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Nichts geht mehr: Erst verliert Supermodel Eliot ihren Vertrag, und dann verlässt sie ihr Verlobter kurz vor der Hochzeit! Jetzt wird die blonde Schönheit von Paparazzi gejagt. Da taucht ihr Ex Soren Grantham wie ein rettender Engel auf. Unerwartet bietet der muskulöse Profischwimmer ihr an, auf dem Anwesen seiner Familie unterzutauchen, bis sich der Presserummel gelegt hat. Gänzlich unvorbereitet ist Eliot auf die starke Anziehung, die noch immer zwischen ihnen herrscht. Als die Wogen der Leidenschaft hoch schlagen, beginnt sie sich zu fragen, ob ein Leben abseits des Laufsteges nicht doch verlockender sein könnte als gedacht …
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Seitenzahl: 202
IMPRESSUM
BACCARA erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
© 2023 by Joss Wood Originaltitel: „Just a Little Jilted“ erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto in der Reihe: DESIRE Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BACCARA, Band 2307 09/2023 Übersetzung: Kai Lautner
Abbildungen: Harlequin Books S. A., alle Rechte vorbehalten
Veröffentlicht im ePub Format in 09/2023 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783751515788
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
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Es ist Sommer, und ich, Avangeline, bin zweiundachtzig Jahre alt. Ich stehe im Wartezimmer Gottes. Das weiß ich, und ich akzeptiere es … Irgendein schlauer Mensch hat mal gesagt, es gebe nur zwei Gewissheiten im Leben, den Tod und die Steuern. Der Tod wird mich früher ereilen, als mir lieb ist, und, bei Gott, Steuern habe ich genug gezahlt.
Doch ich habe auch viel Geld verdient. Milliarden …
Aber ich frage mich, wie viel ein Geheimnis wert ist. Bekomme ich bei zweien am Ende Rabatt?
„Die kleinsten Handschellen der Welt, Honey.“
Hinter ihrem Brautschleier sah Eliot Stone durch den Spalt des Wagenfensters das sonnengebräunte Gesicht einer Fahrradkurierin, deren graues Haar unter dem Helm hervorlugte. Zuerst war sie unsicher, ob die Kurierin mit ihr gesprochen hatte oder nicht, doch als die Frau ihre Hand auf die Fensterkante der Limousine legte, um das Gleichgewicht zu halten, zweifelte Eliot nicht mehr daran, dass ihre Aufmerksamkeit ganz bei ihr war.
„Reden Sie vom Heiraten?“, wollte Eliot wissen, fasziniert von der Weisheit, die sie in den braunen Augen der Fahrradfahrerin sah. Diese Frau hatte bestimmt schon viel erlebt, und wahrscheinlich nicht nur Gutes.
„Schöner Tag, schönes Kleid, schöne Schuhe. Aber das alles bedeutet nichts, wenn man so unglücklich aussieht wie du, Süße.“
„Es reicht“, mischte sich Ursula Stone ein, beugte sich vor und drückte den Knopf, um das Wagenfenster zu schließen. Dann sah sie Eliot aufgebracht an. „Ich hatte dir gesagt, du sollst das Fenster nicht öffnen, Eliot.“
„Ich brauchte einfach frische Luft“, erwiderte Eliot und beobachtete, wie die Fahrradfahrerin geschickt durch den dichten Verkehr manövrierte. Als sie von einem Lastwagen geschnitten wurde, zeigte sie ihm den Mittelfinger. Eliot musste lächeln. Sie hatte die kurze Vertraulichkeit genossen. Wo, außer in New York, käme jemand auf die Idee, einer Braut an ihrem Hochzeitstag zu sagen, dass sie unglücklich aussah.
Ursula – Eliot nannte sie seit Teenager-Zeiten nicht mehr Mom – wandte sich an den Mann mit der Videokamera und den Fotografen, die auf der Bank an der Längsseite der Limo saßen. „Diese Episode wird gelöscht“, schnauzte sie die beiden an.
Die Männer nickten. Sie wussten, dass Ursula bei dieser Produktion die Chefin war. Gemeinsam mit DeShawns Manager hatte sie einen Deal ausgehandelt, um die Hochzeitsfotos an ein beliebtes Modemagazin zu verkaufen und das Video – von der Generalprobe bis zur Ankunft in den Flitterwochen – an einen populären Privatsender. Den Moment, wenn sich Eliot und DeShawn das Jawort gaben, würden Millionen Menschen auf dem Bildschirm sehen.
Eliot hatte sich eine kleine, bescheidene Hochzeit gewünscht. Mit einer Handvoll enger Freunde. Vielleicht irgendwo an einem Privatstrand, jedenfalls nicht unter den Augen der Weltpresse. Doch ihre Wünsche waren, wie so oft, ignoriert worden.
„Dein Kleid ist ja ganz hübsch geworden“, bemerkte Ursula und schürzte ihre schmalen Lippen. „Natürlich können wir gegen dein Übergewicht nichts tun, aber es gibt ja Photoshop, damit du auf den Bildern normal aussiehst.“
Normal? Das hier ist mein Normalgewicht, hätte Eliot am liebsten gerufen. Sie hatte ein gutes, ein gesundes Gewicht, aber sie wusste, dass es nichts gab, um Ursulas Meinung zu ändern. In den Augen ihrer Mutter war sie fett.
Dummerweise dachte so auch die gesamte Modebranche, die so lange das Zentrum ihres Lebens gewesen war. Casting-Agenturen, Art-Direktoren, Modedesigner – alle waren der gleichen Ansicht. Es gab zwar mittlerweile Fotostrecken mit Plus-Size-Models, aber einem skinny Topmodel verzieh man es nicht, wenn es ein paar Kilos zulegte. Ihr Gesicht und ihr Körper waren ihr Markenzeichen …
DeShawn, ihr langjähriger Freund und Verlobter, mochte die Originalversion von Eliot und war nicht begeistert, als ihr Marktwert als eines der international gefragtesten Supermodels sank.
Wie festgefroren auf ihrem Sitz, starrte sie auf ihren großartigen Verlobungsring, den sie schon auf ihren rechten Ringfinger gesteckt hatte, weil sie heute den Ehering von DeShawn bekommen würde. Der Verlobungsring war ein makelloser vierzehnkarätiger Brillant, hatte zwei Millionen Dollar gekostet, und sie hasste ihn. Er war kalt und aufdringlich, und außerdem schnitt der Reif in den Finger, weil sie zugenommen hatte seit damals, als sie ihn bekommen hatte. Gestern Abend war es ihr nur mit Seife und viel Gezerre gelungen, ihn abzuziehen und auf den Finger der anderen Hand zu stecken.
Eliot lehnte ihren Kopf an die Nackenstütze und wünschte, die Frage des Rings wäre ihr größtes Problem. Doch sie wurde als Model nicht mehr gebucht, und ihre Mutter, zugleich ihre Agentin und ihre Managerin, bedrängte sie, endlich wieder mager zu werden. DeShawn schickte ihr Links zu Diäten und Sportprogrammen, und auf seine Anweisung hin hatte seine Assistentin einen Platz für Eliot in einer Diät-Klinik gebucht. Das war seine Art, ihr mitzuteilen, dass er sie mit ihrer derzeitigen Figur unattraktiv fand.
Immerhin gab es jetzt eine medizinische Erklärung. Im vergangenen Jahr hatte sie angefangen zuzunehmen, dazu war sie oft erschöpft und konnte sich nicht konzentrieren. Natürlich hatte Ursula ihr Faulheit und Undiszipliniertheit vorgeworfen. Doch dann hatte ein Arzt herausgefunden, dass mit ihrer Schilddrüse etwas nicht in Ordnung war. Nun nahm sie jeden Morgen die entsprechenden Hormone und fühlte sich wieder viel fitter und klar im Kopf. Nur die überzähligen Pfunde hatte sie nicht wieder verloren.
Um die Wahrheit zu sagen, wollte sie die auch gar nicht loswerden. Sie war nicht von Natur aus mager, und je älter sie wurde, desto strenger hatte sie Kalorien zählen müssen. Nun aber fühlte sie sich gesünder als in ihren frühen Zwanzigern. Sie war energiegeladen, und wenn sie morgens erwachte, war sie erfrischt. Anscheinend tat es dem Körper gut, nicht ständig auf Diät zu sein.
Andererseits hatte dieser Zustand große Nachteile, denn die neue Kleidergröße brachte ihre nächsten Angehörigen auf die Barrikaden. Sie hatten das superdünne Supermodel gemocht, das auf den Laufstegen von Mailand, London und Paris zu Hause war. Sie wollten die alte Eliot wiederhaben, jenes Unterwäschemodel mit den tief eingesunkenen Augen, den hervorstehenden Schlüsselbeinen und Hüftknochen, und Beinen so dünn wie Zweige. Ihr war bewusst, dass ihre Karriere als Wäschemodel vorbei war, und vermutlich würde sie nie wieder auf einem Laufsteg Mode präsentieren oder halbnackt die Plakatwände am Times Square zieren.
Wahrscheinlich würden das Hochzeitsvideo und die Fotostrecke in der Vogue ihre letzte große Kampagne sein.
Kampagne? Du meine Güte, es war ihre Hochzeit!
Oder auch nicht. Denn eigentlich war es das Ding ihrer Mutter. Sie selbst hasste alles daran. Die fünfhundert Gäste, das Schwarz-Weiß-Motto, die Tatsache, dass die Trauung nicht in der Kirche stattfinden würde. Und die faule Kirsche auf dem ekligen Eisbecher war, dass die Trauung im Forrester-Grantham-Hotel über die Bühne gehen sollte. Zwangsläufig würde sie an Soren Grantham erinnert, jenen Mann, mit dem sie drei magische Nächte in einer Villa in Villefranche-sur-Mer verbracht hatte. Diese sonnenüberglänzten Tage an der französischen Riviera. Damals hatte sie das letzte Mal das Gefühl gehabt, dass jemand sie sah. Und hörte.
Und zwar als sie selbst, nicht nur als schönes Gesicht. Soren hatte sich ihr zugewandt, hatte ihr zugehört … Sie waren sich geistig und emotional so nah gewesen. Ganz abgesehen von dem unglaublich guten Sex. Dass er den Kontakt danach abgebrochen hatte, tat immer noch weh, auch wenn sie sich einredete, dass es ja nur eine kurze Affäre gewesen war, mehr nicht.
Sie wollte nicht an Soren denken. Nicht heute, an ihrem Hochzeitstag.
Es wäre hilfreich gewesen, wenn ihre Mutter nicht ausgerechnet ein Hotel ausgewählt hätte, das seinen Namen über der Tür trug.
„Wie fühlen Sie sich, Eliot?“, fragte der Videofilmer.
Sie schaute in die Kamera und blinzelte nicht ein einziges Mal, als das Blitzlicht sie blendete. Dafür war sie viel zu professionell.
Die Antwort, die der Mann hören wollte, kannte sie. Dass sie aufgeregt war, ein wenig kribbelig, dass sie voller Hoffnung auf das neue Kapitel ihres Lebens blickte und es kaum erwarten konnte, DeShawns Frau zu werden. Stattdessen hätte sie ihm gern gesagt, dass sich alles völlig unwirklich anfühlte. Dass sie das Gefühl hatte, einen Werbefilm zu drehen oder ein Kurzvideo für eine Luxusmarke. Sie sehnte sich danach, dass irgendjemand „Schnitt!“ rief.
Wie die anderen wohl reagieren würden, wenn sie ihnen erzählte, dass sie die glückliche Braut nur spielte? Dass sie der Star in einer Produktion war, die nichts mit ihr zu tun hatte?
Der Held, ihr Bräutigam, kam ihr fremd vor. Wie irgendein Schauspieler, der sich die Hauptrolle unter den Nagel gerissen hatte. Ihr Kostüm hatte sie sich nicht selbst ausgesucht. Statt dieses bauschigen Prinzessinnenkleids hätte sie lieber etwas Ausgefalleneres getragen. Bohème-Stil. Dreiviertel der Gäste waren ihr unbekannt, die anderen meist nur weitläufige Bekannte. Sie hatte sich Wildblumen gewünscht, aber bekommen hatte sie weiße Rosen. Sie hatte sich Madigan als einzige Brautjungfer gewünscht, aber jetzt waren es sechs dunkelhaarige Models, die vor ihr her schreiten und später neben ihr auf den Hochzeitsfotos posieren würden.
Niemand hatte ihr zugehört, als sie versuchte, ihre Wünsche zu formulieren. Aber ihr hörte nie jemand zu. Alle sahen nur ihr hübsches Gesicht und ihre perfekte Modelfigur. Auch wenn dieser Tage ihre Maße für ihren Job alles andere als perfekt waren.
Lange, viel zu lange hatte Eliot allen erlaubt, über ihre Bedürfnisse hinwegzugehen. Immer wussten die anderen, was gut für sie war. Ihre Mutter. Die Modelagenturen. Die Kreativdirektoren. Eliots Job war, es allen recht zu machen. Sie baten um einen Blick, einen Gang, eine Pose, und sie gehorchte.
Mittlerweile war ihr das Bedürfnis zu gefallen in Fleisch und Blut übergegangen. Auch heute, an ihrem Hochzeitstag, spielte sie wieder nur eine Rolle, obwohl es der glücklichste Tag ihres Lebens sein sollte.
Was hatte diese Fahrradkurierin gesagt? Die kleinsten Handschellen der Welt?
Die Limousine verlangsamte ihre Fahrt, und als Eliot aus dem Wagenfenster schaute, erblickte sie den Portikus des Forrester-Grantham-Hotels. Ein livrierter Türsteher in Frack und Zylinder trat heran, um die Tür der Limo zu öffnen.
Hinter ihm entdeckte Eliot einen hochgewachsenen, breitschultrigen Mann, der die Stufen zur Lobby hochging. Er wandte ihr den Rücken zu, doch seine Schwimmer-Statur, sein Kopf und sein dunkelbraunes Haar erinnerten sie an Soren.
Was ihr bei allen großen, breitschultrigen und dunkelhaarigen Männern passierte.
Die Begegnung mit ihm lag lange zurück, doch damals hatte sie zum ersten Mal das Gefühl gehabt, ganz sie selbst zu sein. Dann war er gegangen, und sie war wieder jene Eliot geworden, die tat, was andere Leute von ihr verlangten.
Sie hatte ein paar Wochen gewartet und gehofft, er würde sich melden und sagen, dass es für ihn mehr als eine Affäre gewesen war. Als keine Nachricht kam, hatte sie es akzeptiert und in der Zeit, die folgte, viele Dates gehabt. Kurz nach ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag hatte sie DeShawn kennengelernt. Schon nach wenigen Monaten waren sie zusammengezogen. Zugegeben – ihre Gefühle füreinander waren nie sehr intensiv gewesen, aber sie kamen gut miteinander aus, zumindest, bis ihre Gesundheit zu wünschen übrigließ. Im vergangenen Jahr war ihre Beziehung brüchig geworden. Doch anstatt darüber zu reden und herauszufinden, wie sie die Entfremdung überwinden konnten, hatten sie einfach ein Pflaster über die offene Wunde geklebt.
Sie, weil sie es gewohnt war, sich nach anderen Menschen zu richten, und er, weil … hm, eigentlich hatte sie keine Ahnung, weshalb.
Mit DeShawn kam sie sich vor wie ein weiteres seiner Musiklabels, einer seiner Grammys, eine teure Anschaffung, wie noch ein weiteres Statussymbol. Ein Accessoire, der Stern auf seinem Christbaum oder ein luxuriöses, aber völlig überflüssiges Geburtstagsgeschenk, das eigentlich niemand brauchte. Oder wertschätzte.
War sie nicht mehr wert?
Und warum gestand sie sich diese Dinge ein, kurz bevor von ihr erwartet wurde, dass sie sagte: „Ja, ich will“?
Während wieder eine Stretchlimousine vorfuhr, begrüßte Soren Grantham den Türsteher und betrat die eindrucksvolle zweistöckige Lobby. Mit den großen Kristalllüstern und der breiten Treppe wirkte das Forrester-Grantham-Hotel wie der Landsitz eines englischen Adligen und atmete den Charme der alten Welt. Auf der Madison Avenue war es eines der herausragenden Baudenkmäler. Hier stiegen der europäische Adel ebenso ab wie Politiker und Wirtschaftsbosse aus aller Herren Länder.
„Soren!“
Beim Klang seines Namens drehte er sich um und grüßte Garth, den Empfangschef, mit einem Lächeln. Garth war mittlerweile über sechzig. Er hatte vor fast vierzig Jahren im Avangeline’s als „Tellertaxi“ begonnen. Sorens Großmutter hatte den damals Sechzehnjährigen eingestellt.
„Sie wirken gestresst“, bemerkte Garth und ließ den aristokratischen Akzent weg, den er sich dem internationalen Publikum gegenüber zu eigen gemacht hatte. Soren gegenüber war seine Herkunft aus Brooklyn zu hören.
„Mir geht es gut, Garth“, erwiderte Soren und ignorierte die neugierigen Blicke einiger Gäste, die sich in der Lobby aufhielten.
„Man erwartet Sie im Avangeline’s“, informierte ihn Garth.
Soren schaute nach rechts. Jack hatte ihm Fotos des neu renovierten Restaurants, das den Namen seiner Großmutter trug, geschickt. Er mochte das neue Design, die dominierenden Farben Creme und Graublau. In den vergangenen zehn Jahren hatten Fox und Jack das Avangeline’s zweimal renoviert. Soren gefiel es jetzt besser als in Anthrazit und Gold.
Die Lieblingsfarben seiner Großmutter waren Pink und Grün gewesen. Voll Achtziger. Gruselig, fand er. Aber das berühmte Restaurant war der Grundstein für die steile Karriere seiner Großmutter als eine weltweit operierende Gastronomin und Hotelbesitzerin gewesen. Dieses Hotel hier hatte sie als einziges behalten und einem Konsortium verpachtet, während sie ihr übriges Imperium verkauft hatte, um sich nach dem Tod ihrer Söhne und Schwiegertöchter der Erziehung ihrer Enkel zu widmen.
Kaum zu glauben, dass es fünfundzwanzig Jahre her war, seit er seine Eltern verloren hatte. Damals war er neun gewesen.
Garth riss ihn aus seinen Erinnerungen. „Soll ich Sie hinbringen?“, fragte er.
„Nein, das ist nicht nötig.“ Doch dann sah Soren den enttäuschten Gesichtsausdruck seines Gegenübers. Garth war stolz darauf, den Gästen des Hotels zu zeigen, dass er mit einem der berühmtesten Sportler gut bekannt war. Soren brauchte sich seine olympischen Medaillen nicht umzuhängen, um Aufmerksamkeit zu erregen. Überall auf der Welt erkannte man ihn und hier, im Hotel seiner Familie, sowieso. „Gut, ich folge Ihnen“, lenkte er nun ein und schob die Hände in die Taschen seiner dunkelgrauen Hose.
Garth warf sich in die Brust und ging voraus ins Restaurant, wo Jack, Fox und Merrick bereits saßen.
Jack, Fox und auch Malcolm, als er noch lebte, waren Sorens Cousins, doch da sie als Waisen von ihrer Großmutter großgezogen worden waren, betrachteten sie sich eher als Brüder. Zu der Gruppe gehörte noch Merrick, der Sohn von Avangelines Haushälterin, der zwar nicht blutsverwandt, aber doch auch ein Bruder war.
Soren wünschte sich, Malcolm wäre heute hier. Es war so ungerecht, dass ausgerechnet der Beste von ihnen, der Anführer, der hellste Stern, sein Leben bei einem Motorradunfall kurz vor seinem fünfundzwanzigsten Geburtstag verloren hatte.
Als Soren das Restaurant betrat, standen seine Brüder auf und umarmten ihn. Er nahm mit dem Rücken zum Saal Platz und seufzte erleichtert. Inmitten der Jungs fühlte er sich wohl und konnte sich entspannen. Er vertraute einzig und allein ihnen, und er vertraute Avangeline und Jacinda, Merricks Mutter. Diesen Menschen galt seine Zuneigung. Niemandem sonst. Zu lieben war für ihn gleichbedeutend mit möglichem Verlust. Er gestattete sich keine Gefühle, weil er das Risiko nicht eingehen wollte, denjenigen oder diejenige zu verlieren.
„Wir haben schon bestellt, Soren“, verkündete Jack. „Was möchtest du essen?“
Da er von heute an drei Wochen lang kein Training haben würde, brauchte Soren nicht so viele Kalorien wie sonst. Daher bestellte er nur eine normale Portion, was ihm fragende Blicke seiner Brüder eintrug.
„Bist du krank?“, fragte Merrick.
„Wenn ich aufhöre, muss ich mich daran gewöhnen zu essen wie ein normaler Mensch“, erwiderte Soren. Seine Bemerkung war ein Test. Ständig überlegte er, ob er seine Karriere als Schwimmstar beenden sollte, aber seiner Familie gegenüber hatte er seine Pläne noch nicht erwähnt.
„Du bist noch nicht so weit, dass du aufhören solltest“, gab Fox zu bedenken.
Jack schüttelte den Kopf. „Was würdest du denn dann machen?“
Gute Frage. Soren wusste darauf bisher keine Antwort.
„Du hast noch viel zu viel Benzin im Tank, um den Sport aufzugeben“, sagte Merrick.
Da sie Sorens Überlegungen offenbar nicht ernst nahmen und er das Thema nicht weiterverfolgte, sprachen sie bald über etwas anderes.
Er seufzte, weil er es schwierig fand, ihnen mitzuteilen, was er empfand. Ehe er zu seinem Team zurückkehrte und neue Sponsorenverträge unterschrieb, hatte er sich eine Auszeit genommen, um genau zu überlegen, ob er sich noch einmal für zwei Jahre verpflichten sollte. Nur sein Schwimmtrainer und sein Manager wussten, dass er eventuell aufhören wollte, solange er ganz oben war.
2012 hatte er im Team eine Medaille gewonnen, dann, 2016 drei Goldmedaillen. 2021 in Tokio waren es schon sechs Goldmedaillen gewesen und zwei neue Weltrekorde. Und nun dachte er daran, auf dem Höhepunkt seiner Karriere aufzuhören. Denn es dauerte inzwischen länger, bis er in Bestform war, und es fiel ihm immer schwerer, diese Form zu halten. Sein Körper wurde älter, und wahrscheinlich würde er 2024 seine Bestzeiten nicht mehr oder nur mit Mühe erreichen. Vielleicht war es Zeit, sich einzugestehen, dass sein Leben als Weltklasseschwimmer sich dem Ende näherte …
Dummerweise hatte er nicht den blassesten Schimmer, was er danach mit seinem Leben anfangen sollte. Alles, was ihn ausmachte, war das Schwimmen. Außerhalb von Training und Wettkämpfen hatte er eigentlich kein Leben. Wenn er nicht schwamm, sich im Studio fit hielt oder versuchte, den Jetlag wegzuschlafen, blieb nicht mehr viel. Ab und zu hatte er einen One-Night-Stand mit irgendeiner Athletin, aber es war nicht mehr als ein oder zwei Stunden Lust zwischen zwei Trainingseinheiten.
Ehe er also mit dem Leistungssport aufhörte, brauchte er einen Plan für die Zukunft. Eine Idee, der er seine ganze Energie widmen konnte.
Sicher, seine Brüder würden ihm einen Job in einem ihrer Unternehmen geben. Aber er wollte etwas Eigenes. Genau wie seine Großmutter wollte er sich etwas Eigenes aufbauen und die Früchte seiner Arbeit ernten, wenn es klappte.
Natürlich hätte er mit seinen Brüdern darüber reden müssen, aber er fand es schwierig, seine Gedanken auszusprechen. Er bevorzugte es, nur dann über eine Sache zu reden, wenn sie es wert war, und besonders schwer fiel es ihm, über Dinge zu sprechen, die ihn tief im Inneren berührten. Emotionale Nähe machte ihm Angst. Von seinen Teamkollegen wurde er deshalb oft Ice Man genannt. Wärme strahlte er jedenfalls nicht aus, und es gelang nur den Wenigsten, ihm nahezukommen.
Es gab nur eine einzige Person außerhalb seiner Familie, die es jemals geschafft hatte, seinen Eispanzer zu durchdringen.
Jack schaute auf seine Armbanduhr. „Hast du einen Termin?“, fragte Fox.
„In zwanzig Minuten findet im Cairanne-Ballsaal die Hochzeit Stone und Connell statt“, antwortete Jack. „Angekündigt ist das Ganze als Hochzeit des Jahres. Ich muss mich gleich mit den Leuten kurzschließen, die den Event betreuen.“
Das Hotel war eine der Topadressen für Promihochzeiten in New York.
Halt. Hatte Jack gerade Stone gesagt? Soren runzelte die Stirn. „Meinst du etwa Eliot Stone, das Supermodel?“, wollte er wissen.
„Genau. Sie heiratet heute DeShawn Connell, den Musikproduzenten“, bestätigte Fox.
Eliot heiratete? Was zum Teufel … Das konnte – das durfte nicht sein …
Soren lehnte sich zurück und fühlte sich, als hätte er gerade ein Zehnmeilen-Training absolviert. Wieso reagierte er so stark auf diese Ankündigung? Vor acht Jahren hatten sie drei himmlische Tage unter der Sonne Südfrankreichs miteinander verbracht. In Paris, am Flughafen Charles de Gaulle, hatten sie sich verabschiedet. Aus schierer Notwendigkeit hatte er sie danach aus seinen Gedanken verbannt. Seitdem hatten sie keinen Kontakt mehr gehabt. Er hatte kein Recht, sich darüber aufzuregen, wenn sie jemand anderen heiratete.
Doch es machte ihm etwas aus. Denn sie war diejenige gewesen, die seinen Eispanzer durchdrungen hatte. Seitdem geisterte sie durch seine Gedanken: die einzige Frau, die es geschafft hatte, ihn von seinem Training abzulenken und ihn sein Ziel, der beste Olympionike aller Zeiten zu werden, kurz aus den Augen verlieren ließ.
„Wir müssen über Avangeline reden“, begann Fox und beugte sich vor. „Ich mache mir Sorgen um sie.“
Es fiel Soren schwer, sich auf das neue Thema zu konzentrieren. Immer wieder schweiften seine Gedanken zu der Hochzeit Eliots.
„Wir haben ihren Anwalt kontaktiert, damit er mit ihr über ein Testament spricht, aber Avangeline will ihn nicht sehen“, berichtete Jack und sah besorgt drein.
Soren seufzte. Es war Malcolms Idee gewesen, die Restaurantkette zurückzukaufen, die Avangeline abgestoßen hatte, um sich ganz um ihre Enkel zu kümmern. Später hatte sie Mal, Fox und Jack das Hotel übertragen und ihnen das Startkapital geliehen, um zu renovieren und das Forrester-Grantham zu modernisieren. Sie hielt den Kredit, besaß Aktien und hatte einen Sitz im Vorstand. Darüber hinaus hatte sie Merrick Kapital verschafft, um eine Kette von Food-Trucks aufzubauen, die in den USA und Europa mittlerweile höchst erfolgreich Bio-Fast-Food verkauften. Wenn Avangeline einmal ohne ein Testament sein sollte, das die Einzelheiten regelte, drohte jedoch für seine Brüder und Merrick ein jahrelanges juristisches Klein-Klein.
„Sie hat doch Zeit ihres Lebens mit Anwälten zu tun gehabt und weiß eigentlich, wie wichtig ein Testament ist“, bemerkte Jack.
„Das ist noch nicht alles“, sagte Merrick. Es war ihm anzusehen, dass ihm etwas große Sorgen bereitete.
Soren hatte den Verdacht, dass das, was Merrick gleich sagen würde, großen Einfluss auf die Familie haben würde, und ihm wurde kalt.
„Mom hat mich neulich angerufen und mir erzählt, dass Avangeline zurzeit einen Gast hat“, fuhr Merrick fort. „Dieser Gast ist die Frau, die Mals Spenderniere erhalten hat. Sie heißt Alyson Garwood, und ich habe den Verdacht, dass sie sich bei Avangeline einschleimen will, um sie abzuzocken.“
Sofort war Soren aufgeschreckt. Fox war das Kraftfeld der vier, derjenige, der die Dinge ins Rollen brachte. Jack führte die Verhandlungen und war der offizielle Vertreter von Grantham International. Soren war der Introvertierte, der Einzelgänger. Merrick sah sich als ihr Beschützer, besonders nach Malcolms Tod. Er würde sein Leben für seine nichtverwandten Brüder geben.
Und nun machte Merrick einen sehr nervösen Eindruck.
„Was noch, Merrick?“, wollte Soren wissen.
Merrick fuhr sich mit der Hand übers Kinn. „Eigentlich glaube ich, dass da nichts dran ist, aber diese Frau behauptet …“
Alle warteten darauf, dass er fortfahren würde. Doch er schwieg.
„Und? Was hat sie gesagt?“, wollte Fox wissen.
Merrick schüttelte den Kopf. „Das sollte sie euch besser selber sagen. Es betrifft euren Bruder.“
Fox schaute ihn verblüfft an. „Hör auf, Mist zu reden, Merrick. Malcolm war genauso gut dein Bruder wie unserer.“
In Merricks Augen spiegelten sich Dankbarkeit und Trauer. „Normalerweise würde ich dir zustimmen, aber hier geht es um etwas sehr Seltsames. Und deshalb denke ich, dass ihr es von ihr selbst hören solltet.“
„Das klingt mysteriös“, sagte Fox. „Einer von uns muss nach Calcott Manor fahren und nach dem Rechten schauen.“
„Das geht aber nicht, Fox. Wir haben zig Veranstaltungen, und das Hotel führt sich nicht von allein. Außerdem ist morgen früh eine Vorstandssitzung“, antwortete Jack.
„An einem Sonntag?“, fragte Merrick.
„Es war der einzige Tag innerhalb der nächsten drei Monate, an dem alle Zeit haben“, erklärte Fox.
„Trotzdem. Entweder du oder Jack müsst fahren“, beharrte Merrick.
Sie schienen vergessen zu haben, dass Soren sich eine Auszeit genommen hatte. Normalerweise trainierte er in Florida, aber er hatte sowieso vorgehabt, in Calcott Manor vorbeizuschauen. „Ich fahre heute Nachmittag rüber und höre mir an, was da los ist“, sagte er. „Ich rede mit dieser Frau Garwood und finde heraus, weshalb Merrick so nervös ist. Und ich versuche, mit unserer sturen Großmutter über das Testament zu sprechen.“