18,99 €
»Ich versuche, wahr und einfach zu sein. Aber manchmal habe ich keinen Schutzmantel um mich.« Angela Winkler. Eigentlich führt die Schauspielerin Angela Winkler mehr als ein Leben: für die Bühne, für den Film – und gleichermaßen für ihre Familie. In »Mein blaues Zimmer« erzählt sie von diesen Leben, nimmt uns mit hinter die Kulissen ihres geliebten Theaters und berichtet von den Erfahrungen, die sie zu der starken Frau gemacht haben, die sie heute ist. Winkler erzählt so warmherzig wie offen von all den Dramen, wie sie im Leben so plötzlich eintreten: den verpassten Augenblicken, Möglichkeiten und Unglücken ebenso wie von den Glücksmomenten, Erfolgen und prägenden Begegnungen. Sie erinnert sich an ihre Anfänge als Schauspielerin am legendären Theater in Castrop-Rauxel und beim Neuen Deutschen Film, an die vielen fast verfallenen Häuser in Italien und Frankreich, die sie gemeinsam mit ihrem Mann umgebaut und zum Leben erweckt hat, und lässt uns an ihrer Liebe zur Natur teilhaben. Wir stehen mit ihr auf der Bühne und vor der Kamera, begleiten sie bei ihrer Zusammenarbeit mit Regisseuren wie Peter Zadek, Klaus-Michael Grüber, Robert Wilson oder Volker Schlöndorff – und bei ihren kleinen und großen Fluchten aus dem Theaterbetrieb. Einfühlsam, auf ihre ganz eigene Art, erzählt sie von ihrer Familie, ihrer Mutter, die über 100 Jahre alt wurde, von der Geburt ihrer vier Kinder und nicht zuletzt vom Alt-Sein als Künstlerin. So lernen wir Angela Winkler als außergewöhnliche Frau kennen, die mit eigenem Kopf durch die Welt geht und den Zwängen des Lebens bis heute so viel Eigenwilligkeit wie möglich entgegensetzt.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 151
Veröffentlichungsjahr: 2019
Angela Winkler
Autobiographische Skizzen
Buch lesen
Titelseite
Über Angela Winkler
Über dieses Buch
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Hinweise zur Darstellung dieses E-Books
zur Kurzübersicht
Angela Winkler zählt zu den großen Schauspielerinnen unserer Zeit. Durch Rollen in den Volker-Schlöndorff-Filmen »Die verlorene Ehre der Katharina Blum« und »Die Blechtrommel« wurde sie in den 1970er-Jahren zu einem nationalen wie internationalen Star. Doch ihre Liebe galt und gilt dem Theater. Von Kritikern und Publikum gleichermaßen gefeiert, arbeitete sie mit berühmten Regisseuren wie Peter Zadek, Klaus-Michael Grüber, Luc Bondy oder Robert Wilson zusammen. 2011 veröffentlichte sie ihr Debütalbum mit Chansons.
Brigitte Landes, geboren 1946 in Frankfurt/Main, arbeitet freiberuflich als Dramaturgin, Regisseurin und Autorin.
zur Kurzübersicht
Eigentlich führt die Schauspielerin Angela Winkler mehr als ein Leben: für die Bühne, für den Film – und gleichermaßen für ihre Familie. In »Mein blaues Zimmer« erzählt sie von diesen Leben, nimmt uns mit hinter die Kulissen ihres geliebten Theaters und berichtet von den Erfahrungen, die sie zu der starken Frau gemacht haben, die sie heute ist.
Winkler erzählt so warmherzig wie offen von all den Dramen, wie sie im Leben so plötzlich eintreten: den verpassten Augenblicken, Möglichkeiten und Unglücken ebenso wie von den Glücksmomenten, Erfolgen und prägenden Begegnungen. Sie erinnert sich an ihre Anfänge als Schauspielerin am legendären Theater in Castrop-Rauxel und beim Neuen Deutschen Film, an die vielen fast verfallenen Häuser in Italien und Frankreich, die sie gemeinsam mit ihrem Mann umgebaut und zum Leben erweckt hat, und lässt uns an ihrer Liebe zur Natur teilhaben. Wir stehen mit ihr auf der Bühne und vor der Kamera, begleiten sie bei ihrer Zusammenarbeit mit Regisseuren wie Peter Zadek, Klaus-Michael Grüber, Robert Wilson oder Volker Schlöndorff – und bei ihren kleinen und großen Fluchten aus dem Theaterbetrieb. Einfühlsam, auf ihre ganz eigene Art, erzählt sie von ihrer Familie, ihrer Mutter, die über 100 Jahre alt wurde, von der Geburt ihrer vier Kinder und nicht zuletzt vom Alt-Sein als Künstlerin. So lernen wir Angela Winkler als außergewöhnliche Frau kennen, die mit eigenem Kopf durch die Welt geht und den Zwängen des Lebens bis heute so viel Eigenwilligkeit wie möglich entgegensetzt.
Widmung
Das blaue Zimmer
Motto
In Berlin lebe ich …
Baustellen
1971 – in Berlin
Hektor und Löbleböb
Bevor ich an die Schaubühne kam
An der Schaubühne
Montalto in Ligurien
In Templin bin ich geboren
»Plötzlich im letzten Sommer«
»Jagdszenen aus Niederbayern«
»Die verlorene Ehre der Katharina Blum«
Wie im Film
Nach jedem Kind habe ich einen Film gedreht
Nele
Krautsand
Auvergne
Manchmal kam es mir vor als sei ich ganz aus der Welt
Es macht Spaß, auf neuen Wegen zu gehen
Der Schrei
Die Stille
Warum nicht mit beiden Händen in der Erde wühlen wie ein Maulwurf?
Herkuleskraut
Macht total Spaß
Dieser Zadek!
»Die Reise nach Jerusalem«: Else Lasker-Schüler
»Kirschgarten«
»Angela, ich würde gern Hamlet mit dir machen«
Hamlet-Tagebuch
Die Geschichte mit der Brosche
Bretagne
Über meine Arbeit zu sprechen, finde ich schwierig
Ich will nichts beweisen müssen
Ödipus
Berlin-Neukölln
Im Zug
»Wir werden weitermachen«
Bildnachweis
Für Wigand, Luca, Tammo, Nele und Lasse
Ich habe immer Sehnsucht nach einem blauen Zimmer.Aber ich habe ein ganzes Dorf.
In Berlin lebe ich, wenn ich arbeite, aber ich bin kein Stadtmensch. Seit ich Kinder habe, haben wir immer auf dem Land gelebt. In Italien in Ligurien, in Eckwarden am Jadebusen, auf Krautsand an der Elbe, in Frankreich in der Auvergne und jetzt in der Bretagne. Mein ältester Sohn Luca kam in Italien in San Remo zur Welt, Tammo, das einzige der Kinder, das in Deutschland geboren wurde, in Varel in Friesland, Nele in Spanien in Almeria und Lasse in Paris. Alle sieben Jahre sind wir umgezogen, haben zusammen alte, verfallene Häuser aufgebaut, und kaum waren sie fertig, sind wir weitergezogen. Wigand, mein Mann, ist Bildhauer.
Ich brauche den frischen Wind, um im Theater zu arbeiten.
Das Theater nehme ich so ernst wie mein Leben. Ich habe mir immer die Freiheit genommen, mir meine Zeit zu lassen. Meine Rollen im Theater habe ich mir nie gesucht, sie sind zu mir gekommen. Und immer zu einer Zeit, in der sie mit meinem Leben zu tun hatten. Die Entscheidung, Theater zu spielen, fällt mir nie leicht. Mir ist Theater zu wichtig, und vielleicht bin ich gar keine richtige Schauspielerin.
Die frühen Filme, »Jagdszenen aus Niederbayern«, »Die verlorene Ehre der Katharina Blum« und »Die Blechtrommel«, haben mich zwar bekannt gemacht, aber ich nehme Filme nicht so ernst wie Theater. Im Film dreht man eine Szene und sie ist im Kasten. Der Film entsteht irgendwann doch ohne dich. Als ich die Kinder hatte, war ich immer froh, wenn es vorbei war. Die letzte Klappe – und sofort fuhr ich zurück zur Familie. Zu den Kindern. Und zu Wigand, auch wenn er oft gar nicht da war, sondern irgendwo in einem Steinbruch oder beim Aufbauen eines unserer Häuser. Das Leben ist mir einfach wichtiger. Das ist mein Theater. Ich könnte es im Leben nicht aushalten mit jemandem, der auch am Theater arbeitet. Wigand hat sein Handwerk und ich habe meins. Es braucht doch jeder seine eigene, andere Welt.
Wir wohnten in Berlin lange am Schiffbauerdamm in einer sehr großen Wohnung, die Wigand restauriert und ausgebaut hatte. Das Berliner Ensemble, an dem ich inzwischen oft arbeitete, war um die Ecke, der Bahnhof Friedrichstraße gegenüber und dazwischen die Spree. Nele war Schauspielerin am RambaZamba Theater und konnte allein in die Straßenbahn steigen und zu ihren Proben fahren. Wigand baute in der Bretagne an unserem »Dorf«, dem »Haus am Meer«.
Nach fünfzehn Jahren gaben wir die Wohnung auf und zogen nach Neukölln. Die Jungen waren ausgezogen, und Nele wollte wie ihre großen Brüder in einer Wohngemeinschaft leben. Nele, die immer mit uns war. Das war schwer für mich. Ich lebte wieder in Kisten und Kartons. Baustelle in der Bretagne, Baustelle in Berlin.
Nach den Vorstellungen am Berliner Ensemble oder an der Schaubühne fuhr ich mit der U8 bis zur Endstation Hermannstraße nach Hause.
Zwei Jahre wurde an dem Haus gebaut. Der Staub rieselte durch sämtliche Ritzen. Dann sah ich auf einmal nichts mehr. Ich hatte auf beiden Augen den grauen Star. Die Sterne am Himmel in der Bretagne sah ich doppelt und dreifach, und die Zeichen auf dem Boden von Bob Wilsons »Dreigroschenoper«-Bühne sah ich überhaupt nicht mehr. Dann knallte ich während eines Gastspiels mit dem Berliner Ensemble in Leipzig im Schwimmbad des Hotels auf den Hinterkopf und wachte in einer Klinik auf. Ich hatte eine schwere Gehirnerschütterung.
Zum ersten Mal fühlte ich mich alt.
Ich ließ mich untersuchen, ging zum Arzt, zu Ärzten. Bekam Tabletten verschrieben, man sagte etwas von Depression.
Es waren zwei schlimme Jahre.
Ich war siebzig geworden. Nele war ausgezogen. Klaus Michael Grüber war tot. Peter Zadek war gestorben, und ich war an diesem Hundekackeort. Die Angebote, die ich für Theater und Film bekam, gefielen mir nicht. Ich sagte ab. Ich war nicht ich. Und doch, dachte ich, ich bin Angela, ich habe doch Hamlet gespielt und muss jetzt mit den Besoffenen nach Neukölln in den Dreck fahren.
Ich fuhr in die Bretagne und warf die Antidepressionstabletten in weitem Bogen ins Meer. Und sagte am Hamburger Schauspielhaus zu, in einer Inszenierung von »Peer Gynt« bei Simon Stone zu spielen.
Hamburg, März 2016
Ich bin in Hamburg und wohne in einem Apartment- Hotel an der Außenalster im 7. Stock. Die Stadt gefällt mir. Sie ist hell und sauber, ohne Neuköllner Hundekacke, die im Regen aufweicht. In Neukölln fahre ich am liebsten Fahrrad, weil man von oben die vom Regen aufgeweichte Kacke übersehen kann. Hier gehe ich zehn Minuten zu Fuß ins Theater, die Lange Reihe entlang. Ich gehe shoppen. Ich bummele durch Hamburg.[1]
Ich habe Proben zu »Peer Gynt« am Hamburger Schauspielhaus. Fünfzehn Jahre nach »Hamlet«. Da habe ich als Hamlet auf dieser Bühne gestanden: als kleiner Mensch, so wie es Zadek wollte, verloren auf der großen Bühne. Aus dem Publikum rief jemand bei dem berühmten Sein-oder-Nichtsein-Monolog: »LAUTER!« Ich sagte: »Sie kennen das doch alle«, und habe weitergespielt. Am Ende des Monologs fragte ich das Publikum: »Haben Sie mich verstanden?«
Ich spiele zum dritten Mal das Stück »Peer Gynt«. Das war mein erstes Stück an der Schaubühne, und es war meine letzte Arbeit mit Peter Zadek, ich spielte Peer Gynts Mutter, die alte Aase. Irgendwie spielt das Stück ein bisschen Schicksal.
Ich fange an, mich mit dem Stück zu beschäftigen, gehe durch die Stadt. Das Textbuch habe ich immer dabei. Ich bin ein Sehmensch und sehe eine Frau, die so aussieht, wie die erfolgreiche Architektin aussehen könnte, die ich in »Peer Gynt« spielen werde. Ich lese hundert Mal das Stück, alles, was ich sehe, gesellt sich dazu: Zeitungsausschnitte, Blumen und Blätter, Fotos, Postkarten, alles kommt mit ins Textbuch.
Der Regisseur Simon Stone hat das Stück neu geschrieben, Peer Gynt wird von drei Frauen gespielt. Ich bin die älteste, also die alte Peer Gynt, die nach siebenundvierzig Jahren zurück nach Hause kommt, ins Dorf, und alle erzählen ihr, die aus der Fremde kommt, ihre Geschichten. Lauter Dramen, die verpassten Augenblicke, die Unglücke, die verpassten Möglichkeiten. Hier machen sich alle etwas vor, wie im Leben und eben in »Peer Gynt«, dem Stück vom Lügengeschichtenerzähler.
Am Anfang dachte ich, ich könnte diesen Text nie lernen. Die Sprache von Simon Stone kam mir so läppisch, so oberflächlich vor. Ich muss meine Texte Wort für Wort lernen, ich nehme sie ernst. Und merkte, wie diese zuerst banalen Sätze an Ernst gewannen und anfingen zu leben. Solche Sätze höre ich doch, dachte ich, in meinem Neuköllner Café.
Mir gefielen die Proben immer mehr. Wir saßen in den ersten Wochen alle gemeinsam am Tisch, haben gelesen und geredet. Ich habe viel erzählt und merkte, dass es den jungen Schauspielern gefiel, was ich erzählte. Von einem Leben, das sie so nicht kennen. Von einem Leben ohne Theater. Ich habe ja nie, außer in meiner Anfängerzeit, an einem Theater ein Stück nach dem anderen gemacht, eine Rolle nach der anderen gespielt. Ich hatte immer Pausen, große Pausen, ein ganz anderes Leben mit den Kindern, Wigand und den Häusern. Vieles davon ist in das Stück mit eingegangen. Der Text, das ist die Hülle, die Schalen der Zwiebel, man schält sie und schält und findet keinen Kern.
Am Ende des Stücks stirbt die alte Peer Gynt im Schoß ihrer Enkelin. Sie fragt, wie es da unten aussieht, im Fjord, unter Wasser. Dahin will sie gehen.
Ein Jahr vorher wäre ich beinahe im Atlantik ertrunken.
Es war windig, es war mittags, das Meer war unruhig. In der kleinen Bucht war ich noch nie schwimmen. Ich wollte mich reinigen, erfrischen von der Baustelle, vom Kochen, vom Aufräumen. Das Wetter war mir egal. Meistens gehe ich sowieso nur bis zu den Hüften ins Wasser. Kaum war ich drin, kam eine hohe Welle, und ich hatte plötzlich keinen Grund mehr unter den Füßen, fand auch keinen mehr. Es kam die nächste Welle und die nächste und die nächste …
Der Sog hatte mich schon aus der kleinen Bucht gezogen, ich konnte die blaue Buvette, das kleine Café, nicht mehr sehen. Außerdem war da kein Mensch bei dem schlechten Wetter. Ich schwamm auf einen der vielen Felsen in der Bucht zu und versuchte, mich daran festzuklammern. Er war über und über mit scharfkantigen Muscheln besetzt. Der nächste Brecher kam und ich konnte mich nicht festhalten. Hinter dem Felsen war das brodelnde Meer. Mindestens fünf Mal dachte ich, ich hätte es geschafft, bin aber immer wieder weggerissen worden. Die Wellen überspülten mich und warfen mich unter Wasser. Ich gab auf und sah – genauso wie man es immer erzählt bekommt – die Gesichter meiner ganzen Familie vor mir. Als ich wieder aufwachte, lag ich zerschunden und am ganzen Körper schlotternd auf einem Felsplateau und hörte über mir den Hubschrauber.
Warum bin ich ins Wasser gegangen, obwohl doch die Wellen so hoch waren? Ob ich verschwinden wollte?
Kurz bevor die Proben für »Peer Gynt« anfingen, ist meine Mutter gestorben. Sie ist 102 Jahre alt geworden. Nach der ersten Kostümprobe sah ich so aus, dass meine Mutter gejubelt hätte: »Endlich bist du einmal schön angezogen!« Ich hatte eine schlichte schwarze Hose an, eine klassische Bluse, einen hellen Mantel und Halbschuhe. Lauter Sachen, die ich normalerweise nie trage.
Meine Mutter war Hamburgerin. Sie liebte den Norden. Nach unserer Flucht aus Templin, wo ich geboren bin, haben wir die erste Zeit in Hamburg-Bergstedt gelebt. Sie hatte schon mit ihren Eltern vor dem Krieg in Hamburg gelebt.
Mein Vater kam erst 1949 aus der russischen Gefangenschaft wieder. Er war Arzt an der Front gewesen. Seinetwegen sind wir in den Süden nach Bayern gegangen. Er war Niederbayer. Wenn wir früher mit dem kleinen schwarzen VW, Othello hieß er, nach Italien fuhren, fünf Kinder im Auto, das kleinste schlief hinter der Rückbank im »Gräbelchen«, und es kam uns ein Auto mit einem Hamburger Kennzeichen entgegen, kamen meiner Mutter die Tränen. Wir mussten dann »Hummel Hummel« sagen und sie sagte »Mors Mors«.
In Hamburg hatte sie meinem Vater, einem jungen Arzt, ihr Jawort gegeben. Sie wollte ihm ihren kranken Fuß nicht zeigen, hat ihm aber den höchsten Berg Hamburgs gezeigt. Da war es wohl um beide geschehen. Sie war blond und friesisch, er bayerisch und dunkel. Sie leichtfüßig, neugierig und leuchtend, er ruhig und gutmütig. »Rehlein« wurde sie genannt.
Ich habe nie geheiratet, weil ich dachte, eine solche Liebe nie leben zu können. Nur einmal habe ich meine Mutter weinen sehen. Mein Vater hatte vergessen, ihr zu Silvester die Tulpe im Topf zu schenken. Da glaubte sie wohl, er liebe sie nicht mehr, und rannte aus dem Haus.
Oft saß sie am Klavier, spielte und sang ihre Lieder. Ich stand hinter ihr und schaute auf ihre Hände. Alle Lieder habe ich von ihr gelernt. Meinen Liederabend »›Ich liebe dich‹ kann ich nicht sagen« habe ich für meine Mutter gemacht.
Am letzten Tag sank ihr Kopf immer tiefer, mein Bruder und ich legten sie in ihr Bett und sie schlief ein. Lächelnd. Und wachte nicht mehr auf.
23.3.2016
Von meiner Mutter habe ich goldene Ostfriesenohrringe mit kleinen Sternchen und Halbmonden geerbt. An meiner Hand trage ich einen Ring aus einem Kaugummiautomaten, den mir Wigand geschenkt hat. Schaut man ihn an, sieht er aus wie ein kleiner runder Stein im Geröll eines Baches zwischen modrigen Unterwasserblumen, und er leuchtet bernsteingolden. Er zieht das Licht an. Es könnte auch ein Blick in ein dunkles Zimmer mit alten Mahagony-Möbeln sein und einem bernsteinfarbenen Sonneneinfall durch schwere Samtvorhänge. Am Ohr trage ich oft einen Weidenkätzchen-Ohrring. Nur einen. Ein helles Weidenkätzchen an einer feinen silbernen Kette. Ich spüre das Kätzchen zärtlich an meinem linken Ohr, auf der anderen Seite von meinem Muttermal. Dieses Muttermal auf der rechten Seite über meiner Lippe habe ich von meinem Vater geerbt. Schon als Kind, vor allem als junges Mädchen, habe ich mich wegen dieses Mals sehr geschämt. Jetzt, im Alter, ist es größer geworden. Vor allem dicker. Es sieht aus wie eine Warze. Es sieht einfach hässlich aus und ich zupfe ab und zu Haare aus, die darauf wachsen. Dafür musste ich mir extra eine Pinzette kaufen.
Kurz vor der Premiere ist mein ganzer Kopf eine Wunde. Vom Textlernen.
Auf der Bühne kann man alles. Ich bin jedes Mal selbst überrascht. Vielleicht könnte ich sogar noch einen Handstandüberschlag oder einfach einen Kopfstand, den ich nie konnte.
Ich kann bestimmte Sachen nicht. Ich kann so viel nicht. Ich kann die Beine nicht im Lotussitz auseinanderbiegen. Seit es Yoga gibt, können das fast alle Frauen. Ich war ein-, zweimal in einer Yogagruppe einer Freundin. Ich habe mich geniert. Erstens wegen meiner nicht gepflegten Füße, die Socken muss man ausziehen, und eben wegen dieses Lotussitzes. Alle konnten das, saßen mit kerzengeraden Rücken auf dem glatten ritzen- und fusselfreien Holzfußboden. Mir gaben sie zwei harte Kissen, die ich unter den Po klemmen sollte, aber meine Beine, die Knie ragten trotzdem in die Höhe. Ich versuchte, sie mit meinen Ellbogen nach unten zu drücken. Es tat weh. Ich dachte, mein Becken ist so eng geworden, habe an Sex gedacht und bin in Gedanken weggeschwirrt. Ich dachte an meinen ersten Kuss, der mir auch so wehgetan hat. Es war ein Schriftsteller mit riesengroßen Zähnen, ich konnte hinterher kaum mehr japsen, und mir war schlecht. Ich mache kein Yoga mehr. Ich will mich nicht schinden und neben Frauen sitzen oder liegen, die mir fremd sind, die alles so proper im Griff haben. Ich fühle mich unter ihnen ziemlich daneben, als sei ich völlig durch den Wind.
Aber so bin ich nicht. Ich weiß sehr gut, »wo’s langgeht«. Vielleicht zu gut. Ich stehe mit den Füßen auf der Erde, in der ich so oft und gern wühle, dass ich mit Maulwurfshänden aufwache. Ich brauche keine Schutzhandschuhe, weder zum Putzen noch zum Gärtnern. Deswegen sehen meine Hände und Füße so aus: nicht gepflegt. Schon bei meinem ersten Fernsehfilm, »Der blaue Strohhut«, den ich mit Hans Dieter Schwarze gedreht habe, hat Elisabeth Wiedemann, die zarte blonde Frau von Fernseh-Ekel Alfred, gesagt: »Kindchen, du bist sehr nett und begabt, aber warum hast du so dreckige Fingernägel?« Ja, warum?
Ich mache so viel mit den Händen. Die sind breit und kräftig wie Arbeiterhände. Schon als ich jung war, traten die Adern hervor, die Fingernägel sind kurz, wenn sie wachsen, brechen sie gleich ab, eben weil ich keine Arbeitshandschuhe anziehe. Überhaupt ziehe ich nicht das an, was ich vielleicht anziehen sollte.