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Dieses E-Book enthält komplexe Grafiken und Tabellen, welche nur auf E-Readern gut lesbar sind, auf denen sich Bilder vergrössern lassen. Inwiefern haben wir es in unserem Berufsleben mit Mathematik zu tun? Wir addieren, multiplizieren und dividieren ganz selbstverständlich – aber es braucht mehr. Jedem Beruf liegen spezifische mathematische Probleme zugrunde, die es zu lösen gilt. Dazu braucht es die richtigen Methoden und eine grundlegende Vorstellung davon, was Mathematik überhaupt ist. Beides wird im berufskundlichen Unterricht vermittelt. Den Lehrpersonen liegt mit dieser Publikation eine didaktische Anleitung dafür vor, wie angewandter, für die berufliche Zukunft wappnender Mathematikunterricht gelingt.
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Seitenzahl: 186
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Andreas Schneider
Mathematik in der beruflichen Grundbildung
Eine didaktische Anleitung für den angewandten Mathematikunterricht
ISBN Print: 978-3-0355-2330-0
ISBN E-Book: 978-3-0355-2331-7
Berufliches Lernen, Band 3
1. Auflage 2024
Alle Rechte vorbehalten
© 2024 hep Verlag AG, Bern
hep-verlag.ch
Eine einführende Geschichte
Vom späten Nutzen quadratischer Gleichungen
1 Einleitung
1.1 Was ist Mathematik? Oder «Die Kunst des Lernens»
1.2 Weshalb dieses Buch?
1.3 Wie ist das Buch aufgebaut?
2 Bedeutung der Mathematik in der Berufsbildung
2.1 Vorwissen: Mathematik in der Sekundarstufe I
2.2 Mathematik in der beruflichen Grundbildung
2.3 Mathematik für Anschlusslösungen
3 Herausforderungen der Mathematikdidaktik
3.1 Transfer
3.2 Heterogenität
3.3 Motivation
4 Wie wird Mathematik unterrichtet?
4.1 Eine Grundmethode: direkte Instruktion
4.2 Methoden: 4K im Mathematikunterricht
5 Aufgaben
5.1 Aufgaben formulieren
5.2 Aufgaben lösen
5.3 Aufgabenarten nach dem LUKAS-Lernprozessmodell
5.4 Handlungskompetenzorientierung
5.5 Üben
5.6 Hausaufgaben
6 Diagnostik
6.1 Lernende (Adressatenanalyse)
6.2 Mathematik verstehen und das Verstehen überprüfen
6.3 Summatives Prüfen
7 Anhang
7.1 Links/Hilfsmittel
7.2 Literaturverzeichnis
Autor
Die Mathematikdidaktik wie auch die Mathematik selbst steht leider immer in der Gefahr, als trocken empfunden zu werden. Um dem schon vorab entgegenzuwirken, startet das Buch mit einer biografischen Geschichte und einer klassischen Frage: Wofür brauchen wir das?
Dass ich nach über 12 Jahren Unterricht in der gleichen Stadt, in der ich auch wohne, ehemalige Lernende von mir treffe, ist schon lange nichts Ungewöhnliches mehr. Ungewöhnlich war es allerdings, dass sich ein ehemaliger Lernender im Zug gezielt zu mir setzte, obwohl genügend freie Plätze zur Verfügung standen. Das freute mich sehr. Schnell fanden wir mit der Mathematik ein gemeinsames Thema, schliesslich hatte uns das als Lehrer und Schüler lange Jahre verbunden. Ich möchte anmerken, dass nicht ich das Thema lancierte. Stolz berichtete mir der ehemalige Lernende, dass er vor Kurzem die quadratischen Gleichungen angewendet habe – eine für ihn offenbar verblüffende Tatsache. Ebenso stolz berichtete er berechtigterweise von seiner Firma, die für einen bekannten Schweizer Flugzeughersteller Apps entwickelt. Für eine dieser Apps wurde ebendiese quadratische Gleichung verwendet. Genaueres durfte er nicht erzählen, das sei geheim.
Es ist sicher nachvollziehbar, dass dies eine erbauliche Begegnung war, denn über «Darin war ich nie gut» oder «Habe ich nie gebraucht» geht ein Gespräch über Mathematik selten hinaus. Auch dass die gelehrte Mathematik im beruflichen Leben gebraucht wird, war eine erfreuliche Rückmeldung. Wie sollte ich darauf reagieren? Irgendwie wollte ich das in den Unterricht einbauen. Ich konnte schlecht anmerken, dass die Lernenden quadratische Gleichungen verwenden können, sollten sie dereinst geheime Apps für Flugzeuge programmieren.
Nachdem sich die Freude über die Sinnhaftigkeit der quadratischen Gleichungen etwas legte, stellte ich mir bald andere Fragen. Hätte ich den Lernenden auch auf mögliche Stellenauslöschungen hinweisen sollen, die beim Rechnen mit Computern[1] entstehen können? Denn auch wenn diese sehr schnell rechnen und viel speichern können, eines können sie nicht: mit der Unendlichkeit umgehen. Daher müssen sich Computer mit einer endlichen Anzahl an sogenannten Maschinenzahlen helfen. Dies führt dazu, dass bei fast allen Operationen gerundet werden muss. Diese Rundungsfehler können sich bei schlecht konditionierten Algorithmen schnell verstärken. Was aber hat dies mit der quadratischen Gleichung zu tun? Ich hatte den Lernenden die «Mitternachtsformel» zum Lösen dieser Gleichungen beigebracht. In der Wurzel muss man die Differenz berechnen. Wenn nun , was bei einer grösseren Anzahl an Berechnungen früher oder später vorkommen kann, dann führt dies dazu, dass sich bei den Zahlen Stellen auslöschen, was zu falschen Resultaten führen kann und je nach Anwendung im Flugzeug fatal wäre.
Müsste man dies als Lehrperson nicht auch im Unterricht besprechen, gerade wenn Programmieren ein Thema ist? Denn all dies habe ich den Lernenden nicht beigebracht, da es nicht in den Lehrplänen stand und da ich nicht wusste, dass es meine Lernenden in der Praxis anwenden müssen. Werden dies meine zukünftigen Lernenden auch benötigen, und sollte es daher Bestandteil des Schullehrplans werden?
Es lässt sich nicht abschliessend bestimmen, wo Lernende die Mathematik anwenden werden, da sie als ein Werkzeug eingesetzt wird. Bei einem Schweissgerät ist man sich einig, dass es ein nützliches Werkzeug ist, aber niemand kann voraussagen, was die Lernenden dereinst damit anstellen werden. Es braucht einige grundlegende Gedanken darüber, was Mathematik überhaupt ist, bevor ihr Nutzen diskutiert werden kann.
In der Mathematik wird gerne der Aufbau Definition–Satz–Beweis verwendet; häufig gefolgt vom Korollar, der sich zum Beispiel damit beschäftigt, was man denn genau mit dem bewiesenen Satz anfangen könnte. Da bei diesem Aufbau mit der Definition begonnen wird, wollen wir auch hier diesen Weg einzuschlagen. Eine Definition des Faches Mathematik ist gar nicht so einfach, wie man denken könnte; es gibt daher auch noch keine allgemein anerkannte Formulierung. Die Wortbedeutung hingegen ist klar und gerade aus didaktischer Sicht sehr interessant:
«Mathematik kommt von dem Griechischen mathēmatikē téchnē und bedeutet ‹die Kunst des Lernens›. ‹μαθηματική› stammt ursprünglich vom Adjektiv μαθηματικός (sich Wissen erwerben), das meiner Meinung nach im Deutschen keine Entsprechung hat. Daher wird es als ‹des Lernens› übersetzt, also ‹die Kunst (τέχνη) des Lernens›.»[2]
Für eine Lehrperson ist es sehr angenehm, wenn das eigene Fach mit «Kunst des Lernens» übersetzt werden kann. Auch der Lehrplan 21 umschreibt die Mathematik in einer ähnlichen Form: «Das Lernen von Mathematik erfordert zusätzlich Genauigkeit und Disziplin im Denken und ist damit auch Denkschulung.»[3]
Neben dieser Sprachbedeutung hat die Mathematik sogar noch eine übergeordnete, universale Bedeutung: «Das Buch der Natur ist in der Sprache der Mathematik geschrieben.»[4] Gehen wir sprachlich und räumlich noch weiter, passt dieses Zitat: «Deutsch, Englisch oder eine andere natürliche Sprache sprechen Ausserirdische sicher nicht. Ingenieure verstehen Mathematik, also ist das unsere gemeinsame Sprache.»[5]
Da wir noch bei den Definitionen sind und uns bald überlegen werden, ob an Berufsfachschulen Mathematik gelernt oder nur gerechnet wird, wollen wir kurz über dieses Rechnen nachdenken. Es ist ein Teil der Mathematik. Das Rechnen war neben dem Zählen sicher eine der Grundmotivationen, sich mit der Mathematik zu beschäftigen, und es bleibt nach wie vor wichtig. Computer rechnen effizient und korrekt (siehe «Eine einführende Geschichte»). Man würde in diesem Fall zwar von Numerik sprechen, aber es wird dennoch gerechnet. Im Berufsschulunterricht wird meist anhand berufsspezifischer Fragestellungen gerechnet, daher spricht man auch von Fachrechnen. Die Diskussion, ob Fachrechnen richtige Mathematik sei, ist für den Unterricht an Berufsfachschulen nicht relevant und soll uns daher auch nicht weiter beschäftigen. Es liegt in der Natur der Sache, dass «richtige» beziehungsweise universitäre Mathematik viel rigoroser durchgeführt wird als Berufsschulmathematik, wobei Mathematik nicht zwingend schwierig oder komplex sein muss.
Bei regelmässigen Unterrichtsbesuchen bei meinen Studierenden an Berufsfachschulen fällt mir immer wieder die hohe Qualität des berufskundlichen Unterrichts positiv auf. Die angehenden Lehrpersonen haben einen riesigen Fundus an praktischer Erfahrung, die sie mit theoretischem Wissen verknüpfen und motiviert didaktisch anwenden. Man merkt einen gewissen Berufsstolz, und das Engagement, den Stoff anwendungsorientiert zu vermitteln, ist hoch.
«Ganz Gallien?», könnte man an dieser Stelle einwenden, und «Nein» wäre die Antwort dazu. Der Mathematikunterricht stach bei den Unterrichtsbesuchen oft negativ hervor. Dies ist insofern nicht erstaunlich, als sich die Lehrpersonen in der Berufskunde höchstens am Rande mit der Fachdidaktik Mathematik beschäftigen und nicht in die Materie eintauchen. In der Zeitschrift «Praxis der Mathematik in der Schule» ist dazu zu lesen, «dass die meist nur berufsspezifisch ausgebildeten Ausbilder/innen bzw. Berufsschullehrer/innen aufgrund ihrer eigenen Vor- und Ausbildung eher in Ausnahmefällen Konzepte der Mathematik-Didaktik oder -Methodik kennen» (Kaiser, Schelldorfer & Winter, 2014, S. 19). Auch mangelt es an einer vertieften Auseinandersetzung mit dem Fach Mathematik. Oft ergänzt der Mathematikunterricht die Stunden zu einem erstrebten Pensum oder man «muss» ihn als neue Lehrperson übernehmen, wenn er Bestandteil des berufskundlichen Unterrichts ist. Der Unterricht verläuft dann so, wie man ihn selbst einmal erlebt hatte. Dies muss nicht zwingend schlecht sein, jedoch hat gerade der Mathematikunterricht an Berufsfachschulen einen hohen, um nicht zu sagen maximalen Anwendungsanspruch. Die Berufsmatura ist diesbezüglich vorerst ausgenommen (siehe Kapitel 2.3). Ich bin der Meinung, dass man den Mathematikunterricht an Berufsfachschulen vergleichsweise einfach verbessern kann. Da die Mathematik in irgendeiner Form für fast alle Berufe eine gewisse Rolle spielt, deckt man damit auch einen beachtenswerten Teil der beruflichen Grundbildung ab.
Dieses Buch soll Impulse zur Fachdidaktik Mathematik an Berufsfachschulen geben und so helfen, eine Lücke zu schliessen.
Als Autor bringe ich die Erfahrungen ein, die ich bei der Betreuung meiner Studierenden, bei den Schulbesuchen und in meiner eigenen Tätigkeit als Mathematiklehrperson sammeln durfte. Zusätzlich sitze ich als Student der Fachdidaktik Mathematik an der Quelle der aktuellen Forschungsergebnisse. Ich befasse mich auch mit der Sekundarstufe I und Anschlusslösungen, also mit den zukünftigen Berufslernenden. Da einige Inhalte ihren Ursprung in meinen Erfahrungen, Gesprächen, Aus- und Weiterbildungen haben, mag die Quellenangabe nicht durchwegs dem Stand einer wissenschaftlichen Arbeit entsprechen.
Da es sich hier um ein schlankes Buch handelt, müssen auch Auslassungen angesprochen und die Frage gestellt werden: Was ist das Buch nicht? Die grösste Einschränkung ist dem Grundproblem der beruflichen Didaktik geschuldet: Bei rund 245 Berufen[6] ist es nicht ansatzweise möglich, jeden einzeln zu berücksichtigen. Selbst bei der Reduktion auf 22 Berufsfelder geht das nicht. Das Buch ist also keine berufsspezifische Aufgabensammlung. In Kapitel 7.1 verweise ich aber auf zahlreiche frei zugängliche Sammlungen. Auch in gut sortierten und durchaus auch ausländischen Verlagen findet man immer mehr berufsspezifische Aufgabensammlungen. In der Fachgruppe sollte man in Zusammenarbeit mit den Lernenden handlungskompetenzorientierte Aufgabenstellungen aufbauen, denn Berufsexpertinnen und -experten können besser anwendungsbezogene Aufgaben aus dem eigenen Beruf entwickeln, als es Autorinnen und Autoren von fachdidaktischen Büchern gelingt.
«In Mathe war ich immer schlecht», hört man auf allen Bildungsstufen inkl. der Tertiärstufe, und es scheint fast, als ob dabei ein bisschen Stolz mitschwingt. Es gibt sogar ein Buch mit diesem Titel.[7] Der Autor schildert in der Einleitung, wie er, selbst ein Mathematiker, sich um die Frage, was er denn mache, herumdrückte, weil er das schöne Gespräch nicht vermiesen wollte. Da stellt sich die Frage: Seit wann ist es quer durch alle Schichten und Stufen schick, in Mathematik nicht gut zu sein, aber an der Wichtigkeit des Fachs nicht zu zweifeln? Der «Spiegel» widmete der Thematik ein eigenes Heft: «Warum wir wieder rechnen lernen müssen».[8] Es war die Reaktion auf das schlechte Abschneiden Deutschlands bei der letzten PISA-Studie im Bereich Mathematik. Offenbar konnten selbst Mitglieder der Chefredaktion die Aufgabe 2 + 2 · 2 nicht lösen – wofür man sich nicht zu schämen brauche. Aha? Punkt vor Strich gehört zu den Grundlagen des Fachs. Solche Ignoranz ist man sich von ebenjener Zeitschrift in anderen Bereichen nicht gewöhnt.
Schwer zu verstehen ist, warum das Verhältnis zur Mathematik gerade in modernen Wissens- und Informationsgesellschaften so ambivalent ist. Dass wir der Mathematik als Sprache der Wissenschaft ganz wesentlich den technischen Fortschritt zu verdanken haben, ist allgemein akzeptiert (Felten & Stern, 2014, S. 103).
Lernende unterscheiden sich zwar erheblich in ihrer Lese- und Schreibfähigkeit, aber nur wenige verlassen die Schule als völlige Analphabet:innen (Felten & Stern, 2014, S. 103). Zum mathematischen Analphabetismus bekennen sich auch Menschen mit akademischer Bildung erstaunlich leichtfertig. Dass viele sehr wenig können, entspricht durchaus der Realität (ebd.). Ausserhalb des Unterrichts ist Mathematik unsichtbar. Das zeigt sich darin, dass viele Erwachsene auf die Frage, welche Mathematik sie beruflich und im täglichen Privatleben benutzen, sagen, dass sie – abgesehen von sehr elementarem Rechnen – keine Mathematik anwenden (Kaiser, Schelldorfer & Winter, 2014, S. 19). Der Mathematikdidaktiker Timo Leuders[9] schreibt dazu: «Man bedenke, dass die mathematischen Erfahrungen aus der Schule oft die einzigen sind, die ein Geisteswissenschaftler in sein Berufsleben mitnimmt» (Leuders, 2018, S. 55). Diese reduzierte Sicht teilen auch viele Menschen in gesellschaftlichen Schlüsselpositionen, darunter gut und gern auch mal ein Schulleiter oder eine Schulleiterin.
Lernen ist eine sehr anstrengende Arbeit und macht nicht grundsätzlich Spass. «Lernen ist schmerzhaft» betitelten Fritz Oser und Maria Spychiger dementsprechend eine Monografie über das Lernen. Elsbeth Stern[10] spricht von «Lernen tut weh – Können macht Freude». Was macht nun Lernen in der Mathematik besonders schmerzhaft?
Die Mathematik ist zwar «da», jedoch häufig schwer zu sehen, da sie sich mit abstrakten und idealisierten Objekten beschäftigt. Berechnungen im beruflichen Alltag sind typischerweise nahtlos in Handlungsabläufe integriert. Sie sind nur schwer beobachtbar und werden kaum als isolierbarer Teilschritt wahrgenommen (Kaiser, 2015, S. 3).
Der Verbraucher, die Verbraucherin kann nicht mehr en détail erfassen, dass Mathematik hinter dem Auto, dem Internetshopping, der Kreditkarte und der eigenen DVD-Sammlung steckt (Leuders, 2018, S. 54). Bei meinen eigenen Interviews mit Lernenden ist mir immer wieder aufgefallen, dass sie nicht beantworten konnten, wo sie in Ihrem Beruf Mathematik brauchen. Sie konnten es nach konkreten Vorschlägen aber sehen.
Es zeigt sich in folgenden Fällen das Problem, dass man die Mathematik zuerst können muss, um sie zu erkennen.
Fall 1: Man ist gut in Mathematik und erkennt sie deshalb in seiner Umwelt, was die Überzeugung verstärkt, dass sie wichtig ist.
Fall 2: Man ist nicht gut in Mathematik und erkennt sie deshalb nicht in seiner Umwelt, was die Überzeugung bestärkt, dass es Mathematik nicht braucht.
Es ist ein Problem, dass man Mathematik verstehen muss, bevor man sie anwenden kann. Wer sie nicht anwenden kann, ist natürlich auch nicht motiviert, sie zu erlernen. Aristoteles schrieb: «Es gibt Dinge, die wir lernen müssen, bevor wir sie tun können. Und wir lernen sie, indem wir sie tun.»
Mit grundlegenden Fremdsprachenkenntnissen kann man sich bereits unterhalten, wenn man dies will. Man kann dabei von der Regel abweichen, aber in der Sprache der Mathematik gibt es keine solchen Ausnahmen.[11] Man kann sogar sagen: «Knapp vorbei ist auch daneben» (Felten & Stern, 2014, S. 109).
Wenn man den Lernenden nicht erklären kann, wozu sie etwas brauchen, es aber sogar noch auf verschiedene Arten abrufen möchte, ist klar, dass Mathematik beim Grossteil der Lernenden nicht auf Begeisterung stösst. Als Mathematik-Lehrpersonen an Berufsfachschulen ist es unsere Aufgabe, dem Fach seine Relevanz zurückgeben und sie auch offenzulegen. Dazu müssen eventuell auch die Bildungspläne neu betrachtet werden, denn manchmal basieren die Bezugswissenschaften in Bildungsplänen auf Traditionen.
Es gibt einige direkte Anwendungen, die Berufslernende je nach Beruf können sollten, wie die Berechnung des elektrischen Widerstands, der Kosten, von Zinssätzen, des Rüstverlustes, des Gefälles, von Flächen, des Mischungsverhältnisses, der Menge an benötigtem Material und so weiter. Dazu braucht es Basiskenntnisse von mathematischen Begriffen und Regeln, auch um eine gemeinsame mathematische Sprache zu sprechen.
Indirekt verwendet man die Mathematik im Beruf für Schätzung und zur Verifizierung, also um zu prüfen, ob man ungefähr richtig liegt. Dadurch lassen sich grobe Fehler vermeiden. Hilfsmittel wie Taschenrechner und Tabellen müssen verstanden und eingesetzt werden können. Berufslernende müssen mit Einheiten korrekt umgehen können und sollten je nach Beruf mit Excel, Koordinatensystemen und Diagrammen zurechtkommen.
Hinzu kommen immer wieder unerwartete Anwendungen wie die quadratische Gleichung aus dem Eingangsbeispiel. Eine Informatikklasse wollte zum Beispiel eine App programmieren, die Gesichter auf Fotos verpixelt. Dazu musste sie sich mit «Ellipsen» auseinandersetzen, ein Thema, das im Mathematikunterricht wahrscheinlich auf wenig Gegenliebe gestossen wäre.
Es ist wünschenswert, dass man die Mathematik nutzen kann, um sich die Arbeit zu erleichtern, beispielsweise indem man im Geschäft beim ersten Mal genügend Material bestellt und so den Abfall reduziert.
Mathematik ist auch Teil der Allgemeinbildung, sichtbar etwa bei der Finanzplanung zur Vermeidung von Schulden (siehe Abschnitt «ABU»). Für höhere Schulen ist sie sowieso unabdingbar (siehe Kapitel 2.3).
Mathematik zwingt zu gewissenhafter Arbeit. Logik, räumliches Denken und Problemlösen sind ein hilfreicher Lerngewinn. In der Mathematik lernt man, Probleme zu zerlegen, die Teilprobleme zu lösen und die Lösungen wieder zusammenzusetzen.
Hilfreich sind auch Formeln, sie sparen Zeit. Die Faustregel von Architekten von 2s + a = 63 cm zur Konstruktion einer bequem und sicher zu gehenden Treppe (s ist die Stufenhöhe, a die Auftrittstiefe) sagt deutlicher als ein langer Text, worauf zu achten ist (Barzel & Wilfried, 2006, S. 5). Die Formel C = 5/9 (F – 32), welche die Umrechnung von Grad Fahrenheit in Grad Celsius beschreibt, hilft beim Verwenden von Rezepten aus dem angloamerikanischen Sprachraum. Sie ist klar und einfach, wenn man die Sprache der Algebra beherrscht (ebd., S. 5). Es gehört daher zum Mathematikunterricht an Berufsfachschulen zu zeigen, welche Grössen welchen Einfluss auf das Resultat haben könnten (Beispiel: Wie wird C, wenn F gross wird?).
Man kann einzelne Fächer in der Berufsschule reduzieren, aber irgendwann geht es einem wie bei jedem Jengaspiel: Der Stein, den man anfangs noch problemlos entfernen konnte, lässt sich nicht mehr ohne Folgen entfernen, nachdem man andere Steine entfernt hat.
Der Aufbau des Buches ist an das Planungsmodell AVIVA[12] angelehnt, mit der einführenden Geschichte und dem Kapitel 1 für Ankommen und Einstimmen, Kapitel 2 für Vorwissen, Kapitel 3 für Informieren, Kapitel 4 und 5 für Verarbeiten und ab Kapitel 6 für Auswerten. Der Fokus liegt jeweils auf den Aufgaben und den Herausforderungen Transfer, Heterogenität und Motivation.
Welche Kompetenzen sollen neben dem Wissen vermittelt werden und welche Methoden gibt es neben dem Lösen von Aufgaben durch die vorzeigende Lehrperson und die Lernenden im Mathematikunterricht?
Um diese Frage geht es in Kapitel 4, «Wie wird Mathematik unterrichtet?». Ein wesentlicher Bestandteil dieses Buches sind Methoden für den Mathematikunterricht als Werkzeug, basierend auf den Fähigkeiten des 21. Jahrhunderts, in Form der 4K.
Die durch die National Education Association (NEA) festgelegten zeitgemässen Fähigkeiten lassen sich in vier Kompetenzbereiche (4K) unterteilen:
Kritisches Denken und Problemlösen
Kommunikation
Kooperation
Kreativität und Innovation
Die hier vorgestellten Methoden sind diesen Kompetenzbereichen zugeordnet (siehe Kapitel 4.2). Es geht jeweils um die Art und Weise, wie Mathematik vermittelbar ist, damit sie in noch nicht bekannten Situationen als Werkzeug angewandt werden kann.[13]
Zum Einstieg eine Geschichte:
Alain ist an der Jazzschule, in einem Theoriemodul zum Hauptfach Bassgitarre. Es werden Vierklänge mit komplizierten Vorzeichen umgekehrt und lydische, phrygische und melodische Moll-Tonarten rauf und runter gespielt. Vom ständigen Rechnen raucht Alain der Kopf. Er hat sich an der Jazzschule eingeschrieben, weil er vom Zusammenspiel und den Emotionen fasziniert ist, welche die Musik auslösen kann. Die momentane vorherrschende Emotion ist Frust. Geht es im Jazz denn nicht primär um das Improvisieren, um das Zusammenspiel und um die Freude an der Musik? Haben nicht einige der besten Jazzbassisten nie eine Musikschule besucht? Viele sollen noch nicht mal Noten lesen können. Alain kommt sich vor wie in einem Kryptografie- statt im Musikstudium. Als er vor Rechnen die Noten nicht mehr sieht, fragt er den Dozenten, was das alles soll. Die Antwort wird er nie wieder vergessen: «Das stimmt», beginnt der Dozent, «einige der besten Jazzmusiker:innen haben keine Ahnung von Musiktheorie. Die haben aber 20 oder 30 Jahre, vielleicht auch länger jeden Tag mehrere Stunden mit herausragenden Musiker:innen gespielt, waren mit genügend Talent gesegnet und hatten vielleicht auch das Glück, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Wenn Sie das wollen, dann können Sie es auch so machen. Wir treffen uns dann in 30 Jahren wieder zu Abschlussprüfung.» Stille im Raum, vermutlich das erste Mal an diesem Tag. Der Dozent fährt fort: «Als ausgebildeter Jazzmusiker sollten Sie die realistische Chance haben, nach dieser Ausbildung von der Musik leben zu können, sonst müssen Sie diese Schule nicht absolvieren. Um als Musiker Fuss fassen zu können, müssen Sie an verschiedenen Projekten gleichzeitig arbeiten und die Vorbereitungszeit deshalb für jedes einzelne minimieren können. Dazu müssen die Grundlagen sitzen.»
Alain bestand die Jazzschule ein Jahr später und lebt inzwischen von der Musik. Nach wie vor fasziniert ihn das Zusammenspiel, und so arbeitet er gerne mit ausländischen Jazzgrössen zusammen und spielt Konzerte mit Ihnen, auch um sich dabei weiterzuentwickeln. Oft spielen die Musiker:innen erst am Konzert selbst erstmals zusammen. Wissen über Akkordabfolge und Melodie reichen den Profis mit ihrem geschulten Gehör aus, um zusammen Musik zu machen und das zahlende Publikum glücklich zu machen. Als einmal Alains Handy in seiner Sakkotasche klingelt und ihn aus dem Konzept bringt, bleibt er durch sein musiktheoretisches Wissen sicher auf der Spur. Das Publikum merkt nichts, sein Basiswissen sitzt.
Eine Berufsfachschule kann das Erlernen von Fertigkeiten am Arbeitsplatz nicht ersetzen. Aber sie ist ein «geschützter Ort» mit einer erfahrenen und didaktisch geschulten Lehrperson, in einem eingerichteten Schulzimmer, mit Lernmaterialien und Lernenden auf ähnlichem Entwicklungsstand. In diesem Rahmen ist die Wissensvermittlung optimal. Auf diesen Vorteil und auf die Vermittlung von Grundlagen sollte in den Berufsfachschulen nicht verzichtet werden.
In diesem Kapitel geht es um die Fähigkeiten, die Lernende bei Beginn der beruflichen Grundbildung im Fach Mathematik haben sollten, und darum, ob sie sie auch wirklich mitbringen. Dazu wird kurz auf den Lehrplan 21, die Mathematik-Lehrmittel auf der Sekundarstufe I sowie auf Erhebungen wie die PISA-Studie eingegangen.
Jedes Lernen beginnt beim Vorwissen. Das Mathematik-Vorwissen der Berufslernenden lässt sich abschätzen anhand
der Inhalte des Lehrplans 21 (siehe Kapitel 2.1.2),
der verwendeten Lehrmittel auf der Sekundarstufe I (siehe Kapitel 2.1.3),
verschiedener Studien und Erhebungen (siehe Kapitel 2.1.4).
Bei der Abschätzung des Vorwissens zeigt sich, dass für die meisten Berufe die bis zu 6. Klasse angeeignete Mathematik als Vorwissen bereits ausreichend ist. Gemäss Eberle, Brüggenbrock, Rüede, Weber und Albrecht (2015), die die basalen Fähigkeiten für ein Studium untersucht haben, kommen im Bereich Mathematik «einfache Berechnungen ohne Taschenrechner» im Studium jeder Disziplin am häufigsten vor und werden gleichzeitig am meisten für ein Studium vorausgesetzt. Einfache Berechnungen ohne Taschenrechner sind bereits am Ende der Primarstufe bzw. zu Beginn der Sekundarstufe I im Lehrplan vorgesehen. Auf Platz zwei der Studie liegen «Grundoperationen mit Bruchtermen durchführen». Der fachliche Teil sowie die weiterführende Mathematik (z.B. die Gleichung U = R ∙ I umformen, den Cosinus berechnen, mit der Potenzschreibweise umgehen usw.) lässt sich realistisch und angewandt durch die Fachrechnungsaufgaben im Berufsschulunterricht erlernen. Die mathematischen und überfachlichen Kompetenzen müssen für einzelne Berufe während der Ausbildung noch vertieft oder in einer Anschlusslösung erworben werden. Für die BM ist das Vorwissen im Vergleich dazu etwas weniger zufriedenstellend. Die BM ist aber als Zusatz zu verstehen und kann auch nach der Lehre absolviert werden. Ausserdem kann man eine BM theoretisch auch mit tiefen Noten in Mathematik beginnen (siehe Kapitel 2.3.1