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Die fesselnde Geschichte einer Frau auf der Suche nach ihrer wahren Rolle im Leben Selma Blair hat im Laufe ihrer Schauspielkarriere viele Rollen gespielt – vom unschuldigen Mädchen in »Eiskalte Engel« bis zur Brandstifterin in »Hellboy«. In ihrer Kindheit war sie mit ihrem strengen Blick und ihrem wilden Haar jedoch nur bekannt als »Mean Baby«, als »gemeines Baby«. Und mit ihrer rebellischen und unangepassten Art tat sie alles, um diesem Ruf gerecht zu werden. Selmas Geschichte ist voller Höhen und Tiefen: Trotz ihrer frühen Erfolge als gefeierte Schauspielerin und als Model erlebte sie auch viele dunkle Zeiten. Schonungslos offen berichtet Selma von ihrer Alkoholsucht, von Ruhm, Gewalt und leidenschaftlicher Liebe sowie von ihrer Multiple-Sklerose-Erkrankung. In ihrem brillanten Memoir – intelligent, witzig, tiefgründig und erschütternd zugleich – erzählt Selma Blair die packende Geschichte ihres Erwachsenwerdens und ihrer Suche nach sich selbst jenseits aller Etiketten.
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Seitenzahl: 458
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WIE ICH SELMA BLAIR WURDE
WIE ICH SELMA BLAIR WURDE
EIN MEMOIR
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.
Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Für Fragen und Anregungen:
1. Auflage 2023
© 2023 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
Türkenstraße 89
80799 München
Tel.: 089 651285-0
Fax: 089 652096
Die englischsprachige Originalausgabe erschien 2022 bei Alfred A. Knopf unter dem Titel Mean Baby. A Memoir of Growing Up.
© 2022 by Selma Blair. All rights reserved. Published in the United States by Alfred A. Knopf, a division of Penguin Random House LLC, New York, and distributed in Canada by Penguin Random House Canada Limited, Toronto.
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Hinweis
Ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit wurde auf eine genderspezifische Schreibweise sowie eine Mehrfachbezeichnung verzichtet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind somit geschlechtsneutral zu verstehen.
Übersetzung: Simone Fischer
Redaktion: Anja Hilgarth
Umschlaggestaltung: Maria Verdorfer
Umschlagabbildung: Peggy Sirota
Abbildungen: Selma Blair
Satz: Grafikstudio Förster
eBook: ePUBoo.com
ISBN Print 978-3-7474-0509-3
ISBN E-Book (PDF) 978-3-96121-899-8
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96121-900-1
Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter
www.mvg-verlag.de
Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de
Für meine liebste Mommy, auch wenn wir getrennt sind
Und für meine größte Liebe, Arthur Saint Bleick
Prolog
Teil 1 ZEICHEN
Mean Baby
Geburtsgeschichten
Familie
Existenzgrundlagen
Elliot
Hillel
Ich, Selma
Brigadoon
Teil 2 FRAGEN
Kalamazoo
New York
L. A.
Hollywood
Der Mann und die Muse
Wink
Carrie
Die Julies
Ahmet
Gebissen
Familie
Teil 3 ANTWORTEN
Mutterschaft
Geteilter Bildschirm
Noch einmal Elliot
Tiefpunkt
Ducky Manor
Diagnose
Leben
Erinnerungen
Die Motte
Arthur
Portland
Lieber Arthur
Danksagungen
Anmerkungen
Über die Autorin
Im Herbst 2002 ging ich in Los Angeles zu einer Tarot-Kartenlegerin. Ich hatte gerade eine Rolle in einem Film bekommen, der sechs Monate lang in Prag gedreht werden sollte. Ich war dreißig Jahre alt, verunsichert und auf der Suche. In meinem Kopf war eine Leere, von der ich wollte, dass sie jemand füllt. Ich wollte von jemandem hören, wer ich werden würde und nach welchen Zeichen ich auf meinem Weg suchen sollte. Ich wollte einen Ausblick, wenn nicht gar eine Erleuchtung. Das ist schließlich der Grund dafür, warum wir unsere Scheckbücher für Wahrsager öffnen. Wir wollen eine Geschichte hören. Eine wilde Geschichte. Eine spannende Geschichte. Und es soll unsere eigene sein.
Die Kartenlegerin hieß T. und sie sah ein bisschen aus wie eine Berkeley-Professorin, sehr schlank, sehr intellektuell. Große Augen, umrahmt von einem schwarzen Pony, der ihr gerade über die Stirn fiel. In einer Hand hielt sie ein Taschentuch. Ihr Atem roch nach Pfefferminzbonbons. Zu ihren Füßen lag eine dünne schwarze Katze. Im Laufe unseres Gesprächs erfuhr ich, dass T. früher Anwältin gewesen war, den Beruf aber aufgegeben hatte, um ihre Gaben voll auszuschöpfen. Diese Frau schien in jeder Hinsicht eine gute Führerin auf dieser metaphysischen Reise zu sein, die richtige Person, um das Drama meines Lebens zu übermitteln.
T. war nicht meine erste Begegnung mit dem Spirituellen, denn ich suche schon so gut wie mein Leben lang nach solchen Geschichten, sei es von Mystikern und Chakra-Heilern, Medien und Numerologen, Rückführungstherapeuten und Astrologen. Meine Faszination geht weit zurück in die Zeit meiner Kindheit, als ich in Southfield, Michigan, aufwuchs. Bei einer Geburtstagsfeier in der zweiten Klasse verkleidete sich die elegante Mutter meiner Freundin Melissa Stern als Wahrsagerin – eine glitzernde Erscheinung mit Kopftuch und vielen Ketten und Armbändern. Melissas Mutter war wunderschön und wohnte in einem riesigen Haus, was als Beweis dafür ausreichte, dass sie in die Zukunft sehen konnte, oder zumindest, dass ihre Worte einen gewissen Wert haben mussten. Als ich an der Reihe war, blickte sie in eine Kristallkugel, zeichnete die Linien auf meinen Handinnenflächen nach, schloss die Augen, hielt meine kleinen Hände und verkündete mir, dass ich eine wunderschöne Schauspielerin werden würde, wenn ich groß wäre.
»Im Laufe deines Lebens wird es so viele Jungs geben, dass sie Schlange stehen werden«, sagte Mrs Stern, während sie mit dem Finger in der Luft eine lange Schlange von Männern andeutete, die darauf warteten, mich zu erobern. Ich war sieben Jahre alt und konnte mir überhaupt nicht vorstellen, wie sie auf so etwas kam. Ich hatte dichte Augenbrauen und strähniges Haar und hielt mich nicht für ein besonders attraktives Kind. Und obwohl ich zu dramatischen Ausbrüchen neigte, machte mir die Vorstellung, vor einem Publikum aufzutreten, Angst. Aber ich wollte es so verzweifelt gerne glauben. Ich war von Mrs Sterns Fähigkeiten, die Zukunft vorherzusagen, so überzeugt, dass ich jedes Wort regelrecht in mich aufsaugte. Und ich konnte es kaum erwarten, es meiner Mutter zu erzählen, die sich bestimmt über die Nachricht freuen würde.
Als meine Mutter zu dröhnendem Evita-Soundtrack in ihrer marineblauen 1979er Corvette vorfuhr, kletterte ich auf den Rücksitz. Unser süßer Nachbar Todd, etwas älter als ich, ließ sich vorn auf den weißen Ledersitz plumpsen, der vom Zigarettenrauch gelb gefärbt war. Ich wollte, dass die beiden erfuhren, was mir prophezeit worden war, also erzählte ich ihnen alles. »Mrs Stern hat meine Zukunft vorhergesagt, und sie hat gesehen, dass ich eine wunderschöne Schauspielerin werde«, prahlte ich. Ich wollte, dass meine Mutter beeindruckt war. Ich wollte, dass Todd mich bemerkte. Schon mit sieben Jahren wusste ich, dass Schönheit eine seltene Kostbarkeit war.
»Ja, klar«, spottete Todd.
»Das ist lächerlich«, sagte meine Mutter, als sie aus der langen Einfahrt der Sterns herausfuhr. Sobald wir außer Sichtweite waren, nahm sie einen Zug von ihrer Vantage-Zigarette, atmete in Richtung des Armaturenbretts aus und füllte das Auto mit Rauchschwaden. »Warum sollte sie dir das sagen? Außerdem. Falls du einmal schön« – Betonung auf »falls« – »und groß wirst,« – Betonung auf dem »und« – »wirst du Model. Oder du heiratest einen Ölmagnaten und verbringst deine Tage auf dessen Jacht.« Damit war es entschieden. Das Wort meiner Mutter war Gesetz. Ende der Diskussion. Ich schaute aus dem Fenster.
Dennoch sollte Mrs Sterns Vorhersage sich für mich erfüllen, zumindest teilweise: Ich wurde Schauspielerin. Und hatte zu jenem Zeitpunkt bereits eine ganze Reihe von Männern verschlissen. Sogar einen Ölmagnaten, der mir irgendwann nicht mehr zusagte. Aber ich war noch immer auf der Suche, noch immer unzufrieden, noch immer ruhelos und festgefahren, und ich war immer noch krampfhaft bemüht, allen zu gefallen, und wurde immer wieder von Phasen der Verzweiflung überwältigt. Ich betrank mich, wenn ich nicht wusste, was ich als Nächstes tun sollte, oder wenn ich meinem Körper entfliehen musste. Ich suchte überall nach Hinweisen, nach Zeichen, nach Glück. Ich wollte, dass mir jemand sagte, wie meine Geschichte weiterging. Ich wollte, dass mir jemand weissagte, was als Nächstes kam.
Und nun, viele Jahre und viele Wahrsager später, war ich wieder hier. T. betrachtete die Karten lange und ordnete sie dann zu einem sauberen Stapel. Sie legte ihre Fingerspitzen zusammen, sodass sich ihre unlackierten Nägel berührten, und sagte mit der Art von Überzeugung, die man von einer Tarot-Kartenlegerin erwartet: »Dein Leben wird sich in Prag verändern.« Die Katze zu ihren Füßen sah zu mir auf, als würde sie zustimmen.
Ich lächelte. Da war es: Mein Leben würde sich in Prag verändern. Sie fuhr fort und prophezeite, dass ich einen kleinen Mann treffen würde, der für mich wichtig werden würde. Und dass sich der wahre Sinn meines Lebens offenbaren würde. Auch das hörte sich gut an. Dieser Besuch lief deutlich besser als mein letzter Besuch bei einer Hellseherin, die mir mitgeteilt hatte, dass ich in meinem früheren Leben von meinem Vater gefangen gehalten und in einem Steingrab im Wald eingeschlossen worden war, wo ich bei lebendigem Leibe verbrannt wurde, ohne dass dies jemals jemand erfuhr.
Nach Prag fuhr ich für die Dreharbeiten zu dem Film Hellboy, in dem ich die Rolle der Liz Sherman spielen sollte – eine Frau, die über pyrokinetische Fähigkeiten verfügt und in einem Wutanfall versehentlich ihre Familie verbrannt hat und nun lernen muss, ihre Kräfte zu kontrollieren. Der Regisseur, Guillermo del Toro, hatte mich in einem Indie-Film namens Storytelling gesehen und fand, dass mein Gesicht einen Ausdruck von großem Verlust annehmen konnte. Und Verlust sei Liz’ Kern, sagte er. Sie konnte niemanden berühren, weil sie sich bei jeder Gefühlsregung entzündete. Es war eine passende Rolle für mich, denn seit meinen Zwanzigern hatte ich oft das Gefühl, dass meine Arme in Flammen standen. Das Gefühl kam und ging ohne Grund: ein Kribbeln bis in die Fingerspitzen, wie winzige Stromstöße, dann ein so intensives Brennen, dass ich befürchtete, ich könnte in Flammen aufgehen, bis es plötzlich wieder verschwand. Obwohl es mich quälte, sprach ich nie mit jemandem darüber, nicht einmal mit meiner Mutter. Es war nur ein weiteres Geheimnis meines Körpers, das ich nicht verstand.
Also ging ich nach Prag, wo ich auf den magischen, lebensverändernden Moment wartete, den T. vorhergesagt hatte. Ich begegnete einem kleinen Mann – damit hatte T. recht –, einem Flüchtling aus dem ehemaligen Jugoslawien, und wir verbrachten jeden Abend zusammen, tranken Sliwowitz und Champagner in Bars. Wir stritten uns, versöhnten uns, knutschten, betranken uns, stritten uns, versöhnten uns, machten rum und tranken noch mehr. Ich fühlte mich, als würde ich in einem Bukowski-Roman leben. Am Morgen wachte ich auf und fragte mich, wer dieser kleine, tätowierte, jähzornige, blauäugige Mann neben mir war. Nur um festzustellen, dass er jetzt zu mir gehörte. Das war nicht die Veränderung, die ich wollte.
Als der Film abgedreht war, kehrte ich nach L. A. zurück und war wieder einmal am Boden zerstört. Mein Leben hatte sich in Prag nicht verändert, außer dass ich noch mehr Alkohol vertragen konnte und entsprechend noch mehr trank – eine Fähigkeit, in der ich mich ohnehin schon auszeichnete. Rückblickend erkenne ich jedoch, dass ich dort einiges gelernt habe. Ich habe gelernt, wie man die Rolle einer Frau spielt, die versucht, die Kontrolle über ihren eigenen widerspenstigen Körper zu erlangen. Wie ich mich von den Schmerzen in meinen Armen ablenken konnte, wenn ich spürte, wie sie zu brennen begannen. Wie ich lange, einsame Nächte in Bars verbringen und irgendwie den nächsten Tag überstehen konnte.
Damals jedoch hatte ich alle Hoffnung auf einen guten Ausgang meiner Geschichte aufgegeben.
Was ich damals nicht wusste, aber jetzt zu lernen beginne, ist, dass ich keine Wahrsagerin brauche, die mir eine Geschichte darüber erzählt, wer ich bin oder wohin ich gehen werde. Ich brauche keine Hellseherin, um Verbindungen zwischen meiner Vergangenheit und meiner Gegenwart herzustellen. Ich weiß, wie sich die Geschichte entfaltet. Ich habe erkannt, wie die Teile zusammenpassen. Und ich will diejenige sein, die diese Geschichte erzählt.
Ich bin mir nicht sicher, wie ich meine hin und her schweifenden Gedanken in Worte und Sätze fassen soll, die einen Sinn ergeben. Also beginne ich mit dem, was ich weiß.
Wir alle sind auf der Suche nach einer Geschichte, die erklärt, wer wir sind.
Wie Joan Didion schrieb: »Wir erzählen uns Geschichten, um zu leben.« Wir werden nicht nur durch die Geschichten geprägt, die wir uns selbst erzählen, sondern auch durch die Erzählungen anderer – die Geschichten, die sie uns erzählen, und die Geschichten, die sie über uns erzählen.
Die erste Geschichte, die man mir über mich erzählte – abgesehen von der, in der meine Mutter zusah, wie der Arzt mich aus ihrem Körper herauszog –, war die, dass ich schon mit einem griesgrämigen, fast schon bösen Gesichtsausdruck zur Welt kam. Ich war ein »Mean Baby«, wie die Leute bei uns sagten.
Mein Mund war verzogen zu einem ständigen mürrischen Gesichtsausdruck, und mein Gesicht und mein Blick wurden von stark ausgeprägten Augenbrauen geprägt, die bei Erwachsenen durchaus begehrt sind. Aber bei mir als einem Kind – einem Säugling – sah es so aus, als würde ich jeden prüfend und aburteilend ansehen. Niemand wusste so recht, was er davon halten sollte.
Als ich aus dem Krankenhaus nach Hause gebracht wurde, wartete nur eine meiner drei Schwestern, die damals fünfjährige Katie, in unserer Einfahrt auf mich. Mimi, zwölf Jahre alt, und Lizzie, fast zwei, waren woanders. Katie stürmte auf mich zu, während meine Mutter mich auf dem Schoß hielt, und fragte, ob ich eine Babypuppe für sie sei. Nein, war ich nicht, signalisierte ihr mein Gesichtsausdruck. Ein paar Tage später kamen einige Kinder aus der Nachbarschaft vorbei, um das neue Beitner-Kind zu begrüßen. Nach wenigen Minuten liefen sie schreiend davon und warnten jeden, dem sie begegneten: »Geht da bloß nicht hin. Die Beitners haben ein ›mean‹ Baby.« Können Sie sich das vorstellen? Haben Sie jemals gehört, dass ein Säugling auf diese Weise beschrieben wurde? Aber was hätte ich denn tun sollen? Ich war erst ein paar Tage alt! Ein Säugling, der ständig den Mund verzog. Wahrscheinlich wollte ich nur, dass mich jemand auf den Arm nahm. Oder mich kuschelig ins Bettchen legte! Aber stattdessen gafften mich alle an und tratschten über mich. Von Anfang an wurde ich missverstanden.
Die Bezeichnung »Mean Baby« blieb an mir haften, so wie das für Etiketten nun mal üblich ist. Es ist wichtig, welchen Namen die Leute einem geben, wie man genannt wird. Denn alles, was wir sagen, hat Gewicht. Das wird manchmal einfach so dahergesagt, aber es ist wahr. Es ist, als hätte man einen Aufkleber auf dem Rücken, den der Rest der Welt lesen kann, man selbst aber nicht. Bevor ich überhaupt sprechen konnte, wurde mir ein Stempel aufgedrückt, wer und was ich war. Ich war »mean«, ich war »böse«.
Dass das Etikett so haften blieb, war auch der Tatsache geschuldet, dass ich in den ersten paar Jahren meines Lebens keinen richtigen Namen hatte. Auf meiner Geburtsurkunde steht schlicht und einfach »Baby Girl Beitner«. Im Säuglingsalter bekam ich den Spitznamen »Baby-Bear«. Laut meiner Mutter nannte meine Familie mich »Bär«, weil mein Kopf so behaart war, dass sie ihn reiben mussten, um Platz für meine Stirn zu schaffen. (Ich habe mich wegen dieses Teils meiner Geschichte immer schlecht gefühlt, bis ich gelesen habe, dass Rene Russo mit dem gleichen Leiden geboren wurde.)
Irgendwann fing meine Familie an, mich »Blair« zu nennen – nach Blair Moody, wie mir meine Mutter erzählte, einem US-Senator und Bezirksrichter aus Michigan, den sie bewunderte. Das war schon komisch, weil ich so ein launisches Kind war – »moody« eben. (Ich finde ja, dass man wirklich aufpassen sollte, wie man sein Kind nennt!) Ich erinnere mich daran, dass ich eine Blair war, weil sie es immer buchstabierten, wenn sie über mich sprachen, als ob ich das nicht kapieren würde. »B-L-A-I-R war gemein« oder »B-L-A-I-R will mitkommen«.
Das ging so weiter, bis ich drei Jahre alt war und in den Kindergarten kam, weshalb ich einen richtigen Namen brauchte. Meine Mutter beschloss, mich Selma zu nennen, nach einer von ihr sehr geliebten Freundin, die etwa zu der Zeit starb, als ich geboren wurde. In der jüdischen Tradition werden Babys niemals nach einer lebenden Person benannt, sodass dieser Name eine würdige Ehrung der Freundin darstellte. Die anderen Namen, die noch infrage kamen, waren Ethel, Gretel – die mir beide gut gefallen hätten –, Marta, Martha und Gwyneth. (Gwyneth! Ich hätte eine Gwyneth sein können!) Irgendwann beschwerte ich mich lautstark: »Wann bekomme ich endlich auch so einen Namen?«, und meinte damit die Spitznamen meiner Schwestern: Ducky, Precious und Princess. Ich wollte auch einen schönen Namen haben. Aber daraus wurde nichts. Von nun an war ich Selma Blaire Bear Beitner, wobei meine Mutter schließlich das »e« in Blaire wegließ, weil sie es für »zu prätentiös« hielt. Und dabei blieb es dann.
Mein ganzes Leben lang war ich beides. Selma und Blair. Meine beiden Namen sollten mich genauso prägen wie die Geschichten, die sich um sie ranken.
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Als Kind mochte ich den Namen Selma nicht. Er schien mir ein Name, passend für eine alte Frau und nicht für ein kleines Mädchen. Wenn ich die Wahl hatte, bat ich immer darum, Blair genannt zu werden, aber in der Grundschule wurde ich ständig mit »Selma« angesprochen. Immer wenn die Lehrerin uns aufrief, war ich zu schüchtern, um zu bitten: »Können Sie bitte Blair zu mir sagen?« Also war ich den ganzen Tag über Selma oder Bat Sheva, der hebräische Name, den die Lehrer an meiner jüdischen Tagesschule benutzten, und zu Hause war ich Blair. Mom war immer traurig, dass ich Selma nicht mochte. Der Name war schließlich eine weibliche Form des Heiligen Benediktinermönchs Anselm. Oder ein Bezug zur Stadt Selma, Alabama. Es sei ein guter Name, versicherte sie mir oft.
Als ich fünf Jahre alt war, machten Mom, Dad und ich einen Wochenendausflug, bei dem ich mich mit einer Familie mit einem Baby anfreundete. Als wir am Pool lagen, fragte die Mutter nach meinem Namen, und ich antwortete ganz locker »Lisa« – ein schöner, normaler Name. Als Lisa spielte ich drei Stunden lang mit dem Baby und half ihm, in seinen Schwimmflügeln durch den Hotelpool zu schwimmen. Als die Nachmittagssonne tief am Himmel stand, wandte sich die Frau an meine Mutter und sagte ihr, dass ihre Tochter Lisa wirklich hilfreich gewesen sei.
»Lisa!« Meine Mutter stieß einen Schrei aus. »Sie heißt nicht Lisa! So ein Blödsinn! Was für eine Lügnerin!«
Die Frau sah mich an, als sei ich eine völlig Fremde. Mein schöner Nachmittag war wie weggewischt. Ich war nicht mehr Lisa, und jetzt war ich auch noch eine Lügnerin.
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Meine Mutter gab mir den Spitznamen Saintly, was allerdings nicht ganz ernst gemeint war. Ich war keine Heilige. Zu meiner Mutter konnte ich manchmal wie eine Heilige sein, aber zu allen anderen war ich oft gemein und verhielt ich mich wie ein »Mean Baby«.
Als Kinder teilten meine Schwester Lizzie und ich uns ein Zimmer, da wir altersmäßig am dichtesten beieinander waren. Unsere Eltern ließen uns die Tapete aussuchen, und da Lizzie das nicht interessierte, suchte ich mir ein Muster mit kleinen rosa und blauen Blumen aus, die auf weißem Grund schwebten. Ich wählte dieses Design aus, weil es dem ähnelte, was Jessica Lange als ihre Kindheitstapete in dem Film Tootsie beschreibt. Filme waren schon damals das, was mir Inspiration und Hoffnung schenkte.
In unserem Zimmer standen zwei Einzelbetten, und wir hatten diese Vinylvorhänge vor den Fenstern, an denen man ziehen musste, um sie nach oben oder unten zu bewegen. Jeden Morgen hüpfte ich blitzschnell aus dem Bett. Ich konnte noch nie lange im Bett rumliegen. (Ist das zu fassen?) Dann rannte ich immer zum Fenster, um an der Jalousie zu ziehen, damit sie aufsprang und sich lautstark aufrollte, sodass die Morgensonne direkt in Lizzies Augen schien.
»Jehi ’Or!«, rief ich dann aus vollem Halse und zitierte damit die ersten Zeilen der Genesis, die hebräischen Worte für »Es werde Licht!«.
»Blair!«, krächzte Lizzie dann und rieb sich die Augen. »Warum tust du das?«
Danach drehte ich meine Runde durch das Zimmer, stieß die Tür auf, schaltete den Fernseher ein, der auf der Kommode aus Ahornholz aus Moms Kindheit stand, einer Kommode, die auch schon ihrer Mutter gehört hatte, und knipste das Licht an. Ich brauchte Leben, sofort. Ich brauchte jedes bisschen von allem, jedes bisschen Hilfe, alles, was ich erreichen konnte, um mich dazu zu bringen, meinen Tag positiv zu beginnen. Schon damals habe ich das getan.
So begann jeder Morgen. Ich trieb Lizzie damit in den Wahnsinn. Aber sie ertrug mich. Jeden Abend sagten wir uns so lange gute Nacht, bis eine von uns einschlief. Sie war immer bei mir.
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Als ich drei Jahre alt war, hüpfte ich mit Lizzie auf dem Bett herum und biss ihr ohne ersichtlichen Grund in den Rücken. Dabei riss ich ein Stückchen Fleisch heraus, was eine bläulich-rötliche Delle in ihrer Haut hinterließ. Auch das verzieh sie mir.
Als mein Großvater väterlicherseits, Abraham, starb, stand ich neben meinem Vater, als dieser bei der Beerdigung Beileidsbekundungen entgegennahm, und boxte jedem Mann, der sich uns näherte, in die Weichteile. Ich war auf Höhe der Leistengegend und irgendwie hielt ich das für sinnvoll. (Danach wurde ich von Familienveranstaltungen verbannt und musste mit unserem Kindermädchen zu Hause bleiben.)
Dann war da noch das eine Mal, als unser Nachbar Mr Glen seinen Rasensprenger mit einer langen Metallstange, dem Schlüssel für das Wasserventil, einstellte. Mit der Inbrunst eines Hundes, der einen Eindringling jagt, stürmte ich in seinen Garten, riss ihm die Stange aus der Hand, holte Schwung und traf Mr Glen direkt in den Unterleib. Das zerstörte die gutnachbarschaftliche Beziehung augenblicklich. Er sagte zu meinen Eltern, sie sollten »diesen Köter aus seinem Garten fernhalten«.
Als ich sechs Jahre alt war, hatte ich für eine Zeit lang eine Babysitterin, die Tochter einer Freundin der Familie. Ihr Ringfinger war am Knöchel amputiert, abgehackt von einem Papierschneider, wie sie mir auf meine Nachfrage hin erzählte. Ich betrachtete ihn, während sie mir Lassie vorlas, und stellte mir vor, wie es wohl wäre, sie zu sein.
Eines Nachmittags, als wir Dame spielten, beschloss ich, sie aufzumuntern. Ich knickte meinen Ringfinger ein und tat so, als wäre ein Teil davon verschwunden. So, glaubte ich, könnte ich eine Verbindung zu ihr herstellen. Wie selbstverständlich ging ich davon aus, dass sie das auch so sehen und denken würde: »Wir sind gleich!«, und dass uns das zusammenschweißen würde. Stattdessen berichtete sie meiner Mutter, dass ich mich über sie lustig gemacht hätte.
Sie kam nie wieder zum Babysitten.
Manchmal hing ich nach der Schule allein im Park hinter unserem Haus ab und übte mich im Turnen. Eine meiner Spezialitäten war der »Cherry Drop«, bei dem man sich mit den Knien an einer Metallstange einhakt und hin und her schwingt, um dann mit einem Salto auf den Füßen zu landen. »Das ist beeindruckend«, bemerkte die Mutter eines anderen Kindes, worauf ich antwortete: »Ja, ich trainiere für die Olympischen Spiele.« Dann nahm ich Haltung an, streckte die Arme in die Höhe und spreizte die Finger, als hätte ich gerade meine siegreiche Bodenkür beendet. Und als ob das noch nicht genug wäre, spann ich die Geschichte weiter und erzählte ihr, dass mein Trainer gleich kommen würde.
Als ich zwei oder drei Jahre alt war, wurde ich während eines Urlaubs in Puerto Rico auf einem belebten Platz von meinen Eltern getrennt. Eine ältere Frau entdeckte mich, als ich allein herumlief, kam zu mir und fragte: »Hast du dich verlaufen, kleines Mädchen?« Ich starrte sie mit meinem mir eigenen mürrischen Gesicht an, und als sie nicht wegging, rief ich: »Halt die Klappe!« Als sie erneut fragte, ob ich Hilfe bräuchte, schrie ich: »Hau ab!« Erschüttert wartete die freundliche Frau dennoch, bis ich wieder mit meiner Familie vereint war, nicht ohne meiner Mutter zu berichten, was für ein schreckliches Kind ich sei, und danach sofort die Flucht zu ergreifen. »Halt die Klappe! Hau ab!« wurde für die nächsten Jahre zu einem oft wiederholten Satz in unserem Haushalt.
In der vierten Klasse forderte ich Ilyssa Wolin heraus, ein Päckchen Heftklammern runterzuschlucken, weil ich ihre Jeans haben wollte, wenn sie daran starb. Ich erinnere mich vage, dass sie die spitzen Enden mit ihren lila lackierten Nägeln nach innen bog und die Klammern runterschluckte. Obwohl ich diese Jeans unbedingt haben wollte, war ich dann doch erleichtert, als der Tag weiterging, ohne dass sie plötzlich starb.
Einer meiner schlimmsten »Mean Baby«-Tricks, den ich immer wieder anwandte, war es, so zu tun, als hätte ich meinen Ohrring verloren. Als Kind verlor ich ständig Ohrringe, während ich Rollkragenpullover anprobierte und wieder auszog. Irgendwann hatte ich gelernt, dass dies ein probates Mittel war, um die Aufmerksamkeit zu bekommen, nach der ich mich sehnte. Im Kindergarten schrie ich: »Oh nein, ich habe meinen Ohrring verloren! Er ist mir aus dem Ohr gerutscht und auf den Boden gefallen!« Wie auf Kommando hörten alle auf mit dem, was sie gerade taten, und krochen herum, um nach meinem »verschwundenen« Schmuckstück zu suchen, das nie gefunden wurde, weil es sicher in meiner Tasche verstaut war.
Nachdem ich diesen Trick oft genug vor einem mir bekannten Publikum erfolgreich vorgeführt hatte, beschloss ich, ihn auch außerhalb meiner vertrauten Umgebung auszuprobieren. Als ein Junge aus meiner alten Kindertagesstätte Geburtstag feierte und ich eingeladen war, erzählte ich wieder einmal allen Anwesenden, dass ich meinen Ohrring verloren hätte. »Meine Mom wird mich umbringen, wenn ich ihn nicht wiederfinde!«, jammerte ich und schickte damit die arme Mutter des Jungen auf die Suche nach dem Ohrring. Auf Händen und Knien suchte sie den Boden nach meinem verschwundenen Ohrring ab, kramte unter den Schuhen und fegte Kaugummireste beiseite, obwohl sie eigentlich die Party ihres Sohnes hätte genießen sollen. Alle verbrachten den größten Teil ihrer Zeit mit der Suchaktion.
Als meine Mutter mich abholte, sprach die Mutter des Jungen sie an und versicherte in ruhigem Ton, dass sie versuchen würden, den Ohrring zu finden.
»Selma, was zum Henker!«, brüllte meine Mutter los.
»Es tut mir so leid, Molly«, wandte die Frau beschwichtigend ein. »Selma hat gesagt, du wärst sehr aufbrausend …«
»Sie hat ihren Ohrring nicht verloren! Sie ist eine Lügnerin!«
Das Spiel war gelaufen.
Die Mutter des Jungen war bis zu diesem Zeitpunkt immer nett zu mir gewesen, aber in diesem Moment änderte sich alles. Auf einem Tisch waren die Geschenktüten für die Kinder aufgereiht. Ich griff nach meiner und sie sah mir in die Augen und sagte: »Ich denke nicht.« Sie war eine gute Mutter.
Rückblickend glaube ich, dass ich neidisch darauf war, wie sehr diese Mutter ihren Sohn liebte. Sie hatte sich so viel Mühe gegeben, für ihren wunderbaren Jungen eine entsprechend schöne Geburtstagsfeier zu veranstalten, und ich wünschte mir, dass eine solch liebevolle Aufmerksamkeit auch mir zuteilwürde. Ich wollte so gerne verstehen, wie sich das anfühlt. Und ich dachte, man würde dann Aufmerksamkeit bekommen, wenn ein Notfall vorliegt. Da es keinen echten Notfall gab, fabrizierte ich einfach einen.
Dabei merkte ich weder, dass ich die Party eines anderen ruinierte, noch, dass ich dem Jungen seine Aufmerksamkeit raubte. Der Hang, anderen die Stimmung zu verderben, war eine meiner »Mean Baby«-Angewohnheiten. Meine Mutter glaubte, ich würde alle mit Absicht zur Verzweiflung bringen – aber ich wurde missverstanden. Ich wollte doch nur mit diesem Jungen befreundet sein, doch stattdessen machte ich meine Chancen darauf zunichte. Ich frage mich heute manchmal noch, ob irgendjemand weiß, dass ich dieselbe Blair bin, die alle dazu gebracht hat, nach ihrem Ohrring zu suchen.
Sozusagen als Krönung des Ganzen erzählte ich allen Kindern auf der Geburtstagsparty, dass die Füllung der Hot Dogs – kleine Partywürstchen – dem »Würstchen« meines Vaters ähnelten. Sobald wir außer Hörweite waren, drehte sich meine Mutter auf dem Parkplatz zu mir um.
»Selma, wann hast du jemals den Penis deines Vaters gesehen?«, fragte sie.
»Hab ich gar nicht«, antwortete ich ihr. In der Tat hatte ich ihn nie gesehen. Es schien nur etwas zu sein, das man sagen konnte. Etwas Lustiges.
Meine Mutter brach in Gelächter aus, so köstlich fand sie es, dass alle Kinder nun dachten, mein Vater sei mit einem Würstchen im Schlafrock ausgestattet. Als wir zu Hause ankamen, forderte sie mich auf, die Geschichte zu erzählen, damit mein Vater wusste, wie ich ihn verunglimpft hatte. Ich glaube nicht, dass es ihn sonderlich interessierte, auch wenn er diesen Vergleich wahrscheinlich selbst nicht gezogen hätte.
Aufgrund meiner impulsiven Art wurde ich immer wieder als böses, schreckliches, aber süßes und zielstrebiges schwarzes Schaf abgestempelt. Das fühlte sich … nicht so toll an. Und ich fühlte mich schuldig und schämte mich für all das. Ich schämte mich sogar fürchterlich, wenn ich erkannte, was ich getan hatte. Aber ich hatte keinen wirklichen Plan, wie ich ändern konnte, wer ich war. Was auf meinem Etikett stand: »Mean Baby«. Ich wusste nicht, wie ich es besser machen konnte. Ich wusste nicht, wie ich einfühlsam sein konnte. Oder geduldig. In Wahrheit war ich nicht böse, ich war nur ein Kind, das seine Handlungen nicht gut durchdachte. Aber das spielte keine Rolle. Ich machte meinem Namen alle Ehre.
Ich war ein »Mean Baby«. Als ob ich jemals eine Wahl gehabt hätte.
Meine drei Schwestern und ich wurden alle an einem Freitagmorgen um 8:45 Uhr geboren, was absichtlich so geplant war, damit meine Mutter, wie sie erzählte, das Wochenende zur Erholung hatte und am Montag wieder arbeiten konnte. Meine Mutter hat mit dieser Geschichte viel Eindruck gemacht, ob sie nun stimmt oder nicht. Meine Schwester Katie meint, es sei ein Mythos und meine Mutter sei für einen normalen Mutterschaftsurlaub von etwa sechs Wochen zu Hause geblieben. Aber mir gefällt die Version meiner Mutter besser, weil sie ein genaueres Bild von ihr vermittelt. Ihre ganz persönliche Version, die sie nach außen hin zeigen wollte. Stark, entschlossen, bemerkenswert, beeindruckend – das war sicherlich der Eindruck, den sie bei ihren Kolleginnen und Kollegen hinterlassen wollte. (Und ich glaube, als ich zur Welt kam, war sie schon so ein Geburtsprofi, dass sie tatsächlich nach drei Tagen wieder zur Arbeit gehen konnte.)
Ich kam am 23. Juni 1972 im Sinai Hospital in Detroit zur Welt. Der Arzt, der mich entband, hieß Dr. Lipschutz, eine Tatsache, die ich immer sehr amüsant fand (mein Sohn auch). Wie so vieles in meinem Leben habe ich auch dieses Detail erst später erfahren, als ich in einem Babyalbum blätterte, das ich im Keller gefunden hatte. Mit seinem rosafarbenen, gesteppten Tafteinband, der von einer der Kellerüberschwemmungen Wasserflecken aufwies, sah es schon alt aus, als ich als Kind zum ersten Mal darüber stolperte. Die Seiten waren ausgefranst und von der Feuchtigkeit verunstaltet, die Tinte hatte sich bereits verfärbt. In diesem Album findet sich ein Bild von mir als Neugeborenem, unter das meine Mutter geschrieben hatte: »Ihre Augen sind so blau, und alle sagen, sie sieht aus wie Mommy!«
Diese Worte begeisterten mich damals und tun es heute noch. Von dem Moment meiner Geburt an wünschte ich mir, so zu sein wie meine Mutter.
Das wirklich Erstaunliche an meiner Geburt war, dass meine Mutter, die noch nie bei einem ihrer Kaiserschnitte zugesehen hatte, den Krankenschwestern sagte: »Das ist meine letzte Chance. Ich möchte zusehen.« Also stützte sie sich auf ihre Ellenbogen und beobachtete, wie man ihr den Bauch aufschnitt. Sie erzählte mir diese Geschichte gerne, meist nach dem Abendessen, wenn sie ein paar Gläser Wein getrunken hatte. Ich war stolz auf meine Geburtsgeschichte. Stolz darauf, dass meine Mutter Zeugin gewesen war und sich dazu entschlossen hatte, es zu sein.
»Selma, es war wild! Sie haben tatsächlich meine Eingeweide rausgenommen«, erzählte sie mir, »und sie auf den Tisch gelegt!«
»Hat es wehgetan?«, fragte ich.
»Nein, nicht wirklich«, antwortete sie. »Es fühlte sich nur so an, als würde man in mir herumstochern. Ich war so glücklich darüber, dass ich bald mein Baby sehen würde!«
Sie berichtete mir dann immer, dass die Krankenschwestern alle geweint hatten – auch dieser Teil gefiel ihr –, weil sie noch nie eine Mutter gesehen hatten, die sich so sehr auf das Erlebnis einließ, die zusah, wie sie aufgeschnitten wurde, und beobachtete, wie sie das Baby herausholten.
»Dann zogen sie dich heraus und ich sagte: ›Oh, sie ist wunderschön!‹«
Manche Menschen suchen in ihrer Familie nach dem Ursprung ihrer körperlichen Merkmale. Was haben sie von ihren Vorfahren geerbt? Haben sie die Nase ihrer Tante Jean? Die Augen ihres Onkels Fred?
Ich suche in meiner Familie nach Anzeichen von Krankheit, nach Anzeichen von Traurigkeit. Ich schaue mir meine Geschichte an, um herauszufinden, woher meine Krankheiten kommen und ob sie besiegt werden können. Ich suche darin auch nach Anzeichen von Widerstandsfähigkeit, nach Beweisen für Stärke.
Um den Verlauf eines Kreislaufs zu verstehen, müssen wir ihn bis zum Anfang zurückverfolgen. Vor mir gab es meine Mutter, Molly. Und vor ihr gab es ihren Vater, James Cooke, den Mann, den ich als PopPop kannte. Wenn ich die Tür zur Vergangenheit öffne, um zu verstehen, wer ich bin, ist mein Großvater mütterlicherseits der Erste, den ich sehe. Ich bin die Tochter meiner Mutter, geformt nach ihrem Bild, und sie war die Tochter ihres Vaters, geformt nach seinem. Sobald ich mein geistiges Auge schließe, ist er da, mit frischer, ordentlich gebügelter Kleidung und Fliege, mit dem gleichen schiefen Lächeln, das ich geerbt habe.
PopPop wurde als Jude in Kiew geboren, wo sein Vater ein erfolgreiches Maßanzugsgeschäft besaß und für sein exquisites Auge für Schneiderei bekannt war. Als die Pogrome im frühen 20. Jahrhundert begannen, brachte sein Vater die Familie nach Amerika. PopPop war erst zwei Jahre alt. Die Familie war immer darauf bedacht zu berichten, dass sie in der zweiten Klasse nach Ellis Island reisten. Sie begnügten sich nicht mit dem ärmlichen Zwischendeck! Der äußere Schein war meinen Verwandten wichtig, selbst als sie auf der Flucht vor Verfolgung waren.
Die Familie ließ sich in Philadelphia nieder und kehrte dem Judentum den Rücken, um sich zu integrieren – um Amerikaner zu werden –, obwohl ich vor Kurzem erfahren habe, dass PopPop fließend Jiddisch sprach. Er war nämlich Mitglied der Kohanim, Nachkommen des biblischen Aaron, denen in der Synagoge besondere Privilegien zugestanden wurden. Sie waren die Auserwählten unter den Auserwählten. Dennoch betrachtete er sich als ethnischer Jude, nicht als religiöser Jude. Und vor allem sah er sich als Amerikaner.
Mein Großvater war eines von elf Geschwistern und arbeitete als Kind zusammen mit seinem älteren Bruder Sam als Erbsenverkäufer in der Dock Street in Philadelphia. Von dieser Tätigkeit erfuhr ich erst kürzlich von meiner Cousine Joanna. »Moment mal, PopPop hatte einen Gemüsewagen?« Mein eleganter, weltgewandter PopPop. Ich konnte es nicht glauben. »Das ist wie in My Fair Lady, nur auf Jiddisch!« Ich war entzückt von dieser Information.
Als PopPop im Teenageralter war, ging sein Bruder Paul mit seinem Vater spazieren und bemerkte nicht, wie die Straßenbahn auf sie zurollte. Der Vater schaute gerade noch rechtzeitig auf, um Paul aus dem Weg zu schieben, bevor er selbst von der Straßenbahn erfasst und auf der Stelle getötet wurde. Man erzählte mir, dass meine Urgroßmutter schrie und weinte, als der Sarg ihres Mannes in die Erde gesenkt wurde. Sie war allein in einem fremden Land, mit elf Kindern, die sie ernähren musste. Der Kummer war ihr für den Rest ihres Lebens ins Gesicht geschrieben. Paul und einige der jüngeren Kinder wurden in ein Waisenhaus geschickt, während PopPop als alt genug angesehen wurde, um allein zu leben.
PopPop und sein Bruder Sam bauten ihren Gemüseverkauf aus und wurden zu erfolgreichen Inhabern einer nationalen Supermarktkette namens Penn Fruit. Als wohlhabender Mann erfand sich PopPop neu. Er zog in die Nähe der noblen Main Line von Philadelphia und kleidete sich fortan wie ein typisch weißer, protestantischer Amerikaner in Tweed und Seersucker.
Ich kannte PopPop nur als einen ungewöhnlich weltgewandten und kultivierten amerikanischen Mann, einen Kenner von Shakespeare und Saul Bellow, gut situiert und adrett gekleidet, mit Fliegen, die zu seinen hinreißenden O-Beinen passten. Er war ein liebevoller Großvater, der seine Briefe an mich mit »Oceans of Love, PopPop« unterzeichnete. Für mich waren diese Worte wie eine Offenbarung. Ein Ozean der Liebe. Diese Worte bewirken das Gegenteil davon, sich unerwünscht zu fühlen. Sie enthalten etwas Exotisches und Großes. Das ist ein so schöner Satz. Ich verwende ihn selbst gelegentlich, nur für die besten Menschen.
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Ozeane der Liebe für meine innig geliebte Blair zu deinem Geburtstag und noch viele weitere glückliche Geburtstage! PopPop
In ihrer Kindheit war meine wunderbare Mutter Molly definitiv ein Papakind. Sie war PopPops ganzer Stolz, aber wie so viele Beziehungen war auch diese kompliziert. Er hatte ein Gespür für ihre Unsicherheiten und konnte sehr kritisch sein. Als ich zehn oder elf Jahre alt war, hatten die beiden einen furchtbaren Streit, nach dem ihre Beziehung nie wieder dieselbe war. Es begann mit seiner Bemerkung, ihr Gesicht sei schweißnass, eine Beleidigung, die meine Mutter, die peinlich genau auf ihr Äußeres achtete, zutiefst verletzte. »Sperrt ihn weg!«, schrie meine Mutter. Ich hörte, wie sie sich am Telefon bei einer Freundin über diese »Beleidigung« beschwerte. »Ich schwitze nie, niemals«, sagte sie. »Gerade mein Vater sollte das wissen.« Das stimmte, soweit ich das beurteilen konnte. Das Gesicht meiner Mutter war immer matt, ihre Haut perfekt gepudert. Keine Spur von Schweiß, niemals, genauso wenig wie es Anzeichen von Schwäche gab.
PopPop starb ein paar Jahre später, als ich in der neunten Klasse war. Wir fuhren von Michigan nach Pennsylvania, um ihn zu beerdigen. Auf der Fahrt dorthin steckte mir meine Schwester Lizzie eine Zuckerstange in die Nase, und an der Stelle, wo sie einschnitt, floss reichlich Blut heraus. Meine Mutter drehte sich zu uns auf dem Rücksitz um, um zu sehen, was passiert war. Ich hütete mich jedoch, mich zu beschweren. Ihr Vater war tot. Ich wusste, wie sehr sie ihn liebte, trotz alledem, was je geschehen war.
Als wir Erde auf seinen Sarg streuten, schluchzte meine Mutter und weinte in den trüben Wintertag hinein. »Daddy. Mein Daddy.«
Es gibt immer einen Menschen, der uns unter die Haut geht, der unsere Schwachstellen und Neurosen kennt und nicht anders kann, als uns diese vorzuhalten. Das sind die Menschen, die uns am meisten verletzen können, weil es uns so wichtig ist, was sie denken.
Für meine Mutter war diese Person PopPop.
Für mich ist diese Person meine Mutter.
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War meine Mutter ein Papakind, weil ihre Mutter sie nicht mochte? Oder mochte ihre Mutter sie nicht, weil sie PopPop so sehr liebte? Mir wurde immer gesagt, dass meine Großmutter Goggy, die eigentlich Lillian hieß, meiner Mutter gegenüber sadistisch war, aber die Einzelheiten bleiben unklar. Ich werde niemals erfahren, ob es sich dabei um ein einmaliges Ereignis handelte oder um eine lange Reihe von Beleidigungen, die sich im Laufe der Zeit anhäuften. Niemand in meiner Familie scheint sich genau daran zu erinnern, was passiert ist, klar ist nur, dass Lillian immer meine Tante Sally bevorzugte und PopPop meine Mutter.
Laut Erzählungen der Familie Cooke waren das Erste, was PopPop an Lillian Minor auffiel, ihre Beine. »Wer ist die Dame mit den herrlichen Schenkeln?«, erkundigte er sich nach dem hübschen Mädchen, das neuerdings als Kassiererin in dem Lebensmittelgeschäft arbeitete, das er leitete. Er war sechzehn, sie fünfzehn. Sie heirateten bald darauf und bekamen zwei Töchter.
Meine Mutter wurde nach einer Tante von Lillian benannt, die an den Komplikationen einer Abtreibung gestorben war – eine tragische Geschichte, die bei uns nicht beschönigt wurde und die dazu führte, dass ich Angst vor Sex und vor dem Schwangerwerden bekam.
Wie PopPop war auch Lillian das Kind von Einwanderern der ersten Generation. Ihr Bruder James starb mit dreizehn Jahren an rheumatischem Fieber. Als der Einbalsamierer kam, um den Leichnam für die Beerdigung vorzubereiten, musste sie mit ansehen, wie das Blut ihres Bruders in einen Eimer abgelassen wurde. Sie entwickelte eine lebenslange Angst vor Blut, die sie an meine Mutter weitervererbte. (Auch mein Sohn hat diese Furcht. Ein angestoßener Zeh oder ein aufgeschürftes Knie reichen schon aus, um ihn aus der Fassung zu bringen.)
Im Laufe der Jahre wurde Lillian immer korpulenter und unglücklicher, wobei ich mir nicht sicher bin, was zuerst eintrat. PopPop, der Frauen wegen ihres Gewichts streng beurteilte, verlor daraufhin allmählich das Interesse an ihr. Schließlich ging ihre Ehe in die Brüche, sie entfremdeten sich und ließen sich letztendlich scheiden.
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Als ich klein war, lebte Lillian allein in einem luxuriösen Apartmenthaus nicht weit von unserem Haus in Southfield, Michigan, und sie lud ihre Enkelinnen – Katie, Lizzie und mich – oft ein, um bei ihr zu übernachten. (Mimi war zu dieser Zeit einerseits PopPop gegenüber äußerst loyal und andererseits zu alt für Übernachtungen.) Aber wir drei liebten es.
Lillian war so vernarrt in uns, wie es unsere Mutter nicht war. Sie gab uns Süßigkeiten, nahm uns mit in den Film The Wiz – das zauberhafte Land, und wir spielten Parcheesi, ein Spiel so ähnlich wie Pachisi. Ich mochte meine Goggy sehr. Trotzdem war ich stets auf den Tag vorbereitet, an dem sie mich bloßstellen oder mir wehtun würde, denn meine Mutter meinte, dass Goggy genau so etwas tun würde.
Ich wartete. Es passierte nie.
Ich liebte meine Mutter und ich liebte meine Großmutter. Deshalb wollte ich verstehen, was zwischen ihnen geschehen war, auch weil ich nicht wollte, dass zwischen meiner Mutter und mir dasselbe passierte. An einem Samstagabend, als ich bei Goggy im Bett lag, fragte ich sie daher: »Glaubst du, dass du eine gute Mutter warst?«
Sie hielt inne, dachte nach und sagte dann: »Ja. Ich habe versucht, eine gute Mutter zu sein. Warum?«
Ich gab zu: »Meine Mutter sagte, du wärst keine gute gewesen.«
Sie schwieg und wir schliefen ein.
Auf dem Heimweg am nächsten Tag berichtete meine Schwester Lizzie meiner Mutter, was ich gesagt hatte. Wir durften Goggy nie wieder zu Hause besuchen. Und wir sahen Goggy danach auch kaum noch, außer bei Großfamilientreffen in Tante Sallys Haus mit Onkel Jim und den Cousins. Unsere Loyalität galt unserer Mutter.
Als Lillian ihre letzten Jahre in einem Pflegeheim verbrachte, versöhnten sie und meine Mutter sich wieder. Einigermaßen. Meine Mutter war inzwischen eine gemäßigte Trinkerin und brachte Goggy zu Weihnachten kistenweise Alkohol vorbei – so viel, dass es für eine stattliche Hochzeit gereicht hätte. »Da, damit sollte Goggy ein Jahr lang auskommen«, sagte sie dann. Sie trieb ihre eigene Mutter buchstäblich in den Suff. Aber meine Mutter könnte es als Zeichen der Liebe gemeint haben, denn Alkohol war das beste Heilmittel, das sie kannte.
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Als meine Mutter im Teenageralter war, erkrankte sie an einer lebensbedrohlichen Virusinfektion, woraufhin Lillian sie zur Genesung in eine Pflegeeinrichtung schickte. Meine Mutter wurde so krank, dass man der Familie riet, sich auf ihren Tod vorzubereiten. Zwar erholte sich meine Mutter wieder, verlor jedoch alle ihre Haare. Eines Abends ging sie mit vollem, dunklem Haar zu Bett, und als sie aufwachte, war ihr Kopfkissen von Haarsträhnen übersät. Ihr Haar wuchs nach, kaputt und dünn. Meine Mutter und ihre Haare waren nie wieder dieselben.
Über diesen Lebensabschnitt sprach sie nur selten. Sie gab sich in dieser Zeit sogar einen anderen Namen: Roseanne. Sie hatte so tun wollen, als würde die ganze Erfahrung einer anderen Person passieren.
Ich erfuhr davon erst, als ich eine Zeichnung zwischen ihren Erinnerungsstücken fand. Sie war mit »Roseanne« signiert.
»Das ist wirklich gut, Mom. Wer hat das gemacht?«, fragte ich.
Und sie sagte: »Oh, das war ich, nach der Highschool.«
»Aber da steht doch ›Roseanne‹ drauf.« Ich legte den Kopf schief. »Wer ist Roseanne?«
Meine Mutter erklärte es so, als wäre es etwas ganz Normales. Sie hatte versucht, ein anderes Ich zu schaffen, fast wie eine Figur, die sie in einem Theaterstück gespielt hatte. Das war alles, was sie dazu sagte. Die Zeichnung und damit die Geschichte verschwand in ihrer Schublade und wurde nie wieder hervorgeholt.
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Für PopPop war es sehr wichtig, stets den Schein zu wahren, und meine Mutter folgte seinem Beispiel. Sie war immer tadellos gekleidet: vornehm in einem Ungaro-Kostüm und Charles-Jourdan-Stöckelschuhen und immer schön geschminkt. Nur ein einziges Mal habe ich sie in Turnschuhen gesehen – in einem Paar schicker Keds, wie sie auch ihr Idol Jackie O getragen haben könnte –, zu denen sie den typischen roten Lippenstift aufgelegt hatte.
Sie war wirklich umwerfend; sie ähnelte einer jungen Anne Bancroft. Sie war hochgewachsen, hatte eine gute Figur und war gertenschlank. Alles andere, so wusste sie, konnte sie glamourös gestalten. Sie wollte Eindruck schinden.
Meine Schwestern und ich durften das Schlafzimmer unserer Eltern erst betreten, wenn unsere Mutter »fertig« war, was bedeutete, dass sie vollständig angezogen und geschminkt war. Sie öffnete nicht einmal die Schlafzimmertür, wenn sie ihr Haar nicht gestylt, die Lippen nicht rot geschminkt, kein von Pattie Boyds Schminkkarten konturiertes Gesicht und rosa Rouge aufgetragen hatte. Sie hielt das Licht im Haus gedämpft, um die Anzeichen ihres Alterns zu verbergen, und nahm sogar einige der Glühbirnen heraus. »Ich sehe bei schwachem Licht am besten aus«, pflegte sie zu erklären. Eine Freundin von Mimi sagte einmal, meine Mutter sähe verrückt aus, weil sie zu viel Rouge trug, und das machte mich so wütend, dass ich nie wieder mit dieser Freundin sprach.
Das größte Geheimnis blieb, dass meine Mutter durch die Viruserkrankung ihr dichtes Haar verloren hatte. Sie trug immer ein gut frisiertes Haarteil, das mit ihren eigenen Haaren verbunden war, was ich nur durch Zufall herausfand. Eines Tages versteckte ich mich in ihrem Bett unter einer Decke, als ich sie aus dem Ankleidezimmer kommen sah. Zuerst erkannte ich sie nicht; es dauerte einige Augenblicke, bis ich es begriff. Ich war so geschockt, dass ich mich nicht bewegen konnte. Bis zu diesem Moment hatte ich keine Ahnung, dass ihre Haare eine Perücke waren. Ich bin nicht sicher, ob sie wusste, dass ich da war, ob sie wusste, dass ich ihr Geheimnis kannte. Wir haben nie darüber gesprochen.
Roseanne hatte eine Glatze. Molly nicht. Ich würde gerne glauben, dass das für meine Mutter keine so große Sache gewesen war, aber sie stammte aus einer anderen Generation und aus einer Familie, in der Krankheit mit Schwäche gleichgesetzt wurde. Und Schwäche bedeutete, dass man Gefahr lief, ein Opfer zu werden. Daher hütete sie die Fassade ihrer Stärke über alles.
Einmal sah ich sie schlafend in ihrem Bett liegen, ohne gestylte Frisur und Make-up. Ich war schockiert, sie so zu sehen, in einem Baumwollnachthemd und mit einem Frotteeturban, blass, ohne Mascara oder Lippenstift. Sie sah aus wie ein Pharao. Eigentlich war sie auf diese Weise sehr schön. Aber es war auch beängstigend, denn das war nicht die Mutter, die ich kannte. Wie schockierend war es, zu entdecken, dass sie unter all dem Zurechtgemachten einfach nur wie eine liebenswerte junge Frau aussah.
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Meine Mutter hatte die Fähigkeit, Menschen in ihren Bann zu ziehen. Ähnlich wie PopPop besaß sie eine Starqualität, ein ihr innewohnendes Strahlen, das sie auf Schritt und Tritt begleitete. Sie war eine Sphinx; die Leute dachten, dass ein tiefes Geheimnis in ihr steckte, weil in ihren Augen sowohl Spaß als auch Traurigkeit lagen. Und sie war gut gekleidet. Meine Mutter verstand, dass das Äußere alles ist. PopPop trug stets maßgeschneiderte Anzüge. Auch meine Mutter war immer elegant gekleidet. Es überrascht daher wohl kaum, dass auch ich eine Vorliebe für Haute Couture habe.
Wenn wir ein Kind sahen, das von seiner Mutter herausgeputzt war, nahm meine Mutter dies sofort zur Kenntnis und bemerkte: »Dieses Kind wird geliebt.« Es war die größte Enttäuschung für meine Mutter, wenn ich nicht fein herausgeputzt war. »Selma, bitte mach dich schön«, sagte sie dann. »Es bedeutet mir so viel.« Sobald ich dazu in der Lage war, versuchte ich es wirklich. Damit buhlte ich um ihre Gunst, denn nichts war ihr wichtiger, als ihre Kinder vorzuführen. Sie liebte uns. Und sie liebte uns noch mehr, wenn wir gut aussahen.
Wir besaßen nur sehr wenige Dinge, doch es waren schöne Dinge. Meine Mutter kaufte mir meinen ersten Burberry-Mantel, als ich zwölf Jahre alt war. (Ich weiß noch, wie sich die Augen der jungen Verkäuferin beim Anblick des Tausend-Dollar-Preisschilds weiteten, als sie unseren Einkauf an der Kasse abrechnete. »Was bist du doch für ein glückliches Mädchen!«, rief sie aus.) Meine Mutter ließ sogar meinen Namen auf die Innenseite sticken, so wie sie es mit ihren Nerzen, Zobeln und Schneefüchsen tat. (Es waren die 70er-Jahre.)
Für meine Mutter war Mode mehr als nur eine Garderobe. Mode war ein Charakter. Von ihr lernte ich, dass die richtige Kleidung einen vor einer Welt schützen kann, die einen niedermachen will, und dass die Menschen einen mit mehr Respekt behandeln, wenn man gepflegt aussieht. Jeden Tag zog sie sich an, um eine Rolle zu spielen. Sie war in vielerlei Hinsicht die erste große Bühnenschauspielerin, die ich aus nächster Nähe sah.
Sobald meine Mutter um 5 Uhr morgens zur Arbeit aufbrach, um die zweistündige Fahrt in die Hauptstadt Lansing anzutreten, steuerte ich direkt auf ihren makellosen Kleiderschrank zu. Ich probierte ihr Make-up an ihrem Frisiertisch aus, begutachtete ihre seidenen YSL-Blusen und Givenchy-Kleider, schlüpfte in ihre Maud-Frizon-Stöckelschuhe. Alles, was sie besaß, war von hoher Qualität. Sie warnte uns immer vor Trends und riet uns, nur das zu kaufen, was auch in zehn Jahren noch ein Klassiker sein würde. Sie verstand die Macht der Uniform, eine weitere Lektion, die sie an mich weitergab. Die Leute fragten sie: »Warum bleibst du so schlank?«, und sie antwortete: »So passt mehr in meinem Kleiderschrank!« Ein Witz, den ich erst viel später im Leben verstanden habe. Aber ich verstand auch, dass dies ein Teil ihrer Sparsamkeit war. Wenn man schon teure Kleidung kauft, dann will man sie auch ein Leben lang tragen. Ihre Philosophie war, das Geld so auszugeben, wie man es sich leisten kann, und dann alles zu tun, was notwendig ist, um weiterhin in die Kleidung zu passen. In dieser Hinsicht war sie sehr praktisch veranlagt.
Gleichzeitig ermahnte sie uns aber auch, nicht zu sehr in den eigenen Gewohnheiten zu verharren. Wenn wir irgendwo ausgingen und ihr jemand mit einem altmodischen Aussehen auffiel – wenn beispielsweise die Bedienung im Steakhaus eine altbacken aussehende Frau mit schwarz gefärbten Haaren und Katzenaugen-Eyeliner war –, statuierte sie ein Exempel an ihr. »Vorsicht, Mädels«, mahnte sie dann. »Sucht euch euren Look aus, aber achtet darauf, ihn rechtzeitig anzupassen.«
Meine Mutter sparte ihr Geld. Wenn sie Geld ausgab, tat sie das mit Bedacht. Sie war ungehalten, wenn ich mal etwas Billiges und Modisches kaufte. »Warum kannst du nicht ein bisschen mehr ausgeben und dir damit ein wichtiges Aussehen verleihen, Selma?«
Während meiner Highschool-Zeit nahm mich meine Mutter einmal mit zu Chanel, um mir einen Lippenstift zu kaufen. Mir steht kein Lippenstift, das war schon immer so. Mein Gesicht verträgt sich nicht damit, ich sehe dadurch streng aus, nicht weich. Aber meine Mutter mochte schon immer Lippenstift an mir und ich wollte sie glücklich machen. Ich weiß noch, wie sie sich aufregte, als die Verkäuferin an der Kasse sagte, das koste 20 Dollar. »20 Dollar?! Ich mag schöne Dinge, aber 20 Dollar!« Sie kaufte ihn trotzdem. Er war pink. Und er war so stark parfümiert und schmeckte so sehr nach Chanel-Lippenstift, dass ich ihn trotz all des Aufhebens darum nur ein einziges Mal trug, auf Mackinac Island, mit einer grünen Wildlederweste und mit blondiertem Haar im Seitenscheitel, so wie sie es mochte.
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Meine Mutter hatte Regeln. Ich befolgte jede einzelne dieser Regeln aufs Strengste.
»Zieh nichts an, was du nicht auch noch in zehn Jahren tragen würdest.«
»Klassiker sind am besten.«
»Zeig dich ein wenig dramatisch, zeig, dass du wertvoll bist.«
»Knapp vorbei ist auch daneben.«
»Kaue niemals Kaugummi in der Öffentlichkeit.«
»Leute, die sich als stilvoll bezeichnen, haben keine Klasse.«
»Trinke niemals, wenn du fährst.«
»Leute, die mit einer brennenden Zigarette herumlaufen, haben einen sehr schlechten Geschmack … es stinkt.«
»Wenn du zur Tür kommst, um hinauszugehen, zieh eine Sache aus.«
Aber die wichtigste aller Regeln war diese: »Ein gutes Mädchen scheitelt sein Haar an der Seite.« Als ich mein Haar einmal in der Mitte scheitelte, sagte sie, ich sähe aus wie eine Geisteskranke, die aus der Irrenanstalt ausgebrochen ist. »Selma. Böse Mädchen scheiteln ihr Haar in der Mitte. Gute Mädchen scheiteln ihr Haar an der Seite.«
Wenn ich zurückblicke, dann erkenne ich, dass meine Mutter ihrem Vater sehr ähnlich war. Sie konnte gleichzeitig liebevoll und verletzend sein; wie PopPop verstand sie es, die Menschen, die sie liebte, mit ihren Sticheleien zu verletzen. Und ihre vier Töchter waren häufig Zielscheiben dieser Attacken.
Über mich machte sie sich lustig wegen meines leicht hängenden Augenlides, meiner hässlichen Wangen und meines »Jolie laide«-Aussehens, wie sie es nannte, also hübsch und hässlich zugleich. »Wie kann man von der Seite so schön aussehen und von vorne so hässlich?« Meine Mutter sagte, ich sähe aus wie Lauren Bacall, aber nur, wenn ich meinen Kopf zu drei Vierteln drehte, niemals in der Frontalen. »Sieh die Leute nicht frontal an, Selma, sonst wissen sie, dass du wie eine Bratpfanne aussiehst.« Immer, immer den Kopf zu drei Vierteln drehen. Das wurde mein Spiegelgesicht und schließlich die Art und Weise, wie ich zu posieren lernte.
Im Gegensatz zu anderen Müttern, die ihren Kindern sagten, dass sie auch ungeschminkt schön seien, wollte sie immer, dass ich mich schön machte.
»Schmink dich mal, Selma, deine Augen sehen aus wie Pisslöcher im Schnee!«
»Selma! Du hast Haare über der Lippe. Aber es ist schick. Sehr europäisch.«
»Oh, Selma, mach deine Haare. Sie sehen aus wie eine Schüssel voller Würmer.«
»Selma, bemüh dich mal. Mach dich vorzeigbar, bitte.«
Wenn jemand sagte, ich sei schön, blinzelte meine Mutter, als würde sie mich zum ersten Mal sehen. »Findest du das wirklich? Ihre Lippe steht ziemlich weit vor.« Aber wenn ich mich zurechtmachte, war ihr Lob umso befriedigender. Sie machte nur sehr selten Komplimente, damit ging sie sehr sorgfältig um. Ich lebte für ihre Anerkennung.
Sie bezeichnete meine Füße als Bärentatzen, weil ich, obwohl sie flach sind, Senkfüße habe. »Oh, Selma! Geh auf den Zehenspitzen!«, rief sie, wenn ich aus dem Pool stieg. »Du hinterlässt Bärenabdrücke! Das ist peinlich!« Es war als Scherz formuliert, doch ich verstand, dass sie es ernst meinte. Meine Mutter schaffte es allerdings nicht allzu leicht, mich in Verlegenheit zu bringen. Selbst wenn sie mich kritisierte, ob öffentlich oder privat, machte mir das nichts aus. Trotzdem setzt sich das alles im Kopf fest. Ich bin jetzt an einem Punkt in meinem Leben, an dem ich nicht mehr auf Zehenspitzen gehen kann, und das macht mich fertig.
Meine Mutter gab sich immer wie eine Adelige oder eine Theaterschauspielerin, obwohl sie das nicht war. Aber sie war gebildet, souverän und weltgewandt.
»Die Regeln zu kennen, heißt, die Regeln zu brechen«, sagte sie immer. Das fand ich immer faszinierend. Sie war eine Richterin; sie war die Regeln.
Ich habe sie geliebt und gefürchtet, und zwar zu gleichen Teilen. Rückblickend erkenne ich, dass sie es so gewollt hat.
»Du bist eine Hexe wie ich, Selma«, meinte meine Mutter einmal. Sie war keine Hexe, zumindest nicht in der Praxis. Sie hat ganz bestimmt nie einen Zaubertrank gebraut. Aber sie gab mir eine gewisse Macht, indem sie sagte, dass wir uns ähnlich seien.
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Meine Mutter war die begabteste Geschichtenerzählerin, die man sich vorstellen kann. Sie malte die Welt mit sich selbst erfüllenden Prophezeiungen aus. Seit ich etwa fünf oder sechs Jahre alt war, reihte meine Mutter uns vier wie die Kinder der Trapp-Familie auf, wenn wir Besuch hatten, und stellte uns vor.
»Das ist Marie, die fleißige Schülerin«, sagte sie über Mimi.
»Katherine, unser Overachiever.« Das machte Katie wahnsinnig und tut es immer noch. »Ich kann nicht glauben, dass Mom mich so nennt!«, klagte sie. »Das ist wirklich verdammt furchtbar. Es bedeutet, dass du nicht begabt bist und trotzdem alles schaffst. Jeder will doch ein Underachiever sein, also ein guter, talentierter Mensch, der sein Talent nur noch nicht ausgeschöpft hat.« (Katie, damit das klar ist: Du bist kein Overachiever.)
»Das ist Lizzie, die beliebte Sportlerin«, wobei sie sie gelegentlich auch als »Lizzie, der Wildfang« bezeichnete.
»Und zu guter Letzt Selma, die Manisch-Depressive.«
Ich fand das immer lustig, denn an mir war nichts Manisches. Ich bin immer nur depressiv gewesen. Aber ich wagte nicht, zu protestieren. Ich sah es als mein Glück an, die mir zugewiesene Rolle zu spielen. »Oh, es ist wahr!«, sagte meine Mutter, falls jemand Zweifel hegte.
Auf diese Weise verpasste sie uns unsere ganz persönliche Identität.
Manchmal sagte sie auch grausame Dinge. Einmal sagte sie über die unbekümmerte Lizzie: »Man könnte ihre Seele mit einem Zehncentstück bedecken.« Das war natürlich nicht wahr, aber Lizzie verinnerlichte es. Wie auch nicht?