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Die beinahe sechzehnjährige Maya erhält eines Tages einen Brief von ihrem Freund Domenico aus Sizilien. Die Nachricht verheißt allerdings nichts Gutes: Domenico und sein Zwillingsbruder Mingo stecken mal wieder in ziemlichen Schwierigkeiten. Sie sind auf der Flucht zurück nach Deutschland. All die Gefühle für Domenico, die Maya so mühsam zu vergessen versucht hat, brechen wieder hervor. Als sie den beiden Brüdern und deren Halbschwester Bianca erneut gegenübersteht, wird klar, dass die Situation nur schwer zu lösen sein wird. Probleme mit Polizei und Jugendbehörden stehen an, Bianca ist an einer schweren Grippe erkrankt, und Mingos Drogenprobleme scheinen ausweglos. Maya, ihre Eltern und die Klassenlehrerin Frau Galiani versuchen nach allen Kräften zu helfen. Doch es kommt alles anders. Ein tragisches Unglück wirft Mayas Leben fast aus der Bahn und verbindet sie erneut mit Domenicos Schicksal. Sie merkt, dass sie ihre Liebe zu ihm nicht so einfach aus sich herausreißen kann. Auch wenn seine Welt so meilenweit von der ihren entfernt ist. Wie soll sie sich entscheiden?
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Seitenzahl: 439
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Gewidmet
Matthias (1974–1982)
Meiner Mutter, die mich während des Schreibens in vielem unterstützte.
Und meinem Daddy,
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
Text nach der 7. Auflage 2011 (mit minimal neu bearbeiteten sizilianischen Sätzen) © 2014 by `fontis – Brunnen Basel Cover: Susanne Wittpennig, Basel E-Book-Herstellung: Textwerkstatt Jäger, Marburg
ISBN (EPUB) 978-3-03848-614-5
1. Ein rätselhafter Brief
2. Nicki und Mingo
3. Harte Realität
4. Junkie-Bruder
5. Frag nicht!
6. Schlafende Schmetterlinge
7. Teeparty mit Mingo
8. Das letzte Lied
9. Weiße Verbände
10. Leben hinter Regeln
11. Suleika und Gina
12. Das Geheimnis im letzten Zimmer
13. Gangsterbraut
14. Blick in Mamas Vergangenheit
15. Tanz zwischen zwei Welten
16. Kollaps
17. Geschenktes Leben
18. Schritt für Schritt
19. Gefallene Mauern
20. Frau Galianis Rat
21. Der sechzehnte Geburtstag
22. Für immer?
Das Knirschen der Reifen weckte mich langsam aus meinem Schlummerzustand, als Paps in unsere Straße einbog. Der Regen klatschte gegen die Scheiben. Ich hatte meinen Kopf an Leons Schulter gelehnt und fast den ganzen weiten Weg verschlafen.
Es war ja auch schon reichlich spät. Zwei Tage Ärztekongress in Hamburg mit Übernachtung in einem Fünfsterne-Hotel. Mit Dinner in gediegener Atmosphäre und allem, was im Medizinbereich Rang und Namen hatte. Langweiliges Händeschütteln, gehorsames Nicken, doofe Fragen beantworten. Etwas Ätzenderes konnte ich mir eigentlich kaum vorstellen.
Zum Glück waren Leon und seine Schwester Frauke dabei gewesen. Zu dritt waren wir in Hamburg umhergezogen, hatten zusammen eine Menge Spaß gehabt und Leons Verwandte besucht, während meine Eltern die schrecklich langen Stunden im Kongress abgesessen hatten. Jetzt war das Spektakel wieder für ein Jahr überstanden. Weil Leons Eltern im Vorstand waren, mussten sie noch einen Tag länger in Hamburg bleiben, und so hatte Paps sich bereit erklärt, Leon und Frauke mit nach Hause zu chauffieren.
«Na, wach?» Leon stieß mich neckisch in die Seite.
Ich gähnte. «Sind wir zuhause?»
«Du schon!» Er schmunzelte.
Ich hob meinen Kopf und sah Leon an. Seine schönen Zähne leuchteten beinahe im Halbdunkel. Paps hielt vor der Einfahrt und stellte den Motor ab.
«Da wären wir. Ich bringe jetzt noch schnell Leon und Frauke nach Hause. Maya, du gehst jetzt gleich zu Bett, ist das klar? Morgen früh ist Schule!»
«Ja, Paps!», sagte ich.
Leon beugte sein Gesicht über mich und küsste mich auf die Wange. «Tschüss! Wir sehen uns morgen!»
«Ja! Euch beiden auch eine Gute Nacht!» Ich bedachte erst Leon, dann Frauke mit zwei Küsschen und stieg aus dem Wagen.
«Bringst du Leon das Buch morgen mit zur Schule?», bettelte Frauke. «Du hast mich so neugierig gemacht!» Frauke war eine fast noch größere Leseratte als ich. Sie war erst zwölf, aber ich verstand mich großartig mit ihr. Sie war wie eine jüngere Schwester. Ich hatte leider keine echten Geschwister. Na ja, nicht mehr …
Ich winkte Leon und Frauke nochmals zu und hüpfte durch den Regen zur Haustür. Mama holte unser Gepäck aus dem Kofferraum. Seit ich mit Leon befreundet war, fühlte ich mich viel ausgeglichener. Ich aß jetzt wieder richtig. Der ganze Liebeskummer wegen Domenico gehörte allmählich der Vergangenheit an. Domenico lebte nun mit Mingo und Bianca auf Sizilien, und das war gut so. Jetzt war Leon in mein Leben getreten, sehr zur Freude meiner Eltern, die dafür nun endlich wieder eine einigermaßen normale Tochter hatten.
Meine Mutter drückte mir den Briefkasten-Schlüssel in die Hand, während sie den Koffer ins Haus bugsierte. «Da, Maya, bitte guck doch mal nach, ob Post gekommen ist!»
Ich schloss gehorsam das Fach auf. Mama verschwand im Haus und ließ die Tür offen. Das Fach war prall gefüllt mit Zeitungen und Weihnachtskatalogen. Dabei war doch gerade erst Anfang November. Mitten in dem Kram lagen ein paar zerknitterte Briefe. Ich stapelte alles auf meinem Arm und wollte es ins Haus tragen, als mein Blick auf eine fremdländische Briefmarke fiel, die seitlich aus dem Stapel ragte. Übereilt wollte ich diesen mysteriösen Brief hervorziehen, als der ganze Stoß aus meinen Händen purzelte und sich auf dem Boden verteilte. Weltklasse! Grummelnd machte ich mich ans Aufsammeln. Der Brief mit der fremdländischen Marke lag unter dem fetten Weihnachtskatalog begraben. Ich zog ihn hervor und legte ihn obenauf. Es war ein dünner Luftpost-Umschlag, der aussah, als hätte er in einer dreckigen Pfütze gelegen. Als ich genauer hinguckte, sah ich, dass er an mich adressiert war. Und als ich das kapiert hatte, erkannte ich auch die Schrift!
Der lästige Weihnachtskatalog wurde allmählich schwer in meinen Armen, und so beeilte ich mich, ins Haus zu kommen. Ich schlug die Tür mit dem Fuß zu. Mama war in der Küche und setzte Teewasser auf. Ich knallte den Stapel Post auf den Küchentisch und schnappte mir schnell den Brief.
«Äh, Mama … hier ist die Post!»
«Danke! Du gehst jetzt gleich ins Bett, Schätzchen, ja?»
«Klar!» Ich versteckte den Brief hinter meinem Rücken, gab Mama einen Gutenachtkuss und flog die Treppen hinauf in mein Zimmer. Schnell erledigte ich das Nötigste im Bad und verkroch mich ins Bett, wo ich mit zitternden Fingern den Brief zur Hand nahm. Ich kannte nur einen Menschen mit so einer chaotischen und temperamentvollen Schrift. Auf der Rückseite hatte er mit einem großen, geschwungenen D seinen Absender hingekritzelt. Domenico.
Der Brief war so dünn, und meine Finger waren so wackelig, dass ich aufpassen musste, ihn nicht zu zerreißen. Er bestand lediglich aus einem dünnen Notizblock-Zettel.
Liebe Maya Ich wollte dir fiel früer schreiben aber es war mega komblizirt. Wollte dir nur sagen das wir nicht mehr in sicilien sint. Hatten foll erger. Als wir in Catania waren hat Paolo gesagt das er uns kein Metadhon auftreiben kann. Mingo gez krass mies. Paolo hat uns gedrot. Ich würd dich gern wider sehen aber wenn du nicht willst dann bin ich nicht böse es ist eh alles und nichts ist das mehr ein ausweg gibt ich weis es nicht. Sorry mein deutsch ist mal wider eine katastrofe. Ciao, mi manchi. Domenico. Nicki.
Ich ließ den Brief sinken. Mein Herz schlug schneller als ein Trommelwirbel, und das Blut kochte in meinen Venen. Nicki! Das durfte ja nicht wahr sein! Was schrieb er da für wirres Zeug? Und was meinte er damit, dass es Mingo krass mies ging? War er wieder mehr auf Drogen? Und was bedeutete das, dass sie nicht mehr auf Sizilien waren? Wo waren sie dann?
Ich machte mich ein zweites Mal daran, den Brief zu lesen, sorgsam darauf bedacht, meine Gefühle in dem schützenden Kokon zu lassen, in den ich sie in mühseliger, wochenlanger Disziplin nach meinen Ferien auf Sizilien eingesponnen hatte. So lange, bis es mir endlich gelungen war, Domenico in den Hintergrund meiner Gedanken zu drängen und mein Leben wieder nach dem Plan zu führen, nach dem ich es vernünftigerweise führen sollte. Erst Leon hatte mich größtenteils aus diesem Krampf erlöst.
Domenico war meine erste große Liebe gewesen. Aber der letzte Sommer auf Sizilien hatte alles geklärt. Es gab keine Fragen mehr. Er würde dort bleiben und eines Tages seine Freundin Angel heiraten. Und ich lebte hier in Deutschland. Außerdem waren Domenico und ich weiter voneinander entfernt als Tag und Nacht. Weiter als der Osten vom Westen. So weit entfernt, wie eine Arzttochter mit superguten Noten in der Schule und ein Straßenjunge, der sich selber Schnittwunden an seinem Körper zugefügt hatte und Kettenraucher war, nur sein konnten.
Aber da war eben auch die andere Geschichte gewesen. Die Geschichte einer großen und bedingungslosen Freundschaft, die selbst diese Barrieren überwunden hatte. Sie hatte mein Leben, das vorher grau und einsam gewesen war, zum Blühen gebracht. Bei der Laterne im Wäldchen hatten wir unsere ewige Freundschaft besiegelt, und ich hatte meinen allerersten Kuss erlebt, zart wie der Hauch von Schmetterlingsflügeln. Und insgeheim glaubte ich nicht daran, dass ich so etwas Schönes und Zartes jemals wieder erleben würde, aber damit hatte ich mich mittlerweile abgefunden.
Es war ein Traum gewesen, ein Märchen, so lange, bis ich einen Blick hinter die Kulissen geworfen und Domenicos wahre Welt gesehen hatte, die ein einziger Scherbenhaufen gewesen war. Und dann war er aus meinem Leben verschwunden, für immer. Der Glanz war gewichen, das Märchenschloss in sich zusammengefallen, und ich saß nur noch verwundet in einem Scherbenhaufen. Und als ich Domenico letzten Sommer auf Sizilien besucht hatte, war er nicht mehr derselbe gewesen. Und da hatte ich gewusst, dass mein Leben endgültig eine andere Richtung nehmen musste.
Mit einem dumpfen Schmerz in der Magengegend schaute ich zu der Wand neben meinem Bett hoch, an der einst das wunderschöne Bild gehangen hatte, das Domenico für mich als Andenken gemalt hatte, damals, als er für immer zurück nach Sizilien gegangen war. Ich schloss die Augen. Ich ertrug die leere Wand nicht, aber noch weniger ertrug ich den Anblick dieses Bildes. Ich hatte es schließlich abgenommen und in meiner Schublade verstaut, wie all die anderen Andenken auch, die ich von Domenico und Mingo hatte. In einer kleinen Kartonschachtel, die ich zuunterst verstaut und auf deren Deckel ich mit einem dicken Filzstift Nicki und Mingo geschrieben hatte. Ohne diese Tat hätte ich niemals diesen schützenden Kokon um mein Herz spinnen und mein Leben wieder in vernünftige Bahnen lenken können. Die Geschichte mit Domenico war jetzt Vergangenheit und musste es bleiben. Ich hatte angefangen, nach einem sicheren Hafen für mein Leben zu suchen, und ich hatte ihn gefunden. Ein neuer Junge war in mein Leben getreten.
Nur nachts träumte ich manchmal noch von Nicki. Dann träumte ich, er würde mich mit seinen sanften und weichen Lippen küssen. Ich fühlte sie noch am Morgen auf der Haut, wenn ich aufwachte. Und ich wachte nicht gern aus diesen Träumen auf. Es kostete mich jeweils eine ganze Menge gutes Zureden und Aufzählen aller nackten und bitteren Tatsachen, um sie wieder in die hintersten Schranken zu verweisen.
Und deswegen gehörten all diese Erinnerungen an Domenico und Mingo unter Verschluss.
Für immer verriegelt in meinem Herzen.
Reglos lag ich und lauschte meinem Herzschlag. Eine Stunde später lag ich immer noch in derselben Stellung. Der Schlaf wollte einfach nicht kommen. In solchen Situationen stülpte ich mir dann einfach meine Kopfhörer über und ließ mich mit sanfter Musik berieseln, bis die Klänge mich in den Schlaf schaukelten. Doch das ging diesmal nicht, weil ich meinen CD-Player vor ein paar Tagen gecrasht hatte. Er war mir im Pausenhof auf den Boden gefallen, und André war versehentlich mit seinen Riesenlatschen draufgetreten. Jetzt war nicht nur der Deckel zerbrochen, sondern auch irgendwas innen drin. Ich seufzte, zog die Decke über meinen Kopf und schlief irgendwann schließlich doch ein.
Delia krallte ihre spitzen Nägel in meinen Arm und weckte mich aus meiner Trance, als Frau Galianis ernster Blick durch die Klasse schweifte.
«Hey, penn hier nicht ein!», zischte sie.
«Autsch!», rief ich eine Spur zu laut. «Deli, spinnst du?»
Sofort zog ich Frau Galianis Adleraugen auf mich. Eine steile, besorgte Falte grub sich in ihre Stirn. Ich senkte meine Augen schnell auf das Übungsblatt vor mir.
«Maya?» Frau Galiani kam näher.
«Sie träumt sicher wieder von ihrem süßen Gangster auf Sizilien!», stichelte eine spöttische Stimme hinter mir. Ich brauchte mich nicht umzudrehen, um zu wissen, woher dieser Kommentar stammte. Er kam von dem Mädchen, das Tag für Tag seinen ganzen Hass an mir ausließ. Der Hass, der darauf gerichtet war, dass ich, seit Domenico hier alles aufgewirbelt hatte, ihren Platz in dem berüchtigten Mädchentrio eingenommen hatte. Isabelle Laverrière. Diese zickige, boshafte, egoistische Schnepfe.
Mein Kopf glühte. Meine gedanklichen Ausflüge nach Sizilien waren der Klasse nur zu gut bekannt. Aber diesmal hatte ich gar nicht wirklich von Sizilien geträumt …
«Alles in Ordnung, Maya?» Grrr. Ich hasste das. Alle gaben mir ständig das Gefühl, mit einer tickenden Zeitbombe in der Brust herumzulaufen. Wenn nur schon das Gespräch auf Domenico kam, fingen alle an, mich wie eine Mimose zu behandeln. Dabei war das doch vorbei! Hallo? Checkte das keiner? Ich wollte ja gar nicht mehr in Domenico verliebt sein! So realistisch war ich ja selber, um einzusehen, dass das nicht ging! Daran konnte auch sein Brief nichts mehr ändern. Aber ich würde mich eisern hüten, auch nur irgendjemandem was von dem Brief zu erzählen. Er würde in die Kartonschachtel mit Nicki und Mingo wandern und dort für immer bleiben!
Ich straffte meinen Rücken und kniff die Lippen zusammen, während Frau Galiani sich vorne an der Tafel wieder den Pronomen zuwandte.
Ich hätte mich zu gern in der großen Pause mal wieder ungestört mit meinen drei besten Freunden Patrik, Delia und Manuela unterhalten, aber seit einigen Wochen war das nicht mehr möglich. Seit der Zeit waren wir ständig von Ronny und André umlagert. Ronny führte sich wie ein verrückt gewordener Gockel auf, seit Delia nach den Sommerferien endlich angefangen hatte, auf seine Lockrufe zu antworten.
Eigentlich hatte Delia Ronny immer affig gefunden. Aber mit Ronny war in den letzten Monaten eine erstaunliche Wandlung geschehen. Er hatte angefangen, sich von einem weltraumnärrischen Freak in einen jungen Mann zu verwandeln – und nicht mal einem so schlecht aussehenden! Jetzt kam er mit Lederjacke und kunstvoll zerfetzten Jeans zur Schule und ließ neuerdings seine Haare ins Gesicht hängen. Ich ahnte, von wem er sich seinen Stil abgekupfert hatte, aber an Domenico kam er nicht ran, niemals, denn Domenico konnte man nicht so einfach kopieren.
Das Schlimmste war, dass Ronny, dieser Dummkopf, sogar mit dem Rauchen angefangen hatte. Das fand Delia allerdings alles andere als cool. Sie hielt ihm jedes Mal eine Gardinenpredigt, dass sie keinen wandelnden Aschenbecher küssen wollte, was sie dann aber schlussendlich doch tat. Seit sie in Ronny verknallt war, spielten die Hormone mit ihr verrückt.
Da André Ronnys Busenfreund war, mussten wir nun auch seine Gegenwart ertragen, sehr zum Leidwesen von Patrik, der sich immer noch vor diesem großen Kerl fürchtete, wegen der früheren Zeiten, als André, Dani und Ronny noch ein Dreiergespann gewesen waren und Patrik das Leben zur Hölle gemacht hatten. Doch das war nun vorbei. Dani, der Dritte im Bund, ging nicht mehr in unsere Klasse – er war nach den Sommerferien sitzen geblieben.
Wir standen an unserem Stammplatz unter der alten Linde und kuschelten uns fest in unsere warmen Jacken. Ronny versuchte, Rauchkringel in die Luft zu blasen (was ihm kräftig misslang), während André muffig um uns herumwatschelte.
«Los, los, hat einer von euch Mathe gemacht?», murrte er und trat mir dabei mit seinen großen Latschen auf die Füße.
«Au, du Dämel, pass doch auf!», rief ich.
«Ja, ja, sorry», brummte André so männlich er konnte und nahm Patrik ins Visier. «Hey, Kleiner, wie steht's? Kann ich Mathe von dir abschreiben?»
Sag nein, Patrik!, flehte ich in meinem Herzen und schob mich ein wenig vor meinen besten Freund. Patrik war so lieb, aber er konnte sich überhaupt nicht durchsetzen. Na ja, das hatte ich früher auch nie fertiggebracht, bis Domenico mein Leben auf den Kopf gestellt hatte.
«Äh … a-also …», stammelte Patrik.
Ich reckte mein Kinn zu André empor. «Nein!», sagte ich mit fester Stimme. «Und wage es nicht, ihn nochmals zu fragen!»
André fiel fast die Kinnlade runter, und Manuela kicherte. Sie hatten sich noch nicht wirklich daran gewöhnt, dass ich nun eine ordentliche Portion Selbstbewusstsein besaß.
«He-he, klasse, Maya!», jubelte Delia, während Ronny einen mittleren Hustenanfall produzierte, weil er den Qualm zu tief eingeatmet hatte. «Der soll nur mal selber seine grauen Zellen anstrengen!» Damit war André eins zu null geschlagen.
Delia ließ ihre honigblonde Haarpracht über ihre Schultern wallen und warf den Kopf zurück. Ich beobachtete sie mit einem Anflug von Neid. Sie war gertenschlank, und alles, was sie trug, saß perfekt. Dieses Mädchen war einfach makellos schön. Manuela und ich ertrugen das mit Fassung. Wir hatten beide mehr Speck auf den Hüften und weniger Oberweite als Delia und sahen unserer Meinung nach völlig durchschnittlich aus. Ronny verkündete uns tagtäglich, dass seine Freundin die Schönste der Galaxis sei und die anderen Mädchen neben ihr voll einpacken könnten. Mir war das ziemlich egal, weil mich Ronnys Meinung nicht die Bohne interessierte. Domenico hatte mir damals gesagt, dass er mich hübsch fand, und diese Erinnerung hütete ich wie einen kostbaren Schatz in meinem Herzen. Da konnte keiner mehr dran rütteln. Sie beschützte mich wie ein Brustpanzer gegen alle Hänseleien, die mein Aussehen betrafen. Ich war immun gegen sie.
Doch ich war immer noch nicht immun gegen Isabelles Giftpfeile, die ein anderes Ziel anpeilten. Als sie und ihre neuen Busenfreundinnen Sophie und Lilly nun auf mich zukamen, sah ich, dass sie ihren Bogen bereits gespannt hatte.
«Na, süßes Arzttöchterchen, wie war denn der Kongress? Hast du schön mit der Crème de la Crème diniert?»
Ich rollte mit den Augen und starrte von ihr weg auf die Baumrinde der alten Linde, während der Pfeil sein Ziel getroffen hatte. Ich verabscheute dieses Mädchen!
«Schscht, reg dich nicht auf», flüsterte Manuela.
«Hey, ich rede mit dir!» Isabelle stand vor mir und stemmte herausfordernd die Hände in die Seiten. Ich blickte wütend in ihr hartes Gesicht mit den exakt nachgezeichneten, schwarzen Augenkonturen. Sie hatte das perfekte Gesicht, um eiskalte, böse Blicke zu werfen. Alles war spitz, das Kinn, der Stirnansatz und die Nase. Sie trat einen Schritt näher auf mich zu. Ich konnte nicht mehr ausweichen. Hinter mir war der Baum.
«Na, mal wieder was von deinem Gangster gehört?»
«Ach, zisch doch ab, Isa!», brummte André an meiner Stelle, während mein Gesicht sich in eine Glühbirne verwandelte.
«Meine Eltern hätten mir ja niemals erlaubt, mich mit so einem Gangster abzugeben», stichelte Isabelle weiter. «Kettenraucher, Narben im Gesicht, Tätowierungen, Diebstähle, Prügeleien. Und zudem ein Mörder! Und mit so einem hat die sich abgegeben!»
«Domenico ist kein Mörder!», zischte ich wütend.
«Ach ja? Und was ist mit Delis Narbe am Hinterkopf?»
Ich stöhnte. Ließ mich denn diese Geschichte nie los? Ja, das war eine grässliche Sache gewesen, eine Sache, über die Delia nicht gerne sprach. Domenico hatte sie in einem seiner Jähzorn-Anfälle schwer verletzt. Natürlich hatte er sie nicht umbringen wollen, aber er hatte mit unkontrollierter Wut auf sie eingeschlagen, bis sie zusammengebrochen war. Einzig deswegen, weil er mich hatte beschützen wollen. Damals waren Delia und ich noch erbitterte Feindinnen gewesen. Ich würde diesen schauderhaften Anblick nie vergessen, als Delias Kopf in dieser Blutlache gelegen hatte. Und wie ich in Domenicos abgründige Augen geblickt hatte, die mein Märchenschloss hatten platzen lassen.
Delia hatte – und das fand ich großartig von ihr! – Domenico seine schwere Tat verziehen, weil sie erstens wusste, dass sie nicht ganz unschuldig dran gewesen war, und zweitens, weil sie seine schwere Vergangenheit kannte. Doch insgeheim ahnte ich, dass sie nie wirklich drüber hinweggekommen war. Immer wenn Domenicos Name fiel, beobachtete ich, wie ein düsterer Schatten über ihr Gesicht zog und wie sie den Blick abwandte. Ich fragte sie nie, was wirklich in ihr vorging.
Aber jetzt stand diese fies grinsende Isabelle immer noch vor mir und schaute mich provozierend an. Ich war drauf und dran, einfach hysterisch loszuschreien, und wahrscheinlich hätte ich es getan, wenn meine Augen in dem Moment nicht den rettenden Anker meines Lebens erblickt hätten. Leon, der sichere Fels in der Brandung. Das Gegenteil von Domenico, solide, ruhig, klar und aufrichtig. Mein absolut passendes Gegenüber, genau das, was ich nach den stürmischen Turbulenzen brauchte. Ein gutaussehender Arztsohn – okay, nicht so gutaussehend wie Domenico, aber das ging eh nicht. Doch das war schon in Ordnung, damit hatte ich mich abgefunden. Domenico war ein Mythos, unberührbar, fernab von jeder Realität, unberechenbar wie der Wind, nicht zu fassen und unerreichbar für jedes Mädchen. Außer für Angel. Ich biss mir auf die Lippen, und Leons Anblick gab mir die Kraft, einfach durch das feindliche Mädchentrio hindurchzugehen und mich nicht mehr weiter um ihre Hänseleien zu scheren.
Als ich bei Leon stand und in seine funkelnden Augen blickte, füllten sich meine Augen mit den Tränen, die schon die ganze Zeit hatten durchsickern wollen. Verflixt, ich hasste diese dauernde Heulerei! Eine meiner wenigen erbaulichen Eigenschaften war nämlich, dass ich ziemlich nah am Wasser gebaut war. Meine Tränendrüsen funktionierten nicht so wie bei den anderen. Sie ließen sich einfach nicht kontrollieren. Schon kleinste Erregungen wie Wut oder Freude trieben mir das Wasser in die Augen. Das war ziemlich nervig und peinlich!
«Na?», fragte Leon. Seine weißen Zähne blitzten mich an. Ich drückte den Kopf an seine Schulter.
«Was ist los, hänseln sie dich wieder?» Er nickte mit dem Kopf Richtung Isabelle, Sophie und Lilly, die mich anstarrten wie eine Zirkusattraktion.
«Scher dich nicht um sie, meine Liebe.» Leon fasste sanft unter mein Kinn und hob mein Gesicht zu sich empor, um mich direkt mit seinen stahlblauen Augen zu mustern, die sich seit ein paar Wochen hinter Brillengläsern befanden.
«Komm, ich hab was für dich.» Er holte zwei Hefeschnecken hervor, die er beim Bäcker gekauft hatte, und drückte mir eine davon in die Hand.
«Hier, für dich. Du bist so blass heute. Hast du schlecht geschlafen?»
Schlecht geschlafen? Die Nacht war der einzige Horror gewesen! Nicki und Mingo hatten mich in meinen Träumen besucht und hilfesuchend ihre Hände nach mir ausgestreckt, während ein tosender Strudel sie unter mir in die Tiefe gezerrt hatte. Der Strudel hatte erst Mingo verschlungen und dann Nicki, und ich hatte oben auf dem Felsen gestanden, mit hilflos ausgestreckten Händen, und ich hatte sie nicht zu retten vermocht. Und dann war die Sonne gekommen und hatte mit aller Kraft auf das Wasser geschienen, aus dem nur noch eine einzige blasse Hand geragt hatte. Ich hatte die Hand aus dem Wasser gezogen, und Nickis Gesicht im Sonnenlicht gesehen, blutend und verletzt. Er hatte nur noch ein Auge gehabt; von dem anderen Auge war bloß noch eine schwarze, klaffende Höhle übrig gewesen. Und dann war ich schreiend aufgewacht. Ich hasste diese Träume. Sie bedeuteten selten was Gutes.
Als ich später mit meinen Freunden zurück zum Schulhaus wanderte und Leon sich wieder auf das Gelände der Gymnasiasten begab, pfiff ein kalter Wind um meine Ohren, als wolle er mir mitteilen, dass die dramatischste Herausforderung unmittelbar vor mir lag.
Ich hatte den Winter noch nie so gehasst wie dieses Jahr. Diese zähe, kalte Dunkelheit, die den Morgen und den Abend beherrschte und sich wie Schwärze um mein Gemüt legte und mich zeitweise ganz depressiv machte. Es gab nichts, was ich mehr herbeisehnte als den Frühling. Aber der Kalender zeigte erst November und teilte mir die unerbittliche Tatsache mit, dass die lange, eisige Dunkelheit noch vor mir lag. Und diese Dunkelheit war der Grund, warum ich mich an diesem Abend im Pyjama mit meinen Eltern vor den Fernseher gekuschelt hatte und mir einen Film anguckte – etwas, das ich sonst selten tat. Mitten in die Gemütlichkeit hinein klingelte auf einmal das Telefon. Es war bereits weit nach zehn Uhr abends, eine Zeit, wo wir eigentlich keine Anrufe mehr erwarteten.
«Wer kann das sein?», ärgerte sich Paps, während Mama still nach dem Hörer griff.
«Hallo?» Und dann: «Hallo, wer ist da? Wer bist du?»
Paps schaltete den Fernseher aus, und es war still.
«Ja, sie ist da …» Mama runzelte die Stirn und reichte mir den Hörer. «Für dich. Es ist ein Junge …»
«Hallo?» Meine klammen Finger krampften sich zitternd um den Hörer, und meine Stimme hörte sich wie hauchdünnes Pergamentpapier an. Eine raue, dunkle Jungenstimme antwortete mir durch das Rauschen im Hintergrund.
«Maya? Bist du's?»
Der leichte, jedoch unverkennbare italienische Akzent brachte meinen Herzschlag aus dem Takt.
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