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Bis jetzt hielt Nell den gut aussehenden Dr. Luca Barbaro für einen arroganten Langweiler. Doch dann lädt er sie zu einem Maskenball in Venedig ein. Und um Mitternacht zeigt er ihr, wie aufregend er sein kann – er küsst Nell voller Sinnlichkeit …
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Seitenzahl: 174
IMPRESSUM
Maskenball in Venedig erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
© 2006 by Susan Stephens Originaltitel: „In The Venetian’s Bed“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA EXTRA, Band 261 Übersetzung: Claudia Stevens
Umschlagsmotive: beronb, bluejayphoto / Getty Images
Veröffentlicht im ePub Format in 1/2022
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783751513494
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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Überrascht blieben die Passanten stehen, als Nell entsetzt aufschrie. Die Szene wirkte wie aus einem düsteren Film: Auf der Brücke über den Kanal hielt ein großer, dunkler Mann ein zierliches Mädchen in seinen Armen. Aus der schwankenden Gondel sah die verzweifelte Mutter zu ihm auf und streckte die Arme vergeblich nach ihrem Kind aus.
„Was zum Teufel haben Sie sich dabei gedacht?“, griff sie den Gondoliere an, der die kleine Molly dem Fremden gereicht hatte. Dass er nur versucht hatte, ihr das Aussteigen zu erleichtern, erkannte sie in ihrer Panik nicht.
Sie stieg hastig aus der Gondel und stolperte gleich darauf auf dem feuchten Kopfsteinpflaster. Um sie an einem Sturz zu hindern, griff der fremde Mann ihren Arm und stützte sie. Zornig schüttelte sie seine Hand ab. Molly lag wie eine leblose Puppe in seinem Arm.
„So, und nun geben Sie sie mir zurück!“ Die Menschen starrten sie neugierig an, doch Nell kümmerte das nicht. Sie hatte nur ein Ziel vor Augen: ihre Tochter Molly. Während sie im gemächlichen Tempo den Kanal entlanggefahren waren, war Molly plötzlich in einen so tiefen Schlaf gefallen, dass es Nell unmöglich gewesen war, sie wieder aufzuwecken. Dieser unnatürliche Schlaf hatte Nell in Panik versetzt. Und nun hatte dieser Mann ihr Molly entrissen.
„Nein.“ Die tiefe Stimme hatte einen leichten Akzent.
Er weigerte sich? Nell sah sich nach Hilfe um, doch niemand machte Anstalten, ihr zu helfen. Die Passanten gingen bereits wieder ihrer gewohnten Wege.
Der Mann war schätzungsweise Mitte zwanzig und ganz offensichtlich gewohnt, dass ihm nicht widersprochen wurde. Er trug Kleidung, die sich nur die ganz Reichen leisten konnten. Angesichts seiner Aufmachung fühlte sich Nell ärmlich, ängstlich, aber zugleich auch unglaublich wütend.
„Beruhigen Sie sich doch erst einmal!“, redete er auf sie an.
„Geben Sie mir meine Tochter zurück!“ Nell hielt seinem Blick zornig stand.
„Nicht“, warnte er sie und trat einen Schritt zurück, als Nell nach dem Kind greifen wollte.
„Was erlauben Sie sich?“, fuhr sie ihn an. „Das ist meine Tochter.“
Er sah sie aus seinen dunklen Augen entschlossen an. „Sie stehen unter Schock. Wenn Sie in den Kanal stürzen, wer wird Sie dann retten?“
Ein paar Strähnen seines glänzend schwarzen Haars waren ihm in die Stirn gefallen. „Wir brauchen Hilfe. Sehen Sie das nicht?“ Nell suchte in ihrer Handtasche nach dem Handy, während die italienische Sonne auf ihre Schultern brannte. Es war unerträglich heiß. Der Mann jedoch sah aus, als hielte er sich in einem perfekt klimatisierten Raum auf.
„Sie sind außer sich“, stellte er kühl fest.
„Und das wundert Sie?“ Mit wachsendem Zorn beobachtete Nell, wie er ein Mobiltelefon aus seinem Leinenjackett zog und es ans Ohr hielt. Wahrscheinlich war das eine weitere seiner Hinhaltetaktiken.
„Wen rufen Sie an?“
Er sah sie ruhig an. „Den Notruf.“
„Den Notruf?“ Nells Mund wurde trocken. Sie wollte nicht glauben, dass das hier geschah. Molly war gerade erst achtzehn Monate alt! Sie war noch nie in ihrem Leben krank gewesen!
Nell starrte den Mann an. „Wer sind Sie?“
Er presste die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf, während er der Stimme am anderen Ende lauschte.
Nell betrachtete Molly in seinem Arm. Beinahe fürchtete sie sich, ihre Tochter zu berühren. Sie sah so zerbrechlich aus, als sei alles Leben aus ihr gewichen.
Der Mann sprach schnell auf Italienisch. Bis zu diesem Moment hatte Nell die Sprache als eine wunderschöne Herausforderung empfunden, jetzt jedoch stellte sie nur eine weitere Barriere dar. Ihr Herz klopfte voller Angst, als der Mann das Handy ausschaltete und in die Tasche zurücksteckte. Warum sagte er nichts? Sah er denn nicht, dass sie sich zu Tode fürchtete? Doch er richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf Molly. Seine Stirn war gerunzelt. Offenbar war er besorgt, und das trug auch nicht gerade zu ihrer Beruhigung bei.
Als er in den Schatten trat, folgte sie ihm. „Dauert es lange, bis die Gondel kommt?“
„Nein.“
„Wissen Sie, was mit Molly nicht stimmt?“ Nervös fuhr sich Nell durch das kurze rotblonde Haar. Wie kam sie darauf, dass er mehr wusste als sie selbst? „Wer sind Sie überhaupt?“
Panik schnürte ihr die Kehle zu. Sie versuchte, das Gefühl zu unterdrücken. Jetzt war nicht der rechte Zeitpunkt zusammenzubrechen.
„Ich bin Arzt.“ Selbstbewusst musterte er sie.
Falls er sie damit beruhigen wollte, gelang es ihm nicht. Im Gegenteil. Nells Panik wich einer tiefen Verzweiflung. Sie war zu Respekt und Vertrauen Medizinern gegenüber erzogen worden, und sie hatte nie Grund gehabt, ihnen zu misstrauen, bis zu jenem tragischen Vorfall, der ihr die Augen geöffnet hatte.
„Ich bin Dottore Luca Barbaro.“
„Dr. Barbaro“, wiederholte sie wie in Trance. Das alles erschien ihr wie ein Albtraum.
„Ganz recht.“
Er klang, als erwarte er, sie müsste vor Dankbarkeit vor ihm auf die Knie fallen.
„Jetzt, da Sie Ihren Anruf erledigt haben, Dr. Barbaro, geben Sie mir bitte meine Tochter zurück.“
„Trauen Sie mir nicht?“ Er runzelte die Stirn.
„Weshalb sollte ich Ihnen vertrauen?“
„Sie stehen unter Schock“, sagte er irritiert. „Es ist besser, wenn ich das Kind halte.“
Besser? Was war für ein Kind besser, als bei der Mutter zu sein? „Ich stehe nicht unter Schock.“ Sie wollte ihm Molly entreißen, doch sie durfte nicht riskieren, dass sich der Zustand des Kindes durch eine Rangelei verschlechterte.
„Sind Sie uns gefolgt?“, fragte sie misstrauisch.
„Ihnen gefolgt?“ Ungeduld spiegelte sich in seinem Blick wider.
„Wollen Sie mir weismachen, dass Sie einfach so vorbeikamen? Sie geben sich als Arzt aus. Das soll ich glauben?“
„Warum sollte ich Sie anlügen? Ich bin wirklich Arzt. Ich wohne dort drüben.“ Er wies mit dem Kinn auf ein Gebäude.
Nell sah nicht hin. „Und Sie standen gerade ganz zufällig am Fenster, als unsere Gondel vorbeikam?“
„Ihr Gondoliere hat mich angerufen und mir gesagt, dass Sie hier anlegen.“
Das alles hörte sich so unwahrscheinlich an. Andererseits hatte der Gondoliere tatsächlich telefoniert.
„Sie haben Glück gehabt“, bemerkte Luca.
„Glück?“, fuhr Nell ihn an.
„Weil der Gondoliere mich kennt und weiß, wo ich wohne. Marco brauchte nur kurz durchzuklingeln. Und dann hat er Sie hergefahren.“
„Er hat uns absichtlich hierhergebracht?“
Luca zuckte die Achseln. „Er wollte Ihnen nur helfen.“
Die Mutter des Kindes schien über seine Bemühungen nicht besonders dankbar zu sein, erkannte Luca. Erschöpft strich er sich über den verspannten Nacken. In seinem Kopf pochte es. Der lange Schlafentzug forderte seinen Tribut. Heute war eigentlich sein freier Tag, doch als der Anruf kam, stellte Luca sich ohne zu zögern seinem dritten Arbeitstag samt durchwachten Nächten. Das war in Ordnung für ihn. Der Patient hatte immer oberste Priorität.
„Der Gondoliere hat Sie hergebracht, so schnell er konnte.“ Lucas Nerven waren nicht die besten. Er war einfach zu müde. Dennoch wusste er, dass die Sorge der Mutter normal war. Sie hatte ein Recht auf Informationen, aber er war nicht mehr in der Lage, besonders höflich zu ihr zu sein. Er musste das Kind retten. Es ging ihm nicht um ihren Dank oder um seinen Ruf. Hier ging es um ein Menschenleben. Die emotionalen Ausbrüche der Mutter lenkten ihn nur von den wichtigen Dingen ab.
Leider stand ihm keine Krankenschwester zur Seite, die die Frau fortbringen konnte. Mit knirschenden Zähnen versuchte Luca, sie zu beruhigen. „Marco hat erkannt, dass Sie einen Arzt brauchen, also hat er mich angerufen. Haben Sie ihn nicht um Hilfe gebeten?“
„Ich dachte, er hat mich nicht verstanden.“
„Hat er auch nicht. Seien Sie froh, dass er Eigeninitiative gezeigt hat.“
Genug der Höflichkeiten. Er war am Rande seiner Kräfte, und der Zustand des Kindes forderte seine ganze Aufmerksamkeit. Normalerweise war er ein geduldiger Mensch. Die letzte Schicht musste ihn vollkommen ausgelaugt haben. Warum sonst reagierte er derart gereizt auf diese Frau?
Luca sah auf seine Patientin herunter, bevor sein Blick den der Mutter suchte.
„Was machen Sie da?“, fragte sie, als er die Fingernägel der Kleinen untersuchte.
„Sie werden Ihr Misstrauen Ärzten gegenüber zügeln müssen, während ich die Patientin untersuche.“
Seine Patientin? Ihr Baby. Ihr Leben. Nell biss die Zähne zusammen. Verstanden Ärzte überhaupt irgendetwas von den Gefühlen der Angehörigen?
„Also, was genau untersuchen Sie gerade, Doktor?“
„Die Durchblutung. Ich kann sehen, ob die Nägel rosig und gesund sind oder ob sie sich bläulich verfärben.“
„Bläulich? Lassen Sie mich sehen!“ Angst schnürte Nell die Kehle zu. Warum hatte sie nicht vorher auf ihre Nägel geachtet, als Molly noch gesund gewesen war, dann hätte sie jetzt einen Vergleich anstellen können.
„Sie konnten es ja nicht ahnen.“
Konnte er Gedanken lesen? Wahrscheinlich wollte er sie eher beruhigen. Sie wollte sein Verständnis nicht, sie wollte Tatsachen. „Sie sind Arzt, aber Sie wissen immer noch nicht, wie es um sie steht?“
„Mit Sicherheit weiß ich es erst, wenn …“
„Aber Sie müssen doch einen Verdacht haben.“
„Setzen Sie mich nicht unter Druck. Sie sollten versuchen, sich zu entspannen.“
Fassungslos starrte Nell ihn an. „Entspannen?“
„Na gut, wie wäre es dann mit ein wenig Vertrauen?“
Nell schüttelte verzweifelt den Kopf. „Ihre Patientin ist meine Tochter. Wenn Sie ihr nicht helfen können, dann muss ich jemanden finden, der das kann.“
„Und wo?“ Er schleuderte ihr die Worte entgegen. „Bleiben Sie einfach ruhig, dann wird sich alles finden.“
Die Selbstsicherheit dieses Mannes erzürnte Nell maßlos. Diese Charaktereigenschaft wurde wahrscheinlich zusammen mit dem Doktortitel verliehen. „Und wie bitte schön soll ich ruhig bleiben, wenn Sie nicht mal eine Ahnung haben, was meiner Tochter fehlt?“
„Noch kann ich keine sichere Auskunft geben.“
„Ich glaube eher, dass Sie überhaupt nichts wissen.“ Sie hatte schon einmal zu viel Vertrauen in Ärzte gehabt, und sie würde denselben Fehler nicht noch einmal begehen. Nicht mit Molly.
Als ihr Mann Jake bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, hatte Nell nicht gewusst, dass er hätte überleben können, wenn der junge Arzt, der damals versehentlich zur Unfallstelle geschickt worden war, richtig gehandelt hätte. Später in der Ambulanz hatte sie stundenlang dagesessen und geglaubt, die Ärzte kämpften um Jakes Leben. Dabei war er längst tot gewesen, und seine Kollegen hatten nur versucht, den Fehler des jungen Arztes zu vertuschen. Als sie schließlich zugegeben hatten, dass Jake tot war, hatte sie diese Erkenntnis wie ein Schock getroffen.
Dieses Erlebnis hatte Nell dazu bewogen, eine Organisation ins Leben zu rufen, die anderen Angehörigen in ähnlicher Lage zur Seite steht. Die Kampagne hatte sich zu einem wohltätigen Verein gemausert, der nun in ganz England durch Ehrenamtliche in den Krankenhäusern und Einrichtungen vertreten wurde.
Dieser Luca Barbaro war einfach zu glanzvoll, zu jung, um ein erfahrener Arzt zu sein. Ebenso wie jener junge Arzt damals.
„Können Sie das Krankenhaus anrufen? Ich will, dass ein Facharzt zur Verfügung steht, sobald wir dort eintreffen. Jemand mit Erfahrung.“
„Ich sehe, was ich machen kann.“ Seine Stimme klang sarkastisch.
„Das reicht nicht“, widersprach Nell scharf.
Luca sah auf den Kanal hinaus. „Wie heißen Sie?“
„Nell Foster.“
„Und der Name des Kindes?“
„Wie ich schon sagte. Meine Tochter heißt Molly.“ Als sie den Namen aussprach, kamen ihr die Tränen. Energisch kämpfte sie sie zurück.
„Molly Foster“, sagte er weich. „Ein schöner Name.“
Die Zärtlichkeit in seiner Stimme überraschte Nell.
„So, Molly …“ In diesem Ton sprach sonst nur Nell mit Molly. „Ist das dein erster Besuch in Venedig, Molly?“
„Ja, ist es“, antwortete Nell für ihre Tochter. Sie wusste, dass Luca sehen wollte, ob Molly irgendwelche Reaktionen zeigte.
Plötzlich spürte sie seine Hand an ihrem Arm. Er stützte sie. Verwundert sah sie ihn an. Wie ein elektrischer Schlag hatte sich seine Berührung angefühlt.
„Sie sollten sich setzen, bevor Sie zusammenbrechen“, erklärte Luca. „Ich kann sie nicht auffangen, wenn ich das Kind gleichzeitig im Arm halte. Sie müssen jetzt stark sein, für Molly. Sie ist in einem sehr schlechten Zustand, verstehen Sie?“
Nells Magen zog sich zusammen. „Natürlich verstehe ich.“ Aber wie konnte Molly mit einem Mal so krank werden?
„Atmen Sie tief durch, Nell. Das hilft.“
Feindselig starrte sie ihn an. Sie war nicht seine Patientin. Außerdem war es unverschämt, dass er sie einfach bei ihrem Vornamen nannte. Sein Ratschlag hingegen war richtig. Sie selbst riet immer wieder in Stresssituationen zu Atemübungen. Deshalb konzentrierte sie sich jetzt auf eine ruhige Atmung. Doch es fiel ihr schwer.
Luca Barbaro hielt unablässig nach der Gondel Ausschau.
„Hat sie Fieber?“
„Wir werden mehr wissen, wenn ich sie im Krankenhaus untersuchen kann.“
„Sie halten sich für verdammt kompetent, nicht wahr?“, fuhr sie ihn an. Sie wusste selbst, dass sie nicht schreien sollte. Am liebsten wäre sie mit Molly fortgelaufen. Wo aber sollte sie hinlaufen? Nells Herz schwoll an vor Hass auf diese fremde Stadt. Alles, was ihr vorher so schön und aufregend erschienen war, war nun feindselig.
Es war alles ihr Fehler. Warum war sie nicht zu Hause geblieben? Wieso waren sie nicht wie sonst einfach an die Küste gefahren und hatten dort ihren Urlaub genossen? Dann hätte sie sich ausgekannt und gewusst, wo sie Hilfe gefunden hätte. Andererseits war Jake nur wenige Meter vor ihrer Haustür in den Unfall verwickelt worden. Und auch ihm hatte sie nicht helfen können.
Dass das Unglück weit größere Ausmaße annahm, als sie sich in ihren schlimmsten Träumen je hätte ausmalen können, hatte sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht gewusst. Erst durch seinen Tod war Jakes dunkles Geheimnis ans Licht gekommen.
Der Unfall war an einem Freitagabend passiert, als die Notaufnahme überlaufen war. Nell war derart in Gedanken versunken gewesen, dass der Schrei der anderen Frau sie unvorbereitet aufgeschreckt hatte. Dieser Schrei hatte Nells Leben so vollständig umgekrempelt, dass nichts mehr so war, wie es einmal erschienen war. Als Nell sich von Jake verabschieden wollte, hatte sie niemand vorgewarnt, dass sie nicht die Einzige sein würde. Niemals hätte sie damit gerechnet, eine andere Frau mit einem Baby im Arm an seinem Bett anzutreffen, die Jake tränenreich betrauerte.
„Erzählen Sie mir jede Kleinigkeit des heutigen Tages, an die Sie sich erinnern.“
Er wollte sie beschäftigen, dachte Nell. Dennoch bemühte sie sich, alles zu rekapitulieren. Wenn sie irgendetwas falsch gemacht und dadurch Mollys Zustand verschuldet hatte, wollte sie die Erste sein, die davon erfuhr. „Beim Aufstehen ging es Molly ausgezeichnet.“
„Denken Sie an den Moment, als Sie die ersten Anzeichen einer Verschlechterung ihres Zustandes bemerkten.“
„Sie meinen den Moment, in dem sie in einen derart tiefen Schlaf fiel, dass sie nicht mehr aufzuwecken war.“
Luca nickte. „Sagen Sie mir, wann die Patientin …“
„Meine Tochter heißt Molly.“ Sie würde es nicht dulden, dass er Molly behandelte, als sei sie eine austauschbare Rolle in seinem Theaterstück.
„… wann Molly schläfrig wurde.“
Nell schüttelte den Kopf. „Warum habe ich gewartet, bis es so schlimm wurde?“
„Weil Sie dachten, dass Molly einfach nur schläft. Und nun stellen Sie Ihre Schuldgefühle zurück, und erzählen Sie mir lieber, was passiert ist.“
Seine harte Stimme brachte sie auf den Boden der Tatsachen zurück. „Es passierte so langsam, dass es mir lange nicht auffiel.“
„Ist so etwas schon einmal passiert, Nell?“
„Niemals. Und für Sie bin ich immer noch Miss Foster, danke schön.“ In Gedanken ließ sie den Tag noch einmal Revue passieren, vom schlichten Frühstück, bei dem sie über Mollys Kakaobärtchen gelacht hatten, und von ihrer wunderschönen Tour durch die Stadt … Da war nichts Auffälliges gewesen.
„Ist Ihnen inzwischen etwas eingefallen?“, fragte Luca Barbaro in ihre Gedanken hinein.
Er war sich seiner selbst so sicher. Doch so gern Nell ihm und seiner Arroganz eine Lektion erteilt hätte, sie musste an Molly denken. „Etwa eine halbe Stunde nachdem wir die Gondel betreten hatten, wurde sie schläfrig. Zuerst dachte ich, das sanfte Schaukeln habe sie in den Schlaf gewiegt.“
„Und vorher?“
„Nichts. Es ging ihr sehr gut.“
„Sind Sie ganz sicher?“
„Natürlich. Geben Sie mir jetzt meine Tochter zurück?“
„Nein. Sie lassen sie womöglich fallen“, erklärte Luca nüchtern.
War er verrückt? „Ich kann Ihnen versichern, dass so etwas nicht passieren wird.“
„Sie sehen nicht ganz stabil aus.“
„Und das ist Ihre professionelle Meinung als Arzt?“ Nell stemmte die Hände in die Hüften.
Luca ignorierte ihren Sarkasmus und lehnte sich über die Brüstung, um nach dem Boot zu sehen. Erschrocken griff Nell nach seinem Ärmel. „Sie lassen Molly noch ins Wasser fallen!“
Als sie seinen grimmigen Blick sah, ließ sie ihn sofort los.
„Würden Sie bitte versuchen, sich zu beruhigen?“
„Wie soll ich mich beruhigen, wenn Sie keine Gelegenheit auslassen, meine Tochter in Gefahr zu bringen, und mir jegliche Information über ihren Zustand verweigern?“ Nell nahm sich zusammen. „Wie lange müssen wir noch warten?“
„Sie können die Zeit am besten nutzen, indem Sie überlegen, ob Ihnen noch etwas Wichtiges einfällt. Wo haben Sie Ihre Tour begonnen?“
Nell dachte an den Markusplatz zurück mit seiner atemberaubenden Atmosphäre. Ein Schwarm wunderschöner Tauben war über ihren Köpfen dahingesegelt. Die Cafés hatten die Sonnenschirme aufgespannt. Molly und Nell hatten ein Eis gegessen … Nell stutzte. „Molly hat doch nicht etwa eine Lebensmittelvergiftung?“
Luca runzelte die Stirn, schwieg jedoch.
„Oder doch?“
„Es tut mir leid. Ich kann zu diesem Zeitpunkt noch keine Angaben machen.“
Es tat ihm leid? „Sie müssen in der Lage sein, irgendetwas zu äußern.“
„Wenn Ihnen alles zu viel wird, setzen Sie sich doch hier auf das Mäuerchen.“
Ungläubig starrte sie ihn an. „Ich bin nicht müde.“ Sie ignorierte seine ausgestreckte Hand. Und anfassen wollte sie ihn schon gar nicht.
Sein dunkler Blick ruhte auf ihr. „Wenn Sie sich solche Sorgen machen, kostet Sie das zu viel Kraft.“
„Vielen Dank. Sparen Sie sich die Floskeln.“
„Gefühlsausbrüche helfen auch nicht …“
Nell bemerkte, wie er ihre Frisur musterte. Sicherlich standen ihre Haare im Moment in alle Richtungen ab. Aber damit spiegelten sich ihre Gefühle bestens wider.
Eine Sirene ertönte, und Nell atmete erleichtert auf. Die orange-weiß gestrichene Gondel mit der Aufschrift Ambulanza hielt direkt an den Stufen der Brücke.
„Seien Sie vorsichtig, wenn Sie an Bord gehen“, warnte Luca Barbaro. „Einer der Männer kann Mollys Buggy tragen. Wir können uns keinen weiteren Notfall leisten.“
Und dann war er fort. Mit Molly. Als sie ihm folgen wollte, lief ihr einer der Sanitäter vor die Füße. Nell geriet in Panik. Die Erlebnisse der Vergangenheit hielten sie gefangen. Damals hatte man sie auch von Jake getrennt. Plötzlich reckte Barbaro den Kopf aus der Kabine und rief etwas auf Italienisch. Der Sanitäter trat aus dem Weg, und Molly bestieg die Gondel.
Als sie den Kopf einzog und in die Kabine trat, sah sie, wie Luca Barbaro Molly bereits untersuchte. Ganz eindeutig war er in seinem Element. Die Helfer gingen ihm routiniert zur Hand. Allmählich entspannte sich Nell ein wenig.
„Setzen Sie sich hierher“, forderte Luca sie auf, ohne Molly aus den Augen zu lassen. Er sprach am Telefon mit dem Krankenhaus und gab Anweisungen.
Sie spürte nicht, dass sie fror. Erst als einer der Sanitäter auf Lucas Aufforderung hin ihr eine Decke um die Schultern legte, wurde ihr bewusst, dass ihre Glieder eiskalt waren.
Mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Abneigung beobachtete sie, wie er arbeitete. Dann sah sie, wie er eine Injektionsnadel zur Hand nahm. „Ist das wirklich notwendig?“
„Ja.“ Er sah sie kurz an. Schließlich trat er von der Liege zurück, und Nell konnte ihre kleine Tochter sehen.
Sie erblasste. So viele Kabel und Schläuche waren an Molly befestigt.
„Kann ich mich zu ihr setzen?“, fragte sie schwach. „Darf ich sie halten?“
„Sie könnten die Kanüle des Tropfes versehentlich abreißen.“
Der Tropf? Jetzt erst entdeckte sie die Flasche mit der Flüssigkeit, die zu Mollys Seite hing und von der beständig Flüssigkeit durch den Schlauch tropfte. „Braucht sie den?“
„Ja, damit sie nicht austrocknet, außerdem wird ihr auf diesem Wege vorsichtshalber Antibiotikum zugeführt.“
Nell runzelte die Stirn. „Sie wissen noch gar nicht, was ihr fehlt, aber Sie pumpen sie schon mit Drogen voll?“
„Ich erachte es als notwendig.“
„Und was ist das für eine Maschine?“ Sie wollte alles wissen. Sie wollte ihn unter Druck setzen. Es war ihr Recht zu erfahren, was hier vor sich ging.