Maya und Domenico: Träume mit Hindernissen - Susanne Wittpennig - E-Book

Maya und Domenico: Träume mit Hindernissen E-Book

Susanne Wittpennig

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Beschreibung

Nach zehn Jahren Pause sind Maya und Domenico wieder da! Das junge Paar lebt mittlerweile auf Sizilien und hat gerade das zweite Kind bekommen. Alles könnte so schön sein, wären da nicht die Herausforderungen, die Domenicos Heimat mit sich bringt. Während ihr Ehemann an allen Ecken und Enden für Gerechtigkeit sorgt, ficht Maya ihren eigenen Kampf aus: Wo sind all die Träume geblieben, die Domenico und sie einst hatten? Sie spürt: Wenn sich nicht bald etwas an der Situation ändert, läuft sie Gefahr, auszubrechen …

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Seitenzahl: 536

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Susanne WittpennigMaya und Domenico:Träume mit Hindernissen

www.fontis-verlag.com

Infos über die Autorin und über«Maya und Domenico»gibt es auf:www.schreibegern.ch

Ein Hinweis zu diesem Buch:Der Prolog am Anfang dieses zehnten «Maya und Domenico»-Bandes ist vor einiger Zeit bereits einmal veröffentlicht worden – aber nie in einem der ersten neun Bände der Reihe. Der Fontis-Verlag fasste vor einigen Jahren die ersten neun Bände in einem schön gestalteten Schuber zusammen – darin enthalten waren drei dicke Hardcover-Ausgaben, in denen der damalige Gesamttext in seiner Ganzheit wiedergegeben war, viele Hintergrundinfos zur Entstehungsgeschichte der Reihe und zum Leben der Autorin inklusive. Ergänzt wurde jene Gesamtausgabe mit einem damals noch exklusiven neuen Text, der das Bindeglied darstellte vom Ende des neunten Bandes zum Ist-Zustand etwa vier Jahre später. Dieser Text bildet jetzt in leicht aktualisierter Form auch das Bindeglied zwischen dem neunten und dem heute vorliegenden zehnten Band und ist deshalb hier als «Prolog» der neuen Story vorangestellt.

Widmung:Für all diejenigen, die sich gewünscht haben,dass es mit Maya und Domenico weitergeht.

Susanne Wittpennig

Maya und Domenico:

Träumemit Hindernissen

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Das in diesem Roman von Mayas Papa Martin (in wenigen Teilen) vorgelesene Interview «Mafiosi wirken wie brave Bürger» auf Seite 323/324 erschien sowohl im Internet wie auch in diversen Printmedien, so u. a. bei «Tamedia Basler Zeitung», 3. August 2023, Seite 2. Und der in den Kapiteln 9 und 13 des Romans spezifisch beschriebene Drogenfund steht in Bezug zu diversen realen Begebenheiten: In ganz ähnlicher Weise fand man zum Beispiel 2023 vor der Ostküste Siziliens im Meer treibende Drogenschmuggelware im Wert von über 400 Millionen Euro; jener Fall wurde in unzähligen Medien europaweit thematisiert, u. a. bei der italienischen RAI.

Der Fontis-Verlag wird von 2021 bis 2024vom Schweizer Bundesamt für Kultur unterstützt.

© 2023 by Fontis-Verlag Basel

Umschlag: Susanne Wittpennig, Basel E-Book-Vorstufe: InnoSet AG, Justin Messmer, Basel E-Book-Herstellung: Textwerkstatt Jäger, Marburg

ISBN 978-3-03848-713-5

Inhalt

Prolog

1. Der Löwe des Hafens

2. David Michele

3. Besuch aus Deutschland

4. Freundinnen-Talk

5. Marias große «Sorpresa»

6. Gefährliche Schwester

7. Manuels Traum

8. Mütterlicher Skype-Rat

9. Verhängnisvolle Entdeckung

10. Das Meer hat seine eigenen Träume

11. Ein neuer Anfang

12. Verheerende Nachricht

13. Im Zwiespalt der Gefühle

14. Eine Hochzeit mit Folgen

15. Flucht nach Catania

16. Die Entscheidung

17. Heimkehr

18. Ein neues Kapitel

Die Autorin

Prolog

Mein liebes Tagebuch,

es ist höchste Zeit, dass ich endlich mal wieder ein paar Zeilen schreibe. Nun lebe ich schon fast vier Jahre als verheiratete Frau hier auf Sizilien – und ich habe dich kaum mehr angerührt! Du musst mich vermisst haben! …

Es gibt hier ja auch immer so viel zu tun, dass ich kaum dazu komme, mal ein paar Zeilen zu schreiben. Doch nun habe ich gerade mal eine Stunde Zeit, bevor Nicki nach Hause kommt und wo zur Abwechslung mal niemand im Haus ist, und diese Zeit will ich nutzen. Denn es gibt viel zu erzählen.

Wenn ich zurückblicke auf all die Jahre, werde ich voll und ganz mit Dankbarkeit erfüllt. Ich kann zwar nicht behaupten, dass mein Leben perfekt ist, aber wenn ich bedenke, wie sehr wir gekämpft und was wir nun alles erreicht haben, so kann ich nicht anders, als nun endlich mal innezuhalten und meinem Schöpfergott zu danken.

Zuerst einmal kann ich wirklich von ganzem Herzen sagen, dass ich es bis jetzt nie bereut habe, Domenico geheiratet zu haben. Ich war mir tief drinnen so was von sicher, dass wir zusammengehören, trotz all der Probleme, die wir damals hatten. Und ein besseres Gefühl als dieses Wissen kann es fast nicht geben. Ich bin glücklich mit der Wahl, die ich getroffen habe, auch wenn unser Leben nicht ohne Herausforderungen und Hürden ist. Wir haben jedoch gemeinsam schon so vieles überwunden, sind durch so viele Höhen und Tiefen gegangen, dass wir nun unwiderruflich miteinander verbunden sind. Das schweißt uns einfach fest zusammen.

Und Domenico hat derart intensiv an sich gearbeitet, wie es überhaupt nur möglich ist. Schon vor der Hochzeit hat er wirklich alles darangesetzt. Er wollte so sehr sein Leben auf die Reihe kriegen. Für mich, für Manuel und für unsere Kinder. Und er hat es wirklich geschafft, kann man sagen.

Nach der Therapie, die ja nun schon so einige Jahre zurückliegt, hat er noch öfters mit Flashbacks und den Nachwirkungen seines ehemals ausschweifenden Lebensstils zu kämpfen gehabt. Sein Körper und seine Psyche sind manchmal fast zusammengeklappt. Aber er hat nie resigniert oder klein beigegeben. Er hat sich immer wieder aufgerafft und sich zusammengerissen.

Und er hat sich standhaft geweigert, jemals wieder irgendwas an Pillen reinzuschmeißen. Vom Rauchen und anderen Stoffen ganz zu schweigen. Er hat es tatsächlich geschafft, sich seit unserer Hochzeit nie wieder eine Zigarette anzuzünden. Darauf ist er wohl am meisten stolz. Und ich bin es ebenfalls. Die Arbeit hier auf Sizilien und bei Zio Giacomo hat ihm dabei sehr geholfen. Und natürlich Manuel. Und ich habe ihn ja auch besucht, so oft es mir möglich war, und wir haben immer wunderschöne Ferien gehabt.

Er hat mich dann immer nach Strich und Faden verwöhnt und mich auf Händen getragen.

Nicki hat in jener Zeit Zios ganzes Haus für uns renoviert, damit wir nach der Hochzeit ein schönes Zuhause haben. Das hat ihm viel Freude gemacht. Er hat neue Möbel für uns organisiert, ein wunderschönes neues Bett und sogar eigenhändig eine neue Küche eingebaut. Nicht, dass die Sachen nigelnagelneu gewesen wären, nein, er hat sie alle irgendwie durch ehrliche Deals und Gefälligkeiten günstig erstehen und organisieren können.

Und Zio Giacomo hat ihm dabei geholfen. Es war ihm nur recht, dass Nicki hier das Zepter übernahm, und er hat uns gerne das Eheschlafzimmer überlassen. Nicki hat ihm dann dafür das Kajütenbett-Zimmer neu eingerichtet und ihm ein neues, bequemes Bett beschafft.

Und schließlich hat Nicki mir auch eine grandiose Hochzeitsnacht geschenkt, ein wunderschönes «erstes Mal». Meine Freundinnen sind immer ganz neidisch gewesen, wenn ich ihnen davon erzählt habe.

Das heißt, nein, von unserem allerersten körperlichen Zusammenkommen selbst habe ich eigentlich nie erzählt. Dieses kostbare Geheimnis habe ich ganz für mich behalten, aber dir, mein liebes Tagebuch, vertraue ich es an.

Nicht, dass alles glorios gewesen wäre. Wir waren beide so unheimlich nervös. Und sind so vorsichtig miteinander umgegangen. Nicki hat ein wenig Angst gehabt, mir irgendwie wehzutun. Er fühlte so eine riesengroße Verantwortung, mir mein erstes Mal so schön wie nur möglich zu bereiten. Er hat mir später gestanden, dass er sich schon wochenlang zuvor darauf vorbereitet hat. Er hatte sogar meine Mutter angerufen und sie um Rat gefragt, stell dir vor. Er wollte total sicher sein, alles richtig zu machen, weshalb er doch tatsächlich von Mama als erfahrener Ratgeberin wissen wollte, was eine Frau beim Sex eigentlich alles fühlt und was für sie denn wirklich schön ist. Und ob ein Mann verhindern könne, dass es beim ersten Eindringen zu einer Blutung komme. Wie lieb von ihm! Welcher sizilianische Macho würde seine Schwiegermutter sonst so was fragen?

«Blutung ist normal, mein lieber Nicki», sagte Mama zu ihm. «Passiert meistens, aber nicht immer. Es gibt Frauen, bei denen kein Tropfen Blut zu sehen ist.»

Na, bei mir dann aber schon. Aber du, es hat mir nichts ausgemacht, und ich war sogar eine wenig stolz darauf!

Der ehemalige Straßentiger hat sich ja früher nie darum gekümmert, was die Mädchen gefühlt haben. Im Gegenteil, er hatte sie benutzt, um ihnen wehzutun und um sich unbewusst – und manchmal auch sehr bewusst – an seiner Mutter und überhaupt an allen Frauen schlechthin zu rächen, die ihn nur ausgenutzt und im Stich gelassen hatten. Für ihn hatte Sex nie etwas mit Liebe zu tun gehabt, sondern mit Rache und Revanche.

Wir haben einmal in einem langen Gespräch miteinander ausgemacht, dass er all diese Details, wie und was genau da alles abgelaufen ist, lieber für sich behalten will. Auch sein Psychologe in der Therapie in Norwegen hatte ihm dazu geraten, seiner zukünftigen Frau nicht alles auf die Nase zu binden. Und ehrlich gesagt bin ich mittlerweile selbst froh, nicht alles wissen zu müssen. Das, was ich weiß, hat mich schon genug belastet, und mehr Details brauche ich nun echt nicht mehr zu kennen.

Aufgrund all dieser Dinge hatte Nicki natürlich Angst, es in unserer Hochzeitsnacht irgendwie zu verpatzen. Aber er hat es nicht verpatzt.

Nicht, dass dieses erste Mal nun das beste Mal und die Krönung schlechthin gewesen wäre – nein, das war es bei weitem nicht. Wir haben uns beide in dem Bestreben, alles richtig zu machen, ziemlich linkisch angestellt, wenn man das so sagen kann. Wir waren ja auch ganz schön müde nach diesem rauschenden Hochzeitsfest. Aber die Zärtlichkeit und der Respekt, mit dem wir miteinander umgingen, haben das alles wieder wettgemacht. Und wir haben auch viel gelacht dabei! Ich hatte mir das alles viel ernster vorgestellt!

Nicki hat mich zuerst nach guter alter Manier über die Türschwelle getragen und mich sanft aufs Bett gelegt, wo er bereits die Tage zuvor alles mit Lichterketten geschmückt hatte. Ich durfte es natürlich nicht sehen, weil er mich damit überraschen wollte.

Ja, ich habe wirklich einen wunderbaren Mann. Das sagt nun sogar Delia, die immer so skeptisch gewesen ist. Aber sie lässt nun auch immer wieder durchblicken, dass ihr Ronny ja nie auf solche Ideen kommen würde. Der ist so ziemlich der unromantischste und unsensibelste Typ, den man sich vorstellen kann. Delia hat mir einmal gestanden, dass ihre Hochzeitsnacht eher nach dem Motto «Rein und wieder raus» abgegangen sei, und dann sei Ronny einfach fix und fertig neben ihr eingepennt und habe sich, erschöpft, wie er nun einmal war, nicht mehr darum gekümmert, ihr ebenfalls ein schönes Erlebnis zu bieten. Er war happy – und Delia fühlte sich hohl und leer. Kein Wunder, dass sie oft sagt: «Ach, Freunde der Südsee, Sex wird einfach massiv überbewertet!»

Da ist Nicki einfach ganz anders. Es war ihm wirklich wichtiger als alles andere, dass es für mich schön war. Auch Manuela, die ja nach so langem Warten endlich ihren Marc gefunden hat, sagt immer wieder, dass ich mit Domenico das große Los gezogen habe und echt zu beneiden sei. Wobei sie ja immer wieder vergisst, wie viele Jahre ich um ihn gekämpft habe und untendurch gegangen bin. Wie viele Liter Tränen ich seinetwegen geweint habe, und wie oft meine Brust vor Schmerz fast in Stücke gerissen wurde. Es war ja nicht so, dass uns da ein Geschenkpaket aus dem Himmel genau vor die Füße fiel, das wir dann nur noch zu öffnen brauchten. Nein, das wäre die falsche Darstellung der Geschehnisse.

Dazu muss ich sagen, dass es ja nicht so ist, dass Nicki und ich uns nie streiten. Im Gegenteil, er hat immer noch seine Tage und Launen, wo er kaum ansprechbar ist und auf Distanz geht oder wo ihm der Puls mal auf 180 geht. Das hat eben mit seinem Charakter zu tun und mit seiner Vergangenheit. Doch mittlerweile weiß ich auch, wie ich damit umgehen muss, und lasse ihn dann einfach in Ruhe. Ich weiß doch längst, dass es nichts mit mir zu tun hat. Und dann kommt er meistens von selbst wieder auf mich zu.

Nur manchmal, wenn er besonders stur ist, muss ich darauf achten, die richtigen «Knöpfe» bei ihm zu drücken und zu drehen. Aber ich bin ja selbst alles andere als vollkommen, und dann gibt es Zeiten, wo Nicki seinerseits mich zur Abwechslung runterholen und beruhigen muss. Ah ja … diese Zeiten gibt es sogar recht häufig, denn manchmal mache ich mir schlicht und ergreifend zu viele Sorgen. Da ist Nicki viel lockerer.

Also, so ganz ohne Vorbehalte kann man nicht sagen, dass ich das große Los gezogen habe. Es war mehr als nur harte Arbeit. Im Gegensatz zu Manuela, die Marc auf einer Dating-Seite gefunden hat. Beiden war dann recht schnell klar, was sie wollten, und jetzt sind sie zusammen. Es ist sicher nicht so romantisch gewesen, wie Manu es sich immer gewünscht hatte, doch sie hat wirklich keinen Bock gehabt, noch länger zu warten. Ob das die richtige Entscheidung war, lässt sich von heute aus nur schwer beurteilen. Doch Marc ist ganz okay, denke ich.

Wenn ich so Bilanz ziehe, sind die meisten nun recht zufrieden. Delia und Ronny kommen zwar nur gerade so einigermaßen klar miteinander, aber Delia hat sich dafür entschieden, es durchzuziehen, egal, wie viel Zeit, Energie und Aufwand sie nun in die Beziehung reinbuttern müssen. Scheidung käme für sie nie und nimmer in Frage. Außerdem haben sie ja nun eine kleine Tochter. Sie heißt Larissa und wird eines Tages bestimmt ebenso hübsch werden wie ihre Mama. Das wunderschöne blonde Engelshaar hat sie bereits von ihr. Ich hoffe, ihre Nase formt sich nicht zur selben Plattnase, wie Ronny sie hat. Na, bisher sieht es nicht danach aus.

Jetzt bekomme ich gerade richtig Lust darauf, alle meine Freunde mal durchzugehen und Bilanz zu ziehen, was aus ihnen geworden ist. Fangen wir mit Hendrik an.

Der ist immer noch glücklich mit seiner Runa. Sie haben fast ein Jahr nach Nicki und mir geheiratet, an einem herrlichen Sommertag. Nicki und ich sind ihre Trauzeugen gewesen. Es war großartig, wieder mal nach Norwegen zu kommen, und das sogar im Hochsommer, wo es gar nicht mehr richtig dunkel wird. Dafür haben Hendrik und Runa uns dann im Winter auf Sizilien besucht, um der nordischen Kälte für eine Weile zu entfliehen. Wir hatten eine super Zeit zusammen.

Und Runa ist wirklich erstklassig. Mit ihr kann man bedenkenlos alles Mögliche unternehmen, und sie ist das unkomplizierteste Mädchen, das ich kenne. Sie und Hendrik passen echt wunderbar zusammen.

Ihre Band «Royal Streetnoiz» hat mittlerweile in Skandinavien großen Erfolg. Sie sind sogar auf Platz fünf in den norwegischen Charts gelandet, und in Schweden auf Platz zehn. Es sieht wirklich so aus, als ob Hendriks Traum in Erfüllung geht. Und ich könnte wetten, dass dort ebenfalls bald Nachwuchs kommt.

Und auch Hendriks jüngerer Bruder Kjetil hat nun eine feste Freundin. Endlich. Er hat ein paar missglückte Versuche gehabt. Irgendwie ist er immer an das falsche Mädchen geraten. Oder er war einfach selber noch nicht reif für eine Beziehung. Seine jetzige Freundin heißt Kristine, und eigentlich finde ich sie auf den ersten Blick ein wenig langweilig. Aber, heihei, Kjet scheint sie wirklich zu lieben. Das hat dann schlussendlich bei Manuela, die sich bei unserer Hochzeit unglücklich in ihn verliebt hatte, endgültig den Ausschlag gegeben, sich einen Mann zu suchen, der auch etwas von ihr wissen will.

Kjetils Zwillingsschwester Solvej ist momentan solo, doch sie macht gerade ihren Master in Medienwissenschaft und hat anderes im Kopf als Männer. Und sie ist ganz zufrieden damit.

Dann wäre noch die italienische Seite von Domenicos Verwandtschaft: seine kleine Halbschwester Bianca, die nun ihre erste längere Beziehung mit einem italienischen Hotelbesitzer hat, der allerdings viel älter ist als sie, nämlich schon über vierzig. Doch er will sie unbedingt heiraten, und sie ihn. Vielleicht braucht Bianca einfach einen älteren Partner, der ihr ein bisschen den Weg weisen kann? Doch ehrlich gesagt glauben Nicki und ich, dass da eher äußere Aspekte wie Geld, Sicherheit, Reputation und Schönheit mitspielen.

Wie auch immer: Dieser Mann kann Bianca auf jeden Fall eine solide Zukunft bieten, und klar, dass er auf eine so schöne und junge Frau wie Bianca abfährt. Nicki vermutet jedoch, dass Bianca weitgehend durch ihre Mutter beeinflusst ist, die unbedingt will, dass ihre Tochter einen vermögenden Geschäftsmann abkriegt, damit sie selbst ebenfalls ausgesorgt hat.

Da Nickis Menschenkenntnisse meistens ins Schwarze treffen, kann ich ihm nur zustimmen, und ich kenne ja seine Mutter Maria selbst zur Genüge! Ich sage es nicht gern, auch wenn Nicki immer meint, ich könne es ruhig beim Namen nennen: nämlich dass seine Mutter eine ziemliche Schmarotzerin und Egomanin ist und vorwiegend vom Geld anderer lebt. Und Nicki ist so gutmütig und gibt ihr immer wieder was, weil er Mitleid mit ihr hat.

Es ist ohnehin unglaublich, wie geduldig er nun mit ihr umgeht. Er hat eine Stärke entwickelt, die mich immer wieder aufs Äußerste verblüfft. Wo sie ihn doch in seiner Kindheit und Jugend so sehr verletzt und enttäuscht hat und es auch jetzt immer wieder tut. Aber er hat irgendwann den Entschluss gefasst, ihr einfach zu vergeben und ihr Gutes zu tun. Das hat irgendwie dann Auswirkungen auf ihn selber gehabt. In all den Jahren ist er dadurch viel ruhiger geworden.

Es ist echt lange her, seit er den letzten wirklichen Jähzorn-Ausbruch gehabt hat. Das war, soweit ich mich erinnere, vor etwa anderthalb Jahren, als ein Typ seine Schwester Bianca mies behandelt und sitzengelassen hat. Oh, dann kann er immer noch hochgehen, der ehemalige Tiger, der ja nun ein Löwe geworden ist. Er hat den Typen dann nach Strich und Faden vermöbelt. Das hat uns gewisse Troubles eingebrockt, und es war mir extrem unangenehm, obwohl ich ja auch wütend war auf Biancas untreuen Freund. Der Typ musste mit gebrochener Nase ins Krankenhaus, und Nicki bekam mal wieder eine Anzeige. Doch diese Dinge geschehen immer seltener. Mein Mann schafft es nun wirklich in den meisten Fällen, sein Temperament zu zügeln und zu kontrollieren und es – das ist der wichtigste Punkt – dort einzusetzen, wo es wirklich nötig ist.

Es hat uns in der Tat auch schon mal vor arg Negativem bewahrt. Als nämlich ein paar Mafia-Typen Zio Giacomo an den Kragen wollten und von ihm wegen sogenannter «Schutzgeld-Forderungen» eine Summe verlangten, die er nicht bezahlen konnte – und auch nicht wollte. Da hat Nicki denen gedroht, so dass die schnell das Weite gesucht haben. Es ist mir bis auf den heutigen Tag ein Rätsel, wie er das schafft. Er kann so eine Autorität an den Tag legen, dass sogar ich innerlich erzittern muss, obwohl er ja mein Mann ist und mich niemals bedrohen würde. Früher, als er sein Temperament noch nicht beherrschen konnte, hat er mich einige Male seelisch richtiggehend überfahren damit und einmal sogar körperlich verletzt.

Aber das ist längst Geschichte. Es scheint, als hätte Gott meinem Nicki damit eine Gabe geschenkt, die er nun braucht, um uns, seine Familie, und andere zu beschützen. Nicht ganz unwichtig in Sizilien. Wie auch zum Beispiel vor einem Jahr während dieses furchtbar heißen Sommers, als unser Haus von einem Buschbrand bedroht wurde. Nicki hat uns alle in Sicherheit gebracht und dann mitgeholfen, den Brand zusammen mit der Feuerwehr und den Männern der Nachbarschaft wieder unter Kontrolle zu bringen. Allerdings hatte er dabei zu viel Rauchgas eingeatmet und musste ins Krankenhaus eingeliefert werden. Ich hatte panische Angst um ihn, aber Gott sei Dank ist alles gutgegangen. Er hat wirklich wie ein Löwe um unser Heim gekämpft.

Nicki hat gelernt, seine Stärken richtig einzusetzen. So wie einst Pfarrer Siebold und Hendrik es ihm sozusagen prophezeit hatten. Aus dem Jungen, der vor langer Zeit am Tiefpunkt seines Lebens angelangt war, ist nun wirklich eine Art «King David» geworden. Ich bin so stolz auf ihn! Und er ist sogar ein Vorbild für so manchen Jugendlichen hier in Licata geworden. Alle kennen ihn.

Ist ja klar: Wo auch immer Nicki hinkommt, sorgt er für Aufmerksamkeit und Aufsehen. Das hat er einfach so an sich, schon seit seiner Jugend, und das hat er nie verloren. Das muss wohl so sein: Dadurch, dass alle ihn kennen, hat er Zugang zu Menschen, an die sonst keiner rankommt, und kann sie ermutigen. Oder auch warnen und in die Schranken weisen. Und er hat schon mehrere Jugendliche davon abgehalten, Drogen zu probieren oder sonst irgendwelche Dummheiten zu begehen. Er ist wirklich saustark, mein Nicki!

Und ja, vor einem halben Jahr waren wir auf dem außerordentlichen Ärztekongress in Deutschland. Ich habe mir lange überlegt, ob ich wirklich dorthin reisen sollte, zumal es mit unseren Finanzen auch nicht gerade zum Besten stand. Aber dann hat Paps mir so sehr ans Herz gelegt, dieses eine Mal hinzugehen, weil er meinte, dass diese beruflichen Kontakte für meine spätere Zukunft wichtig sein könnten. Er hatte mir sogar angeboten, mir die Reise zu bezahlen. Und als Tochter des bekannten Doktor Fischer war ich ja eine gern gesehene Teilnehmerin.

Nicki hat auch gespürt, wie gern ich wieder mal nach Deutschland reisen würde, und war ebenfalls der Meinung, dass ich gehen sollte. Ich bat ihn, mitzukommen, und nach einigem Zögern hat er eingewilligt. Ich wollte doch nicht als Einzige ohne meine bessere Hälfte erscheinen! Schließlich waren ja die Ehe- und Lebenspartner miteingeladen.

Vermutlich hat auch Zio Giacomo noch ein wenig dazu beigetragen, dass Nicki hier alles stehen und liegen ließ und mich begleitete. Die Kinder durften dann während dieser Tage bei Nickis Tanten bleiben. Und so haben wir das Geld zusammengekratzt – die Hälfte hat uns Paps bezahlt – und haben uns diese kleine Deutschland-Ferientour geleistet.

Und ich habe so über meinen Nicki gestaunt! Er hat mich wirklich ohne irgendwelche Eskapaden zu diesem Kongress begleitet und sich verhalten, als wäre das die normalste Sache der Welt. Früher hätte ich so was nie im Leben mit ihm machen können! Er wäre mir irgendwie ausgebüxt oder hätte sonst einen Absturz fabriziert, weil er sich unter all diesen hochangesehenen Ärztinnen und Ärzten mies und deplatziert vorgekommen wäre, vielleicht auch minderwertig. Aber er blieb ganz gelassen und hat sogar mit einigen der Teilnehmer geplaudert.

Er war zwar so ziemlich der Einzige, der ohne Schlips und Anzug erschien, aber ich kann meinen Löwen doch nicht in so ein Kostüm zwängen! Also lasse ich ihm die Freiheit, so aufzutreten, wie es ihm am wohlsten ist. Natürlich hat er seine besten Hosen und sein bestes Hemd angezogen, das war für ihn Ehrensache, und er hat auch sein Haar aus dem Gesicht gekämmt, so dass die dort Anwesenden ihm in die Augen schauen konnten.

Und ich muss zugeben, ich hätte ihn gegen keinen der anderen Ehemänner meiner Arztkolleginnen eintauschen wollen. Nicht nur, weil Nicki wieder mal mit Abstand der am besten aussehende männliche Anwesende war (nicht, dass das nun das Wichtigste wäre, aber ich kann nicht leugnen, dass ich immer wieder stolz bin, wenn ich mit ihm irgendwo «auftreten» darf, besonders in Deutschland). Nein, auch weil die meisten anderen Männer hier im Gegensatz zu Nicki schlicht und ergreifend langweilig waren.

Das ist mir dann vor allem beim Dinner aufgefallen, wo endlich mal Raum für ein paar spannende Konversationen vorhanden gewesen wäre. Aber nein, die Herren mit ihren Krawatten und Anzügen, viele bereits mit Glatze und markantem Bauchansatz, haben sich über furchtbar langweilige Sachthemen unterhalten und manchmal mit kompliziertem medizinischem Fachjargon nur so um sich geworfen, anstatt mal über das Leben an sich zu reden. Also, gerade in der Medizin sollte doch der Mensch im Mittelpunkt stehen und nicht irgendwelche Statistiken und Umsatzzahlen. Nicki hat mir ein paar Mal ziemlich belustigte Blicke zugeworfen, wenn mal wieder so ein hochstudierter Arzt in für ihn unverständlichen Hieroglyphen gesprochen hat.

Nicki hat übrigens erstaunlich viel Aufmerksamkeit gekriegt. Er fällt ja schnell mal auf mit seiner Erscheinung, den Narben im Gesicht und den tätowierten Handgelenken (die anderen Tätowierungen an seinem Oberkörper sahen die ja gar nicht unter der Kleidung …).

Viele haben uns gefragt, wie wir denn ein in ihren Augen so «ungewöhnliches» Leben auf Sizilien überhaupt meistern. Und wie denn eine Beziehung zwischen zwei so unterschiedlich gebildeten Partnern, wie wir es nun mal sind, überhaupt funktioniert. Und Nicki war erstaunlich freimütig und offen und hat ohne Umschweife erzählt, dass er das Fischereigeschäft seines Onkels führt und manchmal als Aushilfskellner und Tätowierer arbeitet. Es schien ihm völlig egal zu sein, was die von ihm dachten.

Einige haben sehr positiv reagiert und gemeint, Hut ab, wie wir das alles auf die Reihe kriegen. Einige der Frauen haben mich sogar unter vier Augen gefragt, wie ich denn an so einen Mann gekommen sei. Ich bin natürlich nicht ins Detail gegangen, habe aber durchblicken lassen, dass wir uns schon seit unserer Schulzeit kennen und gemeinsam durch viele Höhen und Tiefen des Lebens gegangen sind. Ich glaube, ich sah ein wenig Neid in einigen Augen aufblitzen. Oder waren es Sehnsüchte? Die hätten wohl ihren gesetzten, hochkonformen glatzköpfigen Ehepartner zu gern gegen meinen hübschen, sportlichen, unangepassten und lebhaften Nicki eingetauscht. (Ups, liebes Tagebuch, bitte vergib mir: Jetzt werde ich doch ein bisschen überheblich, gell! …)

Es gab natürlich schon auch ein paar negative Feedbacks, vor allem von Seiten der Männer, die mit ein paar zynischen Seitenhieben reagiert haben. Einer von ihnen – ein besonders lautstarker Medicus mit Schlemmerbauch und Querstreifen-Krawatte, der vorwiegend in der Dermatologie tätig ist – hat gemeint, das wäre aber wirklich unpassend, dass zu so einem Kongress auch Tätowierer eingeladen würden! Wo es hier doch schließlich um die Gesundheit und das Wohl der Menschen ginge.

Das war eine Frechheit hoch drei! Ich wäre diesem Typen am liebsten an die Gurgel gesprungen. Er hat es derart laut und dominant gesagt, dass alle um uns herum inklusive Nicki es hören mussten. Aber Nicki hat so was von cool und ruhig reagiert:

«Seien Sie doch froh, dass ich nicht als Holzfäller mit der Axt komme», hat er in seinem besten Deutsch gekontert. «Sonst müsste die ganze Sippe hier noch befürchten, dass ich irgendjemandem die Füße abhacke. Als Tätowierer mache ich den Leuten lediglich ein paar schöne Zeichnungen auf den Körper.»

«Also, das verbiete ich mir jetzt aber», hat der Typ dann ziemlich beleidigt geschnaubt. «Wo sind wir hier eigentlich?»

«Beim Ärztekongress», hat Nicki nur schulterzuckend geantwortet und dabei dieses verstohlene unschuldige Grinsen aufgesetzt, das mich regelmäßig an das von seinem Vater Morten erinnert.

Einige um uns herum mussten losprusten. Ich habe fast meinen Bissen Brot verschluckt und musste auf die Toilette flüchten, um laut herauszulachen. Mein Mann kann manchmal so witzig sein! Er hat mich dann gesucht und mich auch gefunden und sich gewundert, warum ich in der Toilette stehe und vor mich hin kichere.

«Ist doch wahr. Wenn der schon so blöd fragt, wo wir hier sind», hat er nur trocken gemeint, als ich es ihm erklärte. Wir haben dann beide gelacht, und Nicki hat mich in den Arm genommen und gemeint, dass ich doch definitiv die süßeste Frau dieser Versammlung sei.

Wir sind dann gar nicht mehr zurückgegangen, sondern haben uns erst mal für eine Weile in den Garten hinter dem Restaurant verzogen. Früher hätte Nicki so einem Typen «die Fresse poliert», wie er es genannt hätte. Heute kratzt ihn so was nicht mehr.

Ich glaube, die Geschichte hat sich hinterher ziemlich herumgesprochen. Ich bekam dann ein paar E-Mails von gewissen Ärztefrauen, die mir mitteilten, dass sie mich wirklich bewunderten und die Reaktion meines Mannes auf diese blöde Bemerkung einfach köstlich fanden.

Sogar die Frau dieses besagten Dermatologen schrieb mir und sagte, dass sich ihr Mann bei uns entschuldigen wolle – ihm sei einfach der Gaul durchgegangen, und er könne sich selbst nicht erklären, was ihn da geritten habe.

Oh, aber das Beste habe ich vergessen zu erzählen: Doktor Bonaventura, der Domenico einst in seiner Jugend psychologisch betreut hat, war auch anwesend – als einer der Pensionierten –, und er hat mich beiseite genommen und mich gefragt, ob das wirklich dieser Junge sei, der damals so total am Rande der Existenz gelebt hatte und dessen Eskapaden seitenweise Arztberichte geliefert hatten?

Er meinte, das wäre wohl eines der unglaublichsten Dinge, die er je gesehen habe: dass ein Mensch mit so schweren psychischen Störungen, wie Domenico sie hatte, nun so dermaßen verwandelt sei und so sicher und stabil durchs Leben ginge, wie Nicki es nun tut. Also, das sei es gewiss wert, als Dokumentation verfilmt zu werden, die ganze Anamnese inklusive.

Ich musste wieder fast lachen. Nicki und Filmen! Er lässt sich zwar mittlerweile fotografieren, aber vor eine Filmkamera würden ihn trotzdem keine tausend Pferde bringen, glaube ich. Nein, das lassen wir wohl schön bleiben. Aber ich kann nicht genug betonen, wie stolz ich auf Nicki bin, wirklich. Ich habe es sicher bereits hundertmal erwähnt …

Es ist schade, dass ich so wenig Zeit habe, regelmäßiger deine Seiten zu füllen, liebes Tagebuch, und all das zu erzählen, was bei uns alles abgeht. Ich arbeite schlicht und ergreifend viel zu viel. Das sagt Nicki ja schon lange, aber so einfach ist das alles eben nun auch wieder nicht …

Wen habe ich noch vergessen? Ach ja, Patrik … na, der ist immer noch Single. Vermutlich ist es etwas schwierig für ihn, eine konkrete Beziehung einzugehen, wenn man berücksichtigt, wie viel und oft er von Berufs wegen umherreisen muss. Kürzlich hat er als Co-Pilot seinen ersten Langstreckenflug nach Südafrika gehabt. Doch es liegt wohl nicht nur an seinem Beruf – Patrik ist schon immer ein Einzelgänger gewesen.

Und selbst wenn ihm eine Frau gefallen würde – was sicher irgendwann passiert, denn der gute Patrik ist ja nicht blind –, bin ich mir nicht sicher, ob er es wirklich schaffen würde, den ersten Schritt zu wagen. Er hat mir ja mal gestanden, dass er jahrelang in mich verliebt gewesen sei, sich aber nie getraut habe, etwas zu sagen. Bei ihm muss es wohl eher so sein, dass die Frau den ersten Schritt machen wird – so wie damals Jenny es getan hat. Andererseits sagt man, Piloten seien in ihren strammen Uniformen und mit ihrem Status als Weltreisende die begehrtesten Männer der Welt – also müsste doch auch Patrik es ganz leicht haben. Er hat aber noch nie was von einer besonders ansprechenden Stewardess erzählt …

Apropos Jenny: Ich habe jahrelang nichts mehr von ihr gehört, doch kürzlich hat sie mich auf Facebook geaddet. Und stell dir vor, liebes Tagebuch, auch Jenny ist auf ihre Art im Leben weiter nach vorn unterwegs: Sie hat jetzt eine kleine Tochter! Vom Vater scheint’s zwar keine Spuren zu geben (sie erwähnt ihn auch nirgends) – der hat sich wohl «verdünnisiert», ist davongeschlichen wie so viele andere. Sie scheint ihr Leben jedoch zu genießen und wohnt offenbar immer noch in Berlin, ihrer Heimatstadt.

Ich habe ein paar Bilder von ihr gesehen. Sie sieht immer noch genauso zerzaust aus wie einst, nur dass sie einfach älter geworden ist. Und das sieht man auch auf den Bildern: Ihre dünne Haut ist schon ganz faltig, obwohl sie, wenn ich mich richtig erinnere, erst einunddreißig ist. Und ihre Tochter sieht ihr sehr ähnlich.

Wie Jenny das alles meistert mit nur einer Hand, weiß ich nicht, aber heya, sie war schon immer eine Fighter-Natur. Fiel irgendwo immer auf die Füße, nie in den Graben. Ich vermute jedoch, dass sie nicht arbeitet, sondern Sozialhilfe bezieht. Obwohl, als Mutter hat sie ja schon einen Vollzeitjob – wer weiß das besser als ich! Und so, wie es aussieht, ist sie immer noch ziemlich verrückt: Ihre Tochter heißt nämlich Cassandra Aurora Cosma Moonshine. Das ist doch irgendwie typisch Jenny …

So etwas würden Nicki und ich nie machen. Da ist ein Kind ja schon fast bestraft, wenn du auf dem Spielplatz deinem Töchterlein zurufst: «Cassandra Aurora Cosma Moonshine, kommst du bitte mal her?!»

Wen kenne ich noch aus früheren Zeiten? Hm, Suleika … von der habe ich nie mehr etwas gehört. Nicki hat den Kontakt zu ihr völlig abgebrochen. Er wollte einfach nicht, dass das zu einem Problem für mich werden könnte. Er war sehr offen zu mir und sagte, dass Suleika, obwohl sie Nicki und mir ja ihren Segen gegeben hat, doch irgendwie immer wieder Zugang zu ihm haben wollte und an ihm hing. Er hat es dann besser gefunden, den Kontakt zu ihr einzustellen, so dass es einerseits mich nicht belastet und andererseits auch Suleika endlich in ihrem Leben vorwärtskommen und vielleicht ein neues Glück finden kann.

Und ich muss zugeben: Ich bin dankbar über Nickis Entscheidung. Es gibt ja Leute, die erzählen mir, dass da immer noch eine alte Freundin in ihre Beziehung hineinspiele und es sich anfühle, als sei da noch eine dritte Person in ihrer Ehe mit drin. Wie sagte doch Lady Di über ihren Prinzgemahl Charles und dessen damalige «Mätresse» Camilla: «There were three of us in our marriage, so it was a bit crowded.» Nein, das möchte ich keinesfalls, Suleika in allen Ehren!

Ob Suleika sich ein neues Leben und ein neues Beziehungsnetz aufbauen konnte, wissen wir nicht. Vielleicht werden wir es ja irgendwann erfahren. Vielleicht auch nicht. Sie ist jedenfalls nicht auf Facebook oder sonst wo auf den Social-Media-Plattformen zu finden. Es ist ja oft allein dank dieser Portale, dass ich überhaupt weiß, wie es um einige Leute steht.

Ich denke dabei gerade an meinen Ex-Freund Leon, mit dem ich ja keinen direkten Kontakt mehr habe und der auch nicht zu jenem besagten Ärztekongress kommen konnte, aber Facebook verrät mir doch so einiges. Bei ihm hat sich alles genau so erfüllt, wie es schon lange vorgesehen war: Er hat sein Medizinstudium mit großem Eifer durchgezogen und arbeitet nun als Assistenzarzt im selben Krankenhaus wie sein Vater. Es wird wohl nicht mehr lange dauern, bis auch er eine leitende Position innehat. Und er sieht seinem Vater immer ähnlicher. Er ist an seinen Schläfen schon recht kahl geworden.

Und er hat mittlerweile ebenfalls geheiratet. Seine Frau ist – wie könnte es anders sein – selbst auch Ärztin. Leon hat immer einen genauen Plan für sein Leben gehabt und sich strikt daran gehalten. Er hatte ja – das hat mir viel später seine jüngere Schwester Frauke verraten – noch lange meinetwegen gelitten. Umso mehr bin ich froh für ihn, dass er sein Glück doch noch gefunden hat. Und ja – der Grund, warum er nicht bei so einem wichtigen Ereignis wie dem Ärztekongress aufgetaucht ist, war schlicht und einfach der, dass er und seine Frau zu der Zeit gerade einen Sohn bekommen haben! Auch das weiß ich aufgrund der Facebook-Beiträge.

Und Elijah, der Bananenkönig – er war ebenfalls ein guter Freund von mir. Ein wirklich guter Freund. Doch er lebt wieder in den USA und ist im Filmgeschäft tätig. Deswegen ist auch dieser Kontakt fast etwas eingeschlafen. Doch er hat einige Bilder von sich auf Facebook gestellt, und sie zeigen, dass er sich optisch ziemlich verändert hat: Seine widerspenstigen Locken hat er wachsen lassen, und er trägt immer so eine Baskenmütze, wie Regisseure sie nun mal zu tragen pflegen. Dazu kommt noch so eine Woody-Allen-Brille, die er sich bestimmt nur zur Verzierung aufgesetzt hat. Er sieht wirklich lustig aus.

Ob er immer noch so viele Bananen isst, weiß ich nicht. Eine Freundin hat er momentan nicht, aber ich denke, dass er seinem Grundsatz, auf die Richtige zu warten, treu geblieben ist. Wir haben einander kürzlich doch mal wieder geschrieben, und bald kommt sein erster Kurzfilm heraus. Auch er lebt seinen Traum.

Von den anderen Ehemaligen meiner Berliner Klasse höre ich nicht mehr viel. Der Kontakt zu Amy und Vicky ist irgendwie abgebrochen. Aber diese Freundschaft hat sich nie wirklich tief angefühlt. Die beiden waren eher oberflächlich. Ich sehe noch ihre Bilder auf Facebook, doch wir schreiben einander nie. Amy tingelt durch die Welt, besonders durch ihre afrikanische Heimat, während man von Vicky manchmal monatelang nichts auf Facebook sieht – und dann ab und zu doch wieder ein paar Partybilder. Fast so, als wolle sie zwischendurch wieder mal demonstrieren, dass auch sie ein tolles Leben führt und sich von Hype zu Hype tanzt. Und von Heiko höre ich gar nichts mehr. Zu ihm ist der Kontakt vollständig abgebrochen.

Also, es scheint den meisten, die ich kenne, recht gut zu gehen. Einige haben Erfolg, andere dümpeln ein wenig durchs Leben, doch irgendwie kommen sie alle durch.

Aber ach, eine traurige Geschichte muss ich leider dennoch verbuchen: Manuel ist nun Vollwaise geworden. Seine Mutter Carrie ist vor einem Jahr an einer Lungenentzündung gestorben. Es hat sich herausgestellt, dass sie eben doch irgendwo das HI-Virus aufgelesen hat. Das war ein ziemlich großer Schock für uns, vor allem für Nicki, der immer irgendwie dafür gesorgt hat, dass Manuel mit seiner leiblichen Mutter in Kontakt bleiben konnte.

Und Manuel ist und bleibt etwas vom Liebsten, das es in Nickis Leben überhaupt nur geben kann; für den Sohn seines verstorbenen Zwillingsbruders würde er vermutlich sogar zu einer Organspende einwilligen, falls es jemals notwendig würde.

Carrie war es ja scheinbar eine Zeitlang noch recht gut gegangen. Und obwohl sie ihren Sohn immer geliebt hat, hat sich doch irgendwas in ihr geweigert, ganz mit den Drogen Schluss zu machen. Dafür sei es einfach zu cool gewesen, high zu sein, behauptete sie. Tja, Tatsache ist: Wenn sie nix eingeworfen hatte, fühlte sie sich grässlich in ihrem Körper, total unruhig und Zwängen ausgesetzt.

Und dann ist alles ganz plötzlich gekommen. Zuerst diese Erkältung, die sie partout nicht mehr losgeworden ist und die dann schon bald auch ihre Lunge angegriffen hat. Ihr Körper hatte nicht mehr genügend Abwehrkräfte. Eine Sozialarbeiterin rief uns eines Vormittags an und hat uns die traurige Nachricht von Carries Tod übermittelt.

Allerdings hat Manuel den Tod seiner Mutter viel besser verkraftet, als wir das erwartet hätten. Zum einen muss man wohl sagen, dass seine Beziehung zu seiner Mutter nicht mehr sehr tief war, zumal er sie ja auch nur ein oder zwei Mal pro Jahr hatte treffen können. Vielleicht war sie ihm in ihrer bedürftigen, irgendwie schrägen und unzuverlässigen Art auch peinlich gewesen. Kinder spüren so was ja intuitiv.

Und allzu viel hatten sich die beiden dann eben nicht mehr zu sagen gehabt. Carries Leben bestand im Grunde aus nicht viel anderem als Fernsehen, Drogen und ihren Tieren, die sie zwischendurch gepflegt hat. Und zum anderen hat Manuel eine so tiefe Verbundenheit mit Nicki aufgebaut, der ihm wohl der beste Ersatzvater geworden ist, den man sich nur denken kann.

Natürlich hat Manuel geweint, als man ihm die Nachricht überbracht hat, dass seine Mutter gestorben ist. Wir konnten wegen der Arbeit und aus finanziellen Gründen nicht nach Deutschland zur Beerdigung reisen, aber Nicki hat zusammen mit der Sozialhelferin veranlasst, dass Carrie neben Mingo begraben wird. Schließlich ist sie die einzige Frau in dessen Leben gewesen, mit der er je eine Liebesbeziehung gehabt hat, wenn sie auch nur kurz war.

Doch schon bevor seine Mutter starb, hat Manuel sich gedanklich mehr mit seinem richtigen Vater beschäftigt und hat Nicki immer öfter nach Mingo gefragt. Nicki ist dann nach Carries Tod mit Manuel für ein Wochenende weggefahren, irgendwohin an einen schönen, einsamen Ort an der Küste in Richtung der Südspitze Siziliens. Dort haben sie in der Wildnis und am Meer übernachtet, und Nicki hat viel mit Manuel geredet. Darüber, wer seine Eltern waren und was sie in seinem kurzen Leben gemacht haben. Und warum sie gestorben sind, erst sein Vater, dann seine Mutter. Nicht, dass Manuel es im großen Ganzen nicht schon gewusst hätte – aber die vielen traurigen Einzelheiten aus Mingos und Carries Leben kannte er noch nicht bis ins Detail.

Auch über Leben und Tod im Allgemeinen haben sie geredet, und über Gott und die Welt. Und darüber, welche Entscheidungen im Leben wichtig sind. Darüber weiß Nicki ja nun mehr als genug. Und das sind die Zeiten, in denen ich die beiden allein lassen muss, das weiß ich genau. Wo ich einfach keinen Zutritt habe in deren gemeinsame Welt. Das ist ihr ganz eigenes Refugium, und das habe ich mittlerweile so akzeptiert.

Es ist mir nicht leichtgefallen am Anfang. Nicki und ich hatten auch ein paar Mal Streit deswegen, weil ich mich jedes Mal beschwert hatte, wenn die beiden mich ausgeschlossen haben. Doch dann habe ich eingesehen, dass die zwei das nun mal brauchen und sie so einen besonderen Draht zueinander haben, dass es ohnehin für einen Außenstehenden kaum möglich ist, da einzudringen. Mittlerweile sehe ich das sehr entspannt und lasse ihnen diese Freiheit, und Nicki ist mir sehr dankbar dafür.

Außerdem muss ich zugeben, dass ich nicht die talentierteste Ersatzmutter für Manuel bin. Ich habe ja nie, so wie Nicki, für andere sorgen müssen. Ich habe mein eigenes Leben gelebt und mich vorwiegend um mich selbst gekümmert. Darüber hinaus bin ich es, die vorwiegend arbeitet und das Geld für uns verdient, weil wir von Nickis schlecht bezahlten Hilfsjobs kaum leben können. Doch das darf ich in seiner Gegenwart nicht erwähnen … sonst verletze ich seinen sizilianischen Männerstolz.

Aber da wir Manuel nun endgültig adoptieren wollen, muss ja einer von uns ein geregeltes Einkommen haben. Und so ist es eben vorwiegend Nicki, der für die Kinder da ist. Und er macht seine Sache hervorragend. Manuel hat sich super entwickelt, und ich habe ihn wirklich gern. Er ist so ein lieber Junge.

Und jetzt, wo er bald das Alter erreicht hat, das Nicki und Mingo hatten, als ich sie kennen lernte, wird die enorme Ähnlichkeit immer mehr sichtbar. Manuel ist seinem Vater Mingo und somit auch Nicki fast wie aus dem Gesicht geschnitten – die Augen, die Nase, die Wangenknochen, die Augenbrauen, die Körperstatur und die Größe, wirklich fast alles. Auch die Haare sind genauso kupferfarben wie die von den beiden. Nur so einen gewissen ganz eigenen Zug um den Mund könnte man dem noch entgegenhalten – den hat er von seiner Mutter Carrie.

Ein superhübscher Junge ist er geworden, auch wenn er nicht so ganz Nickis Fähigkeit hat, jedem Mädel den Kopf zu verdrehen. Dazu ist er schlichtweg zu schüchtern. Aber er ist ziemlich intelligent. Er ist recht gut in der Schule, obwohl er wie sein Onkel lieber draußen herumrennt und Sport treibt oder an irgendwas herumbastelt. So was wie Hausaufgaben und Prüfungen, wo man stillsitzen und pauken muss, uuuh, das hasst er.

Immerhin hat er die Leseschwäche seines Vaters Mingo nicht geerbt. Wobei es bei Mingo ja auf einen Geburtsschaden zurückzuführen war. Doch auch Manuel hätte aufgrund seiner schweren Geburt behindert sein können, aber er ist es nicht, Gott sei Dank. Bis auf seine Lunge, die durch die Frühgeburt und den Drogenkonsum der Mutter beschädigt worden ist, so dass er mit nur einem Lungenflügel leben muss. Wie Nicki das aufgrund seiner Eskapaden in seiner Jugend ebenfalls tun muss.

Doch die beiden kommen echt gut klar damit. Nicki weiß mittlerweile, wie er Schmerzen vermeiden kann, und Manuel kann trotz allem recht gut Fußball spielen, auch wenn seine Puste nicht ganz so lange reicht wie die seiner Fußballkameraden. Aber keiner hänselt ihn deswegen. Die wissen alle ganz genau, dass sie dann Probleme mit Nicki kriegen würden, wenn nur einer es wagen würde, Manuel ein Haar zu krümmen.

Manuel selbst ist eher sensibel, so wie Mingo. Er ist nicht der Kämpfer wie Nicki, der alles wegsteckt und nach jedem Niederschlag wieder aufsteht. Nur in den Wutanfällen ist er ihm ähnlich – also so, wie Nicki in seiner Jugend war. Und wenn Manuccùli, wie wir ihn nennen, wütend wird, dann fasst man ihn besser nicht an oder lässt Nicki das regeln. Doch wie gesagt, sonst ist er echt ein lieber Junge und auch wahnsinnig hilfsbereit. Ja, er liebt es regelrecht, Nicki und Zio Giacomo bei der Arbeit zu helfen.

Es ist auch nötig, weil der Zio immer schwächer wird. Er hat ständig Rückenschmerzen, und Nicki findet, dass er sich endlich zur Ruhe setzen soll. Tolle Rede, aber Zio Giacomo hat den gleichen sizilianischen Sturkopf wie Nicki! Zum Glück packt Manuel nun wirklich kräftig mit an. In seinen Schulferien geht er auch nachts mit Nicki fischen. Während der Schule erlaubt Nicki es ihm nicht. Er will nicht, dass Manuel denselben unregelmäßigen Lebensrhythmus kriegt wie er selbst und später an Schlafproblemen leidet.

Mir persönlich fällt es nicht immer leicht, nachts auf Nicki neben mir zu verzichten, wenn er mit dem Boot draußen ist. Ich liebe es doch so, an seiner Brust zu liegen. Aber da ich selber ja auch oft Nachtschichten habe, muss er mich ebenfalls oft entbehren. Das bedeutet, dass wir die wenigen Nächte, die wir nebeneinander im Bett liegen können, wirklich genießen. Es ist manchmal unglaublich, wie wir das alles meistern.

Ich hoffe, ehrlich gesagt, dass Nicki die Fischerei irgendwann an den Nagel hängt, aber er fühlt sich dem Zio gegenüber verpflichtet, dessen Geschäft vorläufig noch weiterzuführen. Außerdem findet er ja, dass vielmehr ich mit dem Arbeiten aufhören solle. Aber was soll ich denn sonst machen, wenn Nicki sowieso am liebsten alles selber übernimmt, sprich: Haushalt erledigen, einkaufen gehen, auf die Kinder aufpassen und dann nachts auch noch auf dem Boot arbeiten? Wenn es nach ihm ginge, sollte ich das Leben einfach nur genießen und mich von ihm rundum verwöhnen lassen.

Ja, das würde ihm so passen! Da würde ich mich doch schrecklich langweilen und vermutlich vor lauter Rumhängen und Nichtstun noch dick werden, weil ich außer Essen nicht viel anderes machen kann. Denn auch das Kochen übernimmt mein Mann! Nein, mein Lieber, nicht mit mir!

Zumal dieses Leben in diesem Kaff mir manchmal schon zum Hals heraushängt – je länger, je mehr, um ehrlich zu sein. Außerdem möchte ich ebenfalls etwas beitragen. Wir müssen doch unseren Kindern inklusive Manuel auch eine Zukunft bieten. Wir können nicht nur von Luft und Liebe leben.

Darüber hinaus liebe ich meine Arbeit, trotz des Stresses. Ich habe nicht geglaubt, dass ich eines Tages eine so gute Ärztin abgeben würde. Und ich hatte das Glück, diese Stelle auf der Kinderabteilung der Klinik zu kriegen. Denn das geht genau in diese Richtung, von der ich nach wie vor träume: eines Tages obdachlosen und verwahrlosten Kindern und Jugendlichen medizinisch helfen zu können, zusammen mit Nicki, der sich dann um ihre seelischen Belange und ihren Hunger und Durst kümmern wird. Das ist unser gemeinsamer Traum für die Zukunft.

Aber erst mal sind unsere eigenen Kinder dran.

Unsere Eltern können uns finanziell nicht allzu sehr unterstützen. Oh, das habe ich ganz vergessen zu erzählen: Mama und Papa geht es gut. Wirklich gut. Auch von ihnen kann man sagen, dass sie ihre Ehe schließlich doch noch auf die Reihe gekriegt haben. Meine Mutter hat wirklich alles gegeben, damit die Flamme weiterbrannte und der Docht nicht mangels Öl austrocknete. Keep the flame burning, mum!

Und das Schönste ist, dass sie nach wie vor fit ist. Ist das nicht ein Wunder? Der Tumor in ihrer Leber ist zwar immer noch da, aber er wächst offenbar nicht weiter, schon seit Jahren nicht, und sie kann gut damit leben. Auch mit der operierten Bauchspeicheldrüse kommt sie dank der Medikamente gut zurecht. Dass es Medikamente gibt, die – wenn man sie täglich und ohne Unterlass einnimmt – die Funktion der Bauchspeicheldrüse voll übernehmen können, ist für mich ein Wunder der Wissenschaft. Und der Arzt spricht immer wieder davon, dass er selten so einen positiven Krankheitsverlauf gesehen hat. Ich hoffe und bete, dass es weiterhin so bleiben wird.

In wenigen Jahren geht Paps in Rente. Von dem kleinen Vermögen, das sie einst besaßen, ist durch all die Umstände von Mamas Krankheit und die Reisen nicht mehr so viel übriggeblieben. Deswegen haben wir beide, Nicki und ich, darauf bestanden, keine Unterstützung von ihnen anzunehmen. Sie sollen lieber später ihre Rente genießen und noch viele Reisen zusammen unternehmen.

Auch Nickis Vater Morten hat finanziell schon so viel für uns getan, dass wir nicht noch mehr annehmen möchten. Außerdem ist es für seine Frau Liv nicht immer einfach, die Sache mit Mortens Jugendsünden, aus denen ja letztendlich Nicki und Mingo entsprungen sind, ständig mit auszubaden. Morten hat uns einmal gestanden, dass er und seine Frau deswegen mehrmals beinahe vor dem Aus gestanden hätten. Doch Morten fühlt sich seiner Frau gegenüber sehr verpflichtet nach all dem, was er ihr zugemutet hat. Darüber hinaus hat er ja noch drei andere Kinder.

So haben Nicki und ich uns auch hier entschieden, ohne seine Hilfe auszukommen. Diese Entscheidung war nicht ganz leicht, denn es bedingte, dass nun eben ich umso mehr anpacken muss und die Ernährung der Familie übernommen habe, während Nicki sich um die Kinder kümmert.

Domenico di Loreno, stolzer sizilianischer Gatte, Papa, Onkel, Fischer und Hausmann – klingt doch gut!

Aber ehrlich, ich weiß trotzdem nicht so genau, wie lange das noch so weitergehen kann. Die unregelmäßigen Arbeitszeiten im Krankenhaus und die oft bis zu zwölf Stunden langen Schichten machen mich häufig total müde, so dass ich unsere gemeinsame freie Zeit und die Kinder gar nicht richtig genießen kann, sondern mich in diesen Stunden von den Strapazen erholen muss.

Ich habe Nicki nie mehr einen Vorwurf gemacht, dass er seine Schulbildung nicht nachgeholt hat und deshalb nur schlecht bezahlte Hilfsjobs kriegen kann. Ich weiß ja, dass ihm das mit dem Lernen alles andere als leichtgefallen ist. Und er macht seine Sache nun wirklich erstaunlich gut und wird immer wieder irgendwo angeheuert, sei es als Aushilfe im Restaurant, wo er schon seit Jahren immer wieder als Hilfskellner ein und aus geht, sei es als Tätowierer oder auch als hochwillkommene Arbeitskraft bei handwerklichen Herausforderungen, denn diesbezüglich ist er ja recht geschickt, genauso wie als Maler und Zeichner.

Hier auf Sizilien kann eigentlich keiner für Kunst wirklich viel Geld bezahlen. Doch Nicki ist wahnsinnig begabt darin, überall Beziehungen aufrechtzuerhalten. Dieser Träumer glaubt tatsächlich, uns irgendwie durchbringen zu können, falls ich aufhören würde zu arbeiten. Doch da bin ich viel realistischer. Wären es nur wir beide gewesen, Nicki und ich, hätten wir das ja vielleicht hingekriegt.

Aber ich möchte, dass unsere Kinder einmal eine vernünftige Ausbildung genießen können und auch sonst alles bekommen, was sie benötigen. Und dass wir immer wieder mal nach Deutschland, zu meinen Eltern in die Schweiz oder nach Norwegen reisen können, ohne immer jeden Cent umdrehen zu müssen.

Doch dieses Thema sorgt in letzter Zeit immer öfter für Diskussionen und Meinungsverschiedenheiten zwischen uns. Und ausgerechnet jetzt, wo ich wieder schwanger bin, vertrage ich nicht so viel. Umso mehr ist Nicki nun darauf bedacht, dass ich die Arbeit bald reduziere. Er meint, ich würde sonst noch Krampfadern kriegen. Die sind jedoch im Moment mein kleinstes Problem. Ich werde ja sowieso bald Schwangerschaftsurlaub nehmen müssen, und ob ich danach wieder an meine Stelle zurückkann, steht in den Sternen. Dann wird sich ohnehin zwangsläufig einiges ändern.

Meine allergrößte Frage ist vielmehr die, wo wir die Zukunft verbringen werden. Manuel wird nun bald vierzehn, und eine höhere Schulbildung hat Licata nicht zu bieten. Früher oder später müssen wir in irgendeine Stadt ziehen. Nicki sieht das ja auch ein, aber er hängt viel zu sehr an diesem Ort, als dass ich ihn von da wegbringen könnte. Und ich kann das ja durchaus verstehen.

Doch bei mir ist es anders: Ich möchte irgendwann von hier weg. Ich bin nun mal keine Sizilianerin, und auch wenn ich die Sprache mittlerweile beherrsche, so bin ich zu sehr in meiner deutschen Kultur verwurzelt, als dass ich in Licata auf Dauer wirklich glücklich sein kann. Ich habe zwar ein paar Freundinnen, das schon, aber mit denen kann ich mich nicht immer so unterhalten, wie ich es gerne tun würde. Die verstehen mich teilweise einfach nicht, und ich sie manchmal noch weniger, weil sie hier eben ganz anders ticken. Und weil sie zu schnell reden und ich ihren Humor nicht durchschaue. Wenn sie sich was Lustiges erzählen und alle lachen, verstehe ich weitgehend nur Bahnhof, die Pointe aber kapiere ich mit Sicherheit nicht. Und auch mit Nickis Tanten gerate ich in letzter Zeit immer wieder aneinander.

Wir haben bereits vor der Hochzeit viel über die Zukunft diskutiert, und Nicki hat mir immer versichert, dass das kein Problem sei und wir nicht für ewig hierbleiben würden.

Doch jetzt, wo diese Entscheidung sich immer mehr aufdrängt, spüre ich, wie schwierig das wahrscheinlich werden wird und dass Nicki eben viel, viel mehr an Licata hängt, als er es zugeben und wahrhaben will.

Und auch Manuel würde am liebsten hierbleiben. Er hat doch alle seine Freunde hier.

Ach, ich weiß auch noch nicht, wie wir das lösen werden …

Ich bin schon bereit für einen Kompromiss, sprich, entweder nach Rom oder Milano zu ziehen. Es muss ja nicht Deutschland sein, obwohl ich, wenn es nach mir gehen würde, doch am liebsten wieder in meine Heimat ziehen würde. Auch weil ich mir langsam etwas Sorgen mache, dass Nicki sein Deutsch irgendwann noch ganz verlernen wird und wir als ganze Familie nicht mehr Deutschland-kompatibel sein werden, weil uns alles fremd sein wird und sich ungewohnt anfühlen könnte.

Je besser ich Sizilianisch verstehen konnte, desto mehr hat Nicki angefangen, in seiner Muttersprache mit mir zu reden. Er kann sich so eben besser ausdrücken, meint er. Natürlich reden wir ab und zu auch noch Deutsch zusammen, vor allen Dingen, weil ich manchmal einfach stur auf Deutsch antworte. Und ich bestehe weiterhin darauf, dass unsere Kinder sowohl Deutsch wie auch Italienisch lernen. Aber mein lieber Mann verfällt automatisch immer wieder ins Sizilianische. Ich gebe es langsam auf.

Aber ich weiß auch, dass es für Nicki in Deutschland unter Umständen wieder schwierig werden könnte. Vor allen Dingen in meiner Heimatstadt. Obwohl Nickis wildes Tigerleben nun schon Ewigkeiten zurückliegt, ist mir klar, dass es dort immer noch Leute aus seiner alten Gang gibt und eine Menge Feinde, die furchtbar nachtragend sind und ihn sicher wiedererkennen werden.

Auch für Manuel würde es wegen der Sprache nicht so leicht werden. Er versteht zwar Deutsch und kann es lesen und fließend sprechen, nicht zuletzt, weil ich selbst oft Deutsch mit ihm rede, doch seine Sprachkenntnisse reichen bei weitem nicht aus, um in einer höheren Schule mitzuhalten.

Eine andere Option bestünde darin, in die Südschweiz zu ziehen. Dort sind die italienische und die deutsche Kultur bereits irgendwie miteinander vermischt, und die Amtssprache ist Italienisch. (Und das Essen auch, ha! …) Oder dann Norwegen, das wäre meine zweitliebste Variante, aber dann hätten wir wieder dasselbe Sprachproblem. Manuel hat sein Norwegisch ja mittlerweile fast verloren.

Manno, ich weiß auch nicht, was wir machen sollen, und ich bete jeden Tag darum, dass Gott uns eine gute Lösung zeigen wird.

Gerade eben kommt Nicki herein, der von einem Besuch bei Tante Luisa zurückgekehrt ist, und bringt mir unsere kleine Tochter Ariana, die auf seinen Armen eingeschlafen ist. Sie ist bald zwei Jahre alt. Ich nehme sie auf den Schoß und drücke sie fest an mich, während ich das hier noch zu Ende schreibe. Denn dieses Mal will ich meinen Tagebucheintrag wirklich abschließen.

Nicki lächelt, als er mir zuschaut, und fragt mich, ob er mir einen Tee machen soll. Er massiert mir ein wenig die Schultern und den Rücken, weil ich durch die Schwangerschaft ständig Rückenschmerzen habe. Er ist so lieb zu mir. Ehrlich, ich würde niemals einen anderen Mann als ihn haben wollen, trotz der momentanen Herausforderungen. Aber ich fühle mich so sicher und geborgen an seiner Seite und weiß, dass ich ihm mehr als hundertprozentig vertrauen darf. Er hat mir ja auch bei der Geburt von Ariana so unerschütterlich zur Seite gestanden.

Das war sowieso ein Abenteuer der besonderen Kategorie. Weil das Taxi nicht gekommen ist und der Zio ausgerechnet an diesem Tag mit unserem Wagen weggefahren war (was hat er sich dabei nur gedacht?), hat Nicki mich kurzerhand aufs Motorrad gepackt und ist mit mir in halsbrecherischem Tempo ins Krankenhaus gefahren, nachdem die Wehen so stark eingesetzt hatten, dass ich nicht mehr stehen konnte. Und mir war das so was von egal, ob es gefährlich war oder nicht, weil ich einfach nur noch ins Krankenhaus wollte.

Und Nicki ist dann keine einzige Sekunde von mir gewichen. Im Gegensatz zu vielen anderen Vätern (italienischen zumal!), die irgendwann beim Anblick der Presswehen, der keuchenden Frau, der nervösen Hebammen, der hyperaktiven Ärzte, des vielen Blutes, der medizinischen Bestecke, der piepsenden Apparate, der Mundschutzmasken, des noch recht verschmierten Babys, des Abklemmens der Nabelschnur und einer im bisherigen Leben ja noch nie zuvor gesehenen Plazenta (die eine Hebamme liebevoll «Mutterkuchen» nennt und die ganz am Ende vom Körper ausgeschieden wird) vor lauter Aufregung den Boden unter den Füßen verlieren, ohnmächtig werden und neben dem Bett zusammenklappen, hat Nicki tapfer durchgehalten. Wann immer es möglich war, hat er meine Hand gehalten, um mir durch die Schmerzen hindurch zu helfen. Und er hat alle paar Minuten einen Lappen unters eiskalte Wasser gehalten und ihn mir dann feucht und schön erfrischend auf die Stirn gelegt. Es war die einzige Berührung, die ich beim letzten Part der Geburt überhaupt noch ertragen konnte!

Domenico hatte, so sagte er mir später, ein furchtbar schlechtes Gewissen, weil ich so leiden musste. Er fühlte sich schuldig und dachte: «Alles nur meinetwegen!» Ach, die Männer! Manchmal sind sie weicher und tiefgründiger, als man denken könnte! …

Ja, die Geburt war so schmerzhaft, wie es im Buche steht, was anderes kann ich darüber gar nicht sagen. Es war superheftig. Und ich habe mich lange so fest an Nickis Hand festgeklammert, wie es mir nur möglich war. Doch wie gesagt, die letzte Strecke konzentrierte ich mich so sehr aufs Atmen und Pressen, dass ich keinen Körperkontakt mehr wollte, weder zu Nicki noch zur Hebamme.

Doch es ist auch so, wie alle immer sagen: Nach der Geburt, wenn man sein Kind in den Armen hält, vergisst man all die Schmerzen, und man sieht nur noch dieses großartige, einmalige Wunder, das einem da beschert worden ist.

Nicki hätte noch fast einen Streit angezettelt, weil die Hebamme ihm Ariana nicht gleich in die Arme geben wollte, aber er musste sich schön brav gedulden. Er war so aufgekratzt vor Freude, dass ihm die Tränen in den Augen standen.

In uns waren in den letzten Wochen vor der Geburt ja eigenartige Gedanken hochgekommen, besonders bei Nicki. Etwa in der Art: Wenn man bedenkt, was Nicki früher alles in sich reingeworfen hatte – Drogen, Medikamente, Schlafmittel, Aufputschmittel, Teer und Nikotin ohne Ende, dazu ein Durcheinander von ungesundem Food und fragwürdigen Getränken – und was er für einen verrückten Lebensstil pflegte –, also, hm, muss man dann nicht Angst haben, dass das einen Einfluss hat auf seine Gene und dass es abfärbt auf unser Kind? Dass es also einen «Schaden» hat, einen «Defekt»? Dass ihm etwas fehlt oder gewisse Organe nicht gesund sind?

Das hat uns dann enorm beschäftigt. Wir haben ein paar Nächte lang unruhig darüber debattiert. Ich habe gehört, dass das praktisch allen so geht, die früher mal Drogen oder zu viel Alkohol konsumiert hatten. Eine ganze Jugend lang und auch als junge Erwachsene haben sie sich nie darum gekümmert, was sie ihrem Körper und ihren inneren Organen eigentlich zumuten, und dann werden sie mit einem Mal schwanger und stehen dann vor der Geburt. Und plötzlich bewegen sich die Gedanken im Kreis: «Wenn da nur alles dran ist! Wenn das Kind nur gut durchkommt! Himmel, was war ich blöd!»

Und so haben wir natürlich auch darüber gesprochen, wie wir uns verhalten würden, wenn das Kind behindert wäre oder wenn ihm irgendetwas fehlen würde. Für uns beide war sonnenklar: Dann würde es eine doppelte Portion Liebe von uns bekommen. Wir würden ihm alles geben, was wir nur können und was wir nur in uns tragen an Wärme und Zuneigung und Schutzvermögen. Es wäre unser Kind, es wäre geliebt, gewünscht und angenommen – so, wie es eben sein würde.

Das hatten wir miteinander besprochen, ja, aber natürlich fühlten wir uns trotzdem unsicher und hatten gemischte Gefühle in uns. Wir haben beide, jeder für sich und in einer Nacht auch zusammen, intensiv gebetet. Intensiver als sonst, dringlicher, nachdrücklicher. Es gibt Dinge im Leben, die kann man allein gar nicht tragen. Die muss man in die Hand eines Höheren legen. Damit habe ich immer nur gute Erfahrungen gemacht.

Und dann hatten wir Ariana in unseren Händen. Nicki hat sie lange angeschaut, von oben bis unten: Kopf, Augen, Nase, Ohren, Mund, Lippen, erster Haarflaum, Hals, Oberkörper, Arme, Hände, Finger, Geschlechtsorgane, Beine, Füße, Zehen – alles da! Alles da! Sogar die klitzekleinen Fingernägelchen! Die Gefühle haben ihn da übermannt – und mich auch! Ariana war gesund!

Aber zurück zu Licata: Also, ich bleibe lieber mein Leben lang in diesem Kaff, als dass ich mich je von Nicki trennen würde, so viel ist klar. Ich hoffe aber schon, dass es eine bessere Lösung geben wird, die für uns alle stimmt. Und ehrlich gesagt glaube ich, dass Gott noch viel mehr für uns hat als das Leben hier. Besonders für Nicki, von dem ich glaube, dass er eines Tages noch viel mehr Menschen beeinflussen und bereichern wird. Und auch für unsere Kinder …

Außerdem bietet Zios Haus langsam, aber sicher nicht mehr genug Platz für uns. Manuel schläft im Wohnzimmer, und Ariana schläft bei uns, doch irgendwann brauchen die Kinder nun mal ihre eigenen Räume. Zumal jetzt bald ein weiteres dazukommt …

Ich streichle voller Liebe über Arianas Kopf. Sie hält ihren regenbogenfarbenen Spielball in den Händen und schaut mich mit großen Augen an. Nickis markante Gesichtszüge sind schon so deutlich in ihrem Kindergesicht sichtbar. Sie hat bereits dieselben hohen Wangenknochen und seine schmale Nase. Die Augen hat sie hingegen von mir. Sie wird einmal bildhübsch werden, da bin ich mir sicher. Sie ist es jetzt schon.