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Ein leidenschaftlicher Ritter zum Dahinschmelzen
Seit ihre Familie durch einen heimtückischen Verrat alles verlor, sinnt Linnet auf Rache und weist für die Chance auf Vergeltung sogar den Antrag ihrer großen Liebe Jamie ab. Fünf Jahre später kehrt Jamie nach London zurück – und steht plötzlich Linnet gegenüber, der Frau, die einst sein Herz brach. Das alte Feuer flammt zwischen ihnen auf und lodert heißer denn je. Doch sind ihre Gefühle stark genug, um die Vergangenheit zu überwinden?
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Seitenzahl: 543
Buch
Seit sie denken kann gehört Lady Linnets Liebe Sir James Rayburn. Doch als ihre Familie durch einen heimtückischen Verrat alles verliert, opfert sie für die Chance auf Vergeltung ihre große Liebe und weist seinen Heiratsantrag zurück. Abgewiesen von Linnet verlässt Jamie enttäuscht das Land. Erst fünf Jahre später kehrt er nach London zurück – und steht plötzlich wieder der Frau gegenüber, die einst sein Herz brach.
Das alte Feuer zwischen Linnet und ihrem geliebten Ritter flammt erneut auf und lodert heißer denn je. Doch sind ihre Gefühle stark genug, um die Vergangenheit zu überwinden?
Autorin
Margaret Mallory wuchs in einer Kleinstadt im US-Staat Michigan auf und studierte Jura an der Michigan State University und der University of Michigan Law School. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern an der Pazifikküste, und seit die Kinder auf dem College sind, widmet sich Margaret Mallory ihrer großen Leidenschaft: dem Schreiben historischer Liebesromane.
Außerdem von Margaret Mallory bei Blanvalet
Mein zärtlicher Ritter (37855)
Mein leidenschaftlicher Ritter (37913)
Margaret Mallory
Meingeliebter Ritter
Roman
Deutsch von Cora Munroe
Dieses Buch ist meinen Kindern Emily und Jeff gewidmet. Sie sind die Freude meines Lebens und machen mich jeden Tag stolz.
Wär’ ich ein Mann, ein Herzog, von GeblütDer Nächste: diese läst’gen StrauchelblöckeRäumt’ ich hinweg und ebnete mir baldAuf den kopflosen Nacken meinen Weg …
Leonora, Herzogin von GlosterWilliam Shakespeare, König Heinrich VI., 2. Teil – I/2
Prolog
Louvre, ParisDezember 1420
»Was ist, wenn wir erwischt werden?«, fragte Jamie und kontrollierte den Palastkorridor in beide Richtungen.
Erwischt werden war genau das, was sie wollte, doch das würde Linnet Jamie nicht verraten. Sie sah ihn unter halb gesenkten Wimpern an. »Willst du es nicht?«
Als seine Augen dunkel wurden, stockte ihr der Atem.
»Du weißt, dass ich es will.« Er strich mit den Fingerknöcheln über ihre Wange.
Ihre Haut kribbelte, als er sie berührte. Wenn sie nicht aufpasste, könnte Jamie sie ihr eigentliches Ziel vergessen lassen.
Sie verspürte einen Anflug von schlechtem Gewissen, weil sie es ihm nicht erzählte. Keiner der anderen jungen Männer am Hof würde sich darum scheren, aus welchem Grund sie ihn in ein leeres Schlafzimmer zerrte. Aber Jamie würde sie abweisen, wenn er ihren Grund kannte. Diese sture Auffassung von Ehre, so fehl am Platz sie manchmal auch war, war einer jener Charakterzüge, die sie am meisten an ihm mochte.
»Alle sind bei den Feierlichkeiten«, versicherte sie ihm.
König Heinrichs triumphaler Einzug in Paris in Begleitung seiner französischen Prinzessin ging mit Festlichkeiten einher, die sich durch die gesamte Adventszeit zogen.
»Aber der Gast, dem dieses Zimmer zugeteilt worden ist, könnte jederzeit zurückkommen«, gab Jamie zu bedenken.
Er atmete zischend ein, als sie einen Finger an seinem Brustkorb hinabwandern ließ.
»Wenn du ein ängstliches Mäuschen bist«, sagte sie, »kann ich mir auch einen anderen suchen.«
Jamies jungenhafte Schüchternheit war sofort verschwunden, er griff nach ihrem Arm und riss die Schlafzimmertür auf. Plötzlich stand sie im Innern des Schlafgemachs, und ihr Rücken wurde gegen die Tür gedrückt. Jamie küsste sie lang und hart.
»Sag, dass du niemals mit einem anderen Mann gehen wirst«, sagte er und packte ihr Kinn. »Sag es.«
»Du bist der Einzige, den ich will.« Das war die Wahrheit, aber sie befürchtete, er würde mehr hineininterpretieren, als er sollte.
»Mir geht es genauso«, flüsterte er und lehnte die Stirn an ihre.
Sie schloss die Augen und atmete seinen Geruch ein, während sie sich an ihn schmiegte. Er konnte so zärtlich sein.
Aber sie wusste nicht, wie viel Zeit ihr blieb. »Jetzt«, flüsterte sie in sein Ohr. »Ich möchte es jetzt tun.«
Als sie obendrein die Hand auf seine Männlichkeit legte, stieß er ein Geräusch aus, das eine Mischung aus Knurren und Stöhnen war, und hob sie hoch. Männer waren so leicht zu manipulieren, sie waren kaum eine Herausforderung. Trotzdem war Jamies Reaktion erfreulich.
Während er sie zum Bett trug, erlaubte sich Linnet einen Augenblick daran zu denken, wie verärgert ihr »Vater« Alain wäre, wenn er wüsste, was sie hier trieb.
Doch in dem Augenblick, da Jamie sie aufs Bett legte und anfing, sie zu küssen, vergaß sie Alain und ihren Racheplan. Diesen Ansturm von Gefühlen konnte sie nicht kontrollieren, versuchte es nicht einmal. Seit jenem Tag, an dem er mit dem König in Paris eingeritten war, hatte ein Feuer zwischen ihnen gebrannt. Egal, wie oft sie sich davonstahlen, um beieinander zu sein, das Feuer brannte nur noch heller. Sie gab sich ihm wie immer rückhaltlos hin.
Danach lag sie in Jamies Armen und wünschte sich, die Zufriedenheit des Augenblicks könnte andauern. Doch das tat sie nie.
»Ich habe meinen Eltern einen Brief geschickt«, sagte Jamie, wobei er die Wange an ihrem Scheitel rieb. »Ich nehme an, mein Vater wird mir zu unserer Verlobung ein wenig Land schenken.«
Ihr Herz fing an zu rasen. »Verlobung? Du hast mir gegenüber nie eine Verlobung erwähnt.«
»Musste ich das denn?« Sie hörte das Lächeln in seiner Stimme. »Nach allem, was wir miteinander erlebt haben, dachte ich, es wäre selbstverständlich.«
»Aber du hast mich nie gefragt.«
»Das ist natürlich ein großer Fehler«, sagte er und klang amüsiert. »In Ordnung, dann lass mich also fragen: Meine liebste Linnet, Liebe meines Herzens, willst du mich heiraten und meine Frau werden?«
»Nein, das will ich nicht.«
»Was?« Jamie setzte sich auf und beugte sich über sie. »Es tut mir leid, wenn ich dich beleidigt habe, indem ich nicht früher offen mit dir gesprochen habe. Du weißt doch, dass ich dich liebe.«
»Das sagen Männer die ganze Zeit.«
»Aber ich meine es auch«, sagte er und rieb mit dem Daumen über ihre Wange. »Ich werde dich auch dann noch lieben, wenn deine Schönheit nur mehr eine Erinnerung auf deinem Gesicht ist.«
Sie hatten die Bettvorhänge nicht zugezogen. Im Sonnenlicht, das durch das hohe Fenster hereinfiel, betrachtete sie die Linien seines schönen Gesichtes, den intensiven Ausdruck seiner veilchenblauen Augen. Sie schluckte. Sie hatte nicht vorgehabt, ihm wehzutun. Warum hatte er ihr diese Dinge nicht schon früher gesagt?
Sie streckte die Hand aus und legte sie ihm auf die Wange. »Du wirst immer etwas Besonderes für mich sein. Mein erster Liebhaber.«
»Erster Liebhaber!« Seine Finger gruben sich in ihren Arm. Einen Moment später ließ er sie los und ließ sich auf das Bett zurückfallen. »Offenbar genießt du es, mich mit deinen Scherzen zu foltern! Doch manchmal gehst du einfach zu weit.«
Warum glaubten Männer eigentlich nie, was man sagte? Sie verstanden ein »Nein« als »vielleicht« und ein »Ich hasse dich« als »Ich möchte, dass du schlechte Gedichte für mich schreibst«.
»Ich möchte nicht heiraten«, sagte sie zu Jamie. »Ich könnte es nicht ertragen, dass ein Mann mir mein Leben lang vorschreibt, was ich zu tun und zu lassen habe.«
Jamie lachte. »Als würde ich je wagen, das zu versuchen.«
»Das würdest du. Männer machen das.«
Er drehte sich auf die Seite, und sein dunkles Haar fiel ihm in die Stirn. »Lass uns so tun, als würdest du mir im Ernst einen Korb geben. Was könntest du tun? Ich kann mir dich beim besten Willen nicht als Nonne vorstellen.«
Sie schlug seine Hand weg, als er sie nach ihrer Brust ausstreckte. »Vielleicht gehe ich eine kurze Ehe ein.«
»Eine kurze Ehe?«, fragte er und zog die Augenbrauen hoch.
»Aye, mit einem sehr alten Mann, der mich zu einer reichen Witwe macht«, sagte sie. »Oder ich werde eine berühmte Kurtisane.«
Das Bett wackelte, als Jamie in Gelächter ausbrach.
»Ich versuche, offen mit dir zu reden«, sagte sie und schlug ihn an die Schulter.
»Du bist schön genug, um die berühmteste Kurtisane von ganz Frankreich zu werden«, sagte er und zog sie auf sich. »Das weißt du genau. Aber genug von diesen Albernheiten. Wir müssen einen Plan machen.«
Sie kam sich vor, als redete sie mit einem Idioten. Sie stieß sich von ihm ab, setzte sich auf und schlang die Arme um die Knie. In Wahrheit konnte sie sich nicht vorstellen, sich von einem anderen Mann so berühren zu lassen wie von Jamie. Doch sie strebte nach Unabhängigkeit und eigenem Geld.
Wann immer ihr Entschluss zu wanken begann, dachte sie an die Männer, die ihrem Großvater noch das letzte Hemd vom Leib gestohlen hatten, als er am Ende seines Lebens geistesschwach geworden war. Es waren Männer, mit denen er seit Jahren Geschäfte gemacht hatte; Männer, denen er vertraut und in schlechten Zeiten Geld geliehen hatte. Kaum eine Stunde nach seinem Tod hatten diese Männer alle Wertsachen aus ihrem Haus in Falaise gestohlen. Ihretwegen mussten sie und ihr Bruder François schon lange vor der Belagerung durch die Engländer Lebensmittel stehlen, um zu überleben.
Eines Tages würde sie nach Falaise zurückkehren und jeden einzelnen dieser Männer vernichten, die sie bestohlen und dann einfach ihrem Schicksal überlassen hatten.
»Glaubst du, dein Vater hat etwas gegen unsere Heirat einzuwenden?«, schreckte Jamie sie aus ihren Gedanken auf.
»Aye, das hätte er«, sagte sie geistesabwesend über die Schulter, »denn der Schuft hat bereits einen Ehemann für mich ausgesucht.«
Jamie setzte sich abrupt neben ihr auf. »Er hat vor, dich einem anderen zu versprechen?«
»Nachdem er mich und François den größten Teil unseres Lebens ignoriert hat, glaubt Alain, er könnte jetzt Vater spielen und mir vorschreiben, was ich zu tun habe.« Alain unterschätzte sie gewaltig. »Er hat uns nur anerkannt, weil seine legitimen Söhne tot sind.«
Jamie packte sie am Arm. »Wer ist der Mann, den du heiraten sollst?«
»Diese Schlange Guy Pomeroy.«
Jamie zog die Augenbrauen hoch. »Dein Vater ist ehrgeizig. Sir Guy steht dem Herzog von Gloucester nahe, dem jüngsten Bruder des Königs.«
»Es geht ihm nicht um mich, dessen kannst du sicher sein«, sagte sie und verdrehte die Augen. »Ich hasse es, wie Sir Guy mich ansieht. Ich schwöre, eher würde ich ihm eine Klinge ins Herz stoßen, als dass ich ihn in meine Nähe ließe.«
»Du stehst jetzt unter meinem Schutz.« Jamie nahm ihre Hand und küsste sie. »Ich weiß, dass du deinen Vater verabscheust, aber wir müssen uns mit ihm arrangieren. Es wird peinlich, wenn er bereits mit Sir Guy gesprochen hat, aber das lässt sich nicht ändern.«
»Ich habe mich bereits darum gekümmert.« Sie musste es Jamie jetzt erzählen. Er würde so wütend auf sie sein, dass er vielleicht tagelang nicht mit ihr sprach.
»Überlass die Verhandlungen mir«, sagte Jamie. »Ich weiß, wann ich Eingeständnisse machen und wann ich Druck ausüben muss. Deine Erziehung war … ungewöhnlich. Ich kenne mich mit solchen Dingen besser aus.«
»Bedenke, worauf du dich einlässt, Jamie«, sagte sie und hob verzweifelt die Hände. »Ich bin ein Bastard und Enkeltochter eines Kaufmanns. Ich wurde nicht dazu erzogen, das Leben zu führen, das du führen möchtest.«
»Du bist von vornehmer Herkunft«, sagte Jamie mit fester Stimme. »Die Umstände haben sich geändert, da dein Vater sich zu dir bekannt hat.«
»Ich habe mich nicht verändert«, sagte sie. »Du brauchst eine geistlose englische Edeldame, die gerne das langweilige Leben mit dir teilt, auf das du dich freust.«
»Linnet, du kannst nicht …«
Sie hob die Hand, um ihm Einhalt zu gebieten. »Ich weiß, was auf mich zukäme. Jeden Sommer würdest du nach Frankreich ziehen, um dort mit deinem ruhmreichen König zu kämpfen. Und jeden Winter würdest du heimkehren, um deiner Frau ein weiteres Kind zu machen, Streitigkeiten unter den Pächtern zu schlichten und die Abende damit zu verbringen, am Kamin in deinem Saal ermüdende Geschichten über deine Ruhmestaten zu erzählen.«
»Das ist ein gutes Leben«, sagte er lachend. »Es kommt dir nur öde vor, weil du es nicht kennst.«
Sie nahm sein Gesicht in die Hände. »Du wirst sehr wütend mit mir sein, aber ich muss dir etwas sagen.«
»Zuerst musst du mir versprechen, nicht vor mir mit deinem Vater über unsere Heirat zu sprechen«, sagte Jamie.
Er beugte sich vor, um sie zu küssen, erstarrte jedoch, als direkt vor der Tür des Schlafgemachs Stimmen erklangen. Knarrend öffnete sich die Tür, er warf die Bettdecken über Linnet und drehte sich so, dass man sie vom Eingang aus nicht sehen konnte.
Sie jedoch krabbelte neben ihn und rief: »Guten Tag, Alain. Wie gut, dass Ihr Sir Guy mitgebracht habt; er hat mir schon oft gesagt, er würde mich gerne nackt im Bett sehen.«
Beide Männer starrten sie mit offenen Mündern an. Dann brüllte ihr Vater: »In Gottes Namen, Linnet! Was hast du getan?«
»Das muss ich Euch doch gewiss nicht erklären, oder?«, sagte sie unschuldig und riss die Augen weit auf.
»Ihr sagtet, sie wäre Jungfrau«, spie Sir Guy aus. Dann gab er Alain eine schallende Ohrfeige. »Ich hätte wissen müssen, dass eine Hure immer eine Hure gebiert.«
Sir Guy war ein kräftig gebauter Mann, doch seine Gewalttätigkeit überraschte sie. Als er sich mit mordlüsternem Blick an Jamie wandte, legte sie die Hand auf Jamies Schulter.
»Ich lasse mich nicht zum Narren halten«, sagte Sir Guy mit einer Stimme, die so drohend war, dass Linnets Magen sich verkrampfte. »Ihr werdet teuer für diesen Tag bezahlen, James Rayburn.«
Jamie wischte ihre Hand von seiner Schulter. Zum ersten Mal, seit die anderen den Raum betreten hatten, schaute sie ihn an. Jamies Blick fixierte sie wild und anklagend. Sie hörte, wie Sir Guy die Tür hinter sich zuwarf, sah es jedoch nicht. Sir Guy und ihr Vater spielten keine Rolle mehr.
»Du hast das geplant. Du wolltest, dass sie uns finden.« Jamies Stimme brach. »Du bist nur mit mir ins Bett gegangen, um deinen Vater wütend zu machen. Ich dachte … ich dachte, du liebst mich.«
Sie bekam keine Luft mehr und konnte nichts sagen. Gott erbarme sich ihrer, was hatte sie getan?
»Du hast mir das Herz aus der Brust gerissen«, flüsterte Jamie rau. »Ich bin der größte Dummkopf auf der ganzen Welt.« Mit diesen Worten glitt er vom Bett, sammelte mit einer Hand seine Kleidung vom Boden auf und ging in Richtung Tür.
»Ich sollte dich totschlagen, Mädchen!«, brüllte Alain. Sein Gesicht war puterrot, und er hatte die Fäuste geballt.
Jamie packte Alain am Kragen und hob ihn hoch. »Ich bin selbst versucht, sie umzubringen, aber ich werde Euch töten, wenn Ihr ihr auch nur ein Haar krümmt.« Die Drohung in seiner Stimme war so scharf wie die Klinge eines Dolches.
Himmel, Jamie war herrlich – so splitternackt und wütend.
»Wenn Ihr nicht so ein Arschloch wäret, hätte sie es nie getan.«
Jamie verteidigte sie, was hieß, dass er ihr bereits halb verziehen hatte. Sie würde ihm alles erklären. Dann konnten sie einfach weitermachen, als wäre nichts geschehen.
Jamie hob seine Kleidung wieder auf und ging zur Tür. Er öffnete sie und drehte sich noch einmal um. »Lasst es mich wissen, wenn ein Kind unterwegs ist«, sagte er zu Alain. »Ich bin in England.«
1
London30. Oktober 1425
Der Gestank der Themse trieb Sir James Rayburn Tränen in die Augen, als er durch die aufgebrachte Menge ritt. Die »Winchester-Gänse«, die Huren, die unter der Aufsicht des Bischofs auf dieser Seite des Flusses ihr Gewerbe betrieben, würden heute nicht viel zu tun bekommen. Die Männer, die heute die Straßen verstopften, waren nicht hier, um Freuden nachzugehen, die innerhalb der Stadtmauern verboten waren; sie waren auf einen Kampf aus.
Jamie hatte die Stimmung in der City of London bereits ausgelotet und festgestellt, dass nicht viel zu einem Aufstand fehlte.
Die Menge wurde dichter, je näher er der London Bridge kam. Männer starrten ihn feindselig an, machten seinem Schlachtross jedoch bereitwillig Platz. Während er sich zwischen ihnen hindurchdrängte, wanderten seine Gedanken zum Vorabend zurück. Es waren viel zu viele Ritter im bischöflichen Palast gewesen.
Beim Abendessen hatte Jamie versucht herauszufinden, warum der Bischof so viele bewaffnete Männer in den Winchester-Palast hatte kommen lassen. Unter dem wachsamen Auge des Bischofs hatte jedoch keiner der anderen Gäste gewagt, darüber zu sprechen. Stattdessen hatten sie Jamie nach Neuigkeiten über die Kämpfe in Frankreich gefragt.
Er hatte sich gefügt und ihnen von der letzten Schlacht gegen die Truppen des Dauphin, des rechtlichen Thronerben, bei Verneuil berichtet. Während er ins Erzählen gekommen war, hatten sich die Damen vorgebeugt und die Hände an ihre cremeweißen Brüste gepresst. Er erzählte gern Geschichten. Gerade als es angefangen hatte, ihm Spaß zu machen, erinnerte er sich an Linnets Worte.
Was du brauchst, Jamie Rayburn, ist eine geistlose englische Ehefrau, die damit zufrieden ist, ihre Abende damit zu verbringen, dir beim Erzählen ermüdender Geschichten über deine Heldentaten zuzuhören.
Nach all den Jahren machte ihm Linnets Spott noch immer zu schaffen. Er hatte seine Geschichte rasch beendet, den Saal des bischöflichen Palastes verlassen und war früh zu Bett gegangen. Verdammt sei diese Frau. Seit fünf Jahren hatte er sie nicht mehr gesehen, doch sie konnte ihm immer noch den Abend verderben.
Ihn einen Langeweiler zu nennen, war eine von Linnets geringeren Untaten ihm gegenüber. Unabhängig davon, dass er drei Jahre älter als sie und sie damals nicht einmal sechzehn Jahre alt gewesen war, war er im Vergleich zu ihr hilflos wie ein neugeborenes Kind gewesen. Es war ihm peinlich, wenn er sich daran erinnerte, wie er damals sein Herz auf der Zunge getragen hatte. Während er ewige Liebe und Zuneigung geschworen hatte, hatte Linnet ihn ohne einen Anflug von schlechtem Gewissen oder Scham ausgenutzt.
Sofort nach dem Debakel hatte er Paris in der Hoffnung verlassen, vor seinem Brief, in dem er die Heirat ankündigte, in England anzukommen. Doch das gelang ihm nicht, und er musste auch noch die Demütigung erdulden, seiner Familie zu erzählen, dass er und Linnet doch nicht verlobt waren.
Irgendjemand hätte ihm sagen müssen, dass Männer die Jungfräulichkeit einer Frau sehr viel höher schätzen als die Frauen selbst. Er hatte ihr Geschenk fälschlicherweise für ein Geschenk des Herzens gehalten – und für das Gelöbnis zu heiraten. Niemals mehr würde er zulassen, dass eine Frau ihn derart erniedrigte.
Das bedeutete nicht, dass er den Frauen entsagte. In Wahrheit war er mit einigen ins Bett gegangen, wild entschlossen, Linnets Erinnerung aus seinem Gedächtnis zu tilgen. Meistens war es ihm gelungen.
Die Gedanken an sie verdarben ihm die Stimmung. Er bekam kaum Luft in dieser Menschenmasse. Dem Schnauben und den angelegten Ohren Thunders nach zu urteilen, ging es seinem Pferd genauso.
»Wir haben genug gesehen«, sagte Jamie und tätschelte Thunder den Hals, nachdem der Hengst nach einem Dummkopf geschnappt hatte, der ihnen zu nah gekommen war.
Durch seinen viel zu frühen Tod hatte sein geliebter und ruhmreicher König Heinrich ein Kleinkind auf dem Thron zweier Königreiche zurückgelassen. Der Herzog von Bedford, der älteste überlebende Bruder des verstorbenen Königs, hatte die schwierige Aufgabe, die französischen Territorien zu regieren und den Krieg dort fortzuführen.
Während Bedford in Frankreich beschäftigt war, wetteiferten zwei andere Mitglieder der königlichen Familie um die Kontrolle über England. Der Machkampf zwischen Bedfords Bruder, dem Herzog von Gloucester, und ihrem Onkel, dem Bischof von Winchester, schwelte seit Monaten. Doch jetzt, da sich ihr Streit auf den Straßen fortsetzte, war es sehr viel gefährlicher geworden. Jamie musste Bedford sofort eine Nachricht zukommen lassen.
Als Jamie sein Pferd wendete, um zum Bischofspalast zurückzukehren, ergriff jemand seinen Fuß. Er hob die Reitpeitsche, ließ den Arm jedoch wieder sinken, als er sah, dass es sich um einen alten Mann handelte.
»Bitte, Sir, helft mir!«
Ein Auge des Alten zierte ein frisches Veilchen. Seiner Kleidung nach zu urteilen, war er nicht Teil des Mobs, sondern der Diener einer Adelsfamilie.
Jamie beugte sich hinab. »Was kann ich für Euch tun?«
»Die Menge hat mich von meiner Herrin getrennt«, sagte der Mann mit hoher, zittriger Stimme. »Und jetzt haben sie mir meinen Maulesel abgenommen, sodass ich sie nicht erreichen kann.«
Um Himmels willen, eine Dame war allein in diesem Mob? »Wo? Wo ist sie?«
Der Alte deutete in Richtung Brücke. Als sich Jamie umdrehte, fragte er sich, wie er sie hatte übersehen können. Die London Bridge war knapp dreihundert Meter lang und an beiden Seiten von Läden und Häusern gesäumt. Doch durch die Lücke, die von der Zugbrücke geschaffen wurde, hatte Jamie einen guten Blick auf eine Dame in einem leuchtend blau-gelben Kleid auf einem weißen Zelter. Sie hob sich von dem Mob um sie herum ab wie ein Pfau auf einem Misthaufen.
»Aus dem Weg! Aus dem Weg!«, brüllte Jamie und schwang seine Peitsche rechts und links über den Köpfen der Menge. Männer warfen sich zur Seite, um den Hufen seines Pferdes auszuweichen, während er sich einen Weg durch den Mob bahnte.
Als er auf die Brücke ritt, hörte er das vertraute Geräusch einer anrückenden Armee. Er drehte sich um und sah Soldaten vorm Bischofspalast am Flussufer aufmarschieren. Um Gottes willen, der Bischof hatte sogar Bogenschützen entsendet.
Jamie hatte Gerüchte gehört, dass Gloucester vorhatte, nach Eltham Castle zu reiten und den dreijährigen König unter seine Obhut zu nehmen. Offenbar befürchtete der Bischof, Gloucester habe vor, den Thron an sich zu reißen, denn er hatte beschlossen, seinen Neffen an der Brücke mit Waffengewalt aufzuhalten.
Gott stehe ihnen allen bei.
Doch zunächst musste Jamie diese Närrin retten, die mitten auf der verdammten London Bridge zwischen die Fronten der beiden sich befehdenden Mitglieder des Königshauses geraten war.
Die Menschenmenge, die auf der Brücke eingekesselt war, geriet in Panik, als sich die Nachricht über die anrückenden Soldaten verbreitete. Während Jamie sich einen Weg über den ersten Teil der Brücke bahnte, hallten ihre Schreie von den Gebäuden wider.
Er war noch knapp zwanzig Meter von der Dame entfernt, als er sie schreien hörte. Hände zerrten an ihr und versuchten, sie von ihrem Pferd zu reißen. Sie wehrte sich wie eine Irre und schlug mit ihrer Peitsche um sich.
Irgendjemand bekam ihren Kopfputz zu fassen. Trotz des Lärms auf der Brücke hörte Jamie das Aufkeuchen der Männer um sie herum, als eine Kaskade weißblonden Haars über ihre Schultern bis zu ihren Hüften fiel.
Er hielt die Luft an. Es gab nur eine Frau in der ganzen Christenheit, die solches Haar hatte. Linnet.
Und sie war in großer Gefahr.
»Rührt die Dame nicht an!«, brüllte er. Er riss sein Schwert hoch und zog die Zügel an, sodass Thunder ein paar Schritte rückwärtsging, um den Weg frei zu machen.
Er drängte sich durch die brodelnde Menge. Während er die letzten Meter zurücklegte, hörte er Linnets Stimme, die sich über das Getöse erhob und die Männer auf Englisch und Französisch verfluchte.
Ein bulliger Mann packte mit schmierigen Fingern ihren Oberschenkel, und in Jamie loderten Mordgelüste. Gerade als Linnet die Peitsche hob, um sie dem Mann überzuziehen, blickte sie auf und erkannte Jamie. Ihre Blicke trafen sich, und alle Geräusche um ihn herum verstummten.
In diesem Augenblick der Unachtsamkeit packte der bullige Mann ihren Arm mit der Peitsche. Ein anderer zerrte an ihrem Gürtel. Über das Rauschen in seinen Ohren hörte Jamie ihren markerschütternden Schrei, als die Männer sie von ihrem Pferd zogen.
»Halt dich fest!«, brüllte er.
Sie hing seitlich vom Pferd und hielt sich mit beiden Händen am Sattel fest. Gott stehe ihm bei, sie würde jeden Moment zu Tode getrampelt werden. Ihr Pferd war bis zu diesem Zeitpunkt erstaunlich ruhig geblieben. Doch jetzt, da seine Reiterin nicht länger im Sattel saß, verdrehte es nervös die Augen und tänzelte, wild mit dem Kopf schlagend, in die Menge. Jamie blieb schier das Herz stehen, als Linnet zur Seite geworfen wurde.
Die Männer, deren Griff durch die Bewegungen des Pferdes gelöst worden waren, streckten die Hände nach Linnets Röcken aus. Sie hielt sich nur noch mit einer Hand fest, als Jamie sich endlich zu ihr durchgekämpft hatte. Mit einem einzigen Hieb seines Schwertes tötete er die beiden Männer, während er sich hinabbeugte und Linnet mit dem anderen Arm um die Taille zu fassen bekam und zu sich auf Thunders Rücken zog.
Gelobt sei der Herr! Er hatte sie! Jetzt mussten sie nur noch von dieser verdammten Brücke herunterkommen, bevor die Pfeile flogen.
»Mein Pferd!«, sagte sie und drehte sich so, dass sie über seine Schulter blicken konnte.
Ohne Vorwarnung beugte sie sich mit ausgestreckten Armen seitlich hinab. War die Frau verrückt? Er hielt sie fester, während sie die Arme lang machte, um mit den Fingerspitzen an die losen Zügel ihres Zelters zu gelangen.
Sie setzte sich auf und grinste ihn triumphierend an, als sie die Zügel in den Händen hielt. Gütiger Gott, sie hatte sich kein bisschen verändert. Am glücklichsten war sie inmitten von Tumult und Chaos. Es würde ihn nicht wundern, wenn er herausfände, dass nicht Gloucester, sondern sie für die Unruhen verantwortlich war.
»Du freust dich zu früh«, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen. »Wir können immer noch getötet werden.«
Sie blickte zur Seite und hieb mit der Peitsche auf einen Arm, der sich nach dem Zaumzeug ihres Schimmels ausstreckte. Er wendete Thunder und brüllte in die Menge: »Runter von der Brücke! Runter von der Brücke!«
Die in Panik geratene Menschenmenge brandete gegen sie wie die rollenden Wellen des Meeres gegen ein Schiff auf See. Linnet ignorierte seine wiederholten Befehle, das verdammte Pferd loszulassen und sich festzuhalten. Er musst sie so fest an sich pressen, dass er gewiss Blutergüsse an ihren Rippen hinterließ, während sie mit der Reitpeitsche auf Menschen einschlug, die versuchten, an die Zügel ihres Zelters zu gelangen.
Sie fühlte sich so leicht an. Es kam ihm wie ein Wunder vor, dass es ihr so lange gelungen war, sich die Männer vom Leib zu halten und im Sattel zu bleiben. Doch jeder, der sie jetzt berührte, war ein toter Mann. Jamie war ein in der Schlacht gestählter Ritter. Jetzt, da er sie hatte, bestand für ihn kein Zweifel mehr, dass er sie vor dem Mob schützen konnte.
Fliegende Pfeile waren jedoch eine andere Sache.
Wie durch ein Wunder gelang es ihm, das Ende der Brücke zu erreichen, bevor die Männer des Bischofs den Weg versperrten. Dort wandte er sich nach Osten und ritt am Flussufer entlang von der Brücke und der Menschenmenge fort, bis sich sein Herzschlag normalisiert hatte.
Sie waren eine Viertelmeile geritten, ehe er das Wort an sie richtete. »Was in Gottes Namen hattest du auf der Brücke verloren? Jeder Idiot konnte sehen, dass man da heute besser nicht sein sollte.«
Linnet drehte sich um und sah ihn an. Nach überstandener Gefahr schlug sein Herz jetzt einen Purzelbaum in seiner Brust. Musste sie so schön sein? Sie war der Fluch seines Lebens.
»Auch ich freue mich, dich wiederzusehen, Jamie Rayburn.« Sie legte den Kopf schief und zog eine Augenbraue hoch. »Nach all den Jahren hatte ich eine nettere Begrüßung erwartet.«
Er sah mit leerem Blick in die Ferne und schnaubte. Gott im Himmel, wie konnte sie nach dem, was gerade auf der Brücke passiert war, so kühl sein?
Als sie sich leicht an ihn lehnte, begann sein Brustkorb zu prickeln. Lust und Verlangen überfielen ihn wie ein Fieber. Er sollte sie jetzt besser auf ihr eigenes Pferd setzen. Er wollte gerne so tun, als wäre sie zu mitgenommen, um alleine zu reiten, aber der Gedanke war lächerlich. Diese eine kleine Schwäche würde er sich erlauben. Sie bedeutete nichts.
»Ich hörte, du wärst mit Bedford in Frankreich«, sagte sie.
»Hm.«
»Wann bist du in London angekommen?«
»Gestern.«
Nach einer langen Pause fragte sie: »Willst du mir erzählen, was du in England machst?«
»Nein.«
»Oder mich fragen, warum ich hier bin?«
»Nein.«
Er spürte, wie sie an seiner Brust seufzte. Gegen seinen Willen erinnerte er sich an andere Seufzer, andere Zeiten …
Er musste sie loswerden. »Ich gehe davon aus, dass dein Diener allein zurückfindet. Wohin soll ich dich bringen?«
»Zum bischöflichen Palast«, sagte sie. »Dort finde ich jemanden, der mich zu meiner Unterkunft begleitet.«
Gut. Besser, er wusste nicht, wo sie wohnte. Nicht, dass er sie aufsuchen würde, aber ein weiser Mann mied die Versuchung, wenn es um Linnet ging.
Er nahm einen Umweg zum Bischofspalast, um nicht wieder in die Menschenmenge zu geraten. Trotz des Gestanks des Flusses und der Stadt nahm er den herben Zitronenduft ihres Haars wahr. Die Erinnerung daran, wie er sein Gesicht in ihrem Haar vergraben hatte, traf ihn wie ein Schlag in die Magengrube.
Sobald er Linnet sicher im Innern der Palastmauern abgesetzt hatte, verließ er sie.
Er ging sofort zum Bischof, der sein Angebot annahm, im Streit mit Gloucester zu vermitteln. Für den Rest des Tages war er viel zu sehr mit der Krise beschäftigt, um an seine Begegnung mit Linnet zu denken. Mit den anderen Gesandten ritt er achtmal über den Fluss und wieder zurück, um einen Kompromiss zu erwirken. Es war bereits spät in der Nacht, bevor die beiden sich befehdenden Mitglieder der königlichen Familie sich einigten.
Erschöpft fiel Jamie ins Bett. Solange das Land am Rande eines Bürgerkriegs gestanden hatte, war es ihm gelungen, alle Gedanken an Linnet beiseitezuschieben. Doch kurz vor Sonnenaufgang wurde er von einem Traum von ihr gequält. Nicht diese ärgerliche, sentimentale Art von Traum, die er in der ersten Zeit nach seiner Abreise aus Paris so oft gehabt hatte. Nein, das hier war ein rauer, sinnlicher Traum, in dem sie sich auf ihm wand und seinen Namen stöhnte. Nach Luft schnappend wachte er auf.
Er brauchte eine Frau. So viel stand fest.
Doch zuerst rief die Pflicht. Der Herzog von Bedford hatte ihn mit zwei Aufträgen aus Frankreich nach Hause gesandt. Letzte Nacht hatte er den ersten davon erfüllt, indem er Bedford seinen Bericht über den Konflikt zwischen Gloucester und dem Bischof geschickt hatte.
Heute Morgen musste er sich um seinen zweiten Auftrag kümmern: die junge verwitwete Königin während der Krise zu beschützen. Er schuldete diesen Dienst nicht nur Bedford, sondern auch seinem verstorbenen König. Doch vielleicht konnte er Pflicht und Spaß miteinander verbinden. Erfahrungsgemäß würde eine der Hofdamen mit Freuden für eine Weile das Bett mit ihm teilen.
Gleich nach dem Frühstück brach er zu dem sechs Meilen entfernten Eltham auf. Kurz nachdem er im Palast angekommen war, wurde er zu den Privatgemächern der Königin gebracht. Als er eintrat, erhob sich Königin Katharina, eine zerbrechlich wirkende vierundzwanzigjährige Frau, um ihn zu begrüßen.
»Königliche Hoheit«, sagte er und sank auf ein Knie.
Als er aufsah, bemerkte er die aufflackernde Traurigkeit in ihren Augen und wusste, dass er sie an jenen schrecklichen Tag bei Vincennes vor den Toren von Paris erinnerte. Er war einer der Ritter gewesen, die den sterbenden König ins Schloss getragen hatten, wo die Königin ihn erwartet hatte.
»Ich freue mich so sehr, dass Ihr gekommen seid, Sir James«, sagte sie und reichte ihm ihre Hand für einen Kuss. Sie sah an ihm vorbei und lächelte. »Und ich glaube, meine Freundin ebenfalls, n’est-ce pas?«
Er drehte sich um, um dem Blick der Königin zu folgen.
Linnet rauschte an ihm vorbei und nahm ihren Platz neben Königin Katharina ein. Mit ihrer eigensinnigen Miene und dem vorgereckten Kinn sah sie königlicher aus als Katharina. Und er kroch wieder einmal zu ihren Füßen herum.
Als die Königin nickte, erhob er sich.
»Meine Freundin sagt, Ihr wolltet ihr nicht erzählen, was Euch nach England zurückführt«, sagte die Königin kokett lächelnd. »Aber mir werdet Ihr es doch anvertrauen, oder?«
»Ich komme im Auftrag des Herzogs von Bedford, der sich um Eurer Wohlergehen sorgt.« Er konnte ihr nichts von Bedfords anderem Auftrag für ihn erzählen.
»Er war mir gegenüber immer sehr freundlich«, sagte die Königin mit sanfter Stimme. Sie musste nicht hinzufügen: im Gegensatz zu Gloucester.
»Ich habe aber auch noch einen persönlichen Grund«, fügte Jamie zu seiner eigenen Überraschung hinzu. »Ich bin nach Hause gekommen, um zu heiraten.«
Es war sehr befriedigend zu hören, wie Linnet nach Luft schnappte.
Die Königin klatschte in die Hände. »Wie reizend!«
»Ich habe so viele ermüdende Geschichten über meine Heldentaten zu erzählen«, sagte er, »dass ich mir allmählich eine Frau suchen muss.«
Die Königin lachte, obwohl sie den Scherz nicht verstanden haben konnte. Sie wandte sich an Linnet. »Was für eine Dame sollten wir für unseren schönen James wohl suchen?«
Linnet sah ihn direkt mit ihren eisblauen Augen an und sagte: »Ich denke, das muss er schon selbst entscheiden.«
Ohne den scharfen Unterton in Linnets Stimme registriert zu haben, verschränkte die Königin die Hände und strahlte ihn an. »Dann sagt uns doch, Sir James: Was für eine Dame würde Euch gefallen?«
»Eine langweilige englische Edeldame«, antwortete James, wandte sich zu Linnet und begegnete ihrem unverwandten Blick. »Die Sorte, die eine tugendsame Ehefrau abgibt.«
2
Linnet grub die Fingernägel in ihre Handflächen, um das Brennen in ihren Augen zu unterdrücken, und bemühte sich um eine gelassene Miene.
Eine tugendsame Ehefrau, in der Tat.
Wie konnte Jamie nur so gemein sein, sie absichtlich zu beleidigen? War es nicht genug, dass er sie vor fünf Jahren im Stich gelassen hatte, ohne sich auch nur ein einziges Mal nach ihr umzudrehen? Erst schwor er ihr unsterbliche Liebe, und dann verließ er sie, ohne ihr auch nur den Hauch einer Chance zu geben, ihm alles zu erklären.
Sie hatte ihre Gründe dafür gehabt, was sie getan hatte. Gute Gründe. Wer war er, dass er sie verurteilte? Jamie war in einer großen und politisch einflussreichen Familie aufgewachsen, mit liebevollen Eltern, die sich um ihn kümmerten. Sie war ein junges Mädchen mit geringen Aufstiegschancen gewesen.
Um ihr Schicksal in die Hand zu nehmen, musste sie beherzt handeln. Sie tat, was sie tun musste. Jamie versuchte nicht einmal, sie zu verstehen.
Es war ihr gelungen, die Heirat mit diesem lüsternen Teufel Guy Pomeroy zu verhindern. Bevor Alain sie mit einem anderen Mann seiner Wahl verheiraten konnte, hatte sie damals schnell gehandelt und selbst eine Ehe für sich eingefädelt.
So einfach war sie Alains Fuchtel entronnen. Es war äußerst befriedigend. Alain war gleichermaßen entsetzt und erzürnt gewesen, doch er hatte nichts tun können. Der Mann, den sie gewählt hatte, war zu einflussreich. Ihr Zwillingsbruder François hatte sich wegen der Heirat mit ihr gestritten und behauptet, sie würde sich selbst schaden.
Aber das war es wert gewesen. Alle ihre Pläne waren aufgegangen. Ernüchternd war nur dieser schreckliche Schmerz in ihrem Herzen, den sie immer dann verspürte, wenn sie an Jamie Rayburn dachte. Sonst gab es nichts, was sie hätte ändern wollen.
Sie starrte ihn an, während er mit der Königin sprach, und versuchte, den zärtlichen jungen Mann zu sehen, den sie einst gekannt hatte. Sir James hatte dasselbe lange dunkle Haar, dieselben erstaunlichen mitternachtsblauen Augen wie ihr Jamie. Jeder seiner Züge war ihr vertraut; und doch war er nicht derselbe.
Jetzt war er hart und kantig. Es lag nicht nur daran, dass sein Gesicht schmaler und sein Körper muskulöser war. Auch Jamie hatte schon die Furchtlosigkeit und das Selbstbewusstsein besessen, das dieser Mann gestern auf der Brücke gezeigt hatte. Doch früher hatte sie auch noch eine Zärtlichkeit gespürt, die er ihr gegenüber gezeigt hatte. In dem Mann, der jetzt vor ihr stand, konnte sie davon nichts mehr entdecken.
Er erzählte der Königin von den gestrigen Ereignissen in der City. Offenbar war er sich des erstaunlich geringen Interesses der Königin an Politik nicht bewusst.
Die Königin schenkte ihm ein freundliches Lächeln und raffte ihre Röcke. »Es ist Zeit, dass wir uns mit dem Hofstaat zum Abendessen begeben.«
»Königliche Hoheit, wir müssen jetzt reden«, sagte Jamie. »Gloucester wird in zwei Stunden hier sein.«
Die Königin stand stocksteif da und starrte ihn aus großen Augen an. »Gloucester kommt? Hierher nach Eltham?«
»Der Kompromiss mit dem Bischof sieht vor, dass Euer Sohn mit Gloucester nach Westminster reist. Der König wird von Männern begleitet, denen sowohl Gloucester als auch der Bischof vertrauen.«
»Ihr sprecht, als wäre der König ein erwachsener Mann und kein dreijähriges Kind«, sagte die Königin mit erstickter Stimme. »Aber wenn die beiden so entschieden haben, kann ich nichts daran ändern.«
Jamie erwiderte offen Katharinas Blick; sie wussten alle, dass sie in diesem Kampf machtlos war.
»Wird es mir erlaubt sein, meinen Sohn zu begleiten?« Da der Rat einen separaten Haushalt des Königs angeordnet hatte, konnte die Königin nicht länger davon ausgehen, dass sie mit ihrem Sohn reisen durfte.
»Ihr seid nach Westminster eingeladen«, sagte Jamie. »Doch es wurde angeregt, dass Ihr nach Schloss Windsor zieht, wenn der König in einigen Tagen nach Eltham zurückkehrt. Dort seid Ihr vor den Tumulten in London sicher«, fügte Jamie ein wenig sanfter hinzu. »Der König wird Euch in ein paar Wochen dorthin folgen, denn der Rat hat beschlossen, dass der Weihnachtshof in diesem Jahr auf Schloss Windsor abgehalten wird.«
Jetzt raffte die Königin ihre Röcke und rauschte an Jamie vorbei zur Tür.
Linnet versuchte normalerweise, die Königin für die politischen Intrigen um sie herum zu sensibilisieren. Ihre Freundin zog es jedoch vor, Ereignisse zu ignorieren, die sie glaubte, nicht beeinflussen zu können. Wenn sie unangenehmen Nachrichten nicht gänzlich aus dem Weg zu gehen vermochte, dann schob sie sie so rasch wie möglich beiseite.
Linnet atmete tief ein und versuchte nach der Königin an Jamie vorbeizugehen, doch er packte sie am Arm.
»Was machst du hier, Linnet?«
Sie riss sich von ihm los. »Ich dachte, das wolltest du nicht wissen.«
»Es ist meine Pflicht, die Königin vor jeglicher Gefahr zu schützen«, sagte er. »Sag mir, warum du hier bist.«
Sie starrte ihn böse an. »Weil sie mich darum gebeten hat.«
Sie wand sich aus seinem Griff und marschierte zur Tür. Mit energischen Schritten kam er vor ihr dort an. Er versperrte ihr mit vor der Brust verschränkten Armen den Weg.
»Warum hat sie dich darum gebeten?«, wollte er wissen. »Und warum bist du ihrem Ruf gefolgt?«
»Weil ich ihre Freundin bin und sie hier sonst niemanden hat«, antwortete sie und ballte die Fäuste. »Man hat ihr einziges Kind aus ihrer Obhut genommen, und sie darf nicht einmal seine Kindermädchen aussuchen. Sie behandeln sie so ohne jede Achtung, man könnte meinen, sie glaubten, sie stünde auf der Seite ihres Bruders, des Dauphin.«
Linnets Herz flatterte, als Jamie sich näher zu ihr beugte.
Leise fragte er: »Und, tut sie das?«
»Natürlich nicht!« Linnet wich einen Schritt zurück. »Unsere französische Prinzessin wurde dazu erzogen, nie eine eigene Meinung zu haben, Konflikte um jeden Preis zu vermeiden und immer genau das zu tun, was man ihr sagt.«
»Das hat ihr bisher nicht geschadet«, sagte Jamie. »Ich mag mir gar nicht ausmalen, was du ihr möglichweise beibringst.«
»Ich würde niemals zulassen, dass sie den Fehler begeht, den Dauphin zu unterstützen«, zischte sie ihn an. »Diesem erbärmlicheren Abklatsch eines Königs hoffe ich nie zu begegnen.«
»Dann bist du also die Vertraute der Königin?«
»Ich mag sie außerordentlich gern, und ich versuche, sie zu beraten …« Linnet hob die Arme in die Luft. »Doch wenn ich sie auffordere, einen diplomatischen Spagat zwischen Gloucester und Bischof Beaufort zu machen, fragt sie mich, was man diese Saison in Paris trägt.«
Sie holte tief Luft und zwang sich dazu, nicht weiterzusprechen. Die Nachricht, dass Gloucester demnächst eintreffen würde, ließ sie vor Sorge um die Königin schier verrückt werden. Außerdem hatte sie Jamies Bemerkung über tugendhafte Ehefrauen aufgebracht.
»Was du gesagt hast, war unfair«, sagte sie und schaute ihn mit funkelnden Augen an. »Ich habe nie gesagt, du wärst langweilig. Ich sagte bloß, dass ich so ein Leben nicht für mich wollte.«
Seine Augen versprühten Feuer, und sie hatte die Genugtuung, seine Fassade der kontrollierten Beherrschung durchbrochen zu haben. Jamie mochte garstige Andeutungen darüber machen, was vor fünf Jahren zwischen ihnen vorgefallen war, aber er war nicht darauf gefasst, dass sie offen darüber sprach.
Er ballte die Fäuste und beugte sich vor, als wollte er ihr ins Gesicht brüllen. Sie hoffte, er würde es tun. Doch stattdessen trat er einen Schritt zurück. Er biss die Zähne aufeinander und straffte sich.
Als er sprach, war seine Stimme so ruhig wie das Wasser eines Teichs. »Wir sollten jetzt am besten mit der Königin zu Abend essen.«
Sie weigerte sich, den Arm zu nehmen, den er ihr anbot. Der Weg die Treppe hinunter und den endlosen Korridor entlang dauerte ewig.
»Es überrascht mich, dass du immer noch auf Brautschau bist«, sagte sie, um ihn ein wenig zu ärgern. »Gewiss hast du doch noch andere unschuldige Jungfrauen gefunden, die du zur Heirat verführen konntest.«
Er packte ihren Arm und riss sie zu sich herum. »Ich habe dich nicht verführt, das weißt du selbst nur allzu gut.«
»Hm.« Sie drehte den Kopf weg und reckte das Kinn in die Luft. Sie konnte ihm nicht widersprechen; doch das hieß nicht, dass sie ihm zustimmen musste.
Er ließ ihren Arm los und atmete aus.
»Wie genau willst du denn zu einer Ehefrau kommen?«, fragte sie, als sie ihren Weg den Korridor hinunter fortsetzten. »Da es eher unwahrscheinlich ist, dass du sie mit deinem überbordenden Charme für dich gewinnst, nehme ich an, dass du deine Familie eine Ehe arrangieren lässt.«
»Das ist so üblich«, spie er aus. »Aber ich habe berechtigte Hoffnung, dass Bedford oder sein Onkel eine angemessene Dame vorschlagen werden.«
Er musste Bedford in der Tat beeindruckt haben, wenn die königliche Familie ihm eine Partie vermittelte.
»Eine angemessene Dame – bedeutet das eine reiche?«, fragte sie mit ihrer liebreizendsten Stimme. »Eine tugendhafte, natürlich.«
Jamies Kiefernmuskulatur spannte sich an, doch er hielt den Blick stur geradeaus.
»Reich und tugendhaft. Eigenschaften, die jeden Mann befriedigen.« Sie machte eine bedeutungsvolle Pause. »Da bin ich mir sicher.«
Sie waren endlich im Saal angelangt, deshalb verließ sie Jamie, ohne sich noch einmal umzudrehen, und machte sich auf die Suche nach Edmund Beaufort. Edmund war jung, gut aussehend, brillant – und ledig, die größte Hoffnung der jüngsten Generation von Beauforts. Und Linnet hatte das dringende Bedürfnis, mit ihm zu sprechen.
Als sie ihn erblickte, hätte sie am liebsten laut aufgestöhnt. Wie oft hatte sie die Königin davor gewarnt, ausgerechnet diesem jungen Mann ihre Gunst zu erweisen? Aber nein, Königin Katharina musste mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht direkt zu Edmund gehen, seinen Arm nehmen und ihn einladen, den Ehrenplatz neben ihr an der Tafel einzunehmen.
Linnet hätte sie für ihre Dummheit ohrfeigen können. Nein, die Königin war nicht dumm. Sie flirtete bloß von Natur aus gern. Nachdem sie ihre Mädchenjahre in einem Kloster verbracht hatte und danach mit dem glorreichen König Heinrich verheiratet war, kam sie in dieser Hinsicht erst jetzt zum Zug.
Linnet würde ihren ganzen Besitz darauf verwetten, dass Edmund Beaufort von seinem Onkel dazu angehalten worden war, die Königin zu umwerben. Zweifellos fand Edmund die Königin charmant und hübsch, denn das war sie. Aber er war ein Beaufort; alles, was er tat, war kalkuliert. Wenn Edmund der Stiefvater des jungen Königs wurde, konnte er in den nächsten Jahren unbeschreiblichen Einfluss auf den Jungen nehmen.
Die Aussicht, dass dies passieren könnte, würde Gloucester einen Tobsuchtsanfall bekommen lassen. Falls Gloucester Gerüchte über die Flirterei der Königin mit Edmund zu Ohren gekommen waren, würde das erklären, warum er so unbeherrscht reagiert und diesen Aufstand in London angestachelt hatte.
Fast alle anderen hatten sich bereits gesetzt, sodass Linnet sich beeilte, zu ihrem Platz am Ende der hohen Tafel zu gelangen. Sie ignorierte die Versuche der Männer rechts und links von ihr, sie in ein Gespräch zu verwickeln, und ließ die Königin und Edmund nicht aus den Augen.
Die Heiligen mussten ihr beistehen! Katharina und Edmund sahen einander tief in die Augen. Als die Königin Edmund eigenhändig mit einer Auster fütterte, legte Linnet ihr Messer beiseite. Sie musste Edmund aus Eltham fortschaffen, bevor Gloucester eintraf.
Jamie, der am anderen Ende der Tafel saß, beobachtete die Königin und Edmund ebenfalls mit säuerlicher Miene. Plötzlich schweifte sein Blick ab, und sie schauten einander direkt in die Augen. Warum musste Jamie Rayburn ausgerechnet jetzt hier auftauchen? Sie würde nicht zulassen, dass die stürmischen Gefühle, die er in ihr entfachte, sie ablenkten.
Und sie würde sich auch nicht länger seine verdammten Beleidigungen anhören. Sie wandte den Blick ab und stand auf.
Sie trat hinter die hohe Tafel und flüsterte ihre Entschuldigung der Königin ins Ohr. »Wenn mein Tischherr noch einmal versucht, seine Hand auf mein Knie zu legen, werde ich mich nicht länger beherrschen können und eine Szene machen.« Sie hob die Stimme gerade genug, dass Edmund Beaufort sie hören konnte. »Erlaubt Ihr mir, dass ich für einen kurzen Ausritt entfliehe, Königliche Hoheit?«
»Natürlich«, sagte die Königin, »wenn Ihr versprecht, mir später zu sagen, wer es war.«
Linnet richtete sich auf und sah Beaufort in die Augen, bevor sie ging.
Direkt hinter dem Eingang zum Saal sprach sie einen Knappen an. »Würdest du für mich eine Nachricht überbringen?«
Der Knappe starrte sie mit großen Augen an. »Es ist mir ein Vergnügen, Euch zu dienen, Mylady.«
Er sog hörbar die Luft ein, als sie sich näher an ihn lehnte. »Zähl bis hundert«, sagte sie an seinem Ohr, »geh dann zu Edmund Beaufort und sage ihm, dass ich ihn in den Stallungen erwarte.«
Sie richtete sich auf und legte einen Finger auf die Lippen. »Lass diese Botschaft sonst niemanden hören.«
Sobald das Mahl beendet war, machte sich Jamie auf die Suche nach Edmund Beaufort. Der Kompromiss, der letzte Nacht ausgehandelt worden war, würde ihnen um die Ohren fliegen, wenn die Königin sich vor Gloucester mit Edmund Beaufort zum Narren machte. Nachdem er das gesamte Schloss durchsucht hatte, erblickte er Martin, seinen neuen Knappen.
»Hilf mir, Edmund Beaufort zu finden«, sagte er.
Der Junge wurde puterrot. Was war los mit ihm?
»Habt Ihr es schon in den Stallungen versucht?«, fragte Martin.
»Warum? Hast du gesehen, wie er dorthin gegangen ist?«
»Er ging in die Richtung«, sagte Martin. »Er schien sich zu beeilen.«
»Vielleicht besitzt der Mann genug gesunden Menschenverstand, um sich von allein aus dem Staub zu machen«, sagte Jamie mehr zu sich selbst als zu seinem Knappen.
Martin räusperte sich. »Ich glaube nicht, dass er sich mit dem Gedanken trug, das Schloss zu verlassen.«
»Wie kommst du darauf?«
Martin sah aus, als leide er Schmerzen. »Das kann ich Euch nicht sagen.«
Um Gottes willen. »Dann werde ich es selbst herausfinden«, spie er aus.
Jamie fragte sich, ob es ein Fehler gewesen war, Martin als Knappen in seine Dienste zu nehmen. Er hatte es bloß getan, weil der Ritter, dem der Junge vorher gedient hatte, in Frankreich gefallen war.
Auf seinem Weg zu den Stallungen kehrten seine Gedanken zu Linnet zurück – und zu ihrer gehässigen Bemerkung darüber, dass eine reiche und tugendhafte Ehefrau ihn »befriedigen« würde. Vielleicht hätte er antworten sollen, dass er sich von seiner Frau auch erhoffte, dass er im Bett den Verstand verlor. Doch nur eine einzige Frau war je dazu in der Lage gewesen.
Als er durch das Stalltor schritt, erblickte er genau diese Frau. Linnet stand mit dem Rücken zu ihm und streichelte und sprach mit dem weißen Zelter, den sie auf der Brücke geritten hatte.
Er hielt den Atem an, als sie den Kopf des Tieres zwischen die Hände nahm und ihm auf die Stirn küsste. Jetzt wusste er, warum das Pferd sie derart ruhig durch einen solchen Aufstand trug.
Jamie trat in den Schatten, als Edmund Beaufort mit einem Knappen, der sein Pferd führte, aus dem Innern der Stallungen kam. Linnet drehte sich um und schenkte Beaufort ein strahlendes Lächeln.
Dann war es also Linnet, deretwegen Beaufort in den Stallungen war. Jamie musste Martin fragen, woher er das gewusst hatte.
»Danke«, sagte Linnet zu Beaufort. »Eltham jetzt zu verlassen, ist die einzige weise Entscheidung, die Ihr treffen könnt.«
Beaufort nahm ihre Hand. »Kommt mit mir.«
»Ich kann die Königin nicht mit Gloucester allein lassen«, sagte sie mit einem Lachen in der Stimme. »Er würde sie bei lebendigem Leibe verspeisen und anschließend die Knochen wegwerfen.«
»Bevor ich gehe, muss ich Euch sagen, dass Ihr die aufregendste Frau seid, die ich je kennengelernt habe«, sagte Beaufort und hob ihre Hand an die Lippen.
»Ich kann das kaum als ein Kompliment werten, Sir, da Ihr erst neunzehn Jahre alt seid und die letzten sieben Jahre als Geisel gehalten wurdet.«
Beaufort lachte. »Ich lebte in einem goldenen Käfig. Und ich war nicht gänzlich weiblicher Gesellschaft beraubt.«
»Ihr habt Euch mit Anhängerinnen des Dauphins vergnügt? Schämt Euch! Wartet nur ab, wenn ich das Eurem Onkel erzähle.«
Das Blut rauschte in Jamies Ohren. Er erinnerte sich daran, wie oft er in jenen Wochen, die sie in Paris zusammen gewesen waren, von Eifersucht erfasst worden war. Wie oft hatte er zugesehen, wie andere Männer sie angesprochen hatten? Eine schöne Frau zu lieben, war die Hölle auf Erden. Er hatte es nur deshalb ertragen, ohne jemanden umzubringen, weil er geglaubt hatte, Linnet würde niemals mit einem anderen Mann gehen. Er war so dumm gewesen zu glauben, dass sie ihn liebte.
Edmund Beaufort sagte wieder etwas. »Ich liebe die Königin …«
Linnet unterbrach ihn mit einem Schnauben.
»… aber sie ist ein wenig einfach. Wenn ich heiraten könnte, wen ich wollte, würde ich Euch wählen.«
Jamie war kurz davor, sich zu übergeben.
»Hat Euch Euer Großonkel Geoffrey Chaucer das Süßholzraspeln beigebracht?« Linnets Stimme triefte vor Sarkasmus.
»Wenn Ihr meine Frau wärt, könntet Ihr mich beraten«, sagte Beaufort. »Denkt nur, was wir alles gemeinsam erreichen könnten.«
»Ich bin mir sicher, dass Euch allein an meinem Rat gelegen ist«, sagte Linnet und knuffte Beaufort heftig in den Arm. »Kommt, Edmund, Ihr müsst jetzt los.«
Plötzlich hielt Beaufort Linnet fest an seine Brust gedrückt. Mit einem schalkhaften Lächeln sagte er: »Ich gehe erst, wenn Ihr mich küsst.«
»Beaufort«, rief Jamie und trat aus dem Schatten. »Die Dame gibt Euch einen guten Rat. Ihr solltet rasch aufbrechen.«
Der Schuft seufzte tief, bevor er sie losließ.
»Ich bitte Euch, meinen Antrag zu überdenken«, sagte Beaufort leise, während er Linnets Hand noch einmal an die Lippen hob. »Adieu, ma belle. Adieu.«
Sobald Beaufort gegangen war, um sich seinen Soldaten, die vor den Stallungen auf ihn warteten, anzuschließen, sagte Jamie: »Ich muss dir raten, dich nicht mit Edmund Beaufort einzulassen.«
Linnet sah ihn mit großen Augen an. »Mich mit Edmund einlassen?«
»Ich nehme an, du willst damit sagen, dass du nur mit ihm geflirtet hast, um deine Freundin zu schützen?«
»Jemand musste dafür sorgen, dass er ging.« Sie zuckte die Achseln. »Es ist gefährlich für die Königin, mit Edmund zu flirten, aber für mich gilt das nicht.«
»Und wenn Flirten nicht ausreicht, um ihn von der Königin abzulenken, was dann?«
Sie stützte die Hände in die Hüften und musterte ihn verärgert. Dann drehte sie sich um und rief zwei Stalljungen zu, die auf der anderen Seite des Stalls Heu verteilten: »Könnte einer von euch mein Pferd für mich satteln?«
Beide Jungen kamen angerannt. Im Handumdrehen war das verdammte Pferd gesattelt und aufgetrenst.
»Wenn du die Königin siehst, sag ihr bitte, dass ich sie morgen in Westminster treffe«, sagte sie zu Jamie, während sie sich ihre Reithandschuhe überstreifte. »Lass sie nicht mit Gloucester allein.«
Jamie folgte ihr und sah zu, wie die beiden Jungen sich schier überschlugen, um ihr beim Aufsitzen behilflich zu sein.
Als sie im Sattel saß, fragte Jamie mit verkniffenem Mund: »Und was soll ich der Königin sagen, wohin du geritten bist?«
»Es gibt ein paar Angelegenheiten in der Stadt, um die ich mich kümmern muss«, sagte sie.
Angelegenheiten, die Edmund Beaufort und ein Bett beinhalten? Das Blut pulsierte in seinen Adern.
»Persönliche Angelegenheiten«, sagte sie und drehte damit die Klinge in seiner Wunde, »die dich nichts angehen.«
Er sah zu, wie sie auf ihrem weißen Pferd hinter Beaufort hergaloppierte. Verdammt sollte sie sein!
3
Das Herz schlug ihr bis zum Hals, während Linnet durch das Haus des Wollhändlers schlenderte. Der Geruch des Flusses drang durch die Mauern und brachte einen Schwall von Erinnerungen mit sich.
Linnet ging von Raum zu Raum und gab dabei dem Diener, der ihr auf den Fersen folgte, Anweisungen.
»Verkauft das hier … und das auch.« Im Vorbeigehen deutete sie auf einen mit kunstvollen Schnitzereien verzierten Stuhl und ein passendes Tischchen. Die meisten Möbel hier hatten nicht ihrer Familie gehört, weshalb sie kein Interesse an ihnen hatte.
Sie befand sich im Londoner Haus ihres Großvaters. Solange ihre Erinnerung zurückreichte, hatten sie, François und ihr Großvater hier gewohnt, wenn ihr Großvater den Londoner Kaufleuten seinen halbjährlichen Besuch abstattete. Es war nie so prachtvoll wie ihre Häuser in Falaise und Calais gewesen. Doch heute kam es ihr noch viel kleiner und schäbiger vor, als es in ihrer Erinnerung gewesen war.
Wie die meisten Kaufleute hatte ihr Großvater sein Geschäft im Erdgeschoss betrieben. Die Küche lag hinter den Geschäftsräumen, und das Wohnzimmer und die Schlafzimmer der Familie befanden sich darüber.
Auf der Schwelle des Wohnzimmers hielt Linnet inne. Sie lächelte, als sie sich an die Abende erinnerte, die sie mit François beim Schach- oder Backgammonspiel auf dem Fußboden vor der Kohlenfeuerschale verbracht hatte.
»Möchtet Ihr irgendetwas aus diesem Zimmer behalten«, fragte ihr Diener.
Ein Fußschemel in der Ecke weckte ihr Interesse. Sie schluckte den Kloß im Hals herunter, als ihr einfiel, wie sie die Füße ihres Großvaters am Ende eines langen Tages darauf gebettet hatte.
»Lasst das in mein Haus bringen«, sagte sie.
»Den Schemel, Mylady?« Der Diener blickte von dem Pergamentpapier auf, das er in der Hand hielt, und zog die dünnen weißen Augenbrauen hoch. »Er ist in einem sehr schlechten Zustand.«
Als sie nickte, steckte er wieder die Nase über das Pergament und kritzelte eine Notiz. Sie ließ ihn im Wohnzimmer zurück, um in das angrenzende Schlafzimmer zu treten.
Die Kehle schnürte sich ihr zu, und sie rang nach Luft.
Plötzlich war sie wieder elf Jahre alt und versteckte sich mit ihrem Bruder unter dem schweren, dunklen Eichenbett. Hand in Hand hatten sie und François mit rasenden Herzen zugesehen, wie die Füße der Männer sich im Schlafzimmer hin und her bewegten. Ihre Handflächen wurden schweißnass, als sie sich an die Stimmen der Männer erinnerte, die sich darüber stritten, wer was nehmen würde. Das silberne Ende eines Gehstocks wurde bei jedem Entschluss entschieden auf den Boden gestoßen.
Sie drehte sich so schnell um, dass sie ihren alten Diener erschreckte. »Warum ruht Ihr Euch nicht hier im Wohnzimmer ein wenig aus, Master Woodley, während ich auf den Speicher hinaufgehe. Es ist unwahrscheinlich, dass dort oben irgendetwas ist, was es lohnt, aufgehoben zu werden, und die Treppe ist steil.«
»Habt herzlichen Dank, Mylady«, sagte er und nickte.
Sie verließ rasch den Raum, denn sie wusste, dass er sich in ihrer Anwesenheit nicht setzen würde.
Die Wände und die niedrige Decke schienen sich immer dichter auf sie zuzubewegen, als sie zu den winzigen Zimmern unter dem Dach hinaufstieg.
Nichts hier entwickelte sich so, wie sie es erwartet hatte. Fünf lange Jahre hatte sie sorgfältig daran gearbeitet, ihre Ziele zu erreichen. Zuerst hatte sie Louis geheiratet, um die finanziellen Mittel und die Unabhängigkeit zu erlangen, die sie brauchte, um die Geschäfte ihres Großvaters wieder aufzunehmen. Indem sie ihren Bruder als Strohmann nutzte, hatte sie sich einen Namen im Tuchhandel gemacht.
Dann war sie bereit. Ihren ersten Angriff startete sie in ihrer Heimatstadt Falaise, wohin sie sich zurückgezogen hatten, nachdem sie in London und Calais alles verloren hatten. Innerhalb eines halben Jahres zerstörte sie das Geschäft ihrer »guten alten Freunde«, die ihren Großvater während seiner langen Krankheit übervorteilt hatten.
Wie sie vermutet hatte, waren es nicht die Männer aus Falaise gewesen, die den Niedergang der Geschäfte ihres Großvaters eingefädelt hatten. Sie waren bloß die Aasgeier, die die Überbleibsel in Falaise an sich gerissen hatten.
Von Falaise aus war sie der Spur der Schuld zu den ehemaligen Geschäftspartnern ihres Großvaters in Calais gefolgt. Diese Männer waren raffinierter und ausgekochter. Sie hatte vier Jahre gebraucht, bis ihr eigenes Geschäft groß genug war, um es mit einem nach dem anderen von ihnen aufzunehmen. Jeder Einzelne der Partner ihres Großvaters in Calais hatte einen Teil seines Geschäfts und seines Besitzes für sich beansprucht. Doch keiner von ihnen hatte den Löwenanteil bekommen.
Als sie schließlich einen von ihnen so weit hatte, dass er bis über die Ohren bei ihr verschuldet war, hatte er gestanden. Ein Londoner Kaufmann hatte hinter dem Plan gesteckt, das Geschäft ihres Großvaters zu ruinieren. Die Männer in Calais hatten seinen Namen nie erfahren; die ganze Kommunikation war über Mittelsmänner erfolgt.
Der Brief der Königin, in dem sie Linnet um einen Besuch bat, hatte sie zu einem günstigen Zeitpunkt erreicht. Die beiden Frauen hatten in den Monaten, die Linnet in Paris verbracht hatte, bevor sie der Obhut ihres Vaters entronnen war, eine ungewöhnliche Freundschaft geschlossen. Von Anfang an hatte sie sich in der Beschützerrolle für die naive Prinzessin gesehen, die direkt aus einem Kloster an den dekadenten Hof gekommen war.
Linnet würde das Bestmögliche für ihre Freundin tun. Doch während sie hier in London war, hatte sie auch vor, die Identität dieser schattenhaften Gestalt zu erfahren, die ihr Leben zerstört hatte.
Ihn zu finden würde sich natürlich als schwierig erweisen. Die Londoner Kaufleute hassten ausländische Kaufleute und würden einen der ihren beschützen. Doch sie verfügte über das feinste flandrische Tuch, das in London zu haben war. Um es in die Finger zu bekommen, mochte ein Londoner Kaufmann sogar gewillt sein zu vergessen, dass sie aus dem Ausland stammte und überdies eine Frau war.
Mychell war einer der Männer gewesen, deren Stimmen sie an jenem fürchterlichen Tag unter dem Bett gehört hatte. Aber er war bloß ein Lakai, eine Nebenfigur in dem großen Plan. Er war nicht schlau genug, den Niedergang eines Kaufmanns zu planen, dessen Handelsbeziehungen von der Normandie bis nach Flandern reichten. Das Haus ihres Großvaters war Mychells Belohnung für die Rolle gewesen, die er bei dem Ganzen gespielt hatte. Sie sollte triumphieren, dass sie ihn jetzt hinauswarf.
Aber das tat sie nicht.
Mychell hatte nicht gewusst, wer ihn in die Überschuldung getrieben hatte, bis sie sich gestern getroffen hatten, um einen Vertrag zu unterzeichnen. Sie schluckte die Galle hinunter, die ihr bei der Erinnerung an ihr Treffen mit dieser Ratte mit den fettigen Haaren in die Kehle gestiegen war.
»Wenn Ihr mir nur ein wenig mehr Zeit gewähren würdet«, hatte er gesagt, während ihm Schweißtropfen von der Stirn rannen, »wäre ich in der Lage, Euch zu bezahlen.«
»Zeit wird Euch nicht helfen.« Sie beugte sich über den Tisch und schlug mit der Faust darauf. »Wisst Ihr denn nicht, wer ich bin?«
Bestürzt lehnte sich Mychell auf seinem Stuhl zurück und starrte sie an. Sie wusste genau, wann er sie erkannte, denn plötzlich riss er überrascht die Augen auf – aber ohne auch nur eine Spur von Scham.
»Soll ich Euch so viel übrig lassen, wie Ihr zwei Waisenkindern gelassen habt?«, fragte sie ihn.
»Es ist nicht meine Schuld, dass Euer Großvater als armer Mann gestorben ist«, protestierte er.
Aber sie wusste es besser. Sie hatte eine besondere Begabung, wenn es um Zahlen ging. Sie hatte Jahre gebraucht, um alles wie ein Mosaik zusammenzufügen, aber inzwischen wusste sie genau, wann ihnen wie viel gestohlen worden war. Sie fingen damit an, Zahlungen zu reduzieren und zu behaupten, Bestellungen seien nicht vollständig angekommen. Das trieben sie über einen längeren Zeitraum. Der Todesstoß war, als sie die riesige jährliche Zahlung ihres Großvaters an die flandrischen Weber unterschlugen, was nicht nur der finanzielle Ruin war, sondern auch Beziehungen ruinierte, die er ein Leben lang aufgebaut hatte.
Selbst als zehnjähriges Kind war ihr aufgefallen, dass irgendetwas mit den Abrechnungen nicht stimmte. Als sie ihrem Großvater ihren Verdacht mitteilte, war er zu gutherzig gewesen, um zu glauben, dass seine Freunde ihn bestahlen. Ihre Diebereien wurden immer unverfrorener. Doch irgendwann war ihr Großvater viel zu verwirrt, als dass er die Machenschaften durchschauen konnte.
»Macht Euch nicht die Mühe, es abzustreiten«, spie sie Mychell entgegen. »Ich hörte, wie Ihr die Beute unter euch aufgeteilt habt. Ihr konntet nicht einmal damit warten, bis wir London verlassen hatten.«
Linnet schaute sich um. Es überraschte sie, dass sie auf dem kleinen Absatz am oberen Ende der Treppe stand. Wie lange war sie schon hier? Sie schüttelte den Kopf, um nicht länger an den elenden Mistkerl zu denken.