Mauro geht - Beat Knoll - E-Book

Mauro geht E-Book

Beat Knoll

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Beschreibung

Italien 1960: wegen eines dummen Jungenstreichs wird der siebzehnjährige eher schüchterne Mauro von seinem despotischen Vater kurz vor dem Abitur aus der Schule entfernt und zu seinem Onkel nach Deutschland verbannt. Nach anfänglichen Schwierigkeiten findet er sich in der fremden Kultur zurecht, bis ein weiteres dramatisches Ereignis ihn erneut aus der Bahn wirft. Er flieht, landet in der Fremdenlegion und wird in Algerien, wo die Endphase des Unabhängigkeitskriegs tobt, durch unbarmherziges Training, gefährliche Kampfeinsätze und eine schmutzige Attacke gegen ihn zu einem Wesen, von dem er nicht geglaubt hätte, dass es in ihm steckt.

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Beat Knoll, geboren 1957 in Bern. Grundschule, Gymnasium, Matura. Schauspielstudium in Zürich und Bern. Ab 1979 Engagements an den städtischen Bühnen Nürnberg, Düsseldorfer Schauspielhaus, Residenztheater München. 1981 O. E. Hasse Preis. 1988 Medizinstudium in Basel. 1994 Promotion zum Dr. med. 2000 - 2021 Landarztpraxis Kanton Uri. Heute in Uri und Basel lebend.

Besonders danken möchte ich: Wolfgang Reif (Skript-Verlag), Stephanie Keunecke, Urs Heinz Aerni, Anja Berger, Conny Vischer (Vicon Verlag), Günther Bucher (Bucher Verlag), Claudia Buholzer, Astrid Kirsten, Katja Ries, Gerda Kummer und natürlich meinem langjährigen Freund Graziano Carnielli. Sie alle waren mehr oder weniger direkt an der Entstehung dieses Buches beteiligt.

Inhaltsverzeichnis

ERSTER TEIL

Kapitel 1.

Kapitel 2.

Kapitel 3.

Kapitel 4.

Kapitel 5.

Kapitel 6.

Kapitel 7.

Kapitel 8.

Kapitel 9.

Kapitel 10.

Kapitel 11.

Kapitel 12.

ZWEITER TEIL

Kapitel 13.

Kapitel 14.

Kapitel 15.

Kapitel 16.

Kapitel 17.

Kapitel 18.

Kapitel 19.

Kapitel 20.

Kapitel 21.

Kapitel 22.

Kapitel 23.

Kapitel 24.

Epilog

ERSTER TEIL

1.

Im Jahre 1960 war Carignano ein verschlafenes Städtchen südlich von Turin. Niemand hätte weiter Notiz von ihm genommen, wäre da nicht sein weit über die Grenzen der Provinz bekannter barocker Dom gewesen. Von außen gesehen recht unscheinbar in eine Häuserzeile eingefügt, liegt seine Besonderheit im Inneren des Baus. Das Hauptschiff wurde nämlich halbkreisförmig um den Altar angelegt, wodurch die strenge Frontalausrichtung, die man in Kirchen gewöhnlich vorfindet, sich in einer Art Wellenbewegung auflöst. Wer die Kirche betritt, hat Mühe, sich zu orientieren. Das Auge sucht vergeblich nach einem Fixpunkt, an dem sich eine Ordnung ableiten lässt, und verliert sich in den vielen geschwungenen Linien der Säulengesimse und Seitenkapellen, die um das Zentrum angelegt sind. Zahlreiche Fachleute aber auch Touristen kamen und kommen noch heute nach Carignano, um diese Einzigartigkeit barocker Architektur zu bestaunen.

Auch der Generalvikar der Erzdiözese, Monsignore Pitti, ein gebildeter Mann um die fünfzig, kam öfter hierher. Öfter als sein Amt es erforderte. Mit der Begeisterung eines Kenners durchschritt er den Kirchenraum und es war ihm, als würde er immer neue Details dieser grandiosen Baukunst entdecken, die er für ein Werk eines göttlich inspirierten Geistes hielt.

Anstehende Renovationsarbeiten, die er kraft seines Amtes mit dem hier ansässigen Pater Antonio zu besprechen hatte, führten dazu, dass er in letzter Zeit beinahe jeden Monat einmal zu Besuch kam. Dabei fuhr er mit seinem nagelneuen roten Sportwagen vor und stellte ihn in einer schmalen Seitengasse neben der Kirche auf einem unter Platanen gelegenen, kleinen Parkfeld ab. Dies war die zweite Leidenschaft von Monsignore Pitti: schnelle Autos. Man gestattete ihm diese Grille, denn seine Ernennung zum Kardinal stand kurz bevor. Und da er auf eine aufwendige Renovierung seiner zukünftigen Kardinalsresidenz verzichtete, wollte man ihm diesen für einen Mann der Kirche etwas ungewöhnlichen Wunsch nicht abschlagen. Dass die Farbe seines kleinen Flitzers dem Rot seiner zukünftigen Robe entsprach, war ein weiteres Detail seines Spleens, den er sich umso vorbehaltloser nachsah, je gewissenhafter er in den Belangen seines Amtes unterwegs war.

Carignano liegt am Po. In weit ausladenden Mäandern schlängelt sich dieser gewaltige Fluss durch die Ebene und man wundert sich, woher er das Gefälle nimmt, das ihn in Bewegung hält. Ein Kino gab es zu dieser Zeit in Carignano nicht. Nebst einer neu eröffneten Tanzbar, in der Rock ‚n‘ Roll gespielt und amerikanisches Bier ausgeschenkt wurde, war der Po die Attraktion für die jungen Leute. Seine flachen Ufer waren von Wegen gesäumt, die durch ein dichtes Unterholz führten und zahlreiche verborgene Plätzchen bereithielten. Dorthin konnte man sich verziehen, wenn es darum ging, einen ersten zaghaften Kuss auf die Lippen seiner Angebeteten zu versuchen. Unbeholfen und stürmisch waren sie, diese Übungen. In der Regel gelang es aber der leidenschaftlichen, jugendlichen Unruhe trotz gezierter Abwehr seitens der Dame das Ziel einvernehmlich zu finden. Aber wehe, man wurde dabei erwischt. Von einem Hund vielleicht, der mit seiner Familie während eines Sonntagspaziergangs neugierig die Gegend durchschnüffelnd eines dieser Pärchen aufspürte und bellend aufscheuchte! Da nützte es nichts, den verküssten Lippenstift eilends abzuwischen und den Petticoat zu glätten. Man war entdeckt zur Peinlichkeit aller – mit Ausnahme des Hundes.

Mauro war einer dieser jungen Burschen, die man öfter in den Auen des Po-Ufers antraf. Er kam aber nicht mit einem Mädchen, denn er hatte noch keines. Er kam mit Vittorio, seinem besten Freund. Sie waren beide siebzehn Jahre alt und besuchten dieselbe Klasse. Gemeinsam legten sie sich ins Gras, rauchten Zigaretten und träumten von schönen Autos und von schönen Mädchen. Sie malten sich Geschichten aus, Pläne, wie die eine oder andere zu gewinnen sei. Oder sie blätterten in ihrem Automagazin, in dem die neusten Modelle bis in jedes technische Detail besprochen wurden. Sie malten sich aus, wie es wäre, in einem dieser Flitzer zu sitzen und den Rausch der Geschwindigkeit zu erleben.

Vittorio war der Unbeschwerte von ihnen. In seiner leichten Art, das Leben zu betrachten, machte er großen Eindruck auf Mauro. Vittorio hatte, wie er ihm stets versicherte, schon einmal ein Mädchen geküsst. In allen Einzelheiten hatte er ihm geschildert, wie es ihm gelungen war, den anfänglichen Widerstand des Mädchens zu überwinden, um dann am Ende zu spüren, wie groß ihr geheimes Verlangen nach einem Kuss gewesen sein musste. Wie viel davon Fantasie, wie viel Wirklichkeit war, blieb für Mauro ein Rätsel. Vittorio unterschied nicht zwischen Traum und Wirklichkeit. Er lebte in erträumten Welten, in denen vieles möglich war. Seine Familie war für die damalige Zeit erstaunlich liberal. Der Vater, ein Musiker, spielte im Symphonieorchester von Turin die Oboe. Die Mutter war eine studierte Soziologin, die sich für die Rechte der Frauen einsetzte. Vittorio durfte viel und erlaubte sich noch mehr. Sein Schulhemd trug er bis zur Hälfte aufgeknöpft. Die obligate Krawatte ließ er weg. Und er rauchte in aller Öffentlichkeit. Sein braunes Haar war länger als das der anderen Jungs, und wenn er es nicht wie sein Idol Elvis zu einer Tolle frisierte, stand es ihm in alle Richtungen vom Kopf ab. Den Lehrern wollte es nicht gelingen, diesen freien Geist zu bändigen. Auch Gespräche mit den Eltern führten bloß dazu, dass diese ihnen mangelnde Toleranz entgegenhielten und darauf drängten, der Jugend nicht mit unnötiger Strenge zu begegnen. Vittorio war ein begabter Zeichner. Sein Leben war Lachen. Man sah ihn selten schlecht gelaunt. Kaum eine Schulstunde verging, in der er nicht zur Belustigung seiner Kameraden einen seiner Lehrer mit einer flüchtig hingeworfenen Karikatur trefflich zu skizzieren wusste. In einem geheimen Heft, das er immer bei sich trug, zeichnete er die Mädchen seiner Klasse, leicht bis sehr leicht bekleidet und in unzweifelhaften Posen. Dieses Heft zeigte er nur Mauro. Und nur, wenn sie an einem sicheren Ort, wie hier an ihrer Lieblingsstelle am Fluss, waren.

Ganz anders war Mauro. Er kam aus einem strengen Haus. Sein Vater, ein untersetzter Friulaner mit blauen, kalten Augen, gerötetem Gesicht und Halbglatze, war der Comandante der örtlichen Carabinieri. Obwohl sein Einflussgebiet recht bescheiden war und er im Schatten des übermächtigen Turins ein untergeordnetes Dasein fristete, fühlte sich Massimo Garello nach zähem Hochdienen vom einfachen Aspiranten zum Colonello wie ein kleiner Cäsar. Mitglieder seiner Familie gehörten den berüchtigten Monterosa-Alpini an, die im zweiten Weltkrieg unter Mussolini für die ‚repubblica sociale‘ gekämpft hatten. Der Stolz auf die Heldenhaften eines großen Italiens lebte in ihm weiter, prägte sein Denken, wenn auch nicht offen ausgesprochen, so doch in seinen cholerischen Ausbrüchen erahnbar, wenn er seine Vorstellung von Ordnung verletzt sah. Mauro war wie sein Vater dunkelblond und hatte ebenso blaue Augen. Und obwohl er schlank und groß war, ertappte er sich immer wieder dabei, wie er vor dem Spiegel im Badezimmer erschrocken nach weiteren Merkmalen fahndete, die ihn an den Vater erinnerten. Er liebte seinen Vater nicht. Er hasste ihn aber auch nicht. Er fand keinen Zugang zu ihm. Gerne hätte er ihn bewundert, zu ihm aufgeschaut. Doch er fand nichts, woran er sich hätte klammern können. Das Militärische war ihm fremd. Die Zeit des Krieges, die in der Niederlage Italiens geendet hatte, erfüllte ihn mit Scham. Er konnte nicht begreifen, dass sein Vater den historischen Irrtum nicht eingestehen und die Zeichen der Zeit erkennen konnte. Krieg war für Mauro die Niederlage des Geistes gegen den Vernichtungswillen, der den Menschen innezuwohnen schien. Diese Überzeugung, gepaart mit seinem Gefühl für Gerechtigkeit, machte jede politische Diskussion mit seinem Vater zunichte. Aber er kämpfte nicht für seine Ansichten. Er distanzierte sich innerlich von ihm, und wenn dieser gedrungene Mensch neben seiner Frau stand, die ihn um beinahe einen ganzen Kopf überragte, bedauerte er ihn beinahe, ihn, der Gefühle nicht zu kennen schien, ihn, der eine explodierende Granate auf seiner Uniform trug, ihn, für den Kunst unbedeutend, Literatur Gewäsch und Philosophie gefährlich war. In seinem Inneren war Mauro ein schüchterner und verunsicherter junger Mensch. Ihm fehlte das Fundament, auf dem er stehen, von dem aus er in die Welt blicken konnte. Sein kantiges Gesicht mit der langen Nase und den markanten Wangenknochen war nicht schön und nicht hässlich. In der Damenwelt zählte er nicht wie Vittorio zu den Begehrten. Er stand am Anfang eines Lebens, dessen Weg er nicht sah, dessen Wünsche und Sehnsüchte er zwar spürte oder ahnte, aber die er für sich behielt. Vom Vater war die Anerkennung, der er, nicht wissend aber fühlend, so sehr bedurft hätte, nicht zu bekommen.

Seine Mutter war eine stille, dunkle Frau. Sie stammte aus der Campagna und geriet durch Zufall an Mauros Vater. Im Alter von neunzehn Jahren diente sie in der Kantine eines Militärhospitals im Süden des Landes. In dieses Krankenhaus wurde Massimo mit einer schweren Darmerkrankung eingewiesen, nachdem er im Frühjahr 1941 als junger Korporal mit seiner Kompanie zur Verstärkung in diese Gegend versetzt worden war. Ihre raffaelitische Schönheit und dieser stille, nach innen gerichtete Blick ihrer dunkelbraunen Augen veranlassten ihn, ihr nach seiner Genesung auf der Treppe zum Garten, wo sie sich zufällig begegneten, eine Zigarette anzubieten. Sie lehnte lächelnd ab, was den Jagdhund in ihm weckte. Er ließ nicht locker, bis sie einwilligte, mit ihm ins Kino zu gehen. Jetzt saß sie unglücklich und missverstanden in einem vornehmen Haus, das nur mit Unterstützung ihrer wohlhabenden Familie hatte erworben werden können. Sie war weit weg von ihrer geliebten Heimat, umgeben von bescheidenem Luxus, der ihr kein Ersatz für Herzenswärme war. Aber sie hatte ihre Kinder. Mauro, der ältere, war ihr Herzkind. Das Wunder der Natur, das in ihr gewachsen war, das sie mit ihrer Zärtlichkeit aufgezogen hatte, und das nun als kräftiges, junges Leben vor ihr stand, fühlte sie so nah bei sich, als wäre er ein Teil nur von ihr, nicht auch von ihrem Gatten. Ihr streng katholischer Glaube, in dem sie fest verwurzelt war, gestattete ihr nicht, an eine Scheidung auch nur zu denken. Sie sah diesen Mann als ihr Schicksal, als Prüfung, die ihr Gott gesandt hatte. Und da war auch ihre Tochter, die süße, kleine Adriana, die ihr so ähnelte: das schwarze lange Haar, die braunen Augen und das stille Wesen einer zarten Seele. Wie dankbar war sie, dass sie bei keinem ihrer Kinder die Züge des Vaters sah, und sie betete zu ihrem Gott, dass dies so bleiben und sich nicht, wenn sie erwachsen wurden, sein Charakter in ihnen durchsetzen möge. Ach, wenn meinem Mauro nur nichts Schlimmes widerfährt! Das war ihre wiederkehrende, nächtliche Sorge, die ihr den Schlaf raubte, denn das Mannwerden war ihm doch – das fühlte sie ganz deutlich – neben diesem Vater schwer.

Mauro war froh, dass Vittorio ihn zum Freund bestimmt hatte. Er hielt an dieser Freundschaft fest. Sie war etwas Kostbares, das es zu bewahren galt. In ihr erfuhr er die Einzigartigkeit, gemeint zu sein. Und er war bereit, diesem Gefühl einiges zu opfern und nachzugeben, wenn Vittorio Dinge im Kopf hatte, die seinen Vorstellungen entgegenstanden. Sie steckten, wann immer möglich, nach der Schule zusammen und schwelgten in der neuen Musik, dem Rock ‚n‘ Roll, spielten alle neuen Singles, derer sie habhaft werden konnten, auf dem kleinen Grammofon in Vittorios Zimmer, während dieser seine Skizzen anfertigte. Mauro lebte durch Vittorio und Vittorio lebte von dessen Bewunderung. Sie waren ein ideales Freundespaar: der Darsteller und sein Publikum. Keiner konnte ohne den andern.

2.

An einem Nachmittag, kurz bevor die Schule nach der Mittagspause wieder begann, stürmte Vittorio über den Pausenplatz hinauf ins Klassenzimmer an seinen Platz neben Mauro, der bereits auf seinem Stuhl saß und mit klopfendem Herzen das Erscheinen Aurelias erwartete. Sie war das schönste Mädchen der Klasse und er war, ohne es sich einzugestehen, unsterblich in sie verliebt.

„Du wirst es nicht glauben“, redete Vittorio auf ihn ein, „ich habe sie gesehen!“

„Wen?“

„Die schönste Dame, die je unter dieser Sonne lustwandelte.“

„Aurelia?“

„Ja, die auch. Aber die meine ich nicht.“

In diesem Moment betrat Aurelia die Klasse. Begleitet wurde sie wie gewöhnlich von ihrer besten Freundin Carla, einem unscheinbaren Mädchen mit Brille und zurück gekämmten, fettigen Haaren. In ein lebhaftes Gespräch vertieft, streifte Aurelia mit ihrem umwerfend lasziven Blick die auf sie gerichteten Augen ihres männlichen Publikums, zu dem auch Mauro zählte. Er fuhr zusammen. Mit aufgestützten Armen versuchte er, sich hinter Vittorios Kopf zu verbergen. Sie setzte sich mit einem ihrer Hüftschwünge, der ihren Rock in Rotation versetzte und mehr Bein als erlaubt aufblitzen ließ.

„Lass es. Die ist es nicht wert. Eingebildete Kuh.“

„Wen hast du gesehen?“

„Eine, die auf vier runden, schwarzen Pfoten steht.“

„Nein!“

„Doch!“

„Wo?“

„In einer kleinen Gasse neben dem Dom.“

„Ist die denn schon raus?“

„Sonst stünde sie nicht da.“

„Die muss ich sehen.“

„Na klar musst du das.“

Inzwischen hatte der Lehrer die Klasse betreten und ermahnte die beiden, ihre Konversation einzustellen.

Mauro verstummte und starrte vor sich hin. Vittorio aber sah dem Lehrer direkt in die Augen, warf seinen Kopf in den Nacken und sagte so laut, dass es jeder hören konnte: „Wir haben keine Lust, Ihnen zuzuhören.“

Ein Raunen ging durch die Klasse. Auch Mauro schaute erschrocken zu Vittorio.

„Raus, alle beide.“

Vittorio blickte lächelnd zu Mauro, stand auf und forderte ihn mit einem Kopfnicken auf, ihm zu folgen. Beide verließen das Klassenzimmer. Als Mauro am Pult von Aurelia und Carla vorbeikam, hielt diese ihre Augen niedergeschlagen, während jene ihn durch ihre Brille mit großen Augen ansah. Es war nicht auszumachen, was überwog: Entsetzen oder Bewunderung.

Draußen auf dem Flur schlug sich Vittorio lachend mit der Faust in die Hand: „Was Besseres hätte uns nicht passieren können, komm, ich zeige sie dir.“

Sie verließen das Schulgebäude, überquerten den Hof und liefen durch die Straßen bis zum Dom. Dort verlangsamten sie ihren Schritt und näherten sich der Gasse, in der auf einem kleinen Parkplatz unter einer Platane das Objekt ihrer Bewunderung stand: eine brandneue Giulietta Spider. Sie entsprach exakt dem Modell, das sie vor einem Monat in ihrem Automagazin gesehen hatten. Jetzt stand sie vor ihnen. Was für ein Prachtstück! Elegant wie ein Damenschuh und rot wie die Lippen von Aurelia. Sie standen mit klopfendem Herzen vor ihr und sagten eine Weile nichts.

„Wie wär’s?“, fragte Vittorio, nachdem beide das Auto mehrmals umkreist, seine glänzende Haut mit den Fingerspitzen berührt und mit ihren Blicken liebkost hatten.

„Was?“

„Kleine Spritztour?“

Es liegt wohl im Wesen der Jugend, sich von einer Idee so heftig in den Bann ziehen zu lassen, dass die Folgen nicht bedacht werden. Im Tunnelblick einer gewünschten Wirklichkeit entstehen so die bahnbrechendsten Erfindungen oder die verheerendsten Katastrophen. Das Schicksal ist nicht neutral. Und so steuerten auch die beiden – unfähig, Gefahr gegen Lust abzuwägen – auf ihr Unglück zu. Ihr beider Unglück ist zu viel gesagt. Es war Mauros Unglück, denn sein Freund Vittorio war mit Unverwundbarkeit gesegnet. Blind lenkte ihn seine lachende Zuversicht durch sämtliche Unwägbarkeiten seines Sonnenlebens, in dem er stets der Sieger zu bleiben schien. Amor vincit omnia.

Anders war es bei Mauro. Er spürte Unsicherheit. Furcht kam bei ihm vor dem Mut. Und dass er sich dennoch zu diesem Abenteuer verleiten ließ, lag daran, dass er seine Freundschaft zu Vittorio nicht gefährden wollte, weil er an dessen Kühnheit teilhaben wollte. Blinde Wut empfand er gegen den großen Stein, der vor seiner Lebenshöhle lag und ihm den freien Blick versperrte. Ihn loszuwerden, und sei es mit fremder Hilfe, war ihm bedeutender, als auf die verhassten Warnungen seines Gewissens zu hören.

Vittorio hatte einen Draht dabei, dessen Ende er zu einer Schlinge bog.

„Aha, du hast vorgesorgt.“

„Na klar. Eine Gelegenheit wie diese dürfen wir uns nicht entgehen lassen. Wir tun der Donna doch nichts Böses. Bereit?“

„Bereit.“

„Dann stell dich mit dem Rücken zu mir und schau dich um, ob uns jemand sieht.“

Vittorio steckte den Draht von oben zwischen die Gummidichtung und die Fensterscheibe und schob ihn geschickt durch mehrmaliges Biegen Richtung Türknopf. Dort angekommen drehte er den Draht so lange, bis er den Knopf zu fassen bekam und mit einem gefühlvollen Ruck nach oben ziehen konnte. Es war geschafft, die Lady war bereit. Sie spreizte ihre beiden Türflügel, so dass Vittorio auf der einen und Mauro auf der anderen Seite schnell und unerkannt in sie hinein gleiten konnten.

Sie saßen tief in den bequemen Ledersitzen. Am Rückspiegel baumelte ein Kreuz und ein Bildchen von Christophorus klebte unterhalb des Radios.

Vittorio hielt den Blick auf den Christusträger gerichtet. „Na, dann kann uns ja nichts passieren“, flüsterte der sonst so wortgewandte Junge, dem es angesichts dieser gefährlichen Feierlichkeit beinahe die Sprache verschlagen hätte. Er suchte unter dem Lenkrad nach den beiden Zündkabeln, die er ohne viel Gewalt aus dem Schloss befreien konnte, hielt sie aneinander und startete, nachdem er mit dem Fuß die Kupplung durchgedrückt hatte, den Motor. Was für ein grandioses tiefes Brummen, das Knurren einer gereizten und zum Kampf bereiten Löwin! Die beiden schauten sich begeistert an.

„Mach, dass wir hier wegkommen, bevor uns einer sieht.“

Vittorio setzte den Wagen zurück und verließ den Parkplatz Richtung Hauptstraße, um von dort in südlicher Richtung zum Ausgang der Stadt und auf die SS20 zu gelangen.

Es kam, wie es zu kommen hatte. Als sie die Via Fricchieri hinunterfuhren, um auf die Re Umberto Primo einzubiegen, sah sie der Schuster, der vor seinem Laden stand und sich mit einer Kundin unterhielt. Der Wagen war auffällig genug und der Schuster war ein braver Mann, der sonntags die Messe besuchte und das Kirchenblatt las. Dort war in der letzten Ausgabe ein Bild des Generalvikars Pitti abgebildet gewesen, das ihn mit Pater Antonio neben dem Dom und vor seinem neuen roten Flitzer zeigte. Ihm war sofort klar, dass da etwas nicht stimmen konnte. Mit dem Finger auf den vorbeifahrenden Wagen zeigend verabschiedete er seine Kundin, verschwand in seinem Laden und verständigte die Polizei.

Vittorio ließ den Wagen aufheulen, als sie sich schon ein gutes Stück außerorts auf einer geraden Strecke befanden. Er drückte auf das Gaspedal und gab einen Lustschrei von sich. Mauro beobachtete seinen Freund, der in eine Art Rauschzustand geriet. Vittorio drehte das Radio zu voller Lautstärke auf, fand seinen Lieblingssender und schlug mit beiden Händen den Takt der Musik gegen das Lenkrad, das er immer wieder für kurze Zeit losließ. Mauro erschrak. Konnte er ihm vertrauen? Beherrschte er den Wagen auch bei dieser hohen Geschwindigkeit? Die Straße verlief schnurgerade zunächst dem Ufer des Po entlang, um weiter vorne nach einer scharfen Rechtskurve, die den Wagen beinahe auf die gegenüberliegende Fahrbahn trug, in ein kleines Waldstück zu münden. Zum Glück gab es nur wenig Gegenverkehr. Auch Mauro wurde von einem ekstatischen Gefühl gepackt. Halb aus Wut, halb aus Furcht brach es aus ihm heraus und er begann, beinahe lauter als Vittorio, zu schreien und zu kreischen.

Plötzlich heulten Sirenen hinter ihnen auf. Zwei Wagen der Polizei überholten den roten Alpha und brachten ihn kurz darauf zum Stehen. Vittorio hielt in einigem Abstand zu den Einsatzwagen an.

„Jetzt sind wir dran“, sagte Mauro leise und mit zittriger Stimme.

„Ach. Das wird schon. Nur den Mut nicht verlieren.“

Ein Beamter kam langsam auf sie zu.

„Dokumente“, rief er scharf. An seinem Gürtel hing ein Funkgerät, aus dem eine Stimme plärrte.

„Ja, wir haben sie“, antwortete der Beamte, nachdem er das Gerät in die Hand genommen hatte.

„Also, was ist? Dokumente“, wiederholte er an Vittorio gewandt.

Vittorio blickte lachend zu ihm hoch und sagte unbeschwert: „Hab ich nicht.“

„Aussteigen und mitkommen.“

Sie kletterten aus dem Auto und wurden zu einem der Polizeiwagen geführt. Man fuhr sie nach Carignano zurück und brachte sie auf die Wache. Es waren nicht die Carabinieri, von denen sie gestoppt worden waren, sondern es war die örtliche Polizei. Die Beamten sahen sich jedoch verpflichtet, nachdem in einem kurzen Verhör die Personalien der Delinquenten festgestellt worden waren, eine Meldung des Vorfalls dorthin weiterzuleiten. Die Giulietta des Generalvikars wurde von einem Techniker in der Werksgarage untersucht und, nachdem nebst den herausgezogenen Zündkabeln kein weiterer Schaden festzustellen war, dem rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben. Der Generalvikar bestand darauf, mit den beiden jungen Leuten ein Gespräch zu führen und so hatten Mauro und Vittorio auf der Wache zu warten, bis er erschien. Der große, schlanke, an seinen Schläfen ergraute Mann betrat leise den Raum. Er schaute die beiden vor ihm sitzenden Burschen lange mit ruhigem Blick an und es schien, als würde ein leises Lächeln um seinen Mund spielen.

„Ihr habt also Freude an schönen und schnellen Autos. Das kann ich verstehen, sehr gut sogar“, sagte er wohlwollend und nickte dabei, „denn auch ich empfinde Freude an diesen großartigen Erzeugnissen unserer heutigen Technik.“

Mauro blickte starr vor sich hin. In seinem Inneren tobte wieder ein Kampf. Er hatte versagt, Mist gebaut, auf der ganzen Linie enttäuscht, aber er sperrte sich trotzig gegen Scham und Reue. Er wollte nichts hören, schon gar nicht diese scheinbar sanfte und verständnisvolle Tour, hinter der er eine Falle vermutete. Vittorio dagegen schaute lächelnd ins Gesicht des Generalvikars und nickte mit einem Schulterzucken. Eine leichte Röte huschte über seine Wangen. Er schämte sich, ein wenig.

„Ich will euch sagen, was ich mit euch machen werde“, sagte der Generalvikar nach einer Pause, in der er die beiden nicht aus den Augen gelassen hatte: „Ich werde euch vergeben. Ja, ich vergebe euch. Ihr habt nichts weiter zu befürchten. Jedenfalls nicht von mir.“

Damit stand er auf, trat hinter sie und legte den beiden seine warmen Hände auf die Schultern. „Nur eines wünsche ich mir von euch. Betet ab jetzt jede Woche einmal drei Vaterunser und denkt dabei an mich und unseren Herrn Jesus Christus, der uns, mich eingeschlossen, alle unsere Sünden durch seinen Opfertod sogar schon vergeben hat, bevor wir sie begangen haben.“ Damit entfernte er sich ebenso leise aus dem Raum, wie er gekommen war.

Vittorio schaute nach einer Weile zu Mauro hinüber. Ein breites Lächeln zeigte sich auf seinem Gesicht und er fasste Mauro kameradschaftlich am Nacken: „Na, was hab ich gesagt? Schwein gehabt!“

Die beiden wurden, dafür hatte der Generalvikar gesorgt, ohne Anklage und ohne Strafverfahren entlassen. Die begangene Straftat konnte ihrer Minderjährigkeit wegen auf dem kleinen Dienstweg über ihre Eltern mittels Auferlegung einer Ordnungsbuße erledigt werden.

3.

Für Vittorio hatte der Vorfall keine Folgen. In freundlichem Ton wurde er von seinen Eltern gebeten, Stellung zu nehmen. Er berichtete, er bereute, er lachte. Der Vater bot ihm ein Bier an und schaute zwinkernd zu seiner Frau. „Der Wagen des Generalvikars, nicht schlecht! Der Junge hat was drauf.“ An seinen Sohn gewandt sagte er: „Aber bitte, nicht nochmal so etwas, sonst fliege ich am Ende noch aus dem Orchester, das wäre dann nicht mehr so spaßig, ja?“ Damit war die Sache erledigt.

Ganz anders lief es bei Mauro. Von der Polizeiwache aus waren sie zusammen zurück ins Zentrum gegangen. Mauro hatte wenig gesagt. Die aufmunternden Worte Vittorios waren an ihm abgeprallt. Sie hatten sich an der Bushaltestelle verabschiedet.

„Kopf nicht hängen lassen, he, Mauro, ist doch eigentlich nichts passiert.“

„Mein Alter ist Chef der Carabinieri. Kannst du dir vorstellen, was das bedeutet?“

„Ach komm“, hatte Vittorio entgegnet, während er den herangefahrenen Bus bestiegen hatte, „wir sehen uns morgen in der Schule. Wenn es dir hilft, nehme ich die Sache auf mich. Sag deinem Alten, ich hätte dich dazu angestiftet. Ich geh auch für dich in den Knast, wenn es sein muss. Wird nicht so schlimm sein, glaub mir.“

Es wurde schlimm. Nachdem Mauro noch eine Weile wie die Katze um den heißen Brei in der Stadt herumgeschlichen war, überwand er sich und ging nach Hause. Als er das Haus betrat, begegnete ihm Maria, das Hausmädchen, das ihn sorgenvoll ansah. Das Haus war eigenartig still.

„Ist der Capo schon zuhause?“, fragte Mauro mit gedämpfter Stimme. Sie nickte nur und setzte ihren Weg ins Esszimmer fort, wo sie den Tisch fürs Abendessen herrichtete. Mauro verzog sich eilig nach oben, drehte das Radio auf und warf sich auf sein Bett. Mit den Armen unter dem Kopf lag er da und starrte zur Zimmerdecke. Der Gong wurde geschlagen. Mauro blieb liegen. Er hatte keinen Appetit. Er wusste, dass er da hinunter, dass er das Kommende über sich ergehen lassen musste, aber jetzt noch nicht, noch ist Zeit, dachte er, noch diesen Song zu Ende hören, der ihm mit seinem „Non mi vedi rovinare, oh, no, no, no, no, no. Aurelia, Aurelia, Aurelia, ti voglio piu’ presto sposar“ aus dem Herzen sprach und dessen Text er schon immer auf seine Angebetete umgeschrieben hatte.

„Willst du nicht runterkommen, Rowdy?“ Adriana steckte ihren Kopf durch die Tür und warf ihrem Bruder einen liebevollen Blick zu.

„Wie oft muss ich dir noch sagen, dass du anklopfen sollst?“

„Sei nicht so streng. Nicht nachdem, was heute vorgefallen ist.“

Also wussten schon alle Bescheid. Widerwillig stand er auf, sammelte sich kurz und ging mit kalter Miene nach unten ins Esszimmer, wo alle versammelt auf ihren Plätzen saßen.

Niemand sprach ein Wort. Der Vater saß Mauro gegenüber. Er legte die Zeitung weg, als sein Sohn erschien. Sein kühler, gleichgültiger Blick war nicht zu deuten. Links neben ihm, an der Längsseite des Tisches, saß seine Frau. Eine tiefe Sorgenfalte hatte sich auf ihrer Stirne gebildet. Ihre Augen schauten ihren Sohn zärtlich an. Adriana hatte ihren Platz der Mutter gegenüber. Sie sah nur kurz zu ihrem Bruder hoch, dann starrte sie auf ihren Teller. Maria, die mit den Armen auf dem Rücken neben dem Hausherrn stand, fragte in die peinliche Stille hinein, ob sie auftragen dürfe.

„Aber mit Vergnügen, Maria, wir lassen uns doch von so einem da den Appetit nicht verderben.“

Mit einem Knicks entfernte sie sich und trug den ersten Gang auf. Wie immer verrichtete die Mutter ein kurzes stilles Gebet und schlug das Kreuz vor ihrer Brust, bevor sie zu essen begann. Mauro lehnte sich in seinem Stuhl zurück, stierte vor sich hin und rührte lustlos mit dem Löffel in seiner Suppe. Das einzige Geräusch, das zu hören war, war das Klappern der Löffel in den Tellern der andern.

„Na los, mach schon, dann haben wir es hinter uns“, stieß Mauro zwischen den Zähnen seinem Vater über den Tisch hinweg entgegen.

„Mauro, bitte, dieser Ton scheint mir nicht angebracht“, wies die Mutter ihren Sohn zurecht.

„Aber ich bitte dich, Sofia“, entgegnete der Vater, ohne von seinem Teller aufzublicken, „das ist doch wunderbar gesagt. Es zeigt uns einmal mehr und in aller Deutlichkeit, was dein Sohn für einer ist.“

Als Maria damit begann, die Teller abzuräumen, machte Mauro Anstalten aufzustehen.

„Du bleibst hier“, schrie der Vater so laut über den Tisch, dass alle erschraken und Maria beinahe die Teller hätte fallen lassen. Und dann wieder in süßlichem Ton an Maria gewandt: „Bitte tragen Sie uns doch den zweiten Gang auf.“

Mauro, der sich schon halb erhoben hatte, ließ sich wieder auf seinen Stuhl fallen. Er rührte das Essen, das ihm Maria vorsetzte, nicht an. Stattdessen starrte er auf das Bild an der Wand, das Papst Johannes XIII. zeigte. Für den Rest der Mahlzeit wurde geschwiegen.

Als Maria nach dem Essen den Tisch in Ordnung gebracht hatte, fragte Adriana, ob sie auf ihr Zimmer gehen könne. Einen Zahnstocher im Mund hin und her drehend, antwortete ihr der Vater mit einem Schnalzlaut und einem Kopfnicken. Sie erhob sich erleichtert und verließ den Raum. Wieder sprach lange Zeit niemand ein Wort. Der Vater nahm die Zeitung in die Hand und faltete sie sorgfältig zusammen. Kaum hörbar begann er zu sprechen: „Du bist dir hoffentlich dessen bewusst, in was für eine peinliche Situation du nicht nur mich, sondern deine ganze Familie heute gebracht hast. Ich muss schon sagen, es gehört Mut dazu, wenn der Sohn des Polizeichefs den Wagen des Generalvikars knackt.“

„Wir wussten nicht, dass der Wagen …“

„Du bist jetzt ganz schnell still. Verstanden? Ganz still. Ich will nichts von dir hören. Gar nichts“, herrschte ihn der Vater an. Und nach einer kurzen Pause, in der er seine Beherrschung wiedergefunden hatte, fuhr er fort:

„Ja, ganz schön viel Mut gehört dazu, die Ehre deiner Familie dem Gespött des gemeinen Volks, den Schwatzhaften und den Neidern preiszugeben.“ Er schaute zu seiner Frau und legte ihr zärtlich seine kurzfingrige Hand auf ihren Arm, bevor er in gefasstem und kaltem Ton weitersprach: „Wir haben dich mit unserer Liebe großgezogen. Du bist mein männlicher Nachkomme, warst bis zum heutigen Tag mein Stolz und meine Freude. Bis zum heutigen Tag. Ja. Das ist nun vorbei. Du hast Schande über die Familie Garello gebracht. Schande. Wie ich sehe, scheint es dir nichts auszumachen. Es scheint dich zu belustigen. Soll ich dir sagen, was du für mich bist? Du bist der Dreck an meinen Schuhen, den ich abstreife.“

„Massimo, bitte, sprich nicht so, das kann ich nicht ertragen“, unterbrach ihn seine Frau.

„Siehst du, sie hält zu dir. Wie sie es immer getan hat. Sie wirft sich wie eine Wölfin schützend vor ihr verwöhntes Baby. Aber ich sag euch eines, solange ich das Sagen habe, herrscht hier Zucht und Disziplin.“

Nach einer Pause fuhr er fort: „Und? Hast du nichts zu deiner Verteidigung vorzubringen?“

„Nein“, antwortete Mauro, ohne seinen Vater anzusehen.

„Gut. Wie du meinst. Das passt genau ins Bild, das ich von dir habe. Was denkst du denn, was ich jetzt mit einem wie dir machen soll? Nein, machen muss, um die Ehre unserer Familie wiederherzustellen? Ich werde es dir sagen: Du wirst dieses Haus verlassen.“

Mauro und die Mutter sahen erschrocken auf.