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PRESSESTIMMEN: "Schmidt weiß Pointen zu setzen, mit dramaturgischen Kniffen zu spielen, den Spannungsbogen klug aufzubauen. Der Roman bietet sich zur Verfilmung an. Schmidts Stärke liegt in der Präzision, mit der er Charaktere und Situationen beschreibt." (WAZ) –––– "Die Technik der Desinformation hat jedoch in Peter Schmidts Roman, und das macht ihn so aktuell und originell, keine ideologischen Ursachen mehr. Sie ist zum Selbstzweck geworden (PRINZ) –––– "Peter Schmidt hat hierzulande den Polit-Thriller salonfähig gemacht und ohne sonderliche Mühe einen Standard erreicht, der internationalen Vergleichen standhalten kann." (Rudi Kost) –––– "Seine Geschichten aus der Welt der Geheimdienste sollte man sich heute, mit dem NSU-Desaster der Sicherheitsbehörden im Hinterkopf, noch einmal durchlesen." (Axel Bussmer "Kriminalakte") –––– "Der Westfale Peter Schmidt ist als erster deutscher Autor erfolgreich ins angloamerikanische Thriller-Monopol eingebrochen." (Capital) –––– AUTORENINFO http://autoren-info-peter-schmidt.blogspot.de/
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Seitenzahl: 283
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Peter Schmidt
Mehnerts Fall
Agententhriller
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
ZUM BUCH
PRESSESTIMMEN
Die Hauptpersonen
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WEITERE TITEL
Impressum neobooks
Wie stürzen Geheimdienste Regierungen?
Wie bringt man einen Kanzler zu Fall? „Mehnerts Fall“ zeigt modellhaft, was Geheimdienstintrigen bewirken. Und die Methoden, die dabei eingesetzt werden, sind heikel – und vielleicht bösartiger und spektakulärer als alles, was es im Agentengeschäft je gegeben hat …
http://autor-peter-schmidt-pressestimmen.blogspot.de/
"Der Westfale Peter Schmidt ist als erster deutscher Autor erfolgreich ins angloamerikanische Thriller-Monopol eingebrochen." (Capital)
"Schmidt weiß Pointen zu setzen, mit dramaturgischen Kniffen zu spielen, den Spannungsbogen klug aufzubauen. Der Roman bietet sich zur Verfilmung an. Schmidts Stärke liegt in der Präzision, mit der er Charaktere und Situationen beschreibt." (WAZ)
"Die Technik der Desinformation hat jedoch in Peter Schmidts Roman, und das macht ihn so aktuell und originell, keine ideologischen Ursachen mehr. Sie ist zum Selbstzweck geworden (PRINZ)
‚Peter Schmidt hat hierzulande den Polit-Thriller salonfähig gemacht und ohne sonderliche Mühe einen Standard erreicht, der internationalen Vergleichen standhalten kann.’ Seine Geschichten aus der Welt der Geheimdienste sollte man sich heute, mit dem NSU-Desaster der Sicherheitsbehörden im Hinterkopf, noch einmal durchlesen.“
Mehnert
Vorsitzender einer großen Partei – der “Falke“?
Iven
DDR-Agent mit einem heiklen Auftrag – der “Fuchs“?
Karwel
arbeitsloser, lediger BRD-Bürger in einem Prager Gefängnis – die “Maus“?
Hanne
DDR-Agentin in schwieriger Mission – der “Lockvogel“?
Achenbach
der “Holländer“ fürchtet seinen Rückruf nach Ost-Berlin – der “Strippenzieher“?
Störte
arbeitet im Ministerium für Staatssicherheit in Ost-Berlin – der “Fallensteller“?
So hübsch sie auch war – sie hatte immer noch viel von einem Kerl. Es würde ihr ein Leben lang anhängen. Iven betrachtete nachdenklich die Fotografie, er hielt es für möglich, dass gerade das auf Mehnert anziehend wirkte …
Eine Zeit lang hatte die Abteilung mit dem Plan gespielt, sie auf ein Konstruktionsbüro für Rüstungstechnik bei München anzusetzen. Dort suchte man eine technisch versierte Sekretärin.
„Hanne“ hatte vor ihrer Zeit in der SPD zwei Semester Maschinenbau studiert. Dann war höchste Weisung gekommen – man munkelte, aus Moskau, vom ZK. Aber über solche Details ließ Störte sich nie aus. Er zog niemanden ins Vertrauen – die übliche Geheimniskrämerei …
Iven hatte nur erfahren können, dass es mit der Aufstellung weiterer Mittelstreckenraketen zusammenhing. Ihren Freunden in Moskau erschien der Lauf der Verhandlungen unbefriedigend, soviel war sicher.
Wie schon in der Vorrunde gab es auch diesmal im Bundestag eine starke Mehrheit gegen den sowjetischen Vorschlag, die Rüstung auf dem gegenwärtigen Stand einzufrieren. Das Ergebnis der kommenden Abrüstungsrunde Ende Januar war in Gefahr.
Die gegenwärtig Politik des Gleichgewichts kostete das sozialistische Lager viele Milliarden Rubel. Geld, das anderweitig benötigt wurde. Jeder Experte begriff schnell, dass eine kapitalistische Hochrüstung den Westen durch Arbeitsplätze und hohe Profite stärkte, die sozialistische Rüstung den Osten dagegen schwächte, weil sie seine Kräfte von wichtigen gesellschaftlichen Aufgaben abzog.
Fortdauernde materielle Unterlegenheit aber musste im Bewusstsein der Massen wie ein Zeitzünder wirken …
Wenn man die Rüstung auf dem gegenwärtigen Stand einfror, würde das sozialistische Lager fähig sein, seine ganze Wirtschaftskraft auf die Deckung von Konsumwünschen zu richten. Daran war der Westen nicht interessiert. Er täuschte Abrüstungsbereitschaft vor, unterlief jedoch die Verhandlungen, wo er konnte.
Mehnert galt als Falke und einflussreichster Vertreter dieser Politik in Bonn. Solange er Parteivorsitzender blieb, würde er seinen Einfluss geltend machen – dem Kanzler gegenüber, der in der Frage nach den Erfahrungen des ersten Nachrüstungsbeschlusses eher zum Ausgleich neigte, wie in der eigenen Fraktion. Sein Rücktritt hätte einen wichtigen Schritt gegen den Nachrüstungsbeschluss bedeutet. Ob auch den entscheidenden, musste die Zukunft zeigen.
Iven nahm an, dass es wie üblich nur der einzelne Pfeiler eines noch größeren Gebäudes in der Rüstungspolitik war, an dem das Moskauer Politbüro baute. Er hatte herausgefunden, dass Störte über eine Analyse verfügte, die entweder aus dem ZK der SED oder direkt aus Moskau stammte.
Dass er sie vor ihm geheim hielt, schrieb Iven seinem zur Gewohnheit gewordenen Misstrauen zu. Er hielt ihn für seinen potentiellen Nachfolger und ließ bei jeder Gelegenheit durchblicken, dass Iven auch mit noch so viel Protektion durch Kuznow und die – wie er sich auszudrücken pflegte –“übrigen Politbürogangster“ nicht mit seinem vorzeitigen Abgang rechnen könne. Woher diese fixe Idee stammte, blieb Iven ein Rätsel.
Störte war ein kleiner, ständig hüstelnder Mensch. Respektlos, aber zuverlässig.
Iven schätzte an ihm, dass er niemandem aus der Partei nach dem Mund redete. Wenn er sein Büro in der Prenzlauer Allee verließ, eine geheime Dependance des Ministeriums für Staatssicherheit, stieg er noch im Sichtschutz des Hofes in seinen uralten schwarzen Wolga.
Iven vermutete, dass er seit Jahren keine Straße mehr betreten hatte – aus Furcht, von einem westlichen Geheimdienstler abgelichtet zu werden!
Er rauchte nicht, betrank sich selten und war für keinen Außenstehenden zu sprechen. Ein seltsamer Einsiedlerkrebs, der das Tageslicht scheute und trübes Lampenlicht bevorzugte.
Seine koryphäenhafte Bildung und Intelligenz und sein Lebensstil befähigten ihn, in der Hierarchie bis ganz oben aufzusteigen …
In all den gemeinsamen Jahren hatten ihm Störtes Misstrauen und seine Vorbehalte die Arbeit nicht gerade erleichtert. Doch mit dem Fall Mehnert schien ihr Verhältnis in eine neue Phase einzutreten …
„Es ist die Chance Ihres Lebens“, erklärte er kurz vor Ivens Abreise in die BRD. “Setzen Sie Hanno (er sagte “Hanno“ statt„Hanne“) auf Mehnert an. Organisieren Sie das. Sie bekommen jede Unterstützung. Unser gesamter Apparat drüben im Westen steht Ihnen dafür zur Verfügung.“
„Und Achenbach?“
„Ohne Ausnahme, alle zu Ihrer Verfügung – wie ich sagte.“
Er hüstelte und musterte ihn merkwürdig, wobei sein großer Kopf mit dem operierten Stirnknochen – er war während des Krieges in Polen von einem Granatsplitter verwundet worden – aufmunternd nickte.
Iven fragte ihn, wie hoch er das Risiko einschätze, ihn in den Westen zu schicken.
„Sie haben ja Ihre Frau hier in Berlin“, erklärte er. “Sie kommen schon zurück.“
Natürlich wusste er, dass Iven nicht auf das Thema “Republikflucht“ anspielte.
Die bundesdeutschen Dienste würden an einem Mann aus dem Planungsstab höchst interessiert sein. Und es gab genügend Leute im Ministerium, die in der praktischen Arbeit mehr Erfahrung besaßen als er. Aber anscheinend setzte Störte das Risiko für ihn aus irgendwelchen Gründen nur gering an. Oder seine Weisungen von oben waren so präzise, dass ihm keine andere Wahl blieb.
„Sie sind dreißig“, sagte er. “Das richtige Alter. Wir haben einen blendenden Austausch vorbereitet. Alle Daten stimmen: Aussehen, Körpergewicht, selbst die Brille …“ Damit reichte er ihm eine Mappe. “Es gibt niemanden im Ministerium, der ihm so ähnlich sieht. Der Mann heißt Karwel und sitzt in einem Prager Gefängnis ein. Er ist vor einer Woche wegen Devisenvergehens festgenommen worden. Sie übernehmen seine Rolle und seine Wohnung in Köln. Das Haus wird seit Wochen von uns observiert, es ist einwandfrei. Von dort aus leiten Sie Hannes Aktion. Karwel ist arbeitslos und ledig. Falls Bekannte auftauchen, werden wir sie Ihnen vom Leibe halten.“
Er schwieg und musterte Iven.
„Wurde Karwels Strafe mit den Tschechen abgestimmt?“
„Vier Monate.“ Störte nickte und lächelte zufrieden. “Lässt sich bei Bedarf verlängern.“
„Und Sie sind sicher, dass die Presse noch nicht von seiner Verhaftung Wind bekommen hat?“
„Anscheinend vermisst ihn niemand. Morgen Abend nehmen Sie seinen Platz ein. Das wird seine Nachbarn beruhigen. Alles Weitere steht in der Mappe. Sie kennen ja die Prozedur: auswendig lernen und vernichten.“
Störte reichte ihm die Hand.
Iven machte ein paar zögernde Schritte zur Tür in dem düsteren Altbaubüro, das bis unter die Decke vollgestopft war mit Aktenregalen und in dem nie mehr als eine einzige Vierzigwatt-Glühbirne brannte. Dabei dachte er, dass er in den acht Jahren, seit man ihn von der VP auf diesen Posten versetzt hatte, kaum jemals so freundlich von ihm behandelt worden war. Er schloss daraus, es müsse viel für Störte auf dem Spiel stehen. Vielleicht sogar alles.
„Und … Karwel“, rief Störte ihm nach, als Iven schon an der Tür war.
„Ja?“
„Lassen Sie sich nach seinem Foto die Haare schneiden, der Mann trägt den Scheitel rechts.“
Im Ministerium ging Iven zuerst in die Requisitenkammer, um eine Brille abzuholen, die nach dem Modell angefertigt worden war, das man Karwel in der Haft abgenommen hatte. Dann zum Friseur.
Danach rief er sein Büro an. Seine Mitarbeiter Handke und Drewitz würden ihn in den nächsten Wochen vertreten. Offiziell hielt er sich zu einem Schulungsprogramm in der Sowjetunion auf.
Da er dem Planungsstab angehörte, war ihm diese Art von Vorsichtsmaßregeln genauestens bekannt. Nicht umsonst nannte man ihn in den Abteilungen das “Organisationstalent“. Praktisch dagegen besaß er zweifellos zu wenig Erfahrung für einen Auftrag wie diesen. Es war seine erste Reise in den Westen.
Seine Frau würde im kommenden Monat vier Briefe aus Leningrad und Moskau erhalten …
Danach rief er Kuznow vom Zentralkomitee an. Es war eine Art Rückversicherung. Er hatte eine unbestimmte Ahnung …
Kuznow war sein Schwiegervater. Als Hahnels Stellvertreter im ZK besaß er Einblick in alle wichtigen Vorgänge. Iven bekam ihn direkt ans Telefon.
„Mein Zug geht heute Nacht.“
„Ich weiß.“
„Vor meiner Abreise möchte ich Sie noch um einen Gefallen bitten.“
„Ja?“
„Könnten Sie Störte klarmachen, dass ich nicht auf seinen Posten scharf bin?“
„Haben Sie konkrete Befürchtungen?“, fragte er.
„Ich schließe nicht aus, dass er mir ein Bein stellen will.“
Kuznow hatte volles Verständnis. Aber Ivens Verdacht schien ihm aus der Luft gegriffen.
„Seien Sie unbesorgt“, beruhigte er ihn. “Das Projekt ist zu wichtig, als dass er sich ein Fiasko leisten könnte.“ Anders als Hahnel, zog er es vor, offen zu reden. Er war das genaue Gegenteil der üblichen Parteikarrieristen und Bürokraten. Während der Biermann-Ausbürgerung war er für einen gemäßigten Kurs eingetreten.
„Störte hat einigen Rückhalt bei den Russen.“
„Sie halten die Fäden persönlich in der Hand“, erklärte Kuznow nachdrücklich.
„Ich vermute auch, dass er Informationen zurückhält.“
„Natürlich erfahren Sie nur, was Sie brauchen. Mehr wäre ein überflüssiges Risiko. Wenn überproportionale Schwierigkeiten auftauchen, kehren Sie mit der nächsten Maschine zurück. Übrigens – wie geht es Vera?“
Damit spielte er auf ihre Probleme im Beruf an. Der Platz, den man ihr nach dem Studium zugewiesen hatte, gefiel ihr gar nicht. Sie hätte sich lieber mit Parteiarbeit befasst.
„Hat sie sich in die Arbeit beim Naturkundlichen Museum eingewöhnt?“
Iven bedankte sich, überging aber die Frage.
Kuznow sagte: “Dann alles Gute“ und legte auf.
Iven setzte sich in den Korbsessel beim Fenster und studierte die Mappe sorgfältig, ehe er sie vernichtete. Es stand eine Menge über Mehnert und Hanne drin, das er schon kannte, aber es war gut, sich alles noch einmal einzuprägen.
Das Kleiderpaket, das man für ihn bereitgelegt hatte, enthielt ein beigefarbenes Sakko, Größe 50, eine passende braune Hose, ein bügelfreies Hemd, Unterwäsche und einen leichten Sommermantel.
Schon bevor er einen Blick auf die Etiketten warf, sah er, dass es sich um Kleidungsstücke aus dem Westen handelte – ihre volkseigenen Betriebe webten ein anderes Tuch.
Sakko und Hose stammten aus Kölner Kaufhäusern, der Mantel aus Prag. Karwel besaß eine Freundin in der Tschechei. Wahrscheinlich war sie der Grund für seine Reise gewesen. Da er eine spätere Überprüfung durch den Bundesnachrichtendienst nicht ausschloss, schien ihm das ein Risikofaktor. Hatte Störte diese Gefahr übersehen?
In der Computeranalyse würde eine Querverbindung Mehnert-Hanne-Karwel-Ostkontakte erkennbar sein. Ein ausreichendes Verdachtsmoment, um Observationen des BND auf sich zu ziehen.
Iven beschloss, die Kontakte zu Hanne so gering wie möglich zu halten.
Störtes Plan sah vor, über einen Mittelsmann beim Kölner Arbeitsamt zu operieren – ein Vorschlag, der Iven nicht praktikabel erschien.
Er dachte eher an eine lose Verbindung, eine Freundschaft oder dergleichen, bei der er sie in kürzeren Abständen treffen konnte, ohne Verdacht zu erregen. Er brauchte dauernde Rückmeldung.
Ein Mittelsmann wäre zu umständlich gewesen. Mehnert sollte einige Wochen vor der kommenden Abrüstungsrunde fallen. Es würde seinem Nachfolger Gelegenheit geben, im Bundestag eine Mehrheit für das russische Konzept der Verhandlungen vor dem Nachrüstungsbeschluss der NATO für Mittelstreckenraketen in der BRD zu bilden.
Man rechnete sich aus, dass dann auch die anderen NATO-Länder nachziehen würden. Moskau lehnte nachträgliche Verhandlungen ab.
Nicht zum ersten Mal waren sie bei diesem Poker die Verlierer gewesen. Sie wollten klare Zusagen als Antwort auf ihre neuen Vorleistungen der Truppenreduzierung in Osteuropa.
Während er sich umzog, kam ihm die Idee, Hanne könne Mehnert ein Dreiecksverhältnis vortäuschen, bei dem Mehnert schließlich der Sieger blieb.
Es würde ihn veranlassen, die Affäre geheim zu halten. Dann wäre eine Hauptgefahr, die Untersuchung von Hannes Biographie, aus der Welt geschafft.
Zwar hatte man so die bundesdeutsche Gesetzgebung – alle Hinweise aus Stammbüchern, Geburtsurkunden, Ausweisen und so weiter tilgen müssen. Aber eine derartige Angelegenheit ließ sich niemals wirklich verheimlichen.
Er nahm noch einmal die Mappe zur Hand und entdeckte, dass Störte mit demselben Gedanken spielte:
Dreiecksverhältnis?
stand handschriftlich unter Mehnerts Personenbeschreibung. Der Rest der Notiz war unleserlich gemacht.
Iven riss ihn heraus, um ihn später genauer zu untersuchen.
Das Sakko und die Hose passten wie maßgeschneidert. In der Innentasche des Jacketts fand er alle Papiere, die man Karwel in der Haft abgenommen hatte – Führerschein, Personalausweis, Pass. Der Visastempel für die Einreise in die Tschechei war entfernt. Iven lehnte sich zurück und blies Rauchkringel in die Luft.
Diese Entdeckung war aufschlussreich: Man hatte einen Spezialstempel verwendet.
Die übrigen Papiere sollten sich nach Störtes Ansicht in der Kölner Wohnung befinden.
Das Passfoto sah ihm recht ähnlich. Ebenso wie die beigelegte Großformatfotografie. Vielleicht ähnlicher, als er zugeben wollte. Karwel besaß ein schmales Gesicht und eine kantige Stirn. Er erinnerte eher an einen Mathematiker, obwohl er nach Störte ein kleines Licht sein sollte, irgendein unbedeutender Arbeitsloser im großen Köln, der sich durch ein paar nicht ganz saubere Tricks vor dem sozialen Abstieg bewahrte. Nur seine Augen schienen dichter zusammenzustehen – und seine Brauen waren verwachsen.
Wie hatte Störte es schaffen können, so schnell einen akzeptablen Doppelgänger aufzutreiben?
Das alles verriet eher die Handschrift der Russen. Er dachte an Pirogow, den er persönlich gut kannte. Daher schloss er auch nicht aus, dass Karwels Devisenvergehen fingiert war und dass man ihn gezielt für dieses Unternehmen in die Tschechoslowakei gelockt und dann verhaftet hatte. Der Pass war offenbar echt.
Und wenn man für das Visum einen Spezialstempel benutzt hatte, der sich nachher entfernen ließ, musste eine Absicht dahinterstecken.
Möglicherweise arbeitete Karwels Freundin in Prag für die Sache. Dann ergab sich eine neue Perspektive: die Möglichkeit weiterer Rückschlüsse für den Computer des BND. Er rauchte noch eine Zigarette – Karwel war Kettenraucher –‚ ließ die Mappe durch den Papierschnitzler laufen und verbrannte den Rest im Aschenbecher. Danach fuhr er mit dem separaten Aufzug in die Tiefgarage. Das Ministerium besitzt eine Ausfahrt, die unter den Wohnblocks zum Köpenicker Platz führt.
In der Halle wartete ein grauer BMW mit Westberliner Kennzeichen.
Der junge am Steuer trug einen englischen Lumberjack. Es war einer von Störtes neuen Leuten.
„Ihre Reisetasche liegt auf dem Rücksitz“, sagte er und zeigte nach hinten.
„Gut, fahren Sie los.“
Es war dunkel, als sie die Ausfahrt verließen; für Juni zu kühl. Iven kurbelte die Wagenscheibe hoch. Die Straßenlaternen glitten vorüber. Unter den Linden sah man zu dieser späten Stunde kaum noch Passanten. Sein Zug fuhr kurz nach eins. An der Staatsbibliothek bogen sie zur St.-Hedwigs-Kathedrale ab. Ein Blick in den Rückspiegel überzeugte ihn davon, dass ihnen kein Wagen folgte.
Der Fahrer bemerkte seinen prüfenden Blick.
„Wir sind früh genug dran“, sagte er. “Die Übergänge für Westdeutsche schließen erst um 24 Uhr. Zur Not hätte es auch noch für eine kleine Manöverrunde durch die Stadt gereicht.“
Iven nickte.
Sie fuhren durch die Wallstraße zum Übergang Heinrich-Heine-Straße.
Der Himmel über den Baracken und der Mauer war hell vom Licht der Bogenlampen. Einer der Vopos, der breitbeinig vor der Barriere stand, warf einen langen Schatten. Der Fahrer des westdeutschen Wagens vor ihnen musste die Motorhaube öffnen. Kinder liefen zwischen den Fahrzeugen umher. Ein Mann in kariertem Jackett kletterte vom Rücksitz und stellte sich in den Weg.
„Steigen Sie wieder ein“, sagte der Vopo.
Iven sah auf seine Armbanduhr, eine Schweizer Automatik, die in der Manteltasche gesteckt hatte. Es war drei Viertel zwölf. Hinter ihnen trafen noch Nachzügler ein.
Ein weiterer Uniformierter kam aus der Baracke. Offenbar hatte er ihr Nummernschild durch das Fenster erkannt. Er warf einen Blick in den Wagen, nickte und winkte sie durch..
Fehlt nur noch, dass er militärisch grüßt! dachte Iven. Sie überholten das Fahrzeug mit der offenstehenden Motorhaube. Der Mann im karierten Jackett, der wieder eingestiegen war, sah ihnen interessiert nach.
Verdammter Leichtsinn, dachte er. So fielen sie natürlich auf. Er wusste, dass die Gegenseite von ihrem Kontrollpunkt aus jedes ungewöhnliche Vorkommnis registrierte. Sie schienen zu schlafen, aber es war nichts als ein Bluff. Man wusste das aus früheren Fällen.
„Wer hat angeordnet, dass wir bevorzugt abgefertigt werden?“, fragte Iven ärgerlich.
Der junge am Steuer zuckte die Achseln.
Sie passierten die Zollbaracke, dann die gewundene Fahrbahn zwischen den Barrieren.
Auf der Gegenseite brannten die Lampen nur mit halber Kraft.
Es war kein Posten zu sehen. Im halbdunklen Fenster des Kontrollgebäudes glimmte wohl eine Zigarette auf – doch die Gestalt hinter der Scheibe bewegte nicht einmal den Kopf, um ihnen nachzublicken, während ihr BMW in den Westsektor rollte.
Als Iven am Bahnhof Zoologischer Garten in den Interzonenzug stieg, ahnte er, dass ihm der Fall noch Schwierigkeiten bereiten würde.
Allerdings war er übermüdet. In den vergangenen drei Tagen hatte er zu wenig Schlaf abbekommen. Und die Umgebung, die Fahrt durch West-Berlin, hatte ihn abgelenkt. Er war unkonzentriert und kaum in der Lage, sich über das brennende Interesse hinwegzutäuschen, das er für die Stadt empfand.
Zum Glück neigte er nicht dazu, sich daraufhin mit allem Möglichen einzudecken. Auch in Ungarn und der Tschechoslowakei, wo er unter General Pirogow am Projekt ZETKIN mitgearbeitet hatte, bekam man Ostblockwaren, die wegen Devisenmangels nicht in die DDR, sondern in den Westen exportiert wurden.
Das Materielle interessierte ihn nicht sonderlich. Er war eher dagegen. Es war wohl bloße Neugier.
Anscheinend durch einen Planungsfehler hatte man kein Schlafwagenabteil reserviert. Selbst die Betten in den Liegewagen waren ausgebucht. Er beschloss, den Gedanken zu verbannen, dass es sich um eine von Störtes kleinen Hinterhältigkeiten handeln könnte.
Dabei unterstand die Bahn auch in West-Berlin der Verwaltung der Deutschen Reichsbahn. Aber die Polster der ersten Klasse waren bequem, und bis zum Kontrollpunkt Marienborn war er allein im Abteil.
Er lehnte sich zurück. Der Zug glitt durch die Nacht.
Ein Tieflader mit leichten Kampfwagen, die mit Planen überdeckt waren, wartete vor dem ersten Bahnübergang auf ostdeutschem Gebiet. Der Zug stieß einen schrillen Pfiff aus, als er an ihm vorüberdonnerte.
Für Iven war es ein eigentümliches Gefühl, die Strecke, die er schon bei einem guten Dutzend ihrer Leute – beim Planungsstab und auch auf seinem Schreibtisch – verfolgt hatte, nun selbst zu fahren.
Auch in Gedanken war es immer das Abgleiten in etwas Ungewisses gewesen, das man, bei aller Genauigkeit der Planung, nie restlos im Griff haben würde. Es war dieser Effekt, der ihn bei der Stange hielt – am Ende klappte es doch, man kalkulierte und gewann. Trotz aller Unwägbarkeiten.
Zu Anfang seiner Karriere war er ein wenig übereifrig gewesen –was sich mit den Jahren gelegt hatte. Nie das, was man als ideologiegeschädigt bezeichnet. Er sah die Angelegenheit realistisch und setzte auf kleine Schritte. Der Sozialismus würde siegen.
Vielleicht endete er wie Störte, der alles als ein funkelndes Schach- und Schiebespiel ansah, an dem ihn nur faszinierte, dass er selbst die Regeln und den Lauf der Figuren bestimmte.
In Störtes Vergangenheit gab es ein paar dunkle Punkte. Seine Verwundung stammte nicht von der russischen Front, sondern aus dem Warschauer Getto, wo er Besatzer gewesen war. Ein Jude hatte aus Rache eine Granate explodieren lassen. Das alles hatte eine Vorgeschichte.
Er wusste, dass Iven sie kannte, und Iven wusste, dass er wusste, dass er sie kannte.
Man würde keinen Prozess daraus machen. Die Angelegenheit hatte sich in Störtes Papierschnitzler aufgelöst. Es gab keine Unterlagen, er konnte sich sicher fühlen.
Also ärgerte ihn höchstens, dass die gelbe Aktenmappe auf seinem Tisch genau der zum Verwechseln ähnlich gesehen hatte, die Iven eigentlich studieren sollte.
Damals hatten sie sich an den Schreibtischen gegenübergesessen – er überzeugt, Iven habe die ZETKIN-Akte vor sich, bis irgend etwas, vielleicht ein Fall von Gedankenübertragung, ihn aufblicken ließ.
Er starrte Iven an, und die Kriegsnarbe an seinem Schädel füllte sich mit Blut und wurde blauviolett.
„Da ist überhaupt nichts, was im ZK gegen mich verwendet werden könnte“, sagte er mit heiserem Tonfall und streckte seine Hand aus. Er litt an krankhaftem Misstrauen. Iven verzog keine Miene, als er ihm die Unterlagen reichte.
Dann ließ Störte die Mappe langsam vor Ivens Augen durch den Papierschnitzler laufen.
Die ZETKIN-Dokumente hatten unter einem Stapel Akten gelegen.
Im selben Moment, als sie über einen hellerleuchteten Bahnübergang fuhren, öffnete sich die Abteiltür und das Licht wurde eingeschaltet …
„Pass und Gepäckkontrolle.“
Es war eine der Volkspolizistinnen, die im Grenzverkehr Dienst tun. Ihr Blick wanderte durch das Abteil. Sie war höchstens vierzig, aber die Uniform ließ sie älter erscheinen. An der Art, wie sie Iven musterte, erkannte er, dass sie ihn für einen Westdeutschen hielt. “Ist das Ihr ganzes Gepäck?“
Iven nickte.
„Bitte öffnen.“
Sie sah in den Pass und dann in die Reisetasche. “Was ist das?“, fragte sie und zeigte auf ein rotes Lederetui. Iven konnte nur raten.
„Maniküre“, sagte er.
„Bitte öffnen.“
Das Etui enthielt Schreibzeug.
„Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?“, fragte sie mit sächsischem Dialekt und musterte ihn arrogant.
„Nein, entschuldigen Sie, ich hatte es mit meinem Maniküreetui verwechselt. Es hat die gleiche Farbe“
Sie musterte ihn prüfend. “Das müssten Sie aber bemerkt haben. Waren Sie in der DDR?“
Er schüttelte den Kopf.
„Bitte noch einmal Ihren Reisepass.“
„Was ist daran so ungewöhnlich“, erkundigte sich Iven, während er den Pass aus der Tasche zog, “wenn man zwei Etuis verwechselt?“ Sie gab keine Antwort und sah in das Dokument.
„Im Namen der Deutschen Demokratischen Republik wünsche ich gute Weiterreise.“
Sie verließ das Abteil. “Lieber Himmel“, murmelte Iven.
Das war also der Eindruck, den ein Westreisender hatte. Einen Moment lang war er in seine Rolle geschlüpft – und es war merkwürdig genug. Er fühlte sich nicht besonders gut dabei. Seine Gefühle waren eher zwiespältig.
Er stand auf und sah in den Gang hinaus. Draußen brannte nur eine grüne Deckenleuchte. Ein Westdeutscher würde das alles mit einer spöttischen Bemerkung abgetan haben. Natürlich ärgerte es ihn, dass er sich das Gepäck nicht angesehen hatte.
Er stellte sich ans Fenster, um sich eine Zigarette anzuzünden, da sah er sie mit einer zweiten Polizistin den Gang heraufkommen. Keine Gefahr, dachte er. Es ist absolut harmlos. Wir sind auf ost-deutschem Gebiet. Es war lächerlich, die Ruhe zu verlieren. “Herr Karwel?“, fragte sie.
Die andere war groß und hager und hielt eine Stange, an deren Winkelende ein Spiegel angeschraubt war.
„Abteilkontrolle“
„Wenn Sie etwas Bestimmtes suchen – vielleicht kann ich Ihnen helfen? Seit Berlin bin ich allein im Abteil.“
„Treten Sie beiseite“, sagte die erste.
Zwei Abteile weiter wurde eine Schiebetür geöffnet. Das neugierige Gesicht einer alten Frau erschien.
Die Polizistin mit der Stange begann den Raum unter den Sitzen abzusuchen. Als sie dort nichts fand, suchte sie im Spiegel das Gepäckfach über der Tür ab; sie leuchtete jeden Winkel aus. Die andere stand mit verschränkten Armen neben ihr. “Falls Sie Westzeitungen suchen …“, bemerkte Iven bissig, “– ich könnte Ihnen bei meiner nächsten Fahrt welche mitbringen?“
„Werden Sie nicht unverschämt, Herr Karwel. Sie befinden sich immer noch auf dem Gebiet der DDR.“
Die andere nahm die Stange mit dem Spiegel herunter und sah Iven an. “Für einen Westdeutschen sprechen Sie recht merkwürdig“, sagte sie. “Haben Sie früher in der Deutschen Demokratischen Republik gelebt?“
Iven schüttelte den Kopf. Karwel war in der Nähe von Augsburg aufgewachsen.
Als sie endlich gegangen waren, lehnte er sich in die Polster zurück und zündete sich nervös eine Zigarette an.
Der Zug erreichte die Grenze gegen drei Uhr morgens. Irgendwann nach zwei Dritteln der Strecke hatten sie die Elbe überquert. In der beginnenden Morgendämmerung sah das Land mit seinen grünen Weiden und den ziehenden Bodennebeln gar nicht viel anders aus als zu Hause.
Bei der Einreise hatte es keine Probleme gegeben. Iven trank einen Kaffee im Speisewagen.
Es mochte an der frühen Stunde oder an dem Wasser liegen – das Zeug schmeckte genauso schlecht wie der Kaffee, den sie im Büro tranken!
Danach ging er ins Waschabteil, um sich zu rasieren. Der fremde Rasierschaum aus seiner Reisetasche roch nach Zitrone.
Auf westdeutschem Gebiet war eine ältere Dame zugestiegen. Sie trug einen Fuchs, und ihre Finger waren mit Ringen bestückt. Es brauchte nur ein freundliches Kopfnicken, um zu erfahren, dass sie ihre Rückfahrt von einer Besuchsreise in den Osten unterbrochen hatte.
Iven hielt wenig von den Reisen der Westler. Sie setzten den eigenen Leuten nur Flöhe in den Kopf. Es war ähnlich wie bei den Intershop-Läden: Wenn sie westdeutschen Kaffee mit ostdeutschem verglichen, westliche Automarken mit östlichen … dann wurden sie immer nachdenklich.
Aber er sah die Verwestlichung des Ostens nicht als so gefähr1ich an wie Vera. Das war immer ein strittiger Punkt zwischen ihnen gewesen. Nicht, dass es ihrer Beziehung wirklich geschadet hätte.
Nur manchmal – wobei der wahre Grund wie in jeder Ehe meist in etwas anderem lag – gerieten sie deswegen aneinander.
Zum Glück hatten sie keine Kinder, die man da mit hineinziehen konnte. Morgens gingen sie gemeinsam aus dem Haus. Ihre Wohnung lag außerhalb des Zentrums in der Neubausiedlung Leninistischer Friede.
Während der Busfahrt hatten sie Gelegenheit, sich zu streiten. Vera verstand es immer, ihn durch das, was sie verschwieg oder durch ihr Mienenspiel, zu provozieren – darin war sie grundverschieden von ihrem Vater.
Nach allem was er wusste, lagen die Schwierigkeiten hauptsächlich bei der Arbeit im Naturkundlichen Museum: Sie hätte liebend gern einen verantwortlichen Posten in der Partei übernommen.
Aber aus für sie unerklärlichen Gründen war Kuznow dagegen. Er war eine ehrliche Haut und sagte, was er dachte. Hinterhältigkeiten nach der Art Störtes lagen ihm nicht.
Andererseits war durch seine in der Abteilung vielbeschworene sogenannte “Protektion“ nie mehr herausgekommen als diese Neubauwohnung …
Iven erinnerte sich, dass er sich vom Kölner Hauptbahnhof nach rechts zu wenden hatte.
Links lag der Dom, oberhalb der Plattform, auf der sich jetzt am Morgen schon Passanten drängten. Eine überraschend hohe, graue Masse, die ihre Spitzen in den Himmel reckte.
Die Stadt begrüßte ihn mit Sonnenschein. Tauben flogen über den Domplatz. Gleich würden die Geschäfte öffnen. Gutgelaunt, wenn auch ein wenig müde, verließ er die Bahnhofshalle.
Die Reisetasche in der Rechten, den Mantel über dem linken Arm, unterschied er sich in nichts von einem beliebigen Reisenden, der eben angekommen war.
Karwels Wohnung lag nördlich des Doms im Viertel am Eigelstein, einem mächtigen, erhalten gebliebenen Stadttor aus dem Mittelalter. Die Straße führte unter der Bahnlinie hindurch an kleinen Geschäften vorüber. Um ein Taxi zu nehmen, war der Weg zu kurz. Iven wollte sich auch lieber einen ersten Eindruck verschaffen.
Er blieb öfter stehen und sah sich die Auslagen an.
Erst einige Tage später wurde ihm bewusst, dass er den überwältigenden Eindruck des Warenangebots völlig überschätzt hatte. Die große Überraschung kam erst noch! Der Eigelstein war keine Hauptgeschäftsstraße, seine Läden reichten kaum an jene heran, die er später auf der Hohe Straße antreffen würde.
Er ging in ein Kaffeegeschäft mit Ausschank. Dieser zweite Morgenkaffee hätte ihn eigentlich zu einem begeisterten Lob hingerissen, wäre ihm das nicht angesichts der leeren, morgendlich-gequälten Gesichter eher unpassend erschienen. Bei der Bestellung hatte er sich bemüht, hochdeutsch zu reden. Doch hier kannte ihn offenbar niemand. Möglich, dass Karwel seinen Kaffee ganz woanders trank.
Bevor er hinausging, blieb er stehen und musterte die Passanten.
Dann überquerte er, wie man es ihm beigebracht hatte, die Fahrbahn, um einen eventuellen Verfolger zum gleichen Manöver zu veranlassen – man propagierte solche Tricks, obwohl bekannt war, dass jeder feindliche Agent peinlich vermied, auf solche Dummheiten hereinzufallen. Sie waren so bekannt, dass das direkte Nachziehen eines Verfolgers schon wieder unverdächtig gewirkt hätte.
Die wenigen Häuser der links abzweigenden Straße gehörten zum Prostituiertenviertel. Eine krumme Gasse mit runden Pflastersteinen. Um diese frühe Stunde zeigten sich noch keine Damen in den Fenstern.
Karwels Wohnung lag in der Nähe. Er sah an der Fassade hoch. Eigelstein 12, ein grauer Kasten mit fünf Etagen, nicht gerade sauber. Im Parterre befand sich ein Fahrradgeschäft.
An Karwels Klingel fehlte das Namensschild. Dafür befand sich eines an den Briefkästen im Treppenhaus. Er griff in den Schlitz, nahm die beiden Briefe heraus und musterte sie im trüben Licht der Flurbeleuchtung.
Der erste war eine Drohung des zuständigen Arbeitsamtes, dass man Karwel bei weiteren Versäumnissen der Meldepflicht eine Sperrfrist auferlegen würde:
“Wenn Sie der Aufforderung zur Meldung beim Arbeitsamt ohne wichtigen Grund nicht nachkommen, wird Ihnen die Leistung für 6 Tage versagt“, verkündete das Blatt mit vorgedrucktem Text.
Der andere – ohne Datum und Absender – enthielt in zierlicher Mädchenhandschrift quer über den Briefbogen gemalt die Mitteilung, nun sei “endgültig und für alle Zeiten Schluss“ mit ihnen beiden.
Iven lächelte, sein Doppelgänger steckte anscheinend bis über die Ohren in Schwierigkeiten.
Auf dem Treppenabsatz begegnete ihm eine dickliche Frau Im Küchenkittel. Sie grüßte, ohne ihn anzusehen.
Karwels Wohnung lag in der dritten Etage. Er schloss auf und sah in den Korridor …
Die Luft roch abgestanden.
Iven stellte die Tasche ab und hängte seinen Mantel an den Haken. Es gab noch eine zweite Wohnung im selben Stockwerk, deren Türspion auf ihn gerichtet war, er schob die Tür mit dem Fuß zu.
Das “Etablissement“ (wie er es bald nannte) bestand aus zwei Zimmern, Bad und Küche. Eines der Zimmer war als Wohn- und Schlafraum hergerichtet – eine Art Liebesnest, mit wenig Geschmack aus den unterschiedlichsten Möbeln zusammengestellt.
In der Mitte des anderen stand überraschenderweise ein tadelloser – wenn auch nicht mehr ganz neuer – Billardtisch. Ein Ständer neben der Tür enthielt Queues, die verschiedenfarbig und mit Nummern etikettiert waren, zwei davon aus feinlasiertem Eschenholz.
Sonst gab es nur noch einige Stühle als Mobiliar. Man hatte ihm nichts davon gesagt, dass Karwel professioneller Billardspieler war; denn an den Wänden hingen großformatige Schwarzweißfotos, die ihn in verschiedenen Spielhaltungen zeigten, ein paar Mal in Siegerpose (er sah Iven tatsächlich zum Verwechseln ähnlich, besonders im Profil).
Die Tür war mit alten Zeitungsausschnitten beklebt. Offenbar hatte er mehrere Preise gewonnen.
Aber das Zimmer mit seinen vollen Aschenbechern und Brandflecken von ausgedrückten Zigaretten auf den Stuhlsitzen und der grünen Tischbande sah eher danach aus, als wenn hier illegal um hohe Summen gespielt wurde.
Im Bad fand er eine zweite Zahnbürste, Schminkzeug und über dem Handtuchhalter Damenstrümpfe, auch davon hatte man ihm nichts gesagt.
Entweder war Störte weniger gut informiert, als er vorgab, oder er hatte ihn aus irgendeinem Grund in Sicherheit wiegen wollen.
Er entschied sich für das letztere. Bei dem Unternehmen brauchte Hanne eine überprüfbare und halbwegs glaubwürdige Kontaktperson, ihr Vorgehen musste unter Umständen täglich den veränderten Gegebenheiten angepasst werden, und Hanne war keine Mata Hari – eher ein zweitklassiger Guillaume. Das bedeutete:
Störte war auf ihn angewiesen. Iven hoffte nur, dass sich seine Informationslücken nicht nachteilig auf das Mehnert-Projekt auswirken würden.
Er ging in das andere Zimmer hinüber, wo ein französisches Bett beinahe die ganze Raumbreite ausfüllte - Karwels Spielwiese, dem Barwagen und der Beleuchtung nach zu urteilen, denn die Glühbirnen in den Lampen waren rötlich eingefärbt und verbreiteten anheimelndes Licht.
Vom Fenster aus sah man in den Hof. Das niedrige Dach des Vorhauses, eine Holzhandlung mit einem bis zu den Eckhäusern reichenden Lager aus hochgestapelten Brettern und Stämmen, verdeckte nur zum Teil den Blick in die Hurengasse. Illustre Gegend, dachte Iven müde, während er die Schuhe auszog.
Er legte sich angezogen aufs Bett und schlief sofort ein.
Als er erwachte, war es kurz nach vier. Die Sonne schien ins Zimmer, und die Lufttemperatur hatte sich so weit erhöht, dass er nach den ersten Schritten zu schwitzen begann. Er öffnete das Fenster, danach ging er in die Küche, wo er in dem – allerdings abgeschalteten – Kühlschrank noch eine Dose nicht allzu warmes Bier fand.
Er nahm einen Stuhl und breitete auf dem Küchentisch noch einmal sein Notizen aus, ehe er sie im Toilettenbecken verbrannte.
Der heikle Punkt in Mehnerts Vergangenheit, der ihn angreifbar machte: Er war ledig – und man sagte ihm homoerotische Neigungen nach.
Allerdings, ohne dass ihm das jemals nachgewiesen worden wären. Möglicherweise nur ein Diffamierungsversuch seiner politischen Gegner …
Als Parteivorsitzender wurde er weniger scharf bewacht, verfügte über eine gehörige Portion Bewegungsfreiheit und die Sicherheitsvorkehrungen waren nicht so streng wie beim Kanzler und den Ministern. Er trug einen Bürstenhaarschnitt und hochhackige Schuhe.
Für einen Mann Mitte Vierzig – mit seinem ausgeprägten Hang zum angenehmen Leben – war er erstaunlich hoch in die Parteienhierarchie aufgestiegen. Ein Ministeramt schien er nie angestrebt zu haben. Er war der Typ, der hinter den Kulissen die Weichen stellt. Aus einer in frühen Jahren geschiedenen Ehe gab es eine Tochter, die in der Schweiz lebte.
Weder diese Scheidung noch seine Affären mit den Sekretärinnen der Bonner Abgeordnetenszene hatten ihm schaden können, er saß fest im Parteisattel: Dabei war sein Einfluss während der Abrüstungsdebatte eher noch gewachsen. Hinter ihm stand eine solide Mehrheit – wenn alles gut ging, würde sie ihren führenden Kopf verlieren.
Wie die Abteilung herausgefunden hatte, schlüpfte er immer einmal wieder durch die Maschen der Abschirmung, besonders im Ausland. Die Sicherheitsleute hatten es nicht leicht mit ihm. Sein Hang zu ausschweifendem Privatleben hatte ihn schon zweimal in brenzlige Situationen gebracht.
Im vorigen Sommer war er während einer Portugalreise verschwunden. Zwei Tage später entdeckte man ihn in einem kleinen Hotel an der Algarve. Es hieß, er sei dort allein angetroffen worden.
Doch nahm keiner dem alten Halunken ab, es habe ihn nur nach ein paar Tagen mönchischer Einkehr verlangt. Wahrscheinlich war eine Frau im Spiel. Offiziell sprach man von einem Geheimtreffen mit dem portugiesischen Sozialminister. Da es kein Dementi gab, ließ sich der Fall nie widerlegen.
Iven konnte nur hoffen, dass Hanne sein Typ war.