Mein Freund Johnny - Manfred Kohrs - E-Book

Mein Freund Johnny E-Book

Manfred Kohrs

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Beschreibung

Dies ist die Geschichte einer außergewöhnlichen Freundschaft zwischen Klaus Jankowski und seinem zwei Jahre älteren Freund Hans Schulzke, den er schon bald nur noch Johnny nennt. Beide wachsen ohne Väter in einer kleinen Hafenstadt an der Elbe in einem Barackenlager auf. Von einem Teil der Einheimischen nicht gemocht und von den Wirkungen der Pubertät gefordert, schlagen sie sich durchs Leben.

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Das Buch

Dies ist die Geschichte von Klaus Jankowski und seinem zwei Jahre älteren Freund Hans Schulzke, den er schon bald nur noch Johnny nennt. Beide wachsen ohne Väter in einer kleinen Hafenstadt an der Elbe in einem Barackenlager auf. Von einem Teil der Einheimischen nicht gemocht, schlagen sie sich durchs Leben und werden unzertrennlich. Eines Tages ist Johnny, der von seiner verbitterten Großmutter aufgezogen wird, verschwunden. Für Klaus bricht eine Welt zusammen. In dieser Zeit wendet er sich im Lager einem Mann zu, der von einem Geheimnis umgeben ist. Als Johnny wieder auftaucht, ist er verändert. Er spricht nicht über das, was geschehen ist. Doch Klaus spürt, dass Johnny Schreckliches durchgemacht hat. Die Freundschaft besteht fort, aber sie wird unheilvoll bedroht.

Der Autor

Manfred Kohrs, geb. 1947, wuchs in Glückstadt an der Elbe auf. Ab 1971 lebte er in Ravensburg. Dort arbeitete er für einen international bekannten Anlagenbauer. 1997 zog er für vier Jahre nach Helsinki. Nach seinem Berufsleben engagierte er sich für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in verschiedenen Initiativen und spielte Theater. Viele Jahre schon hält er Lesungen und schreibt. Er veröffentlichte mehrere Kurzgeschichten in Anthologien, 2013 den Roman »Noch zwanzig Sommer«, der den Zusammenschluss zweier Unternehmen kritisch beleuchtet, und 2018 eine Aufzeichnung über die Flucht eines syrischen Jungen. Seit März 2022 lebt Manfred Kohrs in Hamburg.

für Valentina und Johanna

»Der einzige Weg, einen Freund zu haben, ist der, selbst einer zu sein.«

Ralph Waldo Emerson (1803-1882), US-amerikanischer Philosoph und Schriftsteller

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Nachwort

Danksagung

Erläuterungen

Vorwort

An einem Donnerstagabend im Mai 2020 zappe ich durch die Kanäle. Zumeist laufen bekannte Dokumentationen über das Ende des zweiten Weltkriegs. Auf 3sat finde ich einen Film »Der Zauber der Südsee, die Fidschi-Inseln«. Augenblicklich ist mein Interesse geweckt. Von den Fidschis hatte Johnny damals geschwärmt. Dorthin wollte er. Ich sehe mir den Film an. Die paradiesische Schönheit der Inseln beeindruckt: üppige Vegetation, weiße Sandstrände, glasklares Wasser, faszinierende Unterwasserlandschaften.

Nach dem Film sitze ich noch lange da und denke an den klugen, sensiblen Jungen. Hat Johnny die Fidschis jemals erreicht? Ich sehe und höre Johnny. Sein flehender Blick, der zuckende Mund, die zittrige Stimme: ›Wenn ich es dir wirklich erzählen müsste, würde ich dich belügen. Dich belügen müssen. Weil ich dir die Wahrheit nicht erzählen kann. Weil ich die Wahrheit niemandem erzählen kann. Und da ich dich nicht belügen will, solltest du endlich damit aufhören, mich zu löchern.‹

Damals, als unsere Freundschaft begann, war ich ein zehnjähriger Junge. Im Geiste schlüpfe ich in seine Haut. Immer mehr Bilder kehren zu mir zurück. Und schließlich sehe ich diesen Teil meines Lebens vor mir ablaufen wie in einem Film, als hätte es sich erst gestern zugetragen.

1

Wie fast immer hatte Mutter mir abends wieder von sich erzählt, von ihrer Kindheit und Jugend in Ostpreußen, aber noch nie etwas über ihre Flucht mit mir während des »verheerenden und grausamen Kriegs«, wie sie ihn nannte. Immer war sie meinen Fragen ausgewichen. Als ich sie, nachdem sie die Geschichte über ihren Lieblingslehrer wieder mal beendet hatte, fragte, ob sie nun von ihrer Flucht mit mir erzählen würde, dachte sie lange nach. Ich wurde schon ungeduldig, sagte ihr, dass sie doch anfangen möchte. Da begann sie schließlich, stockte aber nach wenigen Sätzen und wandte sich von mir ab, als erfordere plötzlich etwas anderes ihre Aufmerksamkeit. Als ich sie dann bat, weiterzuerzählen, sagte sie: »Nicht jetzt, Klaus«, und nach einem tiefen Seufzer: »Ich kann nicht.«

Ich hätte sie nicht bitten sollen, das spürte ich.

Um ihr eine Freude zu bereiten, beschloss ich, Speckbirnen zu sammeln. Der Eintopf »Birnen, Bohnen und Speck« schmeckte ihr besonders gut. Bohnen wuchsen in unserem kleinen Vorgarten und Speck könnte sie vielleicht besorgen.

Hans Schulzke, ein Junge, der mit seiner Großmutter schräg gegenüber wohnte, schloss sich mir an. Er stammte aus Hamburg und war etwa zwei Jahre älter als ich. Wir besuchten dieselbe Schule. Ich war froh, dass ich nicht alleine gehen musste. Es war herbstlich kühl und windstill, als wir am Samstagnachmittag losmarschierten.

Die Chaussee zog sich durch die platte Marsch, vorbei am Kreiskrankenhaus mit seiner weiten Parkanlage und an reetgedeckten Bauernhäusern. Auf beiden Seiten der Straße wuchsen Kohl und Rüben auf den Feldern. Hier und da sahen wir Landarbeiter. Bisweilen hörten wir das Motorengeräusch eines Traktors. Es dauerte länger als wir dachten, bis wir unser Ziel erreichten.

Auf einem ausgedienten Deich stand eine Reihe Birnbäume. Aus dem feuchten Gras sammelten wir die Früchte auf, befreiten sie von Gräsern, Erdkrumen und Schnecken, die wir auf den Boden schnippten. Als mein Tragenetz voll war, lümmelte ich mich auf die Wiese, nahm mir eine Birne, säuberte sie am Hemdsärmel und biss hinein. Sie war reif und saftig.

»Eine Biene hat mich gestochen«, rief Hans, der sich ebenfalls hingesetzt hatte. Ich sprang auf und lief zu ihm. Er zeigte auf einen winzigen, dunklen Punkt in seinem Nacken. Ich klemmte den Stachel zwischen die Nägel von Daumen und Mittelfinger und entfernte ihn, umschloss die Stelle mit meinen Lippen und begann das Gift auszusaugen. Seine Haut schmeckte salzig.

»Fester«, sagte er.

Ich sog, bis ich nicht mehr konnte, schluckte und schnappte nach Luft.

Hans blickte hoch. »Nicht runterschlucken, Klaus. Spinnst du? Ausspucken! Spuck’s aus!«

»Ja, ist ja gut.« Mich ärgerte sein bestimmender Ton.

»Was ist das?« Jetzt klang Hans ängstlich.

In der Ferne hörte ich leises Surren, das rasch lauter wurde und sich einen Augenblick später in ein schmerzhaftes Dröhnen verwandelte. Hans’ Augen waren weit aufgerissen, die Hände hielt er gegen die Ohren gepresst. Ein tieffliegender Bomber überflog uns. Hans zitterte, als durchliefe ein Stromschlag seinen knochigen, strichdünnen Körper. Blut kam aus seiner Nase und rann als dünner Faden über den Mund hinunter zum Kinn, fiel, wie bei einem undichten Wasserhahn, Tropfen für Tropfen auf seinen Pullunder. Er kniff die Augen zu und begann den Oberkörper vor- und zurückzubewegen, immer wieder vor und zurück, wie das schwere Pendel einer Standuhr. Das Geräusch wurde allmählich leiser, verstummte schließlich. Hans hielt den Oberkörper nun ruhig, die Nase hörte auf zu bluten. Eine Armlänge von ihm entfernt schlich eine Katze durchs Gras. Eine Meise zwitscherte aufgeregt. Ob Hans sie hörte? Noch wirkte er unsicher, öffnete aber die Augen und sah kurz zu dem Vogel hoch, bevor er in die Richtung blickte, in der das Fluggeräusch verhallt war. In der Ferne war der Bomber nur noch als kleiner dunkler Punkt am wolkenlosen Himmel sichtbar, bevor er kurz darauf hinter dem Horizont verschwand.

»Engländer«, sagte Hans im Ton des Älteren. Er zog das Hemd aus der Trainingshose, bespuckte einen Zipfel und wischte sich das Blut aus dem Gesicht. Er griff nach seinem Netz, stand auf und stiefelte los. Ich nahm meins ebenfalls auf und ging ihm nach. Unterwegs zogen Arbeitspferde ein mit Strohballen beladenes Fuhrwerk in entgegenkommender Richtung an uns vorbei. Ihre Hufe klapperten rhythmisch, eisenbereifte Holzräder ratterten über das Kopfsteinpflaster.

Inzwischen war es warm geworden. Noch lag eine gute Strecke vor uns. Der Abstand zwischen Hans und mir vergrößerte sich. Vom Tragen schmerzten mir Schultern und Arme, meine Füße schwitzten in den Gummistiefeln.

»Hans, ich brauch eine Pause.«

Er blieb stehen und setzte sich auf ein Grasbüschel an den Straßenrand. Ich ging zu ihm und schüttelte mir die Stiefel von den Füßen.

Hans streckte mir sein Bein entgegen.

»Komm, hilf mir!«

Ich nahm den Stiefel in beide Hände und zog.

»Zieh!«

Ich lehnte mich weit nach hinten zurück und zog fester. Der Stiefel löste sich ruckartig. Ich landete auf dem Hintern, stand aber sofort wieder auf.

»Hast du dir weh getan?« Hans klang besorgt.

»Halb so schlimm.« Ich lachte verlegen.

Hans zog sich den anderen Stiefel selbst aus.

Die Luft kühlte meine Füße. Wir aßen jeder eine weitere Birne. Plötzlich änderte sich das Wetter: Dunkle Wolken zogen auf, es wurde windig.

»Wir müssen«, sagte Hans.

Es begann zu regnen. Wieder hörten wir Hufe-Geklapper und das ratternde Geräusch. Das Fuhrwerk kam zurück.

»Hängen wir uns hinten dran?«, fragte Hans.

Ich nickte. Das Fuhrwerk näherte sich. Wir hörten die Pferde schnaufen.

Ob ich bereit sei?

Ich nickte wieder, konzentrierte mich. Als sich das Gespann auf unserer Höhe befand, liefen wir los, schwangen unsere Netze auf die leere Ladefläche und hängten uns hinten an die Bordwand.

Hans grinste. »Geht schneller, oder?«

»Klar«, sagte ich, erleichtert, dass ich im richtigen Moment gestartet war.

Das Fuhrwerk fuhr in Richtung unseres Ortes, überquerte bald die Brücke über den schmalen Fluss Rhin.

Wenig später erreichten wir die Steinburgstraße. Zwischen einem Krankenhaus mit Leichenhalle und einem Friedhof befand sich unser Barackenlager. Hier wohnten wir zusammen mit vielen anderen Kindern, Erwachsenen und alten Menschen. Ich griff nach meinem Netz und setzte die Füße auf die Straße. Einmal hatte ich mir Knie und Hände bei einer ähnlichen Aktion aufgeschürft, diesmal passte ich auf. Ich lief sofort los und hielt das Tempo des Fuhrwerks noch für ein paar Meter, bevor ich stehenblieb.

Hans warf mir einen anerkennenden Blick zu, der mich freute. Vor der Unterkunft von Mutter und mir trennten wir uns. Ich sah Hans noch nach. Er hatte die Haustür fast erreicht, da wurde sie von innen geöffnet. Oma Schulzke kam heraus und schlug mit einem länglichen Gegenstand auf ihn ein. Ich hörte ihre schnarrende Stimme: »Wo hast du gesteckt, du Armleuchter, du verdammtes Aas?«

Für einen kurzen Moment, bevor Hans unter den Schlägen hindurchschlüpfte und in der Unterkunft verschwand, trafen sich unsere Blicke. Ich sah, dass er sich schämte.

2

Bestimmt würde Mutter sich über die Birnen freuen. Mit diesem Gedanken öffnete ich die Tür. Mir schlug ein warmer Dunst entgegen. Es roch nach Kümmel, einem Gewürz, das ich nicht mochte, das aber für Mutter in eine Brotsuppe gehörte. Sie saß am Tisch, die Arme aufgestützt, das Gesicht hinter ihren Händen verborgen. Vor ihr lag ein Schreiben, daneben ein Kuvert. Sie bewegte sich nicht. Hatte sie meine Schritte nicht gehört? Ich setzte das Netz auf dem Boden ab. Mutter trocknete sich mit einem Taschentuch die Augen und wandte sich mir zu.

»Komm her, Klaus.«

Ich ging zu ihr. Sie umarmte mich fester und länger als sonst. Ihre Strickjacke roch nach Fisch.

»Wo hast du gesteckt?«

Ich wollte antworten, doch ich kam nicht dazu. Mutter ergriff mich bei den Schultern und sah mir in die Augen. Ihre Lider waren gerötet.

»Es ist etwas Schlimmes passiert – etwas sehr Schlimmes.«

Ich überlegte, was passiert sein könnte. Kürzlich hatte ich Mutter nachts leise weinen gehört. Am nächsten Morgen war ein Foto von Vater auf ihrem Bett gelegen.

»Mit Papa?«

»Ja, mein Junge, mit Papa. Er kommt nicht mehr zurück. Nie mehr.«

Ich starrte sie an und wusste nicht, was ich sagen sollte. Wenn Vater nicht zurückkäme, was würde sich ändern? Nichts! Ich hatte ihn nie getroffen. Zwar hatte Mutter manchmal von ihm gesprochen, mir auch mal das Foto gezeigt. Darauf hatte ich einen Mann mit offenem Blick gesehen, mit hoher Stirn und dunklem Haar. Eine Strähne bedeckte einen Teil seiner rechten Braue. Er trug ein helles Hemd, die Hose hielten Träger. Mutter hatte mich auf die große Ähnlichkeit zwischen ihm und mir hingewiesen. Besonders euer Blick, meinte sie.

Aber ich hatte ihn nie lachen gehört, er hatte mir nie eine Geschichte erzählt, nie meine Hand gedrückt, mich weder gestreichelt, noch getröstet oder ins Bett gebracht. Dennoch hatte ich mir einen Vater ausgemalt, der stark und klug war, der mich vor den einheimischen Jungen beschützte und mit mir sonntags ins Kino ging.

Mutter schnäuzte sich und zeigte auf das Netz. Sie staunte über die vielen Birnen und lobte mich. Dann stellte sie die Frage, die ich befürchtete.

»Warst du allein?«

Ich druckste.

Mutter mochte es nicht, wenn ich mit Hans zusammen war. Sie habe gehört, dass er schwer erziehbar sei. Ich kannte Hans noch nicht lange, mochte ihn aber. Vielleicht, weil er älter war. Vielleicht, weil er keinen Vater mehr hatte.

»Mit wem?«

Ich schwieg.

»Mit Hans?«

Ich nickte schuldbewusst.

»Du weißt, wie ich darüber denke.«

»Ja«, sagte ich leise.

»Ich habe dich nicht verstanden.«

»Ja, Mama, ich weiß.«

Vater starb in russischer Gefangenschaft. Insgeheim, tief in meiner Kinderseele, hatte ich nie daran gezweifelt, dass er eines Tages vor der Tür stehen und sagen würde: Da bin ich. Wie geht’s dir, Klaus? Magst du eine Geschichte hören? Aber nun, da ich wusste, der Vater würde niemals vor der Tür stehen, mich nie nach meinen Wünschen fragen, mich nie beschützen, sehnte ich mich nach ihm. Als ich am Sonntagmorgen allein zuhause war, weil Mutter in der Gemeinschafts-Waschküche des Barackenlagers wusch, suchte ich nach dem Foto von ihm. Ich fand es in der Schublade von Mutters Schränkchen unter Briefen und betrachtete es. Ein kleines, verblichenes, abgegriffenes Schwarz-Weiß-Foto. Vater sah mir direkt in die Augen. Sein Blick schien mich aufmuntern zu wollen. Ich fühlte mich, als trüge ich eine Schlinge um den Hals, die sich immer mehr zuziehen würde, und begann zu weinen. Zum ersten Mal trauerte ich, trauerte still um einen Vater, den ich niemals lebend sehen, niemals kennenlernen würde.

3

Ein paar Tage später wurde Hans mein Freund.

Mutter putzte neben ihrer Arbeit in der Heringsfischerei bei einem pensionierten Lehrer zwei Mal pro Woche die Wohnung. An einem dieser Tage beauftragte sie mich, einen Liter Vollmilch und für fünfzig Pfennig Wurstenden zu kaufen.

Milchmann und Schlachter befanden sich in derselben Straße, nicht weit von uns entfernt. Die Milch war schnell besorgt. Die Verkäuferin stellte meine Kanne unter den Hahn und drückte den Pumpenschwengel nach unten. Ein satter Milchstrahl füllte die Kanne. Ein paar Meter weiter befand sich der Schlachter. Die kräftige Schlachterfrau wog die Wurstenden ab, legte noch zwei hinzu und wickelte sie in Papier ein. Sie setzte eine fröhliche Miene auf, zwinkerte mir zu und reichte mir eine Scheibe Wurst, die ich mir sogleich in den Mund steckte.

Mein Rückweg führte am Festungsgraben entlang, der die Stadt einst vor Feinden schützte, in eine Straße mit Einfamilienhäusern auf der linken und einer Zeile Mietwohnungen auf der rechten Seite, die bis zum Ende der Straße reichte. Alles mit kastanienrotem Klinker gebaut. Auf halber Strecke stellte ich die Kanne mit Milch auf dem Gehweg ab und entnahm dem Packen Wurstenden einen Zipfel Jagdwurst, meiner Lieblingswurst. Ich biss ein Stück davon ab und kaute genüsslich, als jemand rief.

»He, du!«

Ich wandte mich um. Ein Junge, älter als ich, mit einer Miene, die Böses versprach, kam auf mich zu.

»Hau ab hier!«

Ich zögerte. Er war nur noch wenige Meter entfernt.

»Hast du nicht gehört, Polack?«

Ich nahm die Kanne wieder auf, drückte mir den Packen Wurst gegen die Brust und beeilte mich. Warum ich stolperte, weiß ich nicht. Ich hatte mich nach dem Jungen umgesehen, dabei muss ich einen Stein oder Stock übersehen haben. Jedenfalls fiel ich hin. Milch lief aus und Wurstenden kullerten über den Fußweg auf die Straße. Der Junge lachte boshaft. Ich ergriff die halbleere Kanne, sammelte die Wurstenden auf und lief weiter Richtung Lager.

»Lass dich ja nicht wieder hier blicken«, rief er mir nach.

Hans, der einen Ball gegen die hölzerne Barackenwand kickte, sah mich kommen. Er unterbrach sein Spiel und kam mir entgegen. Hatte er gemerkt, dass mit mir etwas nicht stimmte?

»Wie siehst du denn aus?« Er betrachtete die aufgeschürften Stellen an meinen Knien. »Was ist passiert?«

Ich erzählte es ihm.

»Bring dein Zeug rein und komm.«

Was hatte er vor? Ich beeilte mich.

Als ich zurückkam, sagte er: »Du gehst den gleichen Weg noch einmal. Aber ich gehe voraus, tue so, als ob wir uns nicht kennen würden. Und du folgst mir mit Abstand.«

Jetzt ahnte ich, was er vorhatte. Ich nickte und wartete, während Hans Richtung Seidelstraße ging. Ich zählte leise bis zwanzig, dann ging ich ihm nach.

Auf halber Höhe der Seidelstraße stürzte der Junge aus einer Tür der Häuserzeile und verstellte mir den Weg. »Habe ich dir nicht gesagt, dass du dich hier nicht mehr blicken lassen sollst?«

»Ja«, sagte ich.

»Und?« Er hielt mir seine Faust vors Gesicht.

Da packte Hans ihn von hinten an der Schulter, riss ihn herum, ohrfeigte ihn links und rechts, drehte ihn wieder um und trat ihm in den Hintern.

»Fass meinen Freund nie wieder an!«

Der Junge verschwand in dem Hauseingang, aus dem er gekommen war. Kurz darauf öffnete sich im ersten Stock ein Fenster. Wieder der Junge.

»Das bekommt ihr zurück, ihr Polacken, ihr Barackenschweine!«

Ich wollte etwas zurückrufen und suchte nach einem geeigneten Ausdruck.

Hans bremste mich. »Lass ihn, der hat sie nicht mehr alle.« Dann trillerte er wie ein Vogel, lief los, schlug ein Rad, nahm den Schwung mit und sprang einen Flickflack.

4

Das Weihnachtsfest 1951 und Silvester verliefen wie im Jahr zuvor, wieder ohne Vater. Und doch war diesmal alles anders. Mutter war erstmals ohne Hoffnung, ihn eines Tages wiederzusehen. Und ich würde meinen Vater nie kennenlernen. Wir waren bedrückt und traurig. Es war eine trostlose Zeit. Hinzu kamen die kurzen, dunklen Tage. Erst als die Vögel zurückkehrten und den Frühling eifrig verkündeten, die Tulpen, Osterglocken und Krokusse zu blühen begannen, verlor sich allmählich die Traurigkeit in Mutters Blick.

Die Osterferien waren zu Ende. Montagmorgen begann das neue Schuljahr. Wie an jedem Wochenende badete ich. Mutter füllte heißes Wasser in die Zinkwanne. Sie seifte mir den Rücken ein, danach wusch ich mich allein weiter.

Ob ich mich auf die Schule freue, fragte sie, als ich meine Sachen zum Schlafen angezogen hatte, und sah mich aufmerksam an.

»Ja, schon«, sagte ich und dachte an Hans. Ihm gefiel die Schule offenbar nicht. Als ich ihn kürzlich fragte, ob er gerne in die Schule gehe, quasselte er, anstatt zu antworten, von einem Versteck im Stadtpark, das er mir gelegentlich zeigen wolle.

Mutters Sorgen um meine Zeugnisse waren in den ersten Jahren berechtigt gewesen. Ich war schüchtern und still. Ab der dritten Klasse jedoch hatte ich mich am Unterricht mehr beteiligt und auch in den schriftlichen Arbeiten ordentliche Noten bekommen. Religion mochte ich. Die Geschichten über Jesus gefielen mir, auch wenn sie mir nicht alle glaubhaft erschienen. Zum Beispiel, als Jesus über das Wasser ging und einen Sturm beruhigte. Ich las flüssig, aber schrieb nicht schön, und so manche Seite meiner Hefte war mit Tinte bekleckst.

Im Bett las ich noch eine Weile, betete für Mama und mich und schlief bald ein.