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"Charmant und pointenreich." F.F. dabei "Nach dem Bau der Mauer saßen wir in der Falle, ein ganzes Land hatte Stubenarrest." - Einer unserer populärsten Kabarettisten erzählt vom DDR-Alltag in den 60er Jahren: von Butternummern, geschmuggelten Westschallplatten und gescheiterten Hoffnungen. Er läßt eine Zeit wiederaufleben, in der die Hits der Beatles begeisterten und "Spur der Steine" aus dem Kino verbannt wurde. Wochenlang auf der Spiegel-Bestsellerliste: "Lange begeistert als Beobachter der Zeitgeschichte." Dresdner Neueste Nachrichten
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Seitenzahl: 435
Bernd-Lutz Lange
Mauer, Jeans und Prager Frühling
Mit 46 Abbildungen
ISBN 978-3-8412-0536-0
Aufbau Digital,
veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, September 2012
© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin
Die Originalausgabe erschien 2003 bei Gustav Kiepenheuer;
Gustav Kiepenheuer ist eine Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG
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Umschlaggestaltung gold, Anke Fesel und Kai Dieterich unter Verwendung eines Fotos vom Café Corso (1968)
Foto des Autors von Helfried Strauß (2002)
Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,
KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart
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Innentitel
Inhaltsübersicht
Informationen zum Buch
Informationen zum Autor
Impressum
Inhaltsübersicht
Vorwort
Die Mauer
Wurzelsepp
Volksbuchhandlung Gutenberg
Britt
Die Ostsee
Meine Bands
Jeans
Musik an der Ecke
West-Antennen
Das Abitur
Tanzen
Der »King of Jazz«
Berlin
Student
Das »Corso«
Der letzte Bohemien
Bansin
Der Beat-Aufstand
Das 11. Plenum
Mao
Das »Casino«
Kabarett
Kneipen, Bars und Restaurants
Nachtfee
Ein bißchen Westen, zweimal im Jahr
Alte Antiquariate
Polen war ganz anders
Kraków
Auschwitz
Ein sinnloser Versuch
Die Unikirche
Die Presse
Kleiner Nachtrag zur Unikirche oder Warum ich kein CDU-Mitglied wurde
Die alte Universität
Die Trümmerkugel
Die unerwünschte Anstalt
Übermut
Zeit für Lyrik
Die Motorboot-Lesung
Damals in Prag
Im Herzen Europas
Ein Diesseitswunder
Prager Frühling
Schubis Odyssee
Guido
Aufklärung
Die Aktion
Schluß
Quellen- und Rechtsnachweis
Dank
Für Sascha, Friedrich und Levi
Wie »Magermilch und lange Strümpfe« soll auch dieses Buch Erinnerungen wachrufen, Erinnerungen an eine stürmische Zeit, die sechziger Jahre.
Hatte so mancher aus meiner Generation zuvor noch Freunde und Verwandte im Westen Deutschlands besuchen und in den Fünfzigern das galoppierende Wirtschaftswunder bestaunen können: am 13. August 1961 war damit Schluß. Nach dem Bau der Mauer saßen wir in der Falle; ein ganzes Land hatte Stubenarrest bekommen.
Für wenige Wochen im Jahr durften wir zwar in der ČSSR, Polen und Ungarn etwas Freizügigkeit tanken, in den restlichen Monaten mußten wir uns jedoch im Land einrichten. Aber Gleichgesinnte finden überall und unter allen Umständen zueinander. Wir trafen uns in der Nische; dort wurde gespottet, gelacht, gesungen und getanzt. Die Party- und Fetenkultur in der DDR ist ein handfester Beleg dafür, daß junge Leute in Sachsen und Thüringen trotz Mauer, Stacheldraht und Bespitzelung genauso ausgelassen feierten wie ihre Altersgenossen in Bayern oder Hessen. Manchmal vielleicht sogar noch etwas ungestümer.
Wer nach der Mauer im Osten Deutschlands Beruhigung erwartet und gehofft hatte, daß die Partei hinter den geschlossenen Grenzen liberaler regieren würde, sah sich getäuscht. Es kam zu schweren Repressalien in Kunst und Kultur, die Wehrpflicht wurde eingeführt.
Die es im Land nicht aushielten, die Flucht wagten, riskierten Gefängnisstrafen oder gar ihr Leben. Bis zur Möglichkeit, einen Ausreiseantrag zu stellen, sollten noch viele Jahre vergehen.
Weil er unerreichbar geworden war, verklärte sich der Westen von Jahr zu Jahr mehr. Wir jungen Leute hatten erst mal nur einen handfesten materiellen Wunsch: Jeans. Dazu gesellten sich Bücher und Schallplatten, die im Osten nicht zu haben waren. Obwohl wir in völlig verschiedenen Gesellschaftsordnungen aufwuchsen, teilten die Jugendlichen aus Ost und West die Liebe zur Musik der Beatles und der Rolling Stones, zu den Liedern von Joan Baez und Bob Dylan, Simon und Garfunkel, und wie sie alle hießen.
Die sechziger Jahre brachten im Westen starke Protestbewegungen gegen den Vietnamkrieg hervor, gegen das Establishment, die fehlende Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit.
Auch uns beschäftigte der Krieg, den die USA in Südostasien führten, und wir hofften auf sein schnelles Ende.
Interessiert verfolgten wir den Eichmann-Prozeß oder die Proteste gegen Globke und Konsorten, Altnazis allesamt, die es in der BRD schon wieder zu Regierungsämtern gebracht hatten. Gegen unser »Establishment« konnten wir zwar nicht auf die Straße gehen, aber viele der jungen Ostdeutschen waren zuversichtlich, schauten in jenen sechziger Jahren vor allem nach Prag. Die Reformen in der ČSSR ließen uns auf Veränderungen im gesamten Ostblock hoffen.
Ich war siebzehn, als der Stacheldraht in Berlin ausgerollt wurde. In einem Schlager heißt es »Mit siebzehn hat man noch Träume«. Auch ich hatte welche. Bis so mancher meiner Träume wahr wurde, gingen Jahrzehnte ins Land.
Es gibt bekanntlich Situationen im Leben, die man nie vergißt. Bestimmte Bilder, verbunden mit gravierenden Ereignissen, prägen sich ein und sind jederzeit abrufbar, wenn in Gesprächen jene Ereignisse berührt werden.
Mir steht ein Erlebnis, das ich als 17jähriger hatte, noch immer vor Augen. An einem Sonntagvormittag im August 1961 klingelte es an meiner Wohnungstür. Obwohl ich damals noch zu den fleißigen Kirchgängern zählte und im gemischten Chor in der nahe gelegenen Methodistenkirche als Tenor sang, war ich an jenem Sonntag zu Hause geblieben, hatte »bis in die Puppen« geschlafen. Als ich noch etwas verschlafen öffnete, stand ein Freund in der damals üblichen feineren Sonntagskleidung vor mir und sagte statt grüß dich!: »Hast du’s schon gehört?«
»Was?«
»Die bauen eine Mauer.«
»Wer?«
»Die DDR.«
»Die DDR?«
»Ja.«
Ich sah meinen Freund verwundert an und kapierte überhaupt nichts.
»Wo?«
»In Berlin.«
»In Berlin?« fragte ich, als hätte ich den Namen der Hauptstadt unserer Deutschen Demokratischen Republik noch nie gehört. »Komm erst mal rein.«
»Die machen die Grenze dicht.«
»Die Grenze?!«
»Ja.«
Nun dämmerte es bei mir. Die Grenze nach Westberlin. Diese Stadt war der Stachel im sozialistischen Fleisch, der Hort des Bösen, die Frontstadt, obwohl an dieser Front glücklicherweise noch nie geschossen worden war. Das sollte sich erst nach und nach ändern. In Westberlin, so sagte die Partei, wurden DDR-Bürger mit westlicher Kultur verseucht, dort gab es Wechselstuben mit Schwindelkursen. Dort wurde überhaupt prinzipiell geschwindelt. Man hatte dafür extra den RIAS geschaffen, den Rundfunk im amerikanischen Sektor. Von dort schwangen sich die RIAS-Enten in die Ätherwellen, und mit diesem Äther wurden schwankende Bürger, nicht gefestigte Menschen hier im Land betäubt. Meine Freunde und ich sahen die Situation mit dem RIAS natürlich ganz anders. Ein paar Jahre zuvor hatte uns »der Onkel Tobias vom Rias« noch begeistert, inzwischen waren es die »Schlager der Woche«, die wir nie verpaßten, wenn uns im Radio ein störungsfreier Empfang beschieden war.
»Wie machen sie denn die Grenze dicht?«
»Mit Betonblöcken und Stacheldraht.«
»Wo haben die denn so viel Stacheldraht her?«
Mein Freund zuckte die Achseln, grinste und meinte: »Vielleicht aus dem Westen?«
Wir lachten und hatten keine Ahnung, wie nahe dieser Scherz der Wahrheit kam.
Eine Mauer aus Betonblöcken? – Ich konnte es noch immer nicht fassen. Hatte ich doch vor nicht allzu langer Zeit irgendwo bei Bekannten im Fernsehen – oder war es im »Augenzeugen« gewesen – Walter Ulbricht gesehen, wie er in einer Pressekonferenz gegen Gerüchte Stellung nahm: »Die Bauarbeiter unserer Hauptstadt beschäftigen sich hauptsächlich mit Wohnungsbau, und ihre Arbeitskraft wird dafür voll eingesetzt. Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten!«
Und nun diese Nachricht!
War das nicht blamabel für Ulbricht, so in die Welt hinaus gelogen zu haben! Störte es die vielen Genossen der SED denn gar nicht, daß ihr Erster Sekretär als Lügner dastand?!
Am 13. August wurde die Mauer errichtet, mit Splittbetonplatten und Hohlblocksteinen, die ursprünglich für den sozialistischen Häuserbau gedacht waren. Daraus entstand nun dieses sozialistische Ungetüm ...
Die Lage hatte sich in den Monaten vorher zugespitzt. Allein während der Weihnachtsfeiertage 1960 waren 3000 Menschen aus dem Osten geflüchtet. Über die Osterfeiertage des Jahres ’61 waren es 5200. Die DDR geriet immer mehr unter Druck. Aber eine Mauer – das hätte niemand geglaubt. Viele meinten, es wäre technisch völlig unmöglich, Berlin zu trennen, die U-Bahn, die S-Bahn, die Schifffahrt, die Leitungen für Strom, Gas, die Kanalisation ...
Täglich überschritten rund 500000 Menschen die Sektorengrenzen. Und es gab 53000 Grenzgänger, so nannte man jene Leute, die im Westen arbeiteten und im Osten wohnten, quasi privilegierte Leute. Wenn sie nur einen Teil des Lohnes in Ost-Mark umtauschten, waren sie nahezu wohlhabend.
Ich selbst hatte Westberlin noch nie gesehen, aber ältere Bekannte fuhren meist einmal im Jahr dorthin, tauschten in den Wechselstuben, kauften sich eine schicke Klamotte in der »HO Gesundbrunnen«. Und gingen vor allem ins Kino!
Von 1949 bis zum 13. August 1961 hatten 2,7 Millionen Menschen die DDR verlassen. Ein großer Teil des Bürgertums war in den Westen gegangen. Geblieben waren oft Menschen, die von ihrer Heimat nicht lassen konnten oder von einer Reform träumten.
Uns wurde in der Schule immer wieder erzählt, daß der Westen an seinen Widersprüchen kaputtgehen wird. Es wäre nicht mehr lange hin. Und trotzdem wollten so viele hinüber in diesen sterbenden Kapitalismus, denn – wie es ein Witz beschrieb: Es wäre »ein schöner Tod«!
Und nun wurde also tatsächlich eine Mauer gebaut ... Am nächsten Tag standen in Schulen Thälmann-Pioniere neben der Büste des Arbeiterführers Wache – mit einem Luftgewehr.
Wir hatten natürlich an jenem Sonntag noch keine Ahnung, was die Grenzsicherung für uns bedeutete, daß wir nun für viele Jahrzehnte vom größeren Teil der Welt abgeschnitten sein würden. Es war uns lediglich etwas mulmig, weil wir ahnten, daß sich die politische Lage dadurch zuspitzen könnte. Und manche sagten auch unverblümt und zornig: »Die mauern uns ein!« oder »Nun ist alles zu Ende!«.
Aus kindlichem Stubenarrest war Landesarrest für ein ganzes Volk geworden.
Natürlich gab es auch Menschen, die meinten, daß es nach dem Mauerbau aufwärtsgehen würde, wenn so viele im Osten ausgebildete Facharbeiter und Wissenschaftler hierbleiben und die DDR-Wirtschaft mit voranbringen würden. Nicht wenige hofften auf Stabilisierung.
An jenem Sonntag im August verbreitete sich allerdings erst einmal die Angst, daß die Lage eskalieren könnte. Kampfgruppen standen am Brandenburger Tor. Die Deutsche Volkspolizei und die Nationale Volksarmee hatten den sowjetischen Sektor abgeriegelt und blockierten alle Wege, die nach Westberlin führten. Sowjetische und amerikanische Panzer hatten die Rohre aufeinander gerichtet. Für den Verkehr nach Westen blieb nur der Bahnhof Friedrichstraße geöffnet.
Die Grenze zwischen Warschauer Pakt und NATO ging nun mitten durch Berlin.
Die Menschen in Ost und West standen fassungslos an der Demarkationslinie und weinten. In jenem Jahr feierte ein Schlager hüben wie drüben Triumphe: Heidi Brühl sang »Wir wollen niemals auseinandergehn, wir wollen immer zueinanderstehn ...«. Die Liebesschnulze bekam durch die aktuelle Politik eine ganz besondere Bedeutung. Viele Westberliner und Westdeutsche forderten ein militärisches Eingreifen. Aber die Westmächte lehnten ab. Das wäre der Beginn eines dritten Weltkriegs gewesen. Und die frisch errichteten Häuser in der Stalinallee wären sechzehn Jahre nach Kriegsende schon wieder Ruinen geworden.
Wie haben wir am 14. August 1961 in meiner Gärtnerei, in der ich lernte, über die »Maßnahmen zur Grenzsicherung« gesprochen? Bei uns war niemand in der Partei, also werden wir offen geredet haben. Ich weiß noch, daß viele Ostdeutsche von diesen Maßnahmen sehr unangenehm überrascht wurden, weil sie für jene Tage ihre Flucht geplant hatten. Man erzählte über solche Leute:
Die hatten schon alles weggegeben!
Die hatten nischt mehr!
Die schliefen zu Hause nur noch auf Luftmatratzen.
Die haben sich bei ihren Verwandten erst mal bißl Geschirr geholt.
Ich entsinne mich lebhaft an ein Gespräch mit einem Lehrer in der Berufsschule. Der Begriff »Antifaschistischer Schutzwall« für die Mauer war ja besonders dreist. Deshalb stellte ich mich dumm und fragte, wie denn diese Formulierung zustande käme. Das hieße doch, in Westberlin herrsche der Faschismus ...?
Nun ja ... also ... so direkt ... aber ... es gebe eben Revanchisten ... die die Ergebnisse der Geschichte nicht akzeptierten ...
Und die sind alle in Westberlin?
Ja ... nein ... Berlin wäre eben die Frontstadt ...
Aber wieso zeigen die ganzen Sperren nach Osten, wenn es um die westdeutschen Revanchisten gehe?
Nun ... es gibt ja auch ... Provokateure aus dem Osten ... Grenzverletzer ... aufgehetzt aus dem Westen ... deshalb dient der Schutzwall in jeder Beziehung dem Frieden ...
Spätestens seit der Erfindung des Flugzeugs ist doch mit einer Mauer kein Krieg mehr zu verhindern ...
Da konnte der langsam ins Schwitzen gekommene, durchaus freundliche Berufsschullehrer nur mit mir hoffen, daß solch eine Zuspitzung der Lage vorher am Verhandlungstisch gelöst werden würde.
Eins stand jedenfalls fest: aus der von mir immer mal wieder geplanten Reise ins geheimnisumwitterte Westberlin würde nichts mehr werden. Nichts da mit den erträumten »Westfilmen«, worunter wir jungen Burschen vor allem kernige Cowboy- und Musikfilme verstanden. Nichts da mit Kaugummi und Comics, die wir damals noch Bilderhefte nannten, oder einem Bummel über den sagenumwobenen Ku’damm, von dem immer in den höchsten Tönen geschwärmt wurde.
Und wie war ich enttäuscht, als ich die Prachtstraße dreißig Jahre später endlich sah! Viele schnell hochgezogene, nichtssagende Fünfziger-Jahre-Bauten neben noblen, erhalten gebliebenen Jahrhundertwende-Gebäuden. Dieses Westberlin unterschied sich an vielen Stellen überhaupt nicht von der Tristesse der Hauptstadt der DDR, und ich fragte mich – eine Forderung von »Experten« bedenkend –, wann man denn nun beginnen würde, auch in Westberlin verschiedene Neubauten abzureißen ...
1960 hatte ich die Schule beendet. Nach dem letzten Schultag feierte ich mit Freunden tagsüber in unserer Wohnung. Wir trugen alle weiße Hemden – das war damals das Zeichen für einen besonderen Tag, bei Feiern einfach obligatorisch. Ich »hottete« auf unserem Klavier herum, der Klotz-Jürgen mit verspiegelter Sonnenbrille drosch auf eine Pauke mit zwei daran befestigten Becken ein, und mit uns grölten Benny, Joe und Uwe ein paar Schlager. Die Musik schallte durch die geöffneten Fenster auf die Leipziger Straße, meine Mutter hatte Bedenken, ob nicht, durch den Lärm angelockt, ein »Schutzmann« kommen könnte. Es kam aber keiner, und wir stellten irgendwann erschöpft das Gejohle ein. Die Schule war also – heiß ersehnt – für immer vorbei, und wir glaubten damals, wir hätten etwas zu feiern. Wir wußten noch nicht, daß wir nie wieder so viel Zeit im Leben haben würden wie in diesen vergangenen zehn Jahren! Kurzsichtig dachten wir nur daran, daß es nun endlich keine Schularbeiten mehr gibt und Schluß ist mit der ganzen Streberei. Dabei hätte uns doch klar sein müssen, daß die auf uns zukommende Lehrzeit kein Honiglecken werden würde.
Als ich 1960 die Zehn-Klassen-Schule beendete, dirigierte Vater Staat die männlichen Lehrlinge in die Industrie oder Landwirtschaft. Berufe wie Buchhändler oder Dekorateur, für die ich mich interessierte, blieben weiblichen Lehrlingen vorbehalten. So durfte ich nicht in die Buchhandlung Marx zu Christoph Freitag und auch nicht ins Konsum-Kaufhaus in die Hauptstraße. Eins stand für mich fest: in die Produktion würde ich nicht gehen. Der polytechnische Unterricht im VEB Sachsenring hatte mir gereicht.
Die Tristesse der zugigen Werkhallen, der Lärm der Stanzen und Drehbänke, der Geruch nach Öl waren nicht meine Welt. Einmal hatten wir am Band bei der Fertigung des »Trabbis« vier Stunden mit einem Elektrogerät irgendwelche Muttern anziehen müssen. Ich war mir wie Charlie Chaplin in »Modern times« vorgekommen.
In den Ferien hatte ich einmal in Zwickau in der Gärtnerei Adler gearbeitet. Natur und Ruhe statt Werkstatt und Maschinenlärm – das hatte mir gefallen. Also warum nicht Gärtner? Natürlich hatten die Erwachsenen uns Jugendlichen immer schon mal scherzhaft gedroht: »Na, wartet nur, wenn die Lehre beginnt! Da pfeift’s aus’m andern Loch! Da wern’se euch die Hammelbeene langziehn!«
Ich landete also als »Stift« in der Stadtgärtnerei an der Crimmitschauer Straße, die an den Friedhof grenzte. Und ich merkte sehr schnell, daß das schulische Leben gegenüber der Lehrzeit der »reine Lenz« gewesen war.
Im ersten Lehrjahr verdiente ich 40 Mark. Ich weiß nicht mehr, wieviel ich davon meiner Mutter »Kostgeld« gab, denn unsere finanzielle Situation war seit dem Tod meines Vaters mehr als bescheiden. Es reichte jedenfalls noch dazu, immer mal in das an der Ecke gelegene Café Hildebrandt zu gehen. So nannten es meine Eltern. Offiziell hieß es inzwischen Café Einheit, aber so sagte kein Mensch, abgesehen davon, daß die ja nun schon geraume Zeit verspielt und überhaupt nicht mehr in Sicht war. Der Volksmund nannte das Kaffeehaus nur »Leichencafé« oder – abgekürzt – »Leica«, weil sich dort nach Beerdigungen die schwarz gekleideten Trauergäste zur Feier versammelten. Entweder feucht-fröhlich oder feucht-traurig ... je nachdem. Ob jemand dort die verlorene Einheit Deutschlands beweint hat, ist nicht überliefert.
An der Kuchentheke vom »Hildebrandt« holte ich mir meist ein Stück Mohnkuchen – seinerzeit mein Lieblingskuchen. Schon damals behauptete man, Mohn mache dumm, aber so schlimm kann die Wirkung nicht sein, denn sonst wäre dieses Buch wegen eines späten Mohnverzehrschadens nicht geschrieben worden.
Nach der Wende wurde aus dem Kaffeehaus ein französisches Restaurant, jetzt residiert dort ein Grieche, und wenn das Buch erscheint, kann die Nationalität schon wieder gewechselt haben. Bisher sind die wunderschönen Art-déco-Glasfenster des alten Cafés noch zu bewundern, aber für den Erhalt gibt es in diesen schnellen Umbau-Zeiten leider auch keine Gewähr.
Nachdem ich Gärtnerlehrling geworden war, tauchte in meinem Freundeskreis für mich die Bezeichnung »Wurzelsepp« auf. Ich glaube, den Spitznamen habe ich meinem Freund Joe zu verdanken. Nicht, daß mich der Name geärgert hätte, aber von einem Abiturienten so angesprochen zu werden, wurmte einen Werktätigen doch etwas. Das legte sich sofort, als derselbe Joe ein Jahr später wegen Studienproblemen bei mir auftauchte: alle Abiturienten sollten erst einmal einen Beruf erlernen. Joe saß da, druckste herum und ließ schließlich die Katze aus dem Sack ... Wie das denn so wäre ... Gärtner ... Ich grinste ein wenig, und bald radelten wir gemeinsam in die Stadtgärtnerei. Dank meines Vorlaufs konnte ich nun schon mit gärtnerischem Wissen brillieren.
Etliche Jahre war ich in der Vergangenheit mit denselben Schülern zusammengewesen, mit der Lehre traten auf einen Schlag eine ganze Reihe neuer Leute in mein Leben. Da war erst einmal mein Lehrmeister Ernst Küttler, ein frommer Mann im besten Sinne, trotzdem ließen ihn die Genossen vom VEB Park- und Gartenanlagen der Stadt Zwickau in Ruhe.
Ein Satz von ihm ist mir aus der Anfangszeit meiner Lehre in Erinnerung geblieben: »Na, Lutz, dir müssen wir auch noch mal das Laufen lernen!« Das sagte er lächelnd, und da war garantiert etwas dran, wer weiß, wie wir 16jährigen damals durch die Gegend schlurften.
Was den prophezeiten »anderen Ton« anbelangte, so war der vom Meister stets moderat, nie laut, aber dabei durchaus nicht ohne Strenge. Es war das rechte Maß, die rechte Mischung.
Ernst Küttler war immer gerecht, lächelte gern, Frauen haben ihn bestimmt als charmant in Erinnerung. Respekt hatten wir vor ihm allemal. Wenn der Meister auftauchte, wurde die Schwatzpause sofort abgebrochen. Keiner, der nicht sofort weitergearbeitet hätte, wenn er sich näherte. Für mich als vaterlosen Halbstarken war er in jener Zeit besonders wichtig.
An einem heißen Sommertag gab es von ihm auch mal – nach besonders guter Arbeit – eine Flasche Bier mit dem berühmten Schnappverschluß. In einem kühlen Raum, seinem Büro, hatte der Meister einen kleinen Vorrat unter dem Schreibtisch deponiert.
Für meine Generation gilt: wir sind von Männern erzogen worden, die allesamt im Krieg waren; diese Jahre haben sie, meinen Lehrmeister wie auch meine Lehrer in der Schule, auf besondere Weise geprägt. Ernst Küttler war als junger Unteroffizier im Jagdgeschwader Bölkow. Als ihn dann der Mangel an Flugzeugen, an Benzin, letztlich an allem, vom Himmel auf die Erde versetzte, erhielt er kurz vorm Ende von einem russischen Scharfschützen einen Halsdurchschuß. Die beiden Narben waren deutlich zu sehen. Und er hat seinem Gott gedankt, daß ihn dieser Schuß vor weiterem Fronteinsatz bewahrte. Allerdings: sein linker Arm war gelähmt und baumelte wie ein nutzloses Anhängsel am Körper. So kam Ernst Küttler in Gefangenschaft, den gelähmten Arm in Gips. Als sowjetischer Kriegsgefangener betrat er jenes Lager, das wenige Tage zuvor noch das Teuflischste gewesen war, was sich Menschen bis dahin ausgedacht hatten: Auschwitz. Und er sah die Ruinen der gesprengten Gaskammern. Während er davon erzählte, verströmten Tagetes ihren intensiven Geruch, und von den Glasscheiben tropfte Kondenswasser auf das Blatt eines Philodendrons, das wie zur Bestätigung nickte. In dieser Gewächshauswelt, in der es so betörend duftete, erschienen uns die Erzählungen besonders unwirklich.
Als Ernst Küttler schließlich wieder nach Hause kam, riet man ihm, sich den Arm amputieren zu lassen, weil er ihn doch nur behindere. Sein Schwiegervater, ein Physiotherapeut, war dagegen und behandelte den Arm über lange Zeit mit Massagen. Eines Tages spürte Ernst Küttler ein Kribbeln in den Fingern, bald konnte er den Arm bewegen und dankte wieder aus vollem Herzen seinem Gott. Mit meinem Lehrmeister Ernst Küttler war ich zwei Jahre zusammen. Ich möchte nie die Zeit der oft harten, körperlichen Arbeit missen. Das positive Vorurteil vieler Menschen: Ach, Gärtner, herrlich! Die schönen Blumen! Und immer an der frischen Luft, bestätigte sich im Alltag allerdings nicht. Erst einmal ist Erde erwiesenermaßen schwer! Und die mußten wir ja unentwegt durch die Gegend karren.
Dann hat Erde im Winter den Nachteil, daß sie gefriert!
Selbst bei 12 Grad minus kommen Sie mit der Spitzhacke ganz schön ins Schwitzen, bis Sie so viel losgeschlagen haben, daß Sie eine Schubkarre damit füllen können.
Die Saatkisten, die wir für unsere Arbeit benutzten, waren meist vom volkseigenen Fischhandel übernommen. Sie rochen nach Hering und Makrele, und in der Gärtnerei kam dadurch etwas Ostseestimmung auf. In die Kisten wurde zunächst ein altes »Neues Deutschland« gelegt, damit die Muttererde unseres Vaterlandes nicht durch die Ritzen rieselte. So diente das zentrale Parteiorgan letztendlich noch einem guten Zweck.
Gern arbeitete ich mit der Kunz-Ingrid zusammen. Sie war etwa mein Jahrgang. Die Haare am Hinterkopf zu einer »Nirle« gedreht, doch stietzten immer welche heraus. Sie war schlank, stets fröhlich, und es machte Freude, sie am Morgen zu sehen. Ingrid wirkte durch ihren Gang selbst in den unerotischen Arbeitshosen und Gummistiefeln reizend. Sie stammte aus Wilkau-Haßlau, also aus jener legendären sprachlichen Gegend, wo die Hasen Hosen und die Hosen Husen haßen. Wenn sie am Samstag – wir arbeiteten damals noch bis mittags – die Gewächshäuser wischte und den Scheuereimer suchte, dann lautete die Frage in ihrem Dialekt: »Wuh iss’n dorr Scheierahmer?«
Im Warmhaus stand ein uralter eingewurzelter Gummibaum. Meister Küttler bestieg ihn einmal im Jahr und säbelte mit einer Säge Äste ab. Er erntete quasi die neuen Gummibäume. Die Äste wurden nachgeschnitten, die Blätter gefaltet und ein Schnipsgummi drumgemacht. Sozusagen Gummi zu Gummi. Dadurch brauchten sie nicht so viel Platz. Dann wurden die Stecklinge in den Sand gesteckt und bildeten Wurzeln. Ich selbst bekenne, daß ich Gummibäume nicht leiden kann, auch wenn mein Freund Tom Pauls ein viel bejubeltes Lied über den Gummibaum singt. Mir sind die glänzenden glatten Blätter irgendwie zu künstlich. Manchmal brachte eine Frau vor dem Urlaub ihren Gummibaum zu uns (Männer hielten es wahrscheinlich für unter ihrer Würde, solch eine Zimmerpflanze durch die Gegend zu schleppen!). Wenn sie ihn dann wieder abholte, schwärmte sie von der guten gärtnerischen Pflege. Die hatte allein darin bestanden, daß wir beim Gießen mit dem Schlauch ab und an auch den Gummibaum von Frau Meyer oder Müller mit dem von Hand regulierten Wasserstrahl benetzten. Aber im Gewächshaus war’s eben wärmer als im Wohnzimmer! So fühlte sich der Gummibaum wie zu Hause – und wuchs schneller!
In jenem Gewächshaus, in dem der große Gummibaum wurzelte, gab es ein sogenanntes Vermehrungsbeet. Ein besonders schöner Name. Normalerweise findet bekanntlich die Vermehrung im Bett statt. Ein Stück Sandbeet war für jene Stecklinge vorgesehen, die fäuleanfällig waren, wie zum Beispiel die von Chrysanthemen. Auch Steckhölzer kamen ins Vermehrungsbeet mit Sand und Torfmull. Die Liguster-Hölzer erinnerten dann an Bleistifte, die man am Strand der Ostsee in den Sand gesteckt hatte.
So wurde das Vorhandene immer wieder vermehrt. Das wunderbare Perpetuum mobile des Gärtners.
Heute haben es Gärtner gar nicht gern, wenn Leute wissen, daß man die Pelargonien oder das Margeritenbäumchen im Herbst nicht entsorgen muß, sondern daß man mit ihnen über viele Jahre leben kann. Nun wünschen sich die Gärtner Menschen, die nicht ahnen, daß vieles »immer wieder kommt«. Alles wegwerfen und im nächsten Jahr neu kaufen – das ist in dieser Gesellschaft überlebenswichtig!
Die lateinischen Namen der Pflanzen faszinierten mich: Canna indica ... Cyclamen persicum giganteum ... Callistephus chinensis. In den Bezeichnungen klangen ferne Länder nach.
Aus solchen Träumereien wurde man sehr schnell gerissen, wenn es um das Ausfahren der Dekorationspflanzen ging. Mit einem klapprigen Framo. Eine besonders ungeliebte Arbeit. Davor drückte sich, wer konnte. Ein triftiger Grund war die Schlepperei, denn man mußte die Lorbeerbäume in den großen schweren Kübeln meist irgendwelche Treppen »hochasten«. Sowohl im »Schwanenschloß« als auch im Schlachthof, dessen Saal besonders verhaßt war, weil er sich unterm Dach befand. Verschärfend kam dazu, daß wir den Dekorationspflanzen-Mann alle nicht leiden konnten. Wenn jemand zum Mittun gesucht wurde, versteckten wir uns am Topfschuppen oder gingen anderswo in Deckung. Dieser B. war ein muffliger Mensch, der kein privates Wort über die Lippen brachte, keinen Satz zum Tag, zu einem Geschehen, nichts.
Launischer als das Wetter im Bermudadreieck.
Nie machte man ihm etwas recht. Er war immer am Stänkern und maulte in seinem superlangsamen Sächsisch: »Na ... looooos ... loof ... ma ... bißl ... schneller ...« Und während man schleppte, dekorierte er, Zigarre im Mund, am Bühnenrand die grüne Schmuckkante: einen Asparagus, einen Chlorophytum, einen Asparagus, einen Chlorophytum ... wegen ihrer weißgrünen Farbe wurden sie nach wie vor »Sachsenband« genannt, obwohl es Sachsen längst nicht mehr gab.
Links und rechts wurde das Rednerpult, das mit dem entsprechenden Emblem der Partei oder der Gewerkschaft geschmückt war, von einem Lorbeerkübel flankiert. So konnte der Redner grün umrankt über die Erfolge beim weiteren Aufbau des Sozialismus palavern. Davor stand meist ein Blumenstrauß, und manch einer der gelangweilten Zuhörer hätte sich gewünscht, so einen Strauß kaufen zu können, denn Schnittblumen gehörten zu den Mangelwaren in der DDR. Reichlich und zur entsprechenden Jahreszeit verläßlich vorhanden waren nur die Blumen auf Wiese und Feld.
Noch schlimmer, als mit B. Dekorationspflanzen zu transportieren, war Mist fahren. Einmal hat es mich zusammen mit der Kunz-Ingrid ereilt. Am GST-Reitstützpunkt am Schwanenteich luden wir Mist auf das Pferdefuhrwerk vom Sieg-Erich und mußten dann hoch auf dem dunkelgelben Wagen durch die ganze Stadt fahren. Dem Sieg-Erich war das egal, der Ostpreuße war froh, mit einem Pferdegespann – wie zu Hause – die Straße entlangzuzotteln. Nicht egal war es uns zwei jungen Menschen von 17, 18 Jahren. Die reine Schande! Wir haben uns im Spaß die Gummijacken über den Kopf gezogen, damit uns niemand erkennen sollte.
Der Mist wurde immer Ende Januar, Anfang Februar geholt, wenn die Frühbeetkästen gepackt wurden. Etwa 20 Zentimeter Mist, dann 10 Zentimeter Erde. Die Cyclamen standen dort drin quasi auf warmen Füßen beziehungsweise Wurzeln. Das Positive bei dieser Arbeit war, daß man auch bei größter Kälte nie an die Füße fror!
Zu unserer Gärtnerei gehörte eine große Freilandfläche. Dort agierten in unverwüstlichen Holzpantoffeln die ebenfalls unverwüstlichen Gartenfrauen Emma und Klara. Beide waren sogenannte Umsiedler. Emma war eine gutmütige Frau, Klara neigte etwas zu Feldwebel-Manieren. Mit ihnen arbeitete Frau Sieg. Sie war mit ihrem Mann aus Ostpreußen nach Zwickau gekommen.
Wenn man durch ein hölzernes Gartentor das Freiland betrat, stieg ein kleiner Weg nach oben. Gleich am Anfang duftete es aus dem Rosenquartier. Links und rechts lagen Felder. Ein dörfliches Milieu mitten in der Stadt. Das benachbarte Stadtgut, wo der Sieg-Erich waltete, verstärkte noch diesen Eindruck.
Die schwersten Arbeiten habe ich in der angrenzenden Baumschule erlebt. Das Reich vom Windisch-Kurt, der bei Wind und Wetter seine Bäume, Bäumchen und Gehölze, nicht etwa »Büsche«, pflegte. Ich erinnere mich, wie wir eines Tages 10jährige Pappeln »ernteten«. Mit einem Rodespaten, an dessen Stiel ein verlängertes Metallblatt saß, hieben wir voller Schwung auf die Wurzeln ein. Der Spaten tanzte in der Luft, bis wir eine Kerbe hineingehackt und diese allmählich vertieft hatten. Schließlich war eine Wurzel nach der anderen mit einem knirschenden Geräusch durchtrennt, man spürte förmlich die Schmerzen des Baumes. Und der ächzte noch einmal mörderisch auf, wenn er aus seinem angestammten Reich gehievt wurde.
Der Windisch-Kurt hatte oft ein verschmitztes Lächeln im Gesicht, das nicht nur der Freude an der Natur geschuldet war, sondern zu Teilen dem kleinen Depot von Kräuterlikör, das er in seinem Holzhüttchen vorbeugend, zur inneren Anwendung gegen Wind und Wetter, angelegt hatte.
Gellerts Butterbirnen habe ich aus diesem Quartier in guter Erinnerung. Mit der Kunz-Ingrid räkelte ich mich in der Mittagspause im Gras, wir schauten in den blauen Himmel und aßen eine Birne zum Brot. Das waren jene Minuten, die der romantischen Seite des Gärtnerberufes besonders nahe kamen, die eine halbe Stunde Urlaubsgefühl vermittelten.
Auf dem Freiland blühten Tausende Stiefmütterchen, bauten wir diverse Kohlsorten an, blumigen und weißen und roten. Ich weiß noch, wie wir im November welchen mit klammen Händen geerntet haben. Fronarbeit. Und die Arbeitsfrauen liefen über das Feld, den ganzen Tag mit dem Kopf nach unten, und murrten nicht. Sie kannten nichts anderes.
Heute ist das Freiland längst verschwunden. Dort, wo wir mitten in der Natur in saftige Gellerts Butterbirnen bissen, steht ein Fabrikgebäude der Westermann Druck GmbH.
Als ich die Lehre beendet hatte, konnte ich leider nicht in der Gärtnerei bleiben. Es gab keine Planstelle, und so mußte ich in einer Brigade für Freiflächengestaltung arbeiten. Keine blühenden Pflanzen mehr, die Romantik des Gewächshauses wurde von der harten Realität verdrängt. Es gab nur noch zwei Begriffe: die Schaufel und die Erde. Und die Erde mußte mit einer Schaufel an eine andere Stelle geschippt werden. Die stupideste Zeit meines Lebens. Die Schaufel bestimmte den ganzen Tag.
In meinem Arbeitsvertrag, ausgestellt auf einem Formular des VEB Vordruck-Leitverlages Spremberg, stand, daß ich in die Lohngruppe B 6 geraten war und einen Grundlohn von 1,71 Mark pro Stunde bekam. Dieser Lohn war eigentlich kein Grund für besonders fleißige Arbeit, aber wir nahmen das ohne Murren hin. Im Arbeitsvertrag wurde ausdrücklich darauf verwiesen, daß ich in einem volkseigenen Betrieb arbeitete. »Dieser Betrieb ist gesellschaftliches Eigentum und gehört allen Werktätigen.« – Vielleicht verdiente ich deshalb so wenig, weil mir ja auch noch ein Teil der Gärtnerei gehörte! »Die Arbeitsrechtsverhältnisse in diesem sozialistischen Betrieb sind daher Verhältnisse der kameradschaftlichen Zusammenarbeit und der sozialistischen gegenseitigen Hilfe der von Ausbeutung befreiten Werktätigen.«
Während also in den privaten Gärtnereien der DDR Mord und Totschlag herrschte, gab es im VEB Park- und Gartenanlagen der Stadt Zwickau »kameradschaftliche Zusammenarbeit«. Und was die Ausbeutung anbetraf, da fiel mir der damals gebräuchliche Witz ein: Im Kapitalismus wird der Mensch vom Menschen ausgebeutet. Im Sozialismus ist es umgekehrt.
Die Schinderei machte ich nicht lange mit, ich folgte meinem Freund Rudolf Kleinstück ins Gemüsekombinat der LPG »Sieg des Sozialismus« in Mosel bei Zwickau. Über die Zeit in der ruhmreichen Genossenschaft habe ich in meinem Band »Dämmerschoppen« geschrieben.
Wenn ich es mir heute überlege, so trug meine Erziehung daheim zur Ehrlichkeit wirklich Früchte bzw. keine, denn ich schwöre: ich habe in der LPG tatsächlich nicht eine einzige Gurke geklaut! Für die anderen Mitarbeiter würde ich in dieser Beziehung keine Hand ins Saatbeet legen, um es einmal etwas gärtnerisch auszudrücken. Ausgenommen mein Freund Rudi Kleinstück, den ich bei unserem nächsten Treffen dazu gleich einmal befragen werde.
Die Arbeit in der LPG war nicht gerade das, was mein Herz erfreute. 1963, in jenem Jahr, als Kennedy vor dem Schöneberger Rathaus 400000 Menschen zurief: »Isch binn ein Börliner«, in jenem Jahr sagte ich, ich bin kein Gärtner mehr.
Und fing als buchhändlerische Hilfskraft in der Zwickauer Volksbuchhandlung Gutenberg an.
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