Bleibt doch heute hier, das Gästehaus ist frei und ihr könnt dann morgen nach dem Frühstück aufbrechen, das wäre doch was!“ Trudi ist in ihrem Harmonisierungsmodus.

„Sehe ich auch so und ich denke, das machen wir auch genauso. Lilly, irgendwelche Einwände?“

Lilly sieht, dass drei von vier Anwesenden gegen ihren Vorschlag sind und gibt nach.

„Ich beuge mich der Mehrheit. Sehr lieb von euch. Dankeschön.“

„Darauf mixe ich uns einen Willy-Spezial! Ladies, bitte ein wenig Geduld, ich bin gleich wieder da!“ Willy verschwindet in der Dunkelheit und

Vincent mit ihm.

„Trudi, wie geht es dir, mal ganz abgesehen von deiner Nase?“ Lilly fühlt sich ein wenig schuldig, für das, was Vince bei Trudi im Gesicht anrichtete und weil sie das Gefühl beschleicht, dass sich in den letzten Stunden mal wieder alles um Willy drehte und Trudi nur eine Randfigur war.

„Es muss ja immer irgendwie gehen. Viel zu planen gibt es mit einem Chaoten, wie Willy einer ist, nicht. Ich habe mich inzwischen daran gewöhnt, dass es mit ihm nur eine einzige Konstante gibt und zwar die, dass immer etwas kommt, womit du nicht rechnest.“

„Und ich dachte, dass es gerade das Unberechenbare an ihm ist, dass du liebst?“

„Ja und nein. Mit Willy wollte ich zusammenleben, weil er so ein einzigartiger Mensch ist, Dinge komplett anders betrachten kann, auch wenn die Lage scheinbar aussichtslos ist. Dafür liebe ich ihn. Und verzeihe ihm so manch peinlichen Auftritt.“

„Wie den mit der Schnösel-Partei?“

„Nein. Diesen Auftritt verzeihe ich ihm nicht. Es ist ja nicht so, dass wir auf einem Vermögen sitzen, das niemals enden wird. Willy nimmt diesen momentanen Reichtum als seine Narrenfreiheit und stößt potentielle Geschäftspartner einfach mal so vor den Kopf, weil er denkt, dass er nun endlich in der Position ist, dies tun zu können. Dabei steht, meiner Meinung nach, dieses Verhalten niemandem zu und hat erst recht nichts mit einem Kontostand zu tun. Außerdem widerspricht es ja auch gänzlich seiner eigenen Gesinnung. Weißt du noch, wie er uns immer gepredigt hat, dass Talent ja ganz schön ist, es aber nur in der Verbindung mit Fleiß und einem unbeugsamen Willen, sich mit jedem Mal zu verbessern, zum Erfolg führt? Ist das eine Verbesserung, jemanden einfach die Tür vor der Nase zuzuschlagen?“

Lilly muss lachen.

„Ja, du lachst. Du bekommst es ja nicht mit, was es bedeutet, wenn du jeden Tag erleben musst, wie sich jemand in das Gegenteil von dem verwandelt, wofür er früher einmal stand, wofür ich ihn geliebt habe. Der sich in jemanden verwandelt, der, ohne mit der Wimper zu zucken, seine Ideale einfach so über Bord schmeißt.“

„Geliebt sagst du? Liebst du ihn nicht mehr, weil er sich auch dir gegenüber zu einem Kotzbrocken entwickelt?“

„Du zwingst mich zu einer Antwort, die mir mein Inneres oft stellt und ich mich bisher der Antwort verweigert habe. Du willst sie hören, hier ist sie: Ja.“

Trudi merkt, dass ihre Worte Lilly in einen regelrechten Schockzustand versetzen und sie versucht das eben Gesagte abzuschwächen.

„Lass es mich so sagen: Ich hätte dir niemals geglaubt, wenn du mir prophezeit hättest, dass sich Willy durch eine Erbschaft zu einem Arschloch entwickelt und zwar genau zu dem Arschloch, das er fünfzig Jahre seines Lebens inbrünstig ablehnte. Frage: Was würdest du an meiner Stelle tun?“ Es ist eine rhetorische Frage, denn Trudi wartet nicht auf eine Antwort, sondern redet weiter.

„Als ich ihm vorschlug, dass wir das Darlehen bei der Bank ablösen sollten, damit uns Haus und Hof wirklich gehören, lachte er mich aus und erklärte mir, dass ich das kapitalistische Wirtschaftssystem offensichtlich immer noch nicht verstanden hätte. Das ist sicherlich richtig, aber es würde mir ein Stück Sicherheit vermitteln, wenn ich wüsste, dass uns das alles hier auch wirklich gehört, wir frei wären. Und ich möchte auch gar nicht mehr woanders hin. Stell dir doch nur mal vor: Willy und ich in einer Zwei-Zimmer-Wohnung in der Stadt. Das würde nicht lange gut gehen. Einer von uns beiden würde eher früher als später durchdrehen. Und jetzt sag du mir mal bitte, was so falsch an meiner Überlegung ist, dass wir uns von der Bank freikaufen?“

„Da fehlen mir leider profunde wirtschaftliche Kenntnisse, warum das falsch sein sollte. Mein gesunder Menschenverstand sagt mir, dass es immer vorteilhafter für einen selbst ist, nicht von Dritten abhängig zu sein. Ich bin aber nicht die Norm und es ist auch nur mein Bauchgefühl. Warum sträubt sich Willy denn so dagegen, das Darlehen abzulösen?“

„Er ist davon überzeugt, dass wir den Kredit damals zu sehr guten Konditionen bekommen haben, was auch stimmt. Und wir, falls irgendetwas schief gehen würde, was auch immer das sein könnte, niemals wieder solch gute Konditionen bekommen werden. Und dass der Banker, der uns das Darlehen bewilligte, wahrscheinlich schlechter schläft als wir. Willy nimmt also die Kohle und haut sie raus. Er zockt mal wieder an der Börse, so wie damals, in seiner guten alten Zeit. Ich verstehe überhaupt nicht, was damals so gut gewesen sein soll. Er hat ein kleines Vermögen verloren. Erinnerst du dich noch an seine Philosophie des richtigen Zeitpunkts, von der er bis heute erzählt, als ob es sich um eine ultimative Wahrheit handelt?“

Statt eine Antwort zu geben, muss Lilly kurz und heftig lachen, so dass sie sich an ihrem Bier verschluckt. Nur zu gut erinnert sie sich an die fast endlosen Monologe von Willy rund um das Thema Zeit.

„Ja, genau“, fährt Trudi unbeirrt fort und redet sich langsam in Rage, gerade so, als ob alles, was damals, das weit vor ihrer und Lillys Zeit geschah, heute auf den Tisch kommen muss, um es vielleicht ungeschehen machen zu können. „Dein Lachen trifft es auf den Punkt. Möchtegern und begnadeter Wortjongleur geht aufs Börsenparkett. Nein, natürlich nicht einfach auf das Börsenparkett. Da fehlen uns doch das Drama und der Nervenkitzel. Wir brauchen ja die Achterbahnfahrt und alles andere sind Idioten, die jetzt aussteigen. Das Gebot der Stunde lautet: Antizyklisch investieren.

Ich denke, da hat Willy etwas Grundsätzliches nicht verstanden. Denn wenn schon die Ratten das sinkende Schiff verlassen, dann sollte doch auch für den Hintervorletzten klar sein, dass das Spiel aus ist. Für Willy aber ist es ein Weckruf, dass genau jetzt der ideale Zeitpunkt gekommen ist, um mit dem maroden Kahn in See zu stechen. Fazit von damals: Das Geld war einfach weg. Und? Zu welchen Schlussfolgerungen kommt mein Willy? Dass die Zeit noch nicht reif war und er jetzt die Chance bekommt, es besser zu machen. Oder ganz einfach ausgedrückt: Willy ist getrieben und besessen von der Idee, aus viel Geld noch mehr Geld zu machen. Wo ist hier die Lernkurve? Die Einsicht? Wo soll die Reise denn eigentlich hingehen? Unsere gemeinsame Reise?“

Trudi klingt inzwischen verzweifelt. Lilly versucht sie aufzumuntern.

„Dazu fällt mir ein Spruch meiner Oma ein: ‚Leicht verdientes Geld gibt man schnell aus.‘ Und irgendwie scheint dieser Spruch genau auf Willy zu passen. Sein ganzes Gequatsche über Revolution und dass man das System nur von innen heraus ändern kann, ist inzwischen so bescheuert und veraltet, wie er selbst. Steine schmeißen auf Polizisten für eine bessere Welt ist in Ordnung. Aber gleichzeitig jede Form von Gewalt abzulehnen, wie geht das zusammen? Sorry, aber ich denke, er misst mit zweierlei Maß und die Idealisierung seiner Vergangenheit wird nicht in eine bessere Zukunft führen. Willy wird das Geld an der Börse abermals verbrennen und du wirst ihm dabei zusehen, weil du ihn liebst, oder das an ihm liebst, was du sehen willst. Trudi, es tut mir so leid, dass alles zu hören und dich so leiden zu sehen!“ Und Lilly schließt Trudi ganz fest in ihre Arme. „Komm doch mal Vince und mich besuchen, dann können wir ganz in Ruhe reden, was meinst du?“

Statt einer Antwort wischt sich Trudi ihre Tränen von den Wangen und versucht zu lächeln.

Inzwischen nähern sich Willy, der ein Tablett mit großen Gläsern vor seinem Bauch balanciert, die mit Partyschirmchen und Strohhalmen, Zitronen- und Orangenscheiben und funkelnden und sprühenden Wunderkerzen geschmückt sind und Vincent, der aufgeregt und bellend um ihn herumspringt.

„So, da sind wir wieder. Ihr habt euch doch während unserer Abwesenheit nicht gelangweilt?“

Willy verteilt die Gläser, in denen sich eine blau-grüne Flüssigkeit befindet und hebt zu seinem Trinkspruch an.

„Auf die Freundschaft, meine Lieben!“

Lilly kann sich eine Frage an ihren guten alten Freund, Wegbegleiter, Lehrer, Vorbild und was es sonst noch alles an positiven Eigenschaften gibt, die man einem Menschen zusprechen kann, nicht verkneifen.

„Sag mal, Willy, woran arbeitest du eigentlich gerade, mal abgesehen davon, irgendwelche Leute, die du für Idioten hältst, zu vergraulen?“

„Sehr gute Frage. Und ganz einfach zu beantworten: Ich arbeite gar nicht mehr, ich konzentriere mich ausschließlich auf das Wirken.“

Lilly schaut Trudi fragend an, diese zuckt aber nur mit den Schultern und nimmt noch einen Schluck vom ‚Willy-Spezial‘.

„Verstehe ich nicht. Was meinst du damit?“

„Lilly“, Willy spricht jetzt wieder wie er als Dozent zu den Erst-Semestern sprach. Väterlich und sehr gütig. „Lilly, das kannst du auch gar nicht verstehen. Das ist ein Reife-, ein Entwicklungsprozess. Erst wenn du als Mensch auf diesem Planeten so einige Auf und Abs erlebt hast, wirst du es verstehen. Denn beim Wirken geht es nicht darum, seine eigenen materiellen Dinge zu vermehren, sondern es geht darum, diese mit der gesamten Welt zu teilen.“

„Also eine Art von Entwicklungshilfe, oder wie kann ich das verstehen?“ Trudi hat sich inzwischen aus der Gesprächsrunde entfernt und spielt mit Vince auf der Wiese.

„Nein. Ganz und gar nicht. Ich verschmelze die reale Welt mit der digitalen Welt, um es mal ganz einfach auszudrücken. Mal verliere ich dabei und mal gewinne ich. Und unter uns, Trudi darf das bitte nicht hören: Ich bin auf der Gewinnerstraße unterwegs. Ich werde noch ein paar Kröten nachschießen, dann steige ich aus und löse dieses bekloppte Darlehen bei der Bank ab, damit Trudi ihre Sicherheit hat und, das Beste wird sein: Durch das parallel generierte passive Einkommen brauchen wir nicht mehr zu arbeiten, also unsere Arbeitskraft an andere verkaufen, verstehst du?“

Lilly schüttelt den Kopf, als sie Willy ziemlich nachdenklich antwortet.

„Das hört sich sehr wild für mich an. So, als würdest du Haus und Hof und deine Seele auf eine Zahl beim Roulette setzen. In der Hoffnung, dass diese Zahl auch kommt. Das wäre nichts für mich. Denn ich hätte immer die Frage im Hinterkopf: Was, wenn es nicht klappt?“

Diesmal schüttelt Willy den Kopf.

„Für dich und Trudi muss es immer irgendwelche Sicherheiten geben. Das Leben ist aber nicht sicher und nur wer wagt, gewinnt. Ach, vergiss es einfach, was ich dir gerade erzählt habe und bitte bewahre Stillschweigen darüber, denn ich will Trudi überraschen.“

„Wann?“

„Was für eine unnütze Frage. Dann, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Willst du ein genaues Datum mit Uhrzeit? Das kann dir niemand sagen. Man muss immer die Möglichkeiten in allen Situationen erkennen, dann spürt man, wann die Zeit da ist. Hoch die Tassen und auf die Freundschaft!“

Willy und Lilly prosten sich zu.

„Und, Lilly, was machst du eigentlich so? Hast du immer noch deine Mal-und Kreativ-Kurse?“

„Ja, die habe ich noch. Die halten mich über Wasser und ich kann Vince mitnehmen, das ist im Moment die Hauptsache. Dann habe ich mit Moni neulich bei einem Spaziergang eine alte Lagerhalle auf einem wunderschönen und verwilderten Grundstück entdeckt. Die wäre super geeignet für unsere Vision der offenen Ateliers. Nächste Woche habe ich einen ersten Termin bei der Stadt, um mal abzuklopfen, was die mit dem Grundstück vorhaben und wer weiß, vielleicht ergeben sich da ja ganz neue Möglichkeiten. Das genaue Datum und die Uhrzeit kann ich dir aber noch nicht sagen. Hoch die Tassen und auf die Freundschaft!“

Willy lacht laut, trinkt, stellt sein Glas ab, wendet sich Lilly zu und flüstert ganz leise in ihr Ohr:

„Ich bin sehr stolz auf dich, Lilly Schönhuber. Das sage ich als dein ehemaliger Dozent und dein für alle Zeiten guter Freund. Du schaffst das, was du dir vornimmst, das wird eine tolle Sache werden. Wenn ich etwas tun kann, sag Bescheid.“

DIE BEGEGNUNG

„Wer ist das da bei Vince? Lilly, kennst du den Typen?“ Vince ist übergangsweise ausquartiert. Er sitzt draußen vor der alten Lagerhalle auf seiner Lieblingsdecke, angeleint an einem rostigen Fahrradständer und gut sichtbar im Blickfeld von Moni und Lilly. Für den Fall der Fälle, der jetzt wohl eingetreten zu sein scheint.

„Nein, den kenne ich nicht. Ich geh mal raus.“ Lilly lässt den Besen fallen, mit dem sie seit Stunden den Boden der alten Lagerhalle fegt. Und schon steht sie neben dem großen Unbekannten, der sich offensichtlich bestens mit Vince zu verstehen scheint.

„Hallo!“ ruft Lilly, „Was machen Sie da? Das ist mein Hund!“

Der große Unbekannte, der gar nicht so groß ist, dreht sich lächelnd um.

„Ich konnte nicht anders, entschuldigen Sie bitte, ich hatte als Kind auch mal so einen Hund, fast genauso einen und da musste ich einfach zu ihm hin.“

„Aha. Und was machen Sie hier auf dem Gelände? Das ist Privatgrund.“

„Tatsächlich? Das wusste ich nicht. Ich dachte, dass das hier städtisches Gelände ist und diese alte Lagerhalle mal irgendwann abgerissen wird, um Wohnhäuser zu bauen.“

„Ja, fast ist das auch so. Aber wir konnten die Stadt überzeugen, dass wir die Halle noch ein wenig für uns nutzen können, bevor sie abgerissen wird. Ist natürlich alles offiziell und genehmigt, alles genau geprüft, von wegen Einsturzgefahr und sonstigen Sicherheitsfragen. Damit niemand irgendjemand in die Haftung nehmen kann, falls mal ein Unfall passieren sollte.“

„Das macht Sinn. Was haben Sie denn mit dem alten Gemäuer vor?“

„Wir bereiten gerade die Eröffnung unserer offenen Ateliers vor. Das hier wird mal eine Begegnungsstätte werden, wo sich Künstler einer breiten Öffentlichkeit präsentieren können. Also, jeder, der Interesse hat, kann vorbeischauen, den Künstlern bei der Arbeit zusehen, einen Kaffee trinken, sich unterhalten und im besten Falle auch ein Kunstwerk erwerben.“ Die Worte sprudeln in atemberaubender Geschwindigkeit aus Lillys Mund.

„Hört sich interessant an. Wie viele Künstler werden dann hier sein?“

„Wir sind zu viert. Das reicht für den Anfang, wir müssen ja auch erstmal sehen, ob das Konzept angenommen wird. Dann können wir immer noch aufstocken.“

Der Unbekannte hört Lilly mit großem Interesse zu.

„Und welche Art von Kunst wird dann hier gemacht?“

„Wir konzentrieren uns im ersten Schritt nur auf die Malerei. Später wird sicherlich noch die Bildhauerei oder Töpferei dazukommen, wir werden sehen. Jetzt hat erstmal unsere Eröffnungsfeier Vorrang, denn wir wollen ja, dass möglichst viele Leute kommen und es ein Erfolg wird.“

„Hi, ich bin Moni.“

Moni. Ihre Neugier ist einfach zu groß und die Frage, mit wem sich Lilly so angeregt unterhält, drängt nachdrücklich auf eine Antwort.

„Freut mich, Sie kennenzulernen. Ich bin übrigens Mark, Mark Seeberger. Sie gehören auch zum Künstler-Gründungs-Team?“

„Nein, ich bin so was dazwischen. Verstehe was von Kunst und Öffentlichkeitsarbeit. Also versuche ich die Kollegen aller möglichen Pressestellen, Zeitungen, Online-Medien auf uns aufmerksam zu machen. Kostet ziemlich viel Zeit und Nerven.“

„Oh ja, das kenne ich nur zu gut.“, Mark schaut auf seine Uhr. „Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie hier jetzt einfach so stehen lasse, aber ich muss weiter. Gebe gleich ein Interview. Robert Johnes, der bekannte Wirtschaftsjournalist aus den USA, will etwas über unser Geschäftsmodell erfahren.“

Mark greift in die Brusttasche seines Sakkos und holt zwei Visitenkarten hervor.

„Hier für Sie beide, damit Sie wissen, wohin Sie noch ein paar Einladungen zur Eröffnung schicken können. Ich darf mich jetzt empfehlen und wünsche Ihnen noch gutes Vorankommen.“

Mark reicht, streng nach der Reihenfolge des Erscheinens, erst Lilly dann

Moni die Hand. Vince krault er zum Abschied hinter den Ohren.

„Ich hoffe, wir sehen uns spätestens zur Eröffnung wieder, alter Freund.“, und zu Lilly gewandt „Wie heißt er eigentlich?“

„Vince. Also mit vollem Namen Vincent. Aber alle nennen ihn nur Vince.“

„So, so, du bist also der Siegreiche. Ich denke, wir beide passen gut zusammen. Also, auf bald, meine Damen, Vince, ich freue mich auf unser Wiedersehen.“

Mark schlendert vom Gelände, ohne sich noch einmal umzusehen, während Lilly und Moni auf die Visitenkarten in ihren Händen blicken. Mark

A. Seeberger, CEO, SCI AG.

„Hast du schon mal etwas von einer SCI AG gehört?“

Lilly nickt.

„Ja, klar, du etwa nicht? Und du kennst auch Mark A. Seeberger nicht, der ständig durch die Presse mit seinen innovativen Konzepten zur Rettung der Welt geistert? Noch nie von ihm gehört? Also Moni, ich muss sagen, ich bin enttäuscht von dir und deiner ganz erheblichen Wissenslücke.“ Moni schaut Lilly fragend an.

„Woher weißt du das alles?“

„Das habe ich mir gerade ausgedacht, weil du so auf mich gewirkt hast, als ob du eine tolle Geschichte hinter dieser merkwürdigen Begegnung von eben brauchst. So eine Geschichte, die dir die Welt erklärt, wie sie wirklich ist.“

„Mensch Lilly! Du bist so eine blöde Kuh und ich habe es dir das auch noch abgenommen. Jetzt will ich es aber wirklich wissen, wer dieser Mark eigentlich ist.“

Moni nimmt ihr Handy und sucht Mark A. Seeberger im Netz. Die Ergebnisse der Suchanfrage fallen mau und übersichtlich aus. Gerade mal drei Einträge. Davon fallen zwei schon raus: Der eine Mark Seeberger hat irgendwo in der Provinz eine Auszeichnung für fünfzig Jahre Vereinszugehörigkeit und Engagement im örtlichen Fußballverein erhalten. Der andere lässt die Welt wissen, dass er der Bestatter mit Empathie und Einfühlungsvermögen ist und grenzüberschreitend seine Dienste zur Verfügung stellt. Dann ein Firmeneintrag, der auch nicht viel aussagekräftiger als die Visitenkarte des Besuchers ist.

„So, hier ist die Homepage. Nun gut, die Fotos sind schon mal richtig schlecht. Allerwelts-Motive, scheinbar vor einem lausig gereinigten Aquarium aufgenommen, so merkwürdig blau-grün-stichig, wie die eingefärbt sind. SCI bedeutet ausgeschrieben: Seeberger Consulting and Innovation AG. Aha, das sagt alles und auch so rein gar nichts. Referenzen gibt es nur auf Anfrage und wir können uns vertrauensvoll an die SCI AG wenden, wenn wir an innovativen Konzepten rund um unseren Business Case interessiert sind. Lilly, Vince hat uns da heute aber so was von einem dicken Fisch an Land gezogen! Das muss gefeiert werden! Lass uns alles stehen und liegen lassen und zu Joe fahren und ein paar Tequilas und Biere auf dieses denkwürdige Ereignis trinken!“

Während Lilly und Moni ihre Sachen in der Halle schnell zusammenräumen, schmückt Moni die möglichen Auswirkungen dieser Begegnung, die ja wohl kein Zufall gewesen sein kann, in leuchtenden Farben aus.

Sie redet von Mark als potentiellen Sponsoren, weil ja alle Unternehmer immer Probleme mit der hohen Steuerlast hier in Deutschland haben. Durch eine großzügige Spende an ihren Verein, der natürlich erst noch einmal zu gründen wäre, könnte er seine Steuerlast senken und durch sein gesellschaftliches Engagement innerhalb und für die Region, sich ein tolles Image aufbauen. Es ist wieder Zeit, dass die Wirtschaft und die erfolgreichen Unternehmer ihre Rolle als Kunstmäzen einnehmen.

Und so jemand wie Mark hat ja auch Kontakte zur Presse. Regional und überregional versteht sich. Und sogar nach Übersee, wie er selbst gerade berichtete.

„Wir könnten eine Vernissage exklusiv für Mark Seeberger, seine besten Geschäftspartner und Pressevertreter organisieren. Dann wird unsere Initiative bundesweit bekannt und es fließen noch mehr Spenden- und Sponsorengelder und wir können dann auch noch Mal-Therapie-Kurse anbieten. Für die Flüchtlinge, die so ihre erlebten Traumata verarbeiten können.

Diese Kurse werden natürlich von Psychologen und Therapeuten begleitet, wir verfolgen mit den offenen Ateliers also einen ganzheitlichen Ansatz, jetzt mal perspektivisch gesprochen.“

„Ich wusste gar nicht, dass du mit dem Gedanken spielst, ein Trauma-Zentrum aufzubauen. Hat das irgendetwas mit deinem gescheiterten Studium zu tun? Willst du beweisen, dass dir die Praxis mehr liegt, als die Theorie?“

Lilly kann sich die etwas sarkastische Bemerkung nicht verkneifen.

„Das war jetzt echt fies von dir. Das hätte es wirklich nicht gebraucht. Ich spiele nur mit den Möglichkeiten, die sich uns gerade bieten. Wir sollten in alle Richtungen denken und uns anfangs keine Grenzen setzen. Die Gedanken sind frei, wie du weißt. Oder wissen solltest.“

„Woher nimmst du die Gewissheit, dass dieser Anzugträger mit den edlen Lederschuhen ein erfolgreicher Geschäftsmann ist, der auch noch Interesse daran hat, Kunstprojekte zu fördern?“

„Hallo! Das spüre ich! Sein Äußeres spiegelt sein inneres Energiefeld wider: kraftvoll und zielstrebig. Hast du das nicht gemerkt?“

„Nein. Ich habe mich die ganze Zeit gewundert, warum sich so einer wie er an einem Samstag auf ein abgelegenes altes Fabrikgelände verirrt. Was wollte er hier? Wie ist er hergekommen? Hast du ein Auto, ein Fahrrad oder sonst etwas gesehen?“

„Nein. Vielleicht hat er einfach nur einen Spaziergang gemacht. Was mich viel mehr interessiert: Wofür mag das ‚A.‘ hinter seinem Vornamen stehen?“

„Das ‚A.‘ ist die Abkürzung seines zweiten Vornamens. Also steht es für ‚Abkürzung‘. Alles klar?“

Lilly und Moni brechen in lautes Gelächter aus.

Während sie sich so ihre Gedanken um den unbekannten Besucher machen und in Richtung Lieblingskneipe radeln, ist Mark Seeberger in seinem Büro eingetroffen. Es liegt nur einige hundert Meter Luftlinie von der alten Lagerhalle entfernt, am Rande eines grauen und architektonisch nicht gerade durch brillante Entwürfe auffallenden Gewerbegebiets.

ROBERT JOHNES

Mark zieht seine Chipkarte durch das Lesegerät an der Eingangstür und während er die Tür aufstößt, treffen punktgenau Robert Johnes und sein Kamerateam des renommierten Wirtschaftsformats ‚Business Today and Tomorrow‘ von ChannelStarOne ein.

Robert ist ein charismatischer Mann in den Sechzigern, hochangesehen und als promovierter Wirtschaftsökonom war er der erste, der die Schwankungen der internationalen Kapitalmärkte mit den fast gleichzeitig auftreten signifikanten Veränderungen innerhalb einer Gesellschaft in Zusammenhang brachte. Die meisten Suizide weltweit verzeichnete er an den Höchstständen der Börse. An den Tiefpunkten wurden die meisten Ehen geschlossen. Sein Fazit: Der Mensch steht im unauflösbaren Widerspruch zu den von ihm geschaffenen Kapitalmärkten. Die Antwort auf die daraus folgende und weiterführende Frage, ob der Mensch den Kapitalmarkt oder der Kapitalmarkt den Menschen beherrscht, wollte niemand mehr hören.

Der Publizist und Moderator Robert Johnes ist der lebende Wolf im Schafspelz. Kommt ganz entspannt und locker in jede Gesprächsrunde, macht ein paar Witze, gerne auch über sich selbst, um dann, wenn keiner mehr damit rechnet, seine treffsicheren und sehr schmerzenden Frage-Harpunen abzufeuern.

Diese Schafspelz-Wolf-Methode wird heute bei Mark nicht funktionieren. Mark ist vorbereitet, hat sich Interviews, die Rob mit seinen Konkurrenten führte, angesehen, analysiert und seine heutige Strategie festgelegt.

Er, Mark, wird Robert Johnes zuvorkommen. Er wird all die unausgesprochenen Fragen bereits beantworten, bevor Rob sie stellen kann.

„Hi, Mark, wie schön, Sie zu sehen und Danke, dass Sie uns die Türen zu Ihrem Büro öffnen und uns an Ihren Gedanken teilhaben lassen.“

„Hi Rob, die Freude ist ganz auf meiner Seite. Ihnen und Ihrem Team ein herzliches Willkommen in meinen Räumlichkeiten an diesem späten Samstagvormittag. Will sagen: Wir sind unter uns.“