Maya und Domenico: Bitte bleib bei mir! - Susanne Wittpennig - E-Book

Maya und Domenico: Bitte bleib bei mir! E-Book

Susanne Wittpennig

4,8

Beschreibung

Es ist so weit: Die 18-jährige Maya sagt ihrem Zuhause endgültig Lebewohl, um mit ihrem Verlobten Domenico nach Berlin zu ziehen. Damit beginnt ein ganz neuer und aufregender Lebensabschnitt für das junge Liebespaar. Doch ganz so harmonisch und romantisch, wie die beiden es sich ausgemalt haben, gestaltet sich das Zusammenleben nicht. Liest Domenico am Anfang noch jeden Wunsch von den Augen seiner Liebsten ab, lässt er Maya mit der Zeit kaum noch unbeschützt aus dem Haus gehen. Vor allen Dingen, als er merkt, dass Maya in ihrer Klasse eine Menge cooler Freunde findet und neue Interessen entwickelt. Immer deutlicher wird den beiden bewusst, dass sie sich in zwei völlig unterschiedlichen Lebensphasen befinden: Hier Maya, die "die Welt entdecken" und mit ihren neugewonnenen Freunden in einem Filmprojekt mitarbeiten will. Und dort Domenico, der in seinen wilden Zeiten schon so viel Schweres durchgemacht hat, dass er sich am liebsten in seine eigenen vier Wände zurückziehen möchte, um dort mit Maya seine eigene kleine Traumwelt aufzubauen. Immer mehr tut sich zwischen den beiden eine Kluft auf, die kaum noch zu überbrücken ist. Schaffen es die beiden, einen gemeinsamen Weg für ihre so verschiedenen Bedürfnisse zu finden?

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Susanne Wittpennig

Maya und Domenico

Bitte bleib bei mir!

Gewidmet all meinen Leserinnen und Lesern, die seit dem allerersten Buch treu mit Maya und Domenico mitgefiebert haben; besonders denjenigen, die mich mit ihren Feedbacks an ihrem Leben teilhaben ließen und mir und der Geschichte viel Inspiration geschenkt haben.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Text nach der 2. Auflage 2013 © 2014 by `fontis – Brunnen Basel Cover: Susanne Wittpennig, Basel E-Book-Herstellung: Textwerkstatt Jäger, Marburg

ISBN (EPUB) 978-3-03848-624-4

Inhaltsverzeichnis

1. Planänderung

2. Berlin

3. Der verbotene Park

4. Frau Winters Klasse

5. Das Filmprojekt

6. Hinterhof-Streit

7. Die Film-Crew

8. Bleib bei mir …

9. Die verlassene Fabrikhalle

10. Das Liebesschloss

11. Domenicos Tattoo-Art

12. Suleikas Botschaft

13. Gespräche unter Freundinnen

14. Manuel und Nicki

15. Krise

16. Zurück in Berlin

17. Halloween

18. Ich brauch dich

19. Frau Winter sieht es anders

20. Point of no return?

21. Techno-Party am S-Bahnhof

22. Für immer gegangen?

23. Mamas Weisheit

24. Elijah

25. Film ab!

26. Unverhoffte Nachricht

1. Planänderung

Der rötlichblaue Himmel spiegelte sich in den sanften kleinen Wellen des Rheins wider. Die untergehende Wintersonne ließ den Neuschnee auf den schmalen Dächern der alten Häuser und auf den Straßen glitzern. Man konnte den wunderschönen Januarnachmittag mit einem erholsamen Spaziergang längs des Rheinufers oder in der schönen Altstadt Basels verbringen. Oder sich wie ich drinnen in der mollig warmen Studiowohnung meiner Eltern aufhalten und versuchen herauszufinden, was gerade im Gang war. Die gedämpften Stimmen meiner Eltern, die durch die geschlossene Schlafzimmertür drangen, verhießen jedenfalls, dass etwas im Umbruch war.

Paps sprach wie üblich laut genug, so dass ich rasch bemerkt hatte, dass es um mich ging, während Mama im Gegensatz dazu so leise sprach, dass ich den Zusammenhang nicht auf die Reihe kriegte. Ach, das war immer so nervenaufreibend … Wie oft war ich in den vergangenen zwei, drei Jahren das Hauptthema von elterlichen Sorgengesprächen gewesen!

Vor einer halben Stunde hatte ich noch mit Domenico telefoniert. Er war schon ganz verrückt vor lauter Vorfreude darüber, dass ich in einer Woche zu ihm nach Berlin ziehen würde. Mir ging es ähnlich, auch wenn sich in die Vorfreude ein gewisses Maß an Nervosität und Unbehagen mischte.

Unbehagen deswegen, weil dies nun einen sehr langen Abschied von meinen Eltern bedeutete – vielleicht ein längerer, als mir lieb war – und weil ich nicht wusste, wie das Zusammenleben mit Domenico werden würde. Es konnte der Himmel auf Erden, jedoch auch die größte Katastrophe werden. Beide Potenziale waren in ausgeprägtem Maß vorhanden …

Doch in erster Linie machte sich ein warmes und freudiges Kribbeln in meiner Magengegend bemerkbar, wenn ich den goldenen Ring an meinem linken Ringfinger betrachtete. Wir hatten ihn beide mit dem Namen des anderen gravieren lassen, doch erst nach unserer Verlobung. Ich hier in Basel, er in Berlin. Auf der Innenseite meines Ringes stand nun Domenico und das Datum unseres großen Tages.

Es gab Zeiten, da konnte ich diese kleine Inschrift stundenlang betrachten. Verlobt – neben der Tatsache, dass dies für eine noch nicht ganz Achtzehnjährige wie mich reichlich früh war, kam ich nicht umhin, ein gewisses Maß an Stolz zu verspüren. Verlobt – das bedeutete nicht nur, dass ich nun fast erwachsen, sondern auch, dass ich meinen Altersgenossinnen einen großen Schritt voraus war.

Endlich ging die Tür zum Schlafzimmer auf, und Mama trat zu mir heraus. Ich wandte mich schnell wieder dem Fenster zu und tat so, als würde ich den Möwen draußen zuschauen.

«Bist du wieder am Träumen, Kind?»

Ich wandte mich zu ihr um und sah sie an. Ich hatte mich immer noch nicht so ganz an ihren raspelkurzen Haarschnitt gewöhnt. Aber Mama hatte keine Lust, die Perücke auf ihre große Weltreise mit Paps mitzunehmen. Und da die neue Chemotherapie nicht die leidige Nebenwirkung des Haarverlustes mit sich brachte, fand sie, dass sie es nun durchaus mal mit einer Kurzhaarfrisur und einem Stilwechsel versuchen könnte.

Zugegeben, es stand ihr und sah fesch aus zusammen mit der neuen petrolblauen Bluse und den peppigen, ebenso blauen Ohrringen, die sie dazu trug. Aber es war einfach … ungewohnt. Es war nicht ganz Mama. Jedenfalls nicht so, wie ich sie mein Leben lang gekannt hatte. Aber ich war froh, dass es ihr besser ging. Das war das Allerwichtigste für mich.

«Äh … na ja, ich hab nur grad überlegt … ob ich jetzt alle Kleider mitnehmen oder einiges hierlassen soll …» Es war nicht ganz geschwindelt, denn tatsächlich war mir diese Frage vor ein paar Minuten noch so nebenbei durch den Kopf geschwirrt.

«Ja, darüber wollten Paps und ich noch mit dir sprechen. Wir hatten gerade eine längere Diskussion …»

Ja, das hatte ich gemerkt …

«Worüber denn?»

Mama wandte sich nach Paps um, der nun auch aus dem Schlafzimmer trat. «Ich denke, wir sind uns einig – oder, Martin?»

Paps nickte gedankenversunken und holte seine Aktentasche mit den Reiseunterlagen aus der Kommode im Wohnzimmer. Mama ging in die Küche, um uns Tee zu bereiten, und danach machten wir es uns auf der Couch gemütlich. Ich drehte nervös an meinem Ring, während ich wartete, was meine Eltern mir zu sagen hatten. Wenn es nur nicht schon wieder irgendein schlimmer Bericht vom Arzt war, der Mama betraf … Diese dunkle Bedrohung hing ständig wie ein unheimlicher Schatten über meinem Leben.

«Was ist los?», fragte ich, weil ich nicht wollte, dass meine Eltern lange um den heißen Brei herumredeten.

«Also, um es kurz zu machen: Uns ist nicht ganz wohl bei der Sache, dich in einer Woche quasi für immer aus dem Haus zu schicken. Erstens, weil ich als Mutter ein wahnsinnig schlechtes Gewissen habe, dass dies alles so kommen musste und du quasi ruckzuck und über Nacht erwachsen werden musst …»

Ich wollte protestieren, doch Mama ließ mir keine Zeit: «Zweitens … halten wir es schlicht und einfach für zu früh, dass du mit Domenico zusammenziehst. Das haben wir ja schon mehrmals besprochen, und ich möchte das eigentlich nicht nochmals durchwälzen. Also lassen wir das. Drittens – und das ist eigentlich mein Hauptanliegen – möchte ich gerne noch etwas mehr Zeit mit meiner einzigen Tochter verbringen. Auch wenn sich laut der Untersuchungsberichte der Tumor in einem erstaunlich stabilen Zustand befindet, wissen wir ja alle nicht …»

Sie holte tief Luft und stockte einen Moment.

«Nun ja, ich hoffe doch sehr, dass ich nach der Reise weiterhin noch ein paar Jährchen hier sein darf, aber falls … der Tumor sich das anders überlegen sollte, wäre es ein schrecklicher Gedanke, wenn ich mich in einer Woche für immer von meiner Tochter verabschieden müsste.»

Sie schluckte, und auch mir wuchs wieder mal so ein elender Klumpen im Hals. Als wenn mich dieser Gedanke nicht auch schon die ganze Zeit verfolgen würde …

«Kurz und gut: Was ich eigentlich sagen will, ist dies, nämlich dass wir dich gerne auf unserer Reise dabeihätten, Maya. Wenigstens bis zum Sommer. So dass du dann pünktlich Ende der Sommerferien in Berlin in ein neues Schuljahr starten kannst.»

Mama lehnte sich zurück; sie hatte ihr Anliegen ausgesprochen. Paps räusperte sich, und ich hatte aufgehört, an meinem Ring herumzudrehen. Ich hatte nun einiges erwartet, aber nicht das. Und ich konnte nicht mal definieren, was ich angesichts dieses Vorschlages empfand. Es war nicht so, dass ich nicht gern mit meinen Eltern auf Weltreise gehen wollte. Im Gegenteil. Ich hatte sogar oft gedacht, dass es schön gewesen wäre mitzugehen. Aber ich hatte es nie als Möglichkeit in Betracht gezogen. Meine Pläne und meine Zukunft waren nun ganz auf Domenico und Berlin und den Schulabschluss ausgerichtet gewesen. Diese Wende kam so plötzlich und überraschend, dass ich noch gar nicht wusste, was ich denken, geschweige denn sagen sollte.

«Hmm … ich weiß nicht … Nicki wird furchtbar enttäuscht sein …», war somit das Erste, was mir einfiel.

«Ja, ich weiß», sagte Mama. «Wir haben sogar überlegt, ob wir ihn mitnehmen können. Aber je nachdem könnte das vielleicht schwierig werden mit einem Visum für ihn in Amerika bei seiner Vorgeschichte und den Medikamenten, die er nehmen muss. Ich weiß es selber nicht, wir müssten uns jedenfalls erst erkundigen. Außerdem könnten wir ihm wohl nicht die ganze Reise finanzieren. Da müsste schon Morten mithelfen …» Sie wandte sich fragend an Paps, der bis jetzt geschwiegen hatte.

«Nun ja, finanziell würde das halt ziemlich eng werden, da wir dich ja hinterher auch noch gerne während des Studiums unterstützen wollen. Mit einem Beitrag von Nickis Vater wäre das schon möglich, aber ich bezweifle auch, dass Nicki so rasch ein Visum bekommt. Außerdem wäre es mir persönlich ein großes Anliegen, dass er jetzt endlich mal mit dem Schulabschluss loslegt und einen Job findet. Er hat ja immer noch nichts …»

«Es ist schwierig, einen Job zu finden, Paps», warf ich ein. «Er sagte mir, er bekomme nur Absagen …»

«Tja, das wundert mich leider nicht bei seiner Vergangenheit», seufzte Paps. «Deswegen wäre es ja so wichtig, dass er sich wenigstens um den Schulabschluss kümmert.»

«Das schafft er nicht ohne mich, Paps.»

«Kann ihm denn da sonst keiner helfen? Es gibt doch sicher auch Leute, die Nachhilfestunden anbieten. Ich denke eh, dass ein Fernkurs generell am besten für ihn wäre unter den derzeitigen Umständen.»

«Na, ihm fällt halt das Lernen generell schwer», meinte Mama leise. «Ist aber auch kein Wunder nach all dem, was er durchgemacht hat in seinem Leben.»

«Wie auch immer», meinte Paps. «Glücklich bin ich nicht darüber. Wer weiß, wie lange er noch Jugendhilfe bekommt? Na ja, immerhin hat er jetzt einen Vater, das beruhigt mich schon ungemein. Allerdings muss ich halt schon immer wieder feststellen, dass unser Nicki manchmal ein Talent hat, die Dinge vor sich herzuschieben, obwohl wir ja eigentlich mal ausgemacht hatten, dass er das alles regelt, bevor ihr überhaupt an eine Beziehung denkt. Und den Aids-Test hat er ja auch bis heute nicht gemacht …»

«Er hat Angst davor», murmelte ich.

«Was ich zu gut verstehen kann», sagte Mama leise. «Warten, bis man die Resultate vom Arzt hat, kann eine grausame Folter sein …»

Ja, wenn jemand dieses Gefühl kannte, war es Mama. Aber nicht nur sie …

«Nun, ich möchte jetzt nicht schon wieder darauf herumreiten», sagte Paps. «Wir haben dir ja oft genug gesagt, was wir davon halten, Maya. Wir sind nicht sehr glücklich darüber, aber es soll deine Entscheidung sein. Doch es würde uns sehr freuen, dich auf einem Teil unserer Reise mit dabeihaben zu dürfen.»

«Und Amerika würde dich doch sicher auch interessieren. New York, Dallas, San Francisco, Los Angeles, Hollywood, Las Vegas, Hawaii …», zählte Mama auf.

Na, das war wohl keine Frage. Es kam nur einfach alles sehr plötzlich …

«Überleg es dir doch, Maya», erlöste mich Mama aus der Unschlüssigkeit. «Schlaf eine Nacht darüber und sprich mit Nicki. Aber wir würden uns ganz riesig freuen, dich dabeizuhaben. Und es würde dir Zeit geben, noch ein bisschen was zu erleben, bevor du dich völlig bindest. Ob du nun ein halbes oder ein ganzes Jahr Pause von der Schule machst, spielt nun auch keine Rolle mehr.»

Das sah sogar Paps so, obwohl er sonst auf alles, was mit Schule und Abitur zu tun hatte, großen Wert legte.

«Ich denke, in erster Linie muss ich mal mit Nicki darüber reden», war alles, was ich momentan an Entscheidung zustande kriegte.

«Mach das», sagte Mama.

Domenico staunte nicht schlecht, als ich ihn am selben Abend nochmals anrief. Da er nur eine Prepaid-Karte besaß, war ich stets diejenige, die anrufen musste. Allerdings sandte er mir sehr oft eine SMS, dass er vor Sehnsucht nach mir fast sterbe … was bedeutete, dass er sich nach einem Anruf sehnte.

Und es verging auch fast kein Tag, an dem wir nicht telefonierten, auch wenn meistens ich diejenige war, die erzählte, und er einfach zuhörte und mich tröstete, wenn ich es brauchte. Aber er selbst erzählte ja nie gern, wie es ihm gerade ging, und je nach Laune war es fast unmöglich, ihm die Würmer aus der Nase zu ziehen.

Ich hätte meinen hübschen Freund ja so gern beim Sprechen auch gesehen, doch da er sich vehement weigerte, Skype zu benutzen, blieb mir nur die Vorstellung. Aber er fand es abartig, mich auf einem Bildschirm angucken zu müssen. Lieber schloss er die Augen und stellte sich vor, wie ich gerade aussah.

«Du bist eh viel schöner in Wirklichkeit als auf dem doofen Bildschirm», meinte er jedes Mal, wenn ich ihn zu überreden versuchte.

«Principessa mia», rief er erfreut, als ich ihn am Handy hatte. «Menu mali ca chiami. Hab mich riesig danach gesehnt, deine Stimme nochmals zu hören. Staju murennu senz'e tia, to giuru. Quantu mi manchi, scià …»

Er redete ab und zu italienisch oder sogar sizilianisch mit mir, wenn er keine deutschen Worte fand, um das auszudrücken, was tief in seinem Herzen vorging. Ich verstand nicht immer alles, aber ich kannte ihn gut genug, so dass ich zumindest «erfühlen» konnte, was er meinte.

«Ich sehne mich auch wahnsinnig nach dir, Nicki …», antwortete ich und überlegte mir, wie ich ihm das Anliegen meiner Eltern, das nun nach reiflicher Überlegung auch zu meinem eigenen Anliegen geworden war, am besten vermitteln konnte.

Mir blieb nichts anderes übrig, als es direkt zur Sprache zu bringen, und wie ich befürchtet hatte, brach für Nicki eine Welt zusammen. Er schwieg erst mal ganz lange, als ich fertig war mit meinen Erklärungen, und ich konnte trotz der Distanz fühlen, wie seine Brust sich vor innerer Qual zusammenzog.

«Erst im Sommer?» Seine Stimme war so leise, dass sie beinahe brach.

«Na ja … bis dahin sind es … etwa sieben Monate …», rechnete ich aus.

«Cori mia, das überleb ich nicht», flüsterte er entsetzt. «Das kannst du mir nicht antun …»

«Ich weiß … es tut mir ja so leid, Nicki …»

«Ey, du hast keine Ahnung … ich hab ständig die Tage gezählt, bis du endlich kommst … ich …»

Er holte tief Luft, was seiner Lunge einen kurzen, schmerzenden Hustenanfall bescherte.

«Ich geh hier fast drauf … meine Mutter macht mich wahnsinnig, das glaubst du nicht … ruft mich dauernd aus der Klinik an und jammert mir die Ohren voll … erzählt mir nun auf einmal, dass sie drei Abtreibungen hatte und ich weiß mal wieder nicht, was ich glauben soll … und dann haut sie wieder ab und bringt sich in Schwierigkeiten, und ich kann sie wieder irgendwo auflesen …»

«Das erzählst du mir ja gar nie … ich dachte immer, es geht nun besser zwischen deiner Mutter und dir, seit ihr euch auf Sizilien ausgesprochen habt?»

«Nee. Tut es nicht. Ich wollte dich halt nicht belasten damit … aber … ich kann echt fast nicht mehr … hab schon wieder extrem Probleme mit dem Rauchen und allem anderen … und meine einzige Hoffnung ist nur, dass du endlich kommst …»

«Oh Nicki …», seufzte ich, und eine Weile war es still zwischen uns, weil wir beide nicht wussten, was wir sagen sollten. Ich fühlte mich, als würde von beiden Seiten jemand an mir zerren und mich in zwei Teile reißen wollen.

«Es fällt mir auch unendlich schwer, Nicki … und wenn meine Mutter nicht diese Krankheit hätte, dann würde mir die Entscheidung viel leichter fallen», fing ich schließlich wieder mit Reden an. «Aber ich weiß halt nicht, wie lange sie noch leben wird … und wenn ich ihr diesen Wunsch nicht erfüllen kann und sie … vielleicht nicht mehr lange hier sein wird, dann werde ich das mein Leben lang bereuen …»

«Klar», meinte er leise. «Das versteh ich doch …» Genau genommen gab es ja niemanden, der so was besser verstand als Domenico. «Ich mein nur, ich … werd mich schon irgendwie durchschlagen, bis du kommst.»

«Also, rein theoretisch könntest du sogar mitkommen.»

«Was heißt theoretisch?»

«Meine Eltern würden dich mitnehmen, aber Morten müsste dir wohl einen Teil der Reise finanzieren. Und … wir müssten das irgendwie mit deinen Medikamenten regeln.»

«Vergiss es. Ich kann eh nicht weg.»

«Warum denn nicht?»

«Wegen Manuel. Weil diese ganze verkackte Situation mit Carrie und ihrem blöden Penner das Jugendamt so weit gebracht hat, dass sie ernsthaft darüber nachdenken, ihr den Kleinen wegzunehmen, wenn sich das nicht ändert.»

«Ich dachte, sie wollte sich von Zodiac trennen?»

«Ach was. Die findet doch sonst keinen anderen Typen.»

«Hmm … aber ich dachte, sie hätte wieder mit den Drogen aufgehört? Sie meinte jedenfalls, sie hätte es wieder im Griff …»

«Blödsinn», schnitt er mir schroff das Wort ab. «Junkies meinen immer, sie hätten es im Griff. Haben sie aber nicht. Ich mein, ich weiß, wie die ticken. Hab Mingos Drogensucht ja zur Genüge miterlebt. Jetzt zieht sie ja dann aus dem Heim aus und in 'ne eigene Wohnung, und ich weiß nicht, wie das für Manuel wird. Ich mein, wird 'ne Riesenumstellung für ihn. Ich kann ihn nicht schon wieder ein halbes Jahr allein lassen.»

Domenico musste einen Monat lang jeden Cent umdrehen, damit er jeweils wieder eine Reise zu seinem kleinen Neffen Manuel finanzieren konnte, der neben mir die wichtigste Person in seinem Leben war. Und ich verstand, wie unendlich viel ihm das bedeutete. Trotzdem suchte ich immer noch nach einer Möglichkeit, denn diese bevorstehende lange Trennung von Domenico machte auch mir zu schaffen.

«Kann nicht jemand anders in der Zwischenzeit etwas mehr auf Carrie und Manuel aufpassen?», fragte ich.

«Wer denn? Mike, die Schnarchnase?»

«Suleika zum Beispiel. Sie hat sich doch in den letzten Monaten schon oft um ihn gekümmert.»

«Ja, aber die kann auch nicht mehr so easy aus dem Haus gehen. Muss sich ja dauernd bei Freundinnen verstecken, weil sie ziemlich Troubles mit ihrer Familie hat. Und sie kommt doch auch bald nach Berlin. Sobald sie Bescheid kriegt, dass sie 'nen Platz in dieser Kriseneinrichtung für Mädchen kriegt, die zwangsverheiratet werden sollen, ist sie weg. Und das kann jeden Tag passieren. Ich muss einfach die Sache mit Manuel im Auge behalten, mi senti? Wenn ich nach 'nem halben Jahr zurückkomme, ist er vielleicht weg, im Heim oder sonst wo. Und das werd ich nicht zulassen!»

Tja, es sah ganz so aus, als würden wir um diese siebenmonatige Trennung nicht herumkommen, wenn wir beide etwas für unsere Liebsten tun wollten. Dabei waren wir ja wirklich schon mehr als genug getrennt gewesen. Dazu kam, dass wir jetzt auch schon wieder seit über sechs Wochen getrennt waren.

«Ich muss einfach irgendwie schauen, dass ich nicht wieder ganz durchdrehe ohne dich …», ergriff Nicki nach einer längeren Pause leise das Wort. «Ich werd das alles wohl wieder nur mit 'ner heftigen Dosis Medis hinkriegen …»

«Kannst du denn nicht deine Mutter wieder nach Sizilien zurückschicken?», fragte ich. «Es war ja eigentlich nicht geplant, dass sie dir jetzt in Berlin auf die Pelle rückt …»

«Nee, geht ja nicht. Ihr Vater hat sie ja wieder rausgeschmissen, weil sie schon wieder angefangen hat, ihr ganzes Geld zu verprassen. Sie kann nun mal nicht mit Kohle umgehen. Und sonst hat sie ja niemanden mehr. Zio konnte sie auch nicht aufnehmen, weil er ja selber kaum durchkommt. Und jetzt hängt sie sich halt an mich und hat wieder mit der Trinkerei angefangen und fabriziert einen Nervenzusammenbruch nach dem andern und findet, dass alle so böse zu ihr sind. Musste sie in die Klinik bringen, weil ich das fast nicht mehr ausgehalten hab. Aber dort ist sie durchgedreht und hat nur Randale gemacht. Also ist sie halt jetzt wieder bei mir …»

«Wieso hast du sie denn im Dezember überhaupt mit nach Berlin genommen?»

«Was hätte ich denn machen sollen? Sie hat ja sonst niemanden mehr …»

Trotzdem. Eigentlich war ausgemacht gewesen, dass er endlich mal Ruhe vor seiner Mutter haben sollte, wegen der er dauernd so fertig war. Und auch Maria war es zu wünschen, dass sie endlich ein Zuhause für ihr geschundenes Herz fand.

Schließlich konnte ich Nicki nur noch damit trösten, dass ich ihm jeden Tag eine Postkarte aus Amerika senden würde. Nicki versprach mir im Gegenzug, die schönste Laterne in ganz Berlin für mich zu finden. Wie wir beide allerdings mit dieser erneuten Trennung umgehen würden, wusste ich selber noch nicht. Ich würde mir wohl die ganze Zeit über Sorgen um ihn machen müssen. Ich konnte nur hoffen, dass er wenigstens einigermaßen klarkommen würde ohne mich. Dennoch wusste ich, dass meine Zustimmung, meine Eltern zu begleiten, die richtige Entscheidung war. Es war unter Umständen eine Entscheidung, die mein ganzes zukünftiges Leben beeinflussen würde. Und mit Domenico konnte ich ja hinterher im besten Fall noch mein Leben lang zusammen sein …

Ein paar Tage später war alles geregelt. Meine Eltern hatten das Visum für mich beantragt und die Flug- und Hotelbuchungen für die ersten Stationen unserer Reise vorgenommen. Wir würden in New York anfangen und dann weiterreisen nach Washington D.C. und von dort aus entscheiden, wo wir als Nächstes hinwollten – eine Herausforderung für Paps, der am liebsten immer alles minutiös genau plante. Und je näher der Abreisetag heranrückte, desto mehr freute ich mich auch auf diesen Trip, selbst wenn es mich schmerzte, dass ich das alles nicht mit Domenico zusammen erleben konnte.

Ich hatte mir fest vorgenommen, die viele freie Zeit nun dafür zu nutzen, mein angefangenes Werk zu vollenden, nämlich alles niederzuschreiben, was ich mit Domenico erlebt hatte. Doch ob ich das schaffen würde, war eine andere Frage. Ich würde wohl mindestens sieben oder noch mehr Bücher damit füllen können …

Sieben Monate später

2. Berlin

Die Straßen wollten kein Ende nehmen. Ich hatte das Gefühl, dass wir schon eine halbe Ewigkeit durch Berlin kurvten. Und immer wenn ich glaubte, die Stadt müsse doch irgendwann zu Ende sein, landeten wir erneut im Verkehrsdschungel. Und zu allem Überfluss waren wir auch noch im Feierabendverkehr gelandet.

Ich hatte New York gesehen, Washington, Dallas, Los Angeles, Las Vegas. Alles Städte von unfassbarer Größe. Vor einer Woche noch waren wir in Orlando im Disney-Park gewesen, hatten Key West besucht und am Beach von Miami geschwitzt. Trotzdem kam mir Berlin im Moment größer vor als alles andere …

Ich holte tief Luft und lehnte mich im Sitz zurück, um mich zu entspannen. Ich hatte eben noch auf unserer letzten Rast wieder mal eine größere Diskussion mit Paps über Domenico gehabt … uff ja! Ich wusste doch selber, dass die Sache mit Nicki alles andere als unproblematisch war und dass Paps in vielerlei Hinsicht mehr als nur Recht hatte.

Während wir uns weiter durch die Straßen schlängelten, versuchte ich herauszufinden, ob es mir hier gefallen würde. An diesem sonnigen Sommerabend sahen die Straßen und Häuser, die wir gerade passierten, recht einladend aus. Freundlich und hell, aber dennoch fremd. Ich war noch nie so richtig in Berlin gewesen, außer auf der Durchreise. Und ich hatte etliche Bücher gelesen, deren Geschichten sich hier in Berlin abspielten. Dass die deutsche Hauptstadt nun auch Schauplatz meiner eigenen Geschichte werden würde, kam mir im Moment immer noch sehr unwirklich vor.

«Schöneberg. Sind wir wenigstens endlich im Bezirk Schöneberg?», fragte Paps mit einem unterdrückten Seufzer und weckte mich wieder aus meinen Gedanken.

Wir schwitzten beide. Schließlich hatten wir den ganzen heißen Sommertag im Auto verbracht, und die Klimaanlage schaffte es auch nicht ganz, das Innere der Kabine auf eine angenehme Temperatur zu bringen. Doch während ich in einem ärmellosen Top dasaß, steckte Paps in seinem steifen Jackett. Er konnte seine Erziehung eben nicht ganz abschütteln. Zu allem Überfluss hatte nämlich das Navigationsgerät den Geist aufgegeben, und die gute alte Straßenkarte musste herhalten. Und da ich eine Katastrophe im Kartenlesen bin, versuchte Paps gar nicht mehr, mich dazu zu kriegen.

«Kannst du nicht nochmals Nicki anrufen, bitte? Er muss sich doch mittlerweile hier auskennen. Kann er uns nicht irgendwo abholen kommen oder zumindest lotsen?»

Ich wählte seine Nummer, und bereits nach dem zweiten Rufton hatte ich ihn dran.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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