Mein fremder Wille - Gisela Schmalz - E-Book

Mein fremder Wille E-Book

Gisela Schmalz

0,0

Beschreibung

Die Strategien der Tech-Elite Ein paar gleichgesinnte, überreiche CEOs aus Silicon Valley und aus China spielen derzeit Gott. Sie arbeiten daran, alles zu automatisieren, was automatisiert werden kann. Und wir spielen alle mit, wickeln unser Berufs-, Sozial- und Liebesleben über ihre Algorithmen ab und werden dabei zu ihren Komplizen. Was macht die Faszination der Datenjongleure aus? Warum lassen wir uns von tech-kontrollierenden Machtcliquen fremdbestimmen? Internetexpertin Gisela Schmalz zeigt, wie wir mit KI, Robotern oder Neurospielzeugen zunehmend in ferngesteuerte Mensch-Maschinen verwandelt werden. Und sie liefert Ideen zum Widerstand gegen das libertäre Gesellschaftsbild, das die immer weiter abhebende Tech-Elite weltweit über ihre Innovationen durchsetzt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 409

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Gisela Schmalz

Mein fremder Wille

Wie wir uns freiwillig unterwerfen und die Tech-Elite kassiert

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Warum wir uns freiwillig unterwerfen Ein kleiner Kreis von gleichgesinnten überreichen CEO’s aus Silicon Valley und aus China spielt derzeit Gott und arbeitet daran, alles zu automatisieren, was automatisiert werden kann. Und wir alle spielen mit, wickeln unser Berufs-, Sozial- und Liebesleben mit ihren Algorithmen ab und werden zu ihren Komplizen. Was nur macht diese Faszination aus?, fragt Internetexpertin Gisela Schmalz. Warum lassen wir eine Fremdbestimmung durch technologiekontrollierende Machtcliquen überhaupt zu? Sie zeigt, wie diese uns mit ihren KI, Robotern, Neurospielzeugen zunehmend in ferngesteuerte Mensch-Maschinen verwandeln. Und sie liefert Ideen zum Widerstand gegen das libertäre Gesellschaftsbild, das die immer weiter abhebende Tech-Elite weltweit über Technologien durchsetzt.

Vita

Gisela Schmalz, Ökonomin und Philosophin, lehrt seit 2006 als Professorin Strategisches Management und Wirtschaftsethik. Sie arbeitet als Strategieberaterin, interessiert sich für Machtstrukturen in der technologisierten Welt, für den Zusammenhang von Freiheit, Demokratie und Ökonomie und schreibt Sachbücher. Siehe auch: www.giselaschmalz.com.

INHALT

ANMERKUNGEN

VORWORT

KAPITEL 1Die Berechenbaren

1. Beeinflusste Influencer

Die große Glättung

Offline ist ein bisschen wie Sterben

2. Die Monotonie der Stereotypen

Homogene Szene, homogene Projekte

Einhorn-Träumereien

3. Standardnormalverhalten

Unisex, uniform, uni

Alter-Techniken

4. Generation Y: »Ich hab nichts zu verbergen!«

5. Generation Z: »Grimmige Hoffnung«

6. Fazit: Der ausbleibende Protest

Anpassung als Leistung

Chamäleonisierung bis zur Selbstverleugnung

Der versäumte Aufstand

KAPITEL 2Inzucht in Ökosystemen

1. US-Westküste: Ein sich selbst düngendes Biotop

Überall Valley-Klone, doch es gibt nur ein Silicon Valley

Einzelbiotope

Coopetition statt Kannibalismus

2. China: Zuckerbrot statt Peitsche

US-Kapital und -Köpfe für China

Wagniskapitalflechtwerk

Gezüchtete Forschungsexzellenz

Big-Tech-Präsident

3. Greater Bay Area versus Bay Area

Die Krakenarme des Zentralrats

Mit oder ohne Staat

Wettbewerb der Geheimdienste

4. Höhle ohne Löwinnen

Männlich, weiß, jung und forsch

Stereotype Programmierer, stereotype Programme

Valley-Vorzeigefrauen bestätigen die Norm

Midasköniginnen

Perspektivenvielfalt als Chance

5. Fazit: Aufteilung der Aufgaben und Aufteilung der Welt

KAPITEL 3Herren der Ringe spielen Strategiespiele in der Matrix

1. Die Philosophien der Tech-Eliten

Rationalismus und Utilitarismus: Wahr ist, was nützt

Randianismus: Egoistische Helden

Transhumanismus: Mensch plus

Ethische Feigenblätter

Chinesische Einheitslehre

2. Wunderkindergarten

Die Tech-Paranoia der Tech-Elite

Schule à la carte

Abgehobene Snobs mit vergifteten Schultüten

Kinderspiele von Erwachsenen

3. Übermenschen unter sich

Elitokratie statt Meritokratie

Die Tech-Elite und ihre Roboter

Freiheit nicht für alle

Klüfte

4. Konfuzius ex MaChina

Transparente Schüler

Gamification des Gehorsams

5. Fazit: Machtübernahme heißt Machtübergabe

KAPITEL 4Techies Werk und Nutzers Beitrag

1. Willenlos glücklich

Stupser für die simple Persönlichkeit

Erziehung durch Linienziehung

Die Gewohnheiten der Kannibalen

2. Selbstoptimierung: Lust oder Selbstverlust

Quantifiziertes Ich

Quantifiziertes Wir

Schema Ich

3. Psychomaschinen

Verweile doch, du bist so schön

Gedankenfänger

Ich ist eine Zielscheibe

Wie Uber seine Community erzieht

Der Wert des Menschen

Gefühlsmodulation

Sage mir, wie du kommunizierst, und ich sage dir, wie du wirst

Nervöse Finger, flüchtige Momente

Reiz-Reaktions-Terror

Bildgewalt gegen das Denkvermögen

Glückshormone und WhatsAppitis

Die Einsamkeit der Vieltexter und andere Süchte

Realitätsdurcheinander

Spielen für Wirtschaft und Militär

Komplizen ihrer Dompteure

4. Schwache künstliche Intelligenz

5. Smarte Infrastrukturen

Smarter Haushalt: Unsichtbare Hände und Handlungen

Smarte Fabrik: Produkte produzieren sich selbst

Smarte Stadt: Bürger als Datenversorger

6. Hirnprothesen

Gesundheits-Hacks des Hirns

Nasse Selbstexperimente von Laien und Wissenschaftlern

Länger leben dank Kälte und Blut

Kommerzielle Gehirn-Eindringlinge

7. Fazit: Wird der Mensch überholt oder ist er überholt?

KAPITEL 5Willensabgleich

1. Konformitätsmaschine

Stillschweigendes Einverständnis

Internet der Cyborgs

Gleiche und ihre Gleichmacher

2. Vorauseilende Selbstunterwerfung

Programmaktualisierung

Techno-perfide Machtausübung

Verinnerlichung der Norm

Vorauseilender Gehorsam

Minusmenschen in Minimalwelten

Selbstverlust statt Selbstwerdung

3. Triumph der Unabhängigkeit

Menschlich, allzu nicht maschinenähnlich

Individualismus als Überkult

Rebellion

4. Maschinen für freie Menschen

Gute Technologien und gute Nachrichten

Ideenkatalog für konzertierte Aktionen

5. Fazit: Demokratisierung der Technologien

Die Idioten- und Ludditen-Hürde

Blaupausen für ethisch-humane Technologien

Willensbildung

Thursdays for Technologies

Die Vielen konfrontieren die Wenigen

Appell

LITERATUR

ANMERKUNGEN

Wird im Text die männliche Version von Personenbezeichnungen verwendet, dann ausschließlich, um flüssiges Lesen zu ermöglichen. Die weibliche Version ist stets mitgemeint, falls nicht ausdrücklich anders erwähnt.

Zitierte englisch- und französischsprachige Texte wurden von der Autorin aus dem Original ins Deutsche übertragen.

VORWORT

Keine Unterwerfung ist so vollkommen wie die, die den Anschein der Freiheit wahrt. Damit lässt sich selbst der Wille gefangen nehmen.

Jean-Jacques Rousseau

»You’re a machine!«, »Eres una maquina!«, »T’es une machine!«, »Du bist eine Maschine!« So lautet ein Kompliment unter männlichen Millennials, die ihre Körper hart trainieren und ihr Privat- und Berufsleben effizient organisieren. Diese Männer verhalten sich tatsächlich maschinenähnlich, wenn sie mit angeheftetem elektronischem Activity-Tracker Gewichte stemmen, laufen oder schwimmen, ihre Schlafrhythmen oder ihre Ernährung überwachen und per Smartphone ihre straffen Tagespensen koordinieren. Sie passen sich den Zielen der Maschine an und funktionieren wie Rädchen in einem System. »Yes, Sir. Wie die Muskelpartien schaffen! Du bist eine Maschine«, feuert das Publikum der TV-Show Ninja Warrior Switzerland den Elektromonteur und Feuerwehrmann Hufi an. In seinem Podcast Bewohnerfrei lobt der Influencer Tobias Beck den 25-jährigen Ex-Fußballprofi Robin Söder: »Du bist eine Maschine!«, weil Söder seinen 2016 gegründeten The Founder Summit zu einem der größten Start-up-Events Deutschlands ausgebaut hat.

Populär ist das Maschinenkompliment unter jungen Männern aller Bildungsgrade und Berufsgruppen, weltweit. Besonders gut passt es in die Gründer-Szene, wo überproportional viele Männer unterwegs sind und sich alles um technologische Verbesserungen und Möglichkeiten ihrer Monetarisierung dreht. Junge Frauen nennen sich gegenseitig eher nicht Maschine. Aber auch sie tracken ihre sportlichen Aktivitäten. Auch sie optimieren ihre Performance, ihr Aussehen und ihren Alltag mithilfe von Hard- und Software, egal ob sie Angestellte, Studentinnen, Gründerinnen, Mütter oder alles gleichzeitig sind. Die Vertreter und Vertreterinnen der Generationen Y und Z wollen alles richtig machen. Sie glauben, anders nicht in der beschleunigten, komplexen Welt bestehen zu können. Ihren Maßstab für das, was »richtig« ist, finden sie auf den Anzeigen ihrer Apps und Tracker, vor allem aber auf den Profilseiten befreundeter oder bewunderter Nutzer von Social-Media-Plattformen. Regelmäßig konsultieren sie online die aktuellen Fotos, Videos und sonstigen Beiträge ihrer Mitmenschen. Diesen entnehmen sie den Standard, dem sie entsprechen wollen. Übertreffen wollen sie ihn meist nicht. Standard reicht. Und posten sie dann die Ergebnisse ihrer eigenen Optimierungsanstrengungen, setzen sie neue Standards, an denen sich wiederum andere orientieren. Das Internet ist eine gigantische Vergleichs- und Angleichungsmaschine. Sie verleitet dazu, das zu sein, was andere sind, und das zu wollen, was andere wollen – dazu, sich freiwillig fremdbestimmen zu lassen.

»Mimetisches Begehren« nannte der französische Kulturanthropologe René Girard das Phänomen, dass Menschen das begehren, was auch andere begehren. Laut Girard orientieren sich Menschen nicht an inneren Bedürfnissen, sondern daran, was andere, insbesondere die Personen aus der eigenen Bezugsgruppe, mögen oder anstreben. Ihr Verhalten wird gesteuert vom Begehren der anderen. Bei den Digital Natives ist das Nachahmungsverhalten mit dem Wunsch verbunden, möglichst nicht aus der Peergroup herauszustechen. Deshalb kleiden und stylen sie sich wie die anderen, kaufen die gleichen Dinge und Marken, hören dieselbe Musik, verehren dieselben Stars und wählen dieselbe Partei wie ihre Freunde. Der deutsch-amerikanische Investor Peter Thiel beklagt den Konformismus, sowohl im Netz als auch innerhalb der Start-up-Szene. Dabei hat er finanziell mit am stärksten vom Mimesis-Effekt profitiert. Und er hat ihn sogar entscheidend befördert. Während der 1990er Jahre hörte Thiel an der Stanford University im Herzen des Silicon Valley Vorlesungen bei René Girard, wurde zum Bewunderer des Anthropologen und rief ihm zu Ehren das Mimesis-Forschungsinstitut Imitatio ins Leben. Wesen und Wirkung des mimetischen Begehrens haben Thiel fasziniert. Er erkannte unmittelbar das Potenzial, das darin steckt. Bereits für seine Studentenzeitung und für sein Start-up PayPal umgab er sich mit Gruppen junger weißer, mathematisch intelligenter, tech-affiner Männer, die sich aneinander orientierten und gegenseitig zu Erfolgen anstachelten. Noch bevor andere Investoren den Namen Zuckerberg überhaupt gehört hatten, war Thiel klar, dass sich dessen Idee, Freunde digital zu vernetzen, monetarisieren lässt. Der gewiefte Investor schätzte die fruchtbringende Dynamik richtig ein, die losgetreten wird, sobald sich Menschen über eine virtuelle Plattform anfreunden, sich darüber vergleichen und ein Begehren in dieselbe Richtung entwickeln. Als erster Geldgeber steckte der Girard-Anhänger 2004 eine halbe Million US-Dollar in das Start-up Facebook. Und Thiel beriet den 20-jährigen Gründer Mark Zuckerberg beim Aufbau der Plattform. Der immense Erfolg von Facebook mit rund 2,5 Milliarden monatlich aktiven Besuchern im September 2019 beweist, dass sich auf Basis des mimetischen Begehrens eine gigantische Manipulationsmaschine anwerfen und ein florierender Handel mit Daten rund um zwischenmenschliche Dynamiken entfachen lässt.

Menschen interessieren sich für Menschen. Diese einfache Formel wird seit jeher wirtschaftlich und politisch ausgeschlachtet. Neu sind die technologiegetriebene Globalisierung und die Beschleunigung, mit der das nachahmende Begehren seine Wirkung entfalten kann. Neu ist auch die personen-, zeit- und ortsgenaue Modulierbarkeit des Begehrens. Das Girard’sche Phänomen eröffnet Tech-Firmen Möglichkeiten, die noch längst nicht ausgeschöpft wurden. Mit immer neuen Vergleichsmöglichkeiten – über Bewertungs-, Empfehlungs- oder Bearbeitungstools – stacheln die Betreiber von Plattformen wie Facebook, Instagram, WhatsApp, Twitter, YouTube oder TikTok die Nutzenden dazu an, sich an äußeren Standards zu orientieren. Dass ihre Vorbilder, ob Verwandte, Freunde oder Superstars, stets nur einen Klick entfernt sind, regt sie dazu an, ihnen nachzueifern, so zu werden wie sie. Sie optimieren sich selbst und ihre Leben anhand der Vorlagen. Aber die Perfektion tritt nie ein. Das soll sie auch gar nicht. Die Plattformbetreiber profitieren davon, dass die Prozesse von Anpassung und Selbstoptimierung unendlich sind. Somit werden die Nutzenden dauerhaft online und in Bewegung hin zu einem unerreichbaren Optimum gehalten. Das Bemühen um Anpassung an Ideale, Stars, Marken oder Meinungen hat zwei Effekte: Die Menschen werden einander immer ähnlicher. Und die Konsumgüter-, Werbe- und Tech-Industrien verdienen enorme Summen daran.

Im elektronisch geprägten Global Village wird Individualität mehr und mehr zugunsten einer kollektiven Identität aufgegeben. Diese Entwicklung hat der Medientheoretiker Marshall McLuhan bereits Anfang der 1960er Jahre vorausgesagt. Junge digital Vernetzte ähneln in ihrem Erscheinungsbild und ihrem Habitus den prominenten Vorbildern und den Mitgliedern ihrer Bezugsgruppe immer mehr. Der Angleichungs- und damit verbundene Simplifizierungsmechanismus zeigt nicht nur bei Äußerlichkeiten Wirkung. Auch Meinungen werden zunehmend uniform. Dass Menschen dieselben Ansichten zu politischen oder anderen Themen haben wie die übrigen Vertreter aus ihrer Community, wird maschinell unterstützt. Dank algorithmisch erzeugter Filterblasen kommen sie online überhaupt nicht mehr mit Standpunkten anderer Gruppen in Kontakt. Abweichende Meinungen blendet der Plattform-Algorithmus nicht ein. Dadurch kreisen die Nutzenden in den ihnen zugewiesenen Meinungsblasen nur um sich selbst und umeinander. Dass ihnen dabei nicht schwindelig wird, liegt nur daran, dass sie sich an derlei technologisch bedingte Selbstumdrehungen bereits gewöhnt haben. Sie erleben auch ständig, wie die virtuelle Welt sich über ihre reale Welt legt und zu ihrer neuen Wirklichkeit wird.

Die menschliche Wahrnehmung verändert sich. Neue Technologien kapern Gehirne und Körper. Sie schieben sich zwischen Ich und Welt, seit Menschen permanent online sind. Und beide an dieser Überwältigung beteiligten Parteien, die Firmen, die die Technologien entwickeln, und die Menschen, die sie nutzen, profitieren davon – jedoch auf völlig unterschiedliche Weise. »Soziale« Online-Medien, lernende Algorithmen, smarte Infrastrukturen, virtuelle Realitäten oder Neuroprothesen wirken stark auf das Selbstverständnis und auf die zwischenmenschlichen Beziehungen der Menschen ein. Neue Technologien krempeln die Machtverhältnisse um – in den Köpfen der Einzelnen und in der Gesellschaft. Der Rahmen des individuellen Erlebens und des kollektiven Zusammenlebens wird durch die Innovationen weniger mächtiger Tech-Firmen komplett neu abgesteckt. Auf einmal irrlichtert das Individuum in einer Zwischenzone von Selbst- und Fremdbestimmung herum. Und die Gesellschaft befindet sich in einem Paradigmenwechsel, seit Privatkonzerne psychologisches und soziales Design über Daten und Technologien betreiben.

In dieser Zeit der Übergänge sollten Bürgerinnen und Bürger sowie diejenigen, die politisch (noch) für sie verantwortlich sind, das Unerwartete tun. Die Reaktion auf die fundamentale Okkupation des Menschen durch Tech-Konzerne sollte das Gegenteil braver Anpassung an die technologischen Erfordernisse sein. Der dreiste Zugriff der Bereitsteller innovativer Technologien verlangt umfassendes Neudenken und groß angelegtes Gegenlenken. Statt Fragen in Suchmaschinen zu tippen, sollten sich Menschen zunächst einmal selbst infrage stellen und fragen: Was ist der Mensch? Was will er? Wohin treiben ihn neue Technologien? Was machen diese mit und aus ihm? Denkt und fühlt der elektronisch vernetzte Mensch noch selbstständig? Kann er wollen, was er will? Oder wird sein Wollen unmerklich gelenkt? Ist er fähig, sich für oder gegen etwas zu entscheiden und nach freiem Willen zu handeln? Oder wird er technologisch fremdbestimmt? Agiert er unter dem Einfluss von Pop-ups, Link-Hierarchien, Amazon-Sternen, Twitter-Kommentaren oder YouTube-Influencern noch als er selbst? Wie frei ist ein Mensch, wenn er zunehmend von smarten Geräten, Apps, Algorithmen und Robotern abhängt oder davon, dass ihm sein Gehirnchip Impulse sendet? Online-Nutzenden werden permanent manipulative Entscheidungsarchitekturen und algorithmische Reize untergejubelt. Oft reagieren sie prompt und pawlowsch und bestätigen damit die Reiz-Reaktions-Muster, auf die hin sie programmiert werden sollen. Indem sie sich wie Automaten verhalten, untergraben sie, was sie zu freien Wesen macht.

Unterliegt der Mensch, der mit Technologien umgeht, einem fremden Willen? Für viele Philosophen ist der Wille untrennbar mit Freiheit verknüpft. Seine Freiheit erlaubt es dem Menschen, so zu entscheiden und zu handeln, wie er will. Ein freier Wille bedeutet zwar nicht völlige Unabhängigkeit von allem und jedem. Aus philosophischer und naturwissenschaftlicher Sicht existiert keine unbedingte Willensfreiheit. Der Wille eines Menschen ist immer durch irgendetwas bedingt, seine Gene, seine Erziehung, seine Begegnungen, einen plötzlichen Gefühlsausbruch oder 8,2 gelbe Sterne für den Filmklassiker The Manchurian Candidate. Aber der Wille kann bedingt und zugleich frei sein. Ein bedingt-freier Wille zeigt sich, wenn eine Person sich bewusst für das eine entscheidet und somit gleichzeitig auf das andere verzichtet; sie wählt die Selbstbeschränkung freiwillig. Jemand kann aus freien Stücken dieser und nicht jener Pop-up-Werbung folgen und das Beworbene bestellen, etwa ein Buch über den menschlichen Willen. Jemand kann seinen Willen auch freiwillig einem Moralgesetz unterwerfen, so wie es Immanuel Kant im Zusammenhang mit dem kategorischen Imperativ erläutert.

Freiheit ist keine Illusion. Sie wirkt und hat Folgen. Selbst wenn alles determiniert wäre, auch das Verhalten von Menschen, so ist Freiheit nicht determiniert – jedenfalls nach Kant nicht. Für Kant ist der Wille dann frei, wenn ein vernunftbegabtes Wesen eine sinnvolle Begründung dafür vorweisen kann. Die Begründung selbst erfolgt in Freiheit und nicht durch etwas qua Naturgesetz kausal Vorgegebenes. Dadurch ist freier Wille kein fremdbestimmter Wille. Nach Kant ist der freie Wille genau das Gegenteil von Fremdbestimmung – er ist Ausdruck der Autonomie und der Beweis dafür, dass hier ein Mensch agiert. Freiheit erfordert allerdings auch Wahlmöglichkeiten. »Freiheit ist ein objektiver Zustand von Organismen (…). Er ist dadurch charakterisiert, daß dem Organismus eine ›hinreichende‹ Anzahl von Verhaltensoptionen mit ›hinreichend‹ positiver Erwartung für ihre Folgen offensteht«, schrieb der Genetiker und Neurobiologe Martin Heisenberg in seinem Buch Initiale Aktivität und Willkürverhalten bei Tieren von 1983. Ohne Auswahl bringt der freie Wille wenig. Ein Mensch im Gefängnis kann eben nicht zwischen einem Strandspaziergang und einem Teestündchen bei seiner Großmutter wählen. Der Mangel an Optionen macht ihn unfrei. Sein Wille kann sich nicht frei entfalten.

Sind Autonomie und Willensfreiheit überhaupt wünschenswert? Oder sind sie bloß anstrengend? Diese Fragen wird jeder unterschiedlich beantworten. Höchst problematisch ist es allerdings, wenn das, was für Willensfreiheit gehalten wird, sich als deren genaues Gegenteil erweist – als ein fremder Wille, den Menschen zu ihrem eigenen machen. Genau dieser Fährte folgt das vorliegende Buch. Es fragt danach, warum Menschen sich über die technologischen Bewusstseinsschablonen, denen sie sich täglich aussetzen, fremdbestimmen lassen. Beleuchtet wird, wie der Gebrauch elektronischer Geräte und Dienste das menschliche Denken, Fühlen und Handeln beeinflusst. Es wird der Frage nachgegangen, welcher Part dabei den Nutzenden zukommt. Geben sie ihren freien Willen etwa freiwillig auf? Und begehen sie damit Verrat am Menschsein, an der Gesellschaft, an der Freiheit und sogar an sich selbst? Oder werden sie vielmehr zum Selbstverrat gedrängt? Von wem? Auf welche Weise, zu welchen Zwecken und mit welchen Folgen für das Individuum werden menschliche Hirne und Körper in Beschlag genommen? Und wie formen neue Technologien die Strukturen der Gesellschaft um? Welche Rolle spielen dabei die Vertreter der US-amerikanischen und der chinesischen Tech-Industrie, die wohl die größten Profiteure der Modellierung von Menschen und deren Umgebung sind?

In den Tech-Hochburgen in den USA und in China werden Mechanismen erschaffen, die ihre mächtigen Kontrolleure wie im Schlaf bereichern. Die Strategen der Technologiefirmen brachten normale Leute nicht nur dazu, in allen Lebenslagen online zu sein, so dass inzwischen ganze Generationen an Mobilgeräten hängen wie Junkies an der Nadel. Sie haben sie überdies in ihre monströse Vergleichs- und Angleichungsmaschinerie hineingezwungen. Soziale Medien im Westen und das Sozialkreditsystem in China wurden dazu geschaffen, Menschen nicht nur physisch, sondern auch mental und emotional miteinander zu vernetzen, so dass sie sich gegenseitig manipulieren können – stets im Glauben, ein »Freund« habe sie »informiert« und keine ferne, fremde dritte Instanz. Neue Technologien verbessern die Lebensbedingungen weltweit und sie erleichtern den Alltag erheblich. Doch in den Händen der falschen Personen können sie sich verheerend auf die Menschheit auswirken. Wer die Daten und die datenverarbeitenden Technologien kontrolliert, kann Gott spielen. Es ist ein kleiner Kreis von tech-gläubigen Tycoons, der die Macht über die zukunftsentscheidenden Daten und Technologien hat. Das sind libertäre, das heißt wirtschaftsliberal und antistaatlich denkende, extrem reiche Manager von der US-Westküste sowie US-Geheimdienstler. Und das sind chinesische Staatsfunktionäre und Manager der wichtigsten chinesischen Privatkonzerne. Sie arbeiten darauf hin, ihre eigenen Instrumente zur Lösung aller menschlichen Probleme einzusetzen. Sie arbeiten daran, alles, was automatisiert werden kann, zu automatisieren und elektronisch zu vernetzen, weil sie darüber die Geschicke anderer Menschen lenken können.

Verfolgt die US-Tech-Elite ihre Pläne ungebremst weiter, so droht der westlichen Welt ein ähnliches Szenario, wie es in China bereits Realität ist. Unter dem radikalen Tech-Strategen, dem Staatspräsidenten Xi Jinping, hat die chinesische Regierung sich selbst dazu ermächtigt, ab 2020 alle Bürger permanent über ein Sozialkreditsystem zu überwachen und sie mittels Belohnungen und Bestrafungen dahin zu steuern, wohin sie sie haben will. Ein vergleichbares System wäre auch im Westen umsetzbar. Die dazu nötigen Gesichts-, Stimm- und Bewegungserkennungssysteme, die datenverarbeitenden Technologien, die Plattformen und der Vernetzungsgrad sind in Silicon Valley vorhanden. Ihr Umgang mit neuen Technologien macht aus Menschen relativ problemlos beschränkte und berechenbare Kreaturen. Doch anders als in China sind die elektronisch vernetzten Westler keine Opfer der Hard- und Software-Kontrolleure – jedenfalls nicht nur. Indem sie tagein, tagaus Geräte, Apps oder Dienste nutzen und den algorithmischen Reizen Folge leisten, agieren sie wie Komplizen der großen Tech-Konzerne. Sie machen sich freiwillig maschinenähnlich. Sie verhalten sich wie die gleichgeschalteten Wesen, für die der Konformitätskritiker Peter Thiel nur ein müdes Lächeln übrighat.

Silicon-Valley-Manager à la Thiel halten sich für eine überlegene Elite und benehmen sich auch so. Während sie es sich anmaßen, technologisch auf die Schicksale anderer Menschen einzuwirken und diese zu lenken, reagieren sie selbst höchst allergisch auf Versuche, sie zu bevormunden. Sie lassen sich nicht fremdbestimmen, auch nicht von irgendeinem Staat. Als Libertäre wehren sie sich dagegen, dass jemand in ihre ökonomischen und technologischen Vorhaben hineinregiert. Sie wünschen nicht, gestört zu werden, wenn sie ihre technologischen Infrastrukturen weiter ausweiten, Geräte, Dinge und Menschen miteinander vernetzen und sich dafür präparieren, die Kontrolle über Köpfe und Körper zu übernehmen. Ein Schlüssel zum Verständnis der Welteroberungspläne mächtiger Tech-Vertreter aus der San Francisco Bay Area und aus Seattle liegt in ihrem Zwei-Klassen-Menschenbild und ihrer rationalistisch-materialistischen Weltsicht. Wer die Philosophie der US-Tech-Elite begreift, lernt einzuschätzen, warum hohe Kapitalsummen in ganz bestimmte Technologien fließen, nach welchen Prinzipien Algorithmen programmiert und zu welchen Zwecken KI, Roboter, Drohnen oder Neuroprothesen eingesetzt werden (sollen).

2009 appellierte ich in meinem Buch No Economy – Wie der Gratiswahn das Internet zerstört an die Nutzenden, den verführerischen Gratisangeboten der Internetkonzerne zu misstrauen. Ich riet dazu, den Firmen die eigenen digitalen Ergüsse, Texte, Töne, Fotos oder Filme sowie persönliche Daten nicht leichtfertig zu überlassen. Doch von den Wundern der Online-Welten verständlicherweise verführt, schenkten die kreativen und weniger kreativen Menschen aus aller Welt den Valley-Unternehmen wertvolle Inhalte sowie Einblicke in ihre Intimleben. Als Gegenleistung bekamen sie, bis auf wenige Influencer, kein Geld. Aber sie erlebten einen Zuwachs an Bequemlichkeit, Schnelligkeit und Vernetzungsmöglichkeiten. Zu Nullpreisen gelangten sie auf einmal an Informations- und Unterhaltungsangebote in teils hoher Qualität und in gigantischen Mengen. Seither geschah wenig Überraschendes. Das allen frei zugängliche »Mitmach-Internet« wurde von Konzernen zu Wirtschaftszwecken vereinnahmt. Aus der anfänglichen Vielzahl konkurrierender Internetfirmen gingen nur wenige Sieger und Abräumer hervor, die sich heute als halbwegs friedlich koexistierende Monopolisten den Markt aufteilen. Innerhalb von bloß zehn Jahren entstanden in der westlichen Welt fünf Tech-Giganten: Apple, Microsoft, Alphabet, Amazon und Facebook – gelistet in der Reihenfolge ihrer Marktkapitalisierung. Sie gehören zu den 30 wertvollsten Unternehmen der Welt. Ihr Finanzkapital, die Volumina der von ihnen verwalteten Daten, ihre Innovationskraft und ihre stringenten Wachstumsstrategien machen sie zu globalen Schwergewichten. Sie haben das Potenzial, immer mehr wirtschaftliche und soziale Macht an sich zu ziehen und subtilen psychologischen Einfluss auf Individuen auszuüben. Mithilfe gigantischer Datenmengen entstehen in den Tech-Konzernen Instrumentarien, die jeden Menschen so leicht programmierbar machen wie einen Datensatz. Gegen die Wettbewerber aus China konkurrieren die Spitzenkonzerne aus den USA darum, wer die Zukunft der Menschheit und der Welt modellieren wird.

Zu durchschauen, wie die Tech-Elite tickt, heißt zu begreifen, wohin die wirtschaftliche, politische, militärische und gesellschaftliche Zukunft gesteuert wird. Wer sich nicht zum Opfer macht, sich seines gesunden Menschenverstandes bedient und das Wissen, die Wut, den Mut und die Tatkraft dazu aufbringt, sich zu wehren, kann gerade noch rechtzeitig gegenlenken. Der oft vorgebrachte Satz angesichts der permanenten Datensammelei, »ich habe doch nichts zu verbergen«, ist naiv und kurzsichtig. Menschen dürfen sich nicht über Algorithmen fremdbestimmen lassen. Sie dürfen sich ihren Willen nicht diktieren und sich nicht zu Maschinen herabwürdigen lassen. »Du bist eine Maschine!« ist kein Kompliment. Menschen sollten sich auf ihr facettenreiches Menschsein besinnen. Trotz aller Komplexität sollten sie zu verstehen versuchen, was gerade in den Tech-Konzernen der Welt vor sich geht. Schnellstmöglich sollten sie ihre Köpfe und Körper dem Zugriff fremder Einwirkungen entziehen und den Tech-Manipulierern selbstbewusst gegenübertreten.

Lest! Informiert euch! Erfahrt, wer euch wie und warum zu einem »Internet der Menschen und der Dinge« vernetzen will. Begreift, dass eure Unabhängigkeit zur Disposition steht! Geht raus auf die Straßen und behauptet eure Eigenständigkeit! Fordert Technologien, die euch befreien, statt euch gleichzuschalten! Beweist euren freien Willen!

Der Bogen, den das Buch schlägt, beginnt bei den Nutzenden und Nutznießenden technologischer Errungenschaften und ihrer freiwilligen Komplizenschaft mit den Tech-Erfindern. Gezeigt wird, warum Menschen sich gerne von Tech-Konzernen abhängig machen und was dadurch mit ihrem Denken, Fühlen, Wollen und Verhalten passiert. Der Bogen endet mit Gründen dafür, warum sie gegenlenken sollten und den Auswegen, die ihnen dazu offenstehen. Im Fokus stehen vielfältige Vorschläge, wie Menschen ihre Willens- und Handlungsfreiheit zurückerobern können, ohne dabei auf die Vorteile neuer Technologien verzichten zu müssen.

Das 1. Kapitel DIE BERECHENBAREN zeichnet nach, wie Menschen der Generationen Y und Z sich abmühen, vorgegebene Standards zu erreichen und ihnen gemäß zu funktionieren, weil sie glauben, anders nicht in einer komplexen Welt bestehen zu können. Darüber hinaus zeigt es die Licht- und Schattenseiten zweier Metiers auf, die mit der Internetära aufkamen: das der Influencer und das der Start-up-Unternehmer.

Kapitel 2 INZUCHT IN ÖKOSYSTEMEN erläutert die Strukturen des Tech-Ökosystems Silicon Valley im Vergleich zu den Strukturen der Tech-Industrie in China. Vorgestellt werden die wichtigsten Berufsgruppen und ihre mächtigsten Vertreter, die, teils kompetitiv, teils kooperativ, die Technologien der Zukunft entwickeln.

Im 3. Kapitel HERREN DER RINGE SPIELEN STRATEGIESPIELE IN DER MATRIX geht es um die Menschen hinter den manipulierenden Technologien. Erläutert werden deren persönliche Lebensphilosophien sowie ihre Vorstellungen vom Zusammenleben in der Gesellschaft. Zum besseren Verständnis der elitären Haltung vieler Akteure aus der US-Tech-Szene wird auch ein Blick in deren Privatleben geworfen.

Das 4. Kapitel TECHIES WERK UND NUTZERS BEITRAG zeigt anhand von fünf Schlüsselbereichen: a) Trackern, b) Social Media, c) künstlicher Intelligenz, d) smarter Vernetzung sowie d) Biohacks und Neuroimplantaten, wie Technologien das Denken und Entscheiden der Menschen umgestalten. Entwickler arbeiten darauf hin, Menschen möglichst übergangslos mit Technologien zu verbinden, wodurch sie immer genauer beobachtbar und steuerbar werden. Für das Gelingen der Verschmelzung von Mensch und Maschine sind die innovativen Tech-Eliten keineswegs allein verantwortlich. Sehenden Auges und aus eigenem Antrieb tragen die Nutzenden ihren Teil dazu bei, sich zu Elementen von technologischen Infrastrukturen zu machen.

Das Schreckensszenario rund um die Fremdsteuerung des Willens wird im 5. Kapitel WILLENSABGLEICH analysiert. Doch dabei bleibe ich nicht stehen. Auf der Grundlage eines freiheitlichen Menschenbildes möchte ich dazu anregen, nach individuellen und nach demokratischen Lösungen zur Befreiung aus der Gängelung durch Technologien zu suchen. Im Vordergrund stehen nicht so sehr Forderungen nach Regulierung als vielmehr Diskussionen. Es geht um Ideen, wie Menschen der Übermacht der Maschinen und deren Kontrolleuren trotzen können, ohne auf sie verzichten zu müssen.

KAPITEL 1Die Berechenbaren

1. Beeinflusste Influencer

Digitalisierung und Robotisierung werden viele Berufsbilder abschaffen. In den Bereichen Fertigung, Verwaltung, Betriebstechnik, Verkehr und Logistik ersetzen computerisierte Prozesse nach und nach menschliche Arbeitskräfte oder zwingen Menschen dazu, mit Robotern oder Cobots, kollaborativen Robotern, zusammenzuarbeiten. Gleichzeitig entstehen neue Berufe und denen, die dafür aufgeschlossen sind, eröffnen sich neue Chancen. Ab der Jahrtausendwende entwickelten sich mit und durch das Internet zwei populäre Berufsbilder, die so bald nicht aussterben werden: das des Influencers und das des Start-up-Gründers. Diese beiden sehr unterschiedlichen Betätigungsfelder spiegeln wider, was technologische Neuerungen berufstätigen Menschen abverlangen, aber auch ermöglichen. Sie illustrieren, dass individuelles Arbeiten und Leben in einem globalen Kontext stattfindet und von globalen Konzernen geprägt wird.

Junge Menschen mit Talent zur (Selbst-)Darstellung, die einst Schauspieler oder Moderatoren werden wollten, werden heute Influencer. Und wer früher eine Karriere als Investmentbanker oder Unternehmensberater reizvoll fand, gründet heute ein Start-up oder übernimmt in der Gründerszene eine andere führende Rolle. Gerade an den Berufen, die junge Menschen mit Gestaltungswillen wählen, lässt sich ablesen, welche Ansätze und Mittel die Gegenwart ihnen bietet, um ihre Umwelt erfassen und in ihr triumphieren zu können. Sie offenbaren außerdem, an welchen Rollenmodellen sich die Jugend einer Generation orientiert.

Die große Glättung

Influencer sind Persönlichkeiten mit überdurchschnittlich vielen Followern oder Fans auf Social-Media-Plattformen. Sie beeinflussen andere, indem sie sich selbst via YouTube-Videos, Instagram-Fotos oder Blog-Postings in Szene setzen, um Kleider, Games, Reisen, Koch- oder Lebensrezepte zu empfehlen. Influencer erhalten Werbeverträge von Unternehmen, die ihnen das zu Vermarktende bereitstellen und sie mit Geld- oder Sachleistungen dafür honorieren, dass sie deren Güter über ihre Online-Kanäle anpreisen. Der Charme vieler Influencer-Postings besteht darin, dass sich hier normale Leute zeigen. Wenn authentisch wirkende Menschen von ihren Wohnzimmern aus Empfehlungen abgeben, folgen ihnen verblüffend viele Follower. Die Marketing-Industrie und Plattformbetreiber wie Facebook, Instagram, Snapchat oder YouTube leben vom Echtheits-Bonus der Influencer. Profitiert wird auch davon, dass die Influencer-Szene so jung ist wie ihre jüngste Werbezielgruppe, die 14- bis 25-Jährigen.

Nicht alle Influencer und Follower wollen gewöhnlich aussehen. Vor allem junge Frauen bedienen sich bildverändernder Apps, um sich in digitale »Schönheiten« zu verwandeln. Der multimediale Messenger Snapchat oder die chinesische Video-App TikTok bieten Verschönerungsfilter, mit denen sich auf Portraitfotos Augen verändern, Wangen und Lippen aufpumpen oder Gesichtern glatte Haut oder makelloses Make-up verpassen lassen. Eifern junge Menschen Influencern als ihren Schönheitsidealen nach und setzen sie »Verschönerer« ein, wirken die Ergebnisse auf die Selbstwahrnehmung verzerrend. Die Selbstverwandlungen mithilfe technischer Tools befördern die Ausprägung dessen, was der britische Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald Winnicott in den 1960er Jahren als »falsches Selbst« bezeichnet hat. Demnach bauen jüngere Menschen die imaginierten Erwartungen von anderen Leuten in das eigene Selbstkonzept ein. Sie hoffen, dass die Karikaturen ihrer selbst im digitalen Freundeskreis positive Resonanz auslösen, ihnen Klicks, Likes, Herzchen oder Follower bescheren. Um sich immer erfolgreicher hinter ihrer Maske verbergen zu können, gehen sie ständig online, wo sie von ihren Vorbildern lernen und immer mehr wie diese werden können. Der Selfie-Teufelskreis aus Anpassung und Anerkennungshoffnung hält sie permanent im Netz. Genau das ist das Ziel der Social-Media-Industrie. Mit jedem Klick auf ein Influencer-Posting fließen Werbegelder an einen Plattformbetreiber, und mit jedem Kauf eines Produktes verdient ein werbetreibender Konzern. Außerdem liefern Influencer und ihre Fans neben Bewegungsdaten freiwillig und kostenfrei Fotos, Videos, Kommentare oder anderen Content an die bekannten Tech-Großkonzerne aus den USA sowie zunehmend auch an chinesische Plattformbetreiber, darunter ByteDance, zu dem das Portal TikTok gehört.

Offline ist ein bisschen wie Sterben

Genauso wie die Influencer von Plattformen wie Instagram oder YouTube abhängen, hängen die Plattformbetreibenden von den Influencern ab. Die Firmen wollen sich die Stars unbedingt gewogen halten, weil sie Traffic verursachen, und motivieren sie durch Erlösbeteiligungen. Als bekannt wurde, dass das Urheberrecht der Europäischen Union (EU) reformiert werden sollte, sahen die Spitzenmanager von US-Plattformbetreibern sogleich ihre stillschweigende, nicht klar geregelte Abmachung mit den Influencern als gefährdet an. Der Reformvorschlag erfolgte in der Absicht, Urhebern mehr Verhandlungsmacht darüber zu geben, was mit ihren Kreationen geschieht. Er zielte darauf ab, dem Rechtemissbrauch und der Tendenz zur Intransparenz im Internet entgegenzuwirken und die Produzenten von Inhalten rechtlich zu stärken.

Schon im Vorfeld der Abstimmung über die Gesetzesreform, spätestens aber seit 2018 sorgte der EU-Vorstoß bei den plattformbetreibenden Konzernen für Unruhe. Die Lobbyisten der Big-Tech-Unternehmen in Brüssel zeigten sich alarmiert. Auch im Konzern Google, zu dem YouTube gehört, löste die neue Urheberrechtsreform das Gegenteil von Begeisterung aus. Bei 90 Prozent der Jugendlichen im Alter von 12 bis 19 ist YouTube besonders populär. Sie nutzen die Videoplattform mehrfach pro Woche, nicht nur zum Anschauen von Clips. YouTube gilt nach Google auch als die zweitbeliebteste Suchmaschine in der jungen Zielgruppe. Um gegen Artikel 17 der geplanten EU-Urheberrechtsreform mobil zu machen, gab die CEO von YouTube Susan Wojcicki höchstpersönlich die Influencerin. Doch anders als echte Influencer postete sie kein Video und zeigte sich nicht. Vor und nach der Abstimmung über die Urheberrechtsreform im Europäischen Parlament wandte Wojcicki sich per YouTube-eigenem Blog an die Nutzer. Sie sprach insbesondere die aktiven YouTuber, die Videos hochladenden Influencer an, als sie im Oktober 2018, vier Monate vor der EU-Gesetzesabstimmung, bloggte: Die »wachsende Kreativwirtschaft ist jedoch gefährdet, (…) diese Urheberrechtsgesetzgebung könnte das Internet, wie wir es heute kennen, drastisch verändern. (…) Artikel 13 [später Artikel 17] (…) könnte Millionen von Menschen – von Creatorn wie euch bis hin zu alltäglichen Nutzern – daran hindern, Inhalte auf Plattformen wie YouTube hochzuladen. Und er könnte Nutzer in der EU daran hindern, Inhalte anzusehen, die bereits auf den Kanälen von Creatorn überall verfügbar sind.« Was Susan Wojcicki entwarf, war nichts Geringeres als das Schreckensszenario für alle YouTube-Nutzer – das Aus aller Kanäle. Und sie agitierte weiter: »Bitte nehmt euch einen Moment Zeit, um euch über die möglichen Auswirkungen auf eure Kanäle zu informieren und dann umgehend zu handeln. Erzählt der Welt in den sozialen Netzwerken (#SaveYourInternet) und auf euren Kanälen, warum die Kreativwirtschaft wichtig ist und wie sich diese Gesetzgebung auf euch auswirken wird.«

Zu dem von Wojcicki in ihrem Blog erwähnten Hashtag gehört die Internetseite savetheinternet.info. Diese wurde in den Wochen und Tagen vor der Urheberrechtsabstimmung millionenfach angeklickt und wirkte wie ein Element einer größer angelegten viralen Kampagne. Mitten auf der Seite savetheinternet.info sitzt ein Button. Ein Klick führt zur zugehörigen Petition auf der Seite change.org mit weiteren Forderungen. Unter dem Motto »Stop the censorship-machinery! Save the Internet!« wird man um Unterzeichnung für die Petition gegen die EU-Reform gebeten. Die Kampagne hatte große Wirkung vor allem bei jungen Nutzenden. Bis vor der Abstimmung in Brüssel wurden rund 5 Millionen Unterschriften für die Petition »Stoppt die Zensurmaschine – Rettet das Internet!« gesammelt. Und am Samstag vor der EU-Abstimmung protestierten bis zu 200 000 vorwiegend junge Menschen in europäischen Großstädten für das Anliegen »Rette Dein Internet«. Die meisten davon demonstrierten in Deutschland. In München sollen rund 40 000 und in Berlin rund 10 000 auf die Straße gegangen sein. Die Reizwörter »Kreativwirtschaft«, »gefährdet« oder »hindern«, die die YouTube-Chefin in ihrem Alarm-Blog verwendete, wurden bei den Protesten häufig wiederholt. Auf Plakaten war außerdem zu lesen: »Macht unser Internet nicht kaputt«, »Das Internet bleibt, wie es ist«, »Berlin gegen 13«, »Fuck me – not my Internet«.

Die Mobilisierung der jungen, gegen die EU-Reform protestierenden Zielgruppe war zahlenmäßig ein voller Erfolg. Die Abstimmung selbst war es für die Manager der Plattformbetreiber und andere Reformgegner allerdings nicht. Am 26. März 2019 befanden sich die Befürworter der EU-Urheberrechtsreform knapp in der Mehrheit. Fast zwei Monate nach der Verabschiedung der Reform, am 20. Mai 2019, äußerte YouTube-CEO Wojcicki sich erneut per YouTube-Blog: »Eure Aktionen haben bereits zu der beliebtesten Petition der Geschichte auf Change.org geführt, die Menschen aus aller Welt zusammengebracht hat. Dies ist nicht das Ende unserer Bewegung, sondern erst der Anfang.« Die Argumente der YouTube-CEO fallen auf fruchtbaren Boden. Blogger, Influencer und Nutzer lieben ihre Gratis-Up- und -Download-Plattformen; sie lieben »ihr« Instagram, YouTube oder TikTok. Auf ihre tägliche Dosis In- und Output wollen sie keinesfalls verzichten. Deshalb gingen sie auf die Straßen und unterschrieben die Petition gegen ein Gesetz, das Urhebern von Inhalten mehr Autonomie und Rechtssicherheit statt weniger verschaffen soll. Statt sich für Transparenz, Freiheit und ihre (Urheber-)Rechte einzusetzen, demonstrierten sie dagegen und stärkten die Macht der datensammelnden Konzerne, die sich an ihren Online-Aktivitäten bereichern.

2. Die Monotonie der Stereotypen

Die Pioniere aus dem kalifornischen Silicon Valley, die ihre Garagenfirmen zu Weltkonzernen ausgebaut haben, sind für Start-up-Gründende in aller Welt Idole. Zu den älteren Vorbildern zählen der Microsoft-Gründer Bill Gates oder der Mitgründer von Apple, Steve Jobs. Zu den jüngeren gehören Larry Page und Sergey Brin, die 1998 Google gegründet haben, Elon Musk, der 1998 PayPal und später Tesla, SpaceX oder OpenAI mit aufgebaut hat, oder der 1984 geborene Facebook-Gründer Mark Zuckerberg. Diese durchweg männlichen Gründer von der US-Westküste sind für Start-up-Hungrige die lebenden Beweise dafür, dass es möglich ist, mit Freunden, dem Internet und einer Geschäftsidee reich und einflussreich zu werden.

Homogene Szene, homogene Projekte

Der Kult um junge Entrepreneure und das internationale Flair der Szene wirken auf Gründungswillige, ob sie unternehmerisch begabt sind oder nicht, anziehend. Doch in die Start-up-Welt kommt nicht jeder einfach so hinein. Man muss schon eine sehr gute Idee und idealerweise obendrein Eigenkapital und Beziehungen mitbringen, um vorgelassen zu werden. Am besten ist man so wie die, die bereits in der Start-up-Szene drin sind: männlich, jung, gescheit und hervorragend vernetzt.

Wer im deutschsprachigen Raum reüssieren will, sollte an der Universität St. Gallen (HSG) oder an einer der beiden deutschen Privathochschulen, der European Business School (EBS) in Oestrich-Winkel oder der WHU – Otto Beisheim School of Management in Vallendar, studiert haben. Obendrein sollte man ein Auslandssemester an einer Spitzen-Universität und ein Trainee-Programm bei einer internationalen Investmentbank oder Beratungsfirma oder einem Top-Tech-Konzern absolviert haben. »Wenn du jung bist und noch keine Familie hast, kannst du problemlos gründen. Du hast ja nichts zu verlieren«, sagte Marc Samwer, der Mitgründer des Start-up-Inkubators Rocket Internet, seinem vorwiegend männlichen, jungen Publikum bei der Konferenz Bits & Pretzels im Jahr 2017. Der prominente Gründer aus Köln suggeriert damit, dass nur zum Unternehmensgründer und -führer tauge, wer keine Lebenserfahrung besitze und keine Verantwortung für andere kenne, etwa für eigene Kinder oder für pflegebedürftige Angehörige. So wie in den USA ist auch in Deutschland die Start-up-Szene homogen. Hier wie dort sind Frauen, ältere Menschen, nicht weiße und nicht jüdisch-christliche Personen Randerscheinungen. Von rund 1550 Gründungen in Deutschland im Jahr 2018 würden bloß 15,1 Prozent von Frauen geführt, so die Zahlen des jährlich erscheinenden Deutschen Startup Monitors.

In Finanzierungsrunden in aller Welt punkten Geschäftsmodelle zu den Themen Auto, Food-Lieferung, Putzen, Hemdenbügeln, vernetzte Haushaltsgegenstände, kuratierter Anzugkauf oder Games. Erfolgreiche Gründungen gibt es auch in den Sektoren Bezahl- und Bankenwesen sowie Business Software. Gründungswillige ersinnen Modelle, die dynamischen, unabhängigen und ehrgeizigen Business-Männern gefallen, Männern wie den Finanziers und wie ihren Gründervorbildern. Die Homogenität hemmt allerdings die Ideen- und Innovationsvielfalt. Wo sollen originelle Start-up-Modelle denn herkommen, wenn die Mehrheit der Gründenden so denkt und handelt wie die wenigen Branchenvorbilder?

Den Konformismus in der internationalen Start-up-Welt bemängelt ausgerechnet einer ihrer größten Helden, der deutsch-amerikanische Gründer und Investor Peter Thiel. Der Mitgründer von PayPal und Palantir Technologies sowie Partner der Risikokapitalfirma Founders Fund äußerte sich 2019 in einem NZZ-Interview mit René Scheu über die US-amerikanische Gründerszene: »Der intellektuelle, aber auch der politische Konformismus im Silicon Valley ist zum Schreien. (…) Die Köpfe haben sich gleichgeschaltet. Der eine sagt, was der andere sagt, um ja nicht anzuecken.« Das ist harte Kritik am aktuellen Gründernachwuchs. Bei seinem Einstieg habe es im Valley noch ganz anders ausgesehen: »Es gab diese hohe intellektuelle Intensität und Vielfalt. Es gab gute Leute, die nur darauf warteten, loszulegen, Unternehmer, Investoren, Innovatoren«, schwärmte nostalgisch der mit einem Nettowert von 2,5 Milliarden US-Dollar bewertete Investor im NZZ-Gespräch. In seinem Buch von 2014 Zero to One schreibt Thiel: »Aussehen und Herkunft der Mitarbeiter waren für den Erfolg des Unternehmens egal. Wichtig war nur, dass jeder Neue genauso besessen war wie wir.« Vermutlich investierte Thiel nicht nur wegen des sozio-dynamischen Geschäftsmodells als Erster in das Start-up Facebook, sondern auch deswegen, weil dem jungen Gründer Mark Zuckerberg schon damals die Besessenheit aus allen Poren getrieft haben wird.

Bei einer Dinner-Einladung des Axel-Springer-Geschäftsführers Mathias Döpfner am Rande der NOAH-Konferenz in Berlin 2018 zog Thiel außerdem über europäische und deutsche Konformisten her: »Es ist irgendwie nicht akzeptabel – in Europa, in Deutschland, in Berlin –, ehrgeizig zu sein, mutig zu sein und einfach mal was zu wagen.« Hierzulande gehe es wohl mehr um »Work-Life-Life-Life-Balance«. Es fiel auch ein Satz, der Europäer aufhorchen lässt: »Ich investiere gerne in Menschen, die ehrgeizig sind – und ich sehe in Europa nicht viel davon.« Angesichts seiner Generalabrechnungen fällt ein Kompliment von Thiel umso mehr auf, besonders, wenn es finanzieller Art ist. Zu den wenigen Ehrgeizigen, die Peter Thiel in Europa erspäht hat, zählen die beiden Geschäftsführer des Fintechs N26. In deren Berliner Direktbank, die es erlaubt, Bankkonten per Smartphone zu verwalten, hat er investiert. Dabei weist der N26-CEO Valentin Stalf eine Vita wie aus einem Gründer-Leitfaden auf. Der Wiener Stalf hat in St. Gallen Wirtschaft studiert und für die Samwer-Firma Rocket Internet gearbeitet, bevor er mit dem anderen Wiener Maximilian Tayenthal 2013 die Firma N26 an den Start brachte.

Einhorn-Träumereien

N26 zählt zu den wenigen Einhorn-Unternehmen, die Deutschland vorzuweisen hat. Ein Unicorn ist ein nicht mehr blutjunges Tech-Start-up, das schon vor seinem Gang an die Börse oder vor seinem Vorkauf mit über einer Milliarde US-Dollar bewertet wird. Anfang 2019 kam N26 auf eine Bewertung von 2,7 Milliarden US-Dollar. Diese verdankten Stalf und Tayenthal außer Peter Thiel weiteren internationalen Kapitalgebern wie dem chinesischen Internetgiganten Tencent, der Allianz-Sparte Allianz X, Li Ka-shings Horizons Ventures oder Earlybird Venture Capital. So ein Einhorn hätten viele Gründer gern in ihrem Stall. Doch in Deutschland zieren sich diese milliardenschweren Tiere. Ein Grund für den Einhorn-Mangel mag die von Peter Thiel beobachtete deutsche Schlaffheit sein. Fragt man jedoch die Gründer hierzulande, so liegt die Ursache im fehlenden Wagniskapital, wie der Verband Bitkom 2019 herausfand. Die Branchenumfrage brachte auch ans Licht, dass 27 Prozent aller Geschäftsführer deutscher Start-ups gern ins Ausland umsiedeln würde. Schielt man womöglich nach Silicon Valley? Mit einem Plätzchen dort liebäugeln die meisten internationalen Gründerteams, um bei Vollprofis Kapital aufzunehmen und begleitet von erfahrenen Mentoren ihre Einhörner großzuziehen. Die prominenten Valley-Risikokapitalgeber sind dafür bekannt, nicht mit Wachstumskapital, hoher Risikobereitschaft und besten Szene-Kontakten zu geizen – aber nur, wenn sie jemanden für Szene-kompatibel erachten.

Deutsche und europäische Gründer können jederzeit Hard- und Software, Plattformen oder Applikationen entwickeln, die auf den von Apple, Facebook und Co. bereitgestellten Infrastrukturen aufsetzen und in deren Kosmen funktionieren. Die Schwierigkeit für europäische Gründer besteht aber darin, Technologien und Strukturen auf den Markt zu bringen, die von den Vorgaben der Übermächtigen losgelöst sind. Um eigene wettbewerbsfähige Überstrukturen zu schaffen, benötigt Europa Konzerne mit eigenen Cloud- und Datenbanksystemen, eigenen Algorithmen, eigenen Plattformen und einem verlässlichen Kundenstamm aus aller Welt. Damit aus europäischen Start-ups systemrelevante Unternehmen werden können, die nicht so einfach zu schlucken sind, brauchen junge Gründende starke strategische und finanzielle Partner. Dass das Ökosystem der Tech-Unternehmen in Deutschland nach rund 30 Jahren Internet weiterhin oft »Start-up-Szene« genannt wird, bedeutet wohl, dass viele Mitglieder den Kinder- oder Jungsschuhen noch nicht ganz entschlüpft sind. Es ist Zeit, erwachsen zu werden und sich gegenüber den marktdominierenden Schwergewichten zu emanzipieren (Vorschläge dazu in Kapitel 5).

Beide Hype-Berufe, der des Influencers und der des Gründers, basieren auf digitalen Technologien. Doch sie könnten kaum unterschiedlicher sein, was die Art der Tätigkeit und das Personal anbelangt. Unter den Influencern gelangen neben anderen anerkennungsgierigen Selbstdarstellern auffällig viele junge Frauen zu Ruhm, die mit Fotos oder Videos klassische weibliche Rollenbilder zur Schau stellen. In der Start-up-Welt dagegen dominieren junge Männer, die auf der Basis von Werten wie Freundschaft, Durchhaltevermögen, Härte, Macht und Geld Geschäftsmodelle entwickeln, Investoren umgarnen und Firmen aufbauen. Während Influencer von den Infrastrukturen, Plattformen, Apps und Algorithmen etablierter Player abhängen, versuchen Start-up-Gründer neue Player zu werden.

3. Standardnormalverhalten

Normal zu sein ist das (nicht mehr ganz so) neue Cool. Der Norm zu entsprechen ist eine anerkannte, viel genutzte (Über-)Lebensstrategie. Galt den Jugendlichen der 1960er, 1970er und 1980er Jahre der Individualismus als heiliger Imperativ, so steht er inzwischen ganz unten auf der Agenda. Das Internet mit seinen Möglichkeiten, sich schillernd und individuell zu präsentieren, vermieste den jungen Menschen die Lust an der Besonderheit. Der Spaß am Eigenwillig-Sein verkehrte sich ins Gegenteil. Die Anpassung wurde zur Tugend. Die digital verwöhnten Generationen verzichten auf Umwege und auf alles Abwegige. Statt ihre vielfältigen Off- und Online-Möglichkeiten auszuschöpfen, ziehen sie sich ins Private zurück und gönnen sich Eskapaden nur nach vorheriger Verabredung und Planung. Ihre Abstürze sind gepflegt, zeit- und mengenmäßig eingehegt. Wertet man Drinks und Tattoos als Indikatoren für Abenteuerlust, dann belegt der gesunkene Alkoholkonsum unter US-High-School-Schülern, dass die Jugend sich lieber im sicheren Bereich aufhält, als sich gehen zu lassen. US-Trendforschende berichten auch, dass nach 1995 geborene Amerikaner sich weniger Tattoos und Piercings stechen ließen als die Vertreter der Jahrgänge vor ihnen. Statt sich in Abenteuer zu stürzen, beschränken jüngere Menschen sich auf das Wesentliche und Naheliegende: sich selbst, ihre Familie, Freunde, schulische oder berufliche Aufgaben. Sie wollen nicht auffallen, nicht vom Durchschnitt ihrer Bezugsgruppen abweichen. Viele Teens und Twens denken und verhalten sich angepasst, obwohl sie in der westlichen Welt niemand dazu zwingt – jedenfalls nicht explizit.

Unisex, uniform, uni

Junge Menschen sind auf der Suche nach sich selbst. Sie wollen sich mit etwas identifizieren. »Identifikation«, zusammengesetzt aus den lateinischen Wörtern »idem« für »derselbe« und »facere« für »machen«, bedeutet »Gleichsetzung«. Vorbilder, Familien, Freundesgruppen und Markenartikel bieten Möglichkeiten zur Gleichsetzung. Die Idee einer Identität wirkt besonders auf die Jugend verführerisch. Eine Identität stärkt ihr Selbstverständnis, verheißt ihnen geistige und emotionale Heimat. Gerade unsichere, haltlose Personen mit großem Bedürfnis nach Identifikation öffnen sich für verschiedene Arten der Fremdbestimmung. In der Hoffnung, dass die Kraft einer Marken- oder Gruppenidentität auf sie übergeht, passen sie sich Marken, Menschen und Meinungen an. Dabei riskieren sie, dass ihr verwirrtes, chaotisches, individuelles Ich auf der Strecke bleibt.

Die Stylings junger Menschen sind sichtbare Manifestationen ihres Hangs, sich an äußeren Normen zu orientieren. Streifen, gedeckte Farben, schlichte, klare Unisex-Schnitte und edle Stoffe charakterisieren den Stil des 21. Jahrhunderts, der sich dadurch auszeichnet, dass er sich durch nichts auszeichnet. Man kleidet sich unauffällig – bis zur Beleidigung des Gegenübers schlicht. Wichtig ist allerdings, dass das besondere Label sichtbar oder zumindest von Wissenden erahnbar ist. Der Fashiontrend der Generationen Y und Z wurde 2013 von der New Yorker Trendagentur K-HOLE dann auch folgerichtig Normcore genannt. Der Worthybrid aus »normal« und »hardcore« bringt die Idee der Jugend von Subversion auf den Punkt. Es geht um radikale Normalität. 2013 veröffentlichte K-HOLE den Bericht »Youth Mode: A Report on Freedom«, der zur Bibel internationaler Fashion-Designer und Vordenker großer Marken- und Internetfirmen wurde. Darin beschrieben die fünf damals unter 30-jährigen Agenturgründer und Künstler nicht allein die Mode, sondern die Lebenseinstellung ihrer eigenen Generation. Gemäß K-HOLE suchten Normcore-Anhänger nach der »Freiheit, die in der Nicht-Exklusivität liegt«. »Im YOUTH MODE zu sein garantiert dir die Freiheit, deine Beziehung zur Außenwelt radikal neu auszurichten.« Mit ihrem Trendbericht gehen Greg Fong, Sean Monahan, Emily Segal, Chris Sherron und Dena Yago in Opposition zu dem Apple-Slogan von 1997 »Think Different«, der den Individualismus abfeierte. »Wenn die Regel ,Think Different‘ lautet, ist es das Erschreckendste, als normal angesehen zu werden.« Die »Fallen der Einzigartigkeit« seien »austauschbar«. Normcore, so die Begriffserfinder, sei primär eine Reaktion auf die unzähligen Möglichkeiten der Selbstdarstellung, die vor allem das Internet biete. Die Vertreter von K-Hole empfehlen Normal-Sein als Lebensstrategie. Normcore verheiße, »Freiheit darin zu finden, niemand Besonderes zu sein«, oder: »anpassungsfähig zu sein ist das Einzige, das dich befreit«. Interessante Leute könnten auf ausgefallene Kleidung verzichten, meinen die »Youth-Mode«-Autoren.

Der Normal-Fashion-Trend hat vermutlich viel mit Bequemlichkeit, Pragmatismus und Vorsichtsmaßnahmen zu tun. Normale Kleidung auszuwählen ist unaufwendig. Morgendliche Kreativleistungen vor Kleiderschrank und Spiegel fallen weg. Normcore lässt nichts übrig vom Credo der Punk-Ikone und Individualistin Vivienne Westwood: »Du hast ein interessanteres Leben, wenn du beeindruckende Kleidung trägst.« Die eigenwilligen Westwood-Outfits wollen sexy und nicht unisex, farbig und nicht unifarben sein. Sie haben nichts mit Normen oder Uniformen gemein. »Der einzige Grund, warum ich in der Modeindustrie bin, ist, um das Wort ›Konformismus‹ zu zerstören«, beteuerte Westwood in ihrer Autobiografie von 2014. Ihr Ziel hat sie offensichtlich verfehlt. Seit den 2010er Jahren herrscht das Diktat des Einheitsbreis. Mit Hoodies, Jeans, Sneakers oder Birkenstocks halten sich Normcore-Anhänger für ausgehtauglich. Sie sehen kaum anders aus als junge oder in die Jahre gekommene Silicon-Valley-Nerds.

Der von K-HOLE identifizierte und interpretierte Schlichtheits- und Geschlechtslos-Trend zieht sich derzeit durch alle westlichen Kulturen. Er ebnet kulturelle Unterschiede stilistisch ein. Die globalisierte Jugend sieht auch globalisiert aus. Sie kauft weltweit dieselben internationalen Labels und kleidet sich identisch. Normcore, der Stil der pragmatischen Generationen X und Y, macht kaum Arbeit, bietet kaum Angriffsfläche und verschafft Zugehörigkeit. Das Lob von Kurt Tucholsky: »Bist du auch dämlich, schief und krumm: Du bist ein Individuum«, schreckt nach 1980 Geborene ab. Sie geben zu Protokoll, »wie alle« sein zu wollen, »nichts Besonderes«. Weit seltener als Vertreter der Vorgängergenerationen ringen sie um eine unabhängige Haltung gegenüber anderen und der Wirklichkeit. Sie wagen eher wenig, um weder aufzufallen noch aus ihrer Peergroup herauszufallen. Deshalb kopieren sie bewährte und populäre Mode-, Denk- und Lebensmuster, statt eigene oder unbekannte auszuprobieren.

Alter-Techniken

Die Wechselwirkungen in der globalisierten und digitalisierten Welt sind für das Individuum weder erkennbar noch begreifbar. Voraussagen zu treffen und vorauszuplanen wird immer schwieriger. Zu stark sind politische, militärische, technologische, ökonomische und ökologische Aktionsfelder miteinander verflochten. Eine Gesellschaft, die als Nebenprodukt von Frieden und Fortschritt nicht nur eine unbestimmbare Zukunft, sondern die ständige Gefahr der Selbstvernichtung miterzeugt, nannte der deutsche Soziologe Ulrich Beck »Risikogesellschaft«. In seinem gleichnamigen Buch von 1986 fragte Beck: »Wie können die im fortgeschrittenen Modernisierungsprozess systematisch mit produzierten Risiken und Gefährdungen verhindert, verharmlost, dramatisiert, kanalisiert und dort, wo sie nun einmal in Gestalt ,latenter Nebenwirkungen‘ das Licht der Welt erblickt haben, so eingegrenzt und wegverteilt werden, dass sie weder den Modernisierungsprozess behindern noch die Grenzen des ,Zumutbaren‘ überschreiten?« Diese offenen Fragen werden ausgerechnet einer Generation überlassen, die sich aus öffentlichen Belangen ins Private und ins Internet zurückzieht, die es sich heimelig wünscht und nach Sicherheit strebt.

Deren Vorgängergeneration hat maßgeblich dazu beigetragen, die vielfältigen Probleme und ihre Verflechtungen zu vermehren. Statt selbst aktiv einzulenken, vererbte sie der Jugend die Folgen ihrer Versäumnisse. Handwerkszeug, um sie zu lösen, vermachte sie ihr aber nicht. Die komplexen Herausforderungen verunsichern junge Menschen. Da sie die globalen Ereignisse lokal und persönlich spüren, sich aber in dieser Welt behaupten wollen und müssen, haben sie ihre eigenen Taktiken entwickelt. Das sind die des Ignorierens, des Anpassens und der Konzentration auf persönliche Belange. Klaus Hurrelmann bezeichnete die jungen Menschen bereits 2002 im Rahmen der Shell-Jugendstudie als »Ego-Taktiker«. Dabei betreiben sie genau das Gegenteil. Sie nutzen Alter-Techniken, richten sich nach ihrem »alter«, gemäß dem lateinischen Begriff für das »Andere«, den »Mitmenschen«, das »Gegenüber«.

Während Niklas Luhmann 1984 in Soziale Systeme darstellte, wie »Alter« und »Ego« im Wechselspiel gegenseitiger Beobachtung sowie von Aktion und Reaktion kommunizierten und handelten, um sich zu Lösungen vorzuarbeiten, passen junge Menschen sich dem »alter« an. Sie studieren die anderen, registrieren, was in der Gesellschaft erforderlich ist, und fügen sich unter Verleugnung ihrer Individualität situationsgerecht ein. Da sie jetzt und morgen einigermaßen sicher leben wollen, stellen sie sich auf den globalisierten und vernetzten Arbeitsmarkt ein. Auf ein verschultes Hochschulsystem, internationale Arbeitgeber, Projektarbeit, Automatisierung, Robotisierung, befristete Arbeitsverträge und die Konkurrenz unter Gleichaltrigen reagieren die nachwachsenden Generationen mit Fleiß, Freundlichkeit und Flexibilität bis zur Selbstverleugnung. Junge Menschen spielen das Spiel, das ihnen vorgesetzt wird, mit. Dabei riskieren Sie es, wie Spielfiguren fremdgesteuert werden.

4. Generation Y: »Ich hab nichts zu verbergen!«

Die nach 1980 geborenen Jahrgänge werden in die Generation Y und die Generation Z eingeteilt. Diese spätalphabetischen Bezeichnungen schließen an die Generationenbeschreibung des US-amerikanischen Autors Douglas Coupland an. Sein Roman Generation X von 1991 porträtiert die Kohorte der zwischen etwa 1965 und 1980 geborenen Amerikaner. Vertreter der Jahrgänge von 1980 bis etwa 1995 werden der Generation Y zugeschlagen, wer zwischen circa 1995 und 2010 geboren wurde, zählt zur Generation Z. Die Generation Y erlebte noch eine Jugend ohne Internet und Digitalisierung. Für Mitglieder der Generation Z waren diese Technologien immer schon da.

Als junge Erwachsene haben die Yer, auch »Millennials« genannt, die Terrorattacken am 11. September 2001 in New York, Kriege im Nahen Osten und Wirtschaftskrisen erlebt. Dass ihre Zukunft unsicher ist und Lebensentwürfe nicht zwingend aufgehen müssen, steht ihnen klar vor Augen. Dennoch scheinen Millennials die Zukunft der Weltgemeinschaft unabhängig von ihrer eigenen Lebenswelt wahrzunehmen. Zwischen der großen Außen- und der kleinen Innenwelt, ziehen sie offenbar eine klare Grenze. Vertreter der Generation Y wenden sich von der Politik ab und vertrauen weder Regierenden noch anderen Autoritäten, dafür aber ihren Bezugspersonen und sich selbst umso mehr. Sie haben erfahren, dass Verwandte und gute Freunde, das Offenhalten von Optionen, Selbstzentrierung bei gleichzeitiger Freundlichkeit, Flexibilität und Anpassungsfähigkeit Faktoren sind, die ihnen Handlungsmacht verschaffen und ihnen das Fortkommen erleichtern. Geschickt bahnen sie sich ihre Wege, die sie dahin führen sollen, wo sie sich sicher und wohlfühlen. Die als Optimisten geltenden Millennials sind davon überzeugt, dass ihnen das Beste zusteht. Sehr überzeugt sind sie auch von sich selbst.

In ihrem Generation Me