Mein Leben in Facetten. - Bianca Christie - E-Book

Mein Leben in Facetten. E-Book

Bianca Christie

0,0

Beschreibung

DDR, Bundesrepublik, wiedervereinigtes Deutschland - Bianca Christie kennt das Leben in drei deutschen Welten. In ihrer Autobiografie lässt sie die Leser ganz nah ran: Sie nimmt sie mit zum Fahnenappell und in die Gefängniszelle, später auf die andere Seite der Grenze zunächst ins Notaufnahmelager und dann in die westdeutsche Provinz. Nach der Öffnung der Mauer ist wieder alles anders. Bianca Christie beantragt Einblick in ihre umfangreiche Stasi-Akte und muss für sich die Vergangenheit neu schreiben. Dieses Buch ist ein berührendes, ein aufwühlendes Stück Zeitgeschichte.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 216

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Soll ich oder soll ich nicht?

Mutter

Bauwerke

Verena (1)

Überholen ohne einzuholen

Hannes, der Preis war zu hoch

Sandor

Schikane oder Versagen der deutschen Gründlichkeit?

Alles beim Alten, 1966

Verfassungen – andere und menschliche

Ein bisschen Militär

Chris (1)

Meine Familie

Mein Ausweis

Ich will raus

Geburtstag

1973 – und immer noch macht Arbeit frei

Ein Tag ist zu viel – in der DDR 1975

Intermezzo Frank

Die graue Karte

Ankunft

Im Lager

Chris (2) 1976

Zwischenspiel

London

Berlin–Kreuzberg

Sehnsucht

Wiedersehen unerwünscht

In Schwäbisch Hall

Schönheit kann so schön sein

Pfingsten in Paris

Reise nach Italien

Zurück

Wohnen in Berlin

Den Göttern nah?

Prag, die goldene Stadt

Jutta, meine Freundin

Alle Jahre wieder

Ein – Reisen und Träume

Sandor (2)

Jetzt und heute – Mai 1986

Momentaufnahme der Gefühle, der Wut. Tiere sind die besseren Menschen

Lisa

Erich aus Magdeburg

Verena (2)

Reisen durch die Welt – England

Robin und Ann

K.W.

Noch eine Deutsche in Irland

Irische Geschichte im Widerspruch

Belfast

West-Belfast am Sonntag

Außer Gefahr

Fluchtgedanken

… und wieder Trennung

Das Eintagesvisum – März 1989

Träume sind Schäume

Gedanken zu Amerika – mit einem Zwinkern im Auge

Raymond, 1989

Frauen im Gefängnis

1989

Die andere Weihnacht

Ohne Worte

Endlich

»Berufliche« Erfahrungen

Kommt »Kollegialität« von Kollegen?

Alternative (Frankreich)

Der Handwerker

Desdemona

Jürgen

Chris (3)

Freunde fürs Leben

Auf Wiedersehen

Meine Mutter und ich als Kind

Das Attentat

VORWORT

1981 habe ich angefangen, über mein bislang gelebtes Leben intensiver nachzudenken. Zu viel war passiert. Es begann die Zeit für Reflexionen und ich fing an zu schreiben. Mir war es wichtig, dass das Passierte nicht vergessen wird, auch nicht von mir.

Heute weiß ich, dass ich es nie vergessen werde, auch wenn ich es nicht geschrieben hätte. So gab ich meinen Aufzeichnungen den Arbeitstitel »Gegen das Vergessen«. Heute ist dieser Titel vorwiegend mit Themen aus der Zeit des Nationalsozialismus belegt. Für eine Biografie noch zu jung, ich war 35 Jahre alt, reifte in mir der Gedanke mein Leben, meine Geschichten, die in der DDR spielten, als Unterrichtsmaterial für Schulen aufzuarbeiten. Das Schulbuch erschien unter dem Titel »DDR persönlich erlebt« im AOL-Schulbuchverlag.

Jetzt jedoch, im fortgeschrittenen Alter, glaube ich, reif für eine umfangreichere Biografie zu sein. Ganz bewusst werde ich mein Leben »facettenhaft« und chronologisch präsentieren und ich möchte nur mir wichtige Momente aufzeigen. Wichtige Momente sind aber nicht immer »schön«. Sie sind auch Momente der Verletztheit, der Wut, der Enttäuschung.

Bei der Überarbeitung ist mir klar geworden, dass das mit den »wichtigen Momenten« nicht stringent durchführbar ist. Wo ich das Gefühl hatte, hier muss verurteilt werden, habe ich es getan und stehe dazu. Ich will und kann aber nicht mehr auf »jeden Fall« mich zum Richter erheben. Ich bin immer noch ein politischer Mensch, aber mit dem Älter werden bin ich auch versöhnlicher geworden und erwarte eher Mut zur Kritik und Entschuldigungen, sowie Ehrlichkeit im Umgang miteinander.

Eine Autobiografie ist immer eine Bloßstellung, insbesondere der eigenen Person. Ich weiß, ich mache mich angreifbar, kann beleidigt werden, … aber vielleicht auch beglückwünscht. Egal ist es mir nicht, aber wie auch schon in meinem Schulbuch erwähnt, gilt auch hier mein eigenes Zitat: »Und ich habe lange Zeit gebraucht, um mich durchzuringen und zu erkennen, dass der Wert einer Veröffentlichung den Nachteil einer Preisgabe meines persönlichen Lebens überwiegt.«

Bianca Christie

Berlin im August 2022

Internationaler Kindertag 1954

Einschulung, Biederitz, 1953

SOLL ICH ODER SOLL ICH NICHT?

(1981 geschrieben)

1959. Irgendein Montag. Aber Montage sind nie irgendwelche Montage. Montage sind wichtig und ich habe verschlafen. Verdammt. Kein Frühstück, Katzenwäsche und rein in die Klamotten. Wo ist mein dunkelblauer Rock, meine weiße Bluse? Das wäre die Montagsuniform für den Fahnenappell. Ich ziehe mein Geblümtes von gestern an.

Mit ein wenig Angst vor meinem Lehrer, und auch ein wenig Ärger über mich selbst, jage ich durch die menschenleeren Dorfstraßen.

Ich bin da und verharre vor der Schultür zum Hof. Die Meldungen der Klassenratsvorsitzenden sind im Gange. Was soll es! Warum bin ich so gerannt? Doch nicht, um feige hier zu warten. Vorsichtig öffne ich die klapprige Tür zum Schulhof. Ich wusste nicht, dass sie so laut knarrt. Alle drehen sich zu mir um und starren mich an. Die Lehrer voller Vorwurf und die Mitschüler grinsend. Ich schaffe es gerade noch, mich zu meiner Klasse zu stellen, sodass Ursel melden kann: »die Klasse ist vollzählig angetreten«. Ich schaue mich um. Nur wenige Schüler haben die weiß-blaue Kluft an, aber alle tragen ihr leuchtend blaues Pioniertuch um den Hals. Ich nicht. Ich bin kein Pionier. Warum nicht? Weil alle, der Direktor, die Lehrer und die Pionierleiterin, es unbedingt wollen.

Voraussehbar. Zur ersten Pause ist für mich »Strammstehen« im Direktorenzimmer angesagt. Da ist sie wieder, die Dreierrunde: Runger, mein Klassenlehrer, Mielke, der Direktor, von uns Pestfloh genannt, und die blau »gebluste« Sieghilde. Den Namen hat sie bekommen, als man sich noch mit »Heil Hitler« begrüßte. Warum müssen sie immer in Gruppen auftreten? Feiglinge. Ich entschuldige mich für mein Zuspätkommen. «Mehr ist nicht zu hören?«, fragt Runger. Ich antworte nicht. »Hast du dir Gedanken gemacht? Du erinnerst dich an unser Gespräch, vierzehn Tage ist es her,« fährt er fort.

»Wir erwarten eine Entscheidung«, näselt Pionierleiterin Sieghilde. Und dann Pestfloh: »Deinen Antrag auf Mitgliedschaft in der Pionierorganisation ›Ernst Thälmann‹ wollen wir sehen.« »Ich bin noch am Überlegen,« antworte ich schnippisch. »Bist doch sonst nicht auf den Kopf gefallen. Du hast übrigens wieder einen Einser im Diktat,« lobhudelt Runger. Jetzt versucht er es auf diese Art. »Ich bin noch am Überlegen«, ist meine klare Ansage. »Du kannst gehen, aber denk ja nicht, dass wir dich vergessen.« »Ich weiß, Herr Direktor.«

Runger läuft hinter mir her. Er greift meinen Arm und hindert mich am Weitergehen. »Mädchen, mach dir deine Zukunft nicht kaputt, tritt ein! Aus dir soll doch mal was werden, oder?« »Und was hat das mit den Pionieren zu tun?« Ich werde immer trotziger. »Alles Mädchen, alles, ohne gesellschaftliche Arbeit läuft nichts.« Merkt er gar nicht, wie er sich und »seine Gesellschaft« bloßstellt, blamiert? »Meine Gute«, fährt er in seinem schleimigen Ton fort: »so eine Ausbildung zum Abitur kostet unserem Staat eine Menge Geld. Dafür muss was getan werden.« »Wird ja!« »Du wirst eintreten«! Sein Jubeln lässt keine Zweifel zu. Er irrt sich wieder und dabei kippt seine freudige Stimmung um in Wut, denn meine Antwort ist: »Ich weiß nicht, aber meine Eltern zahlen ja Steuern und außerdem, Sie haben es doch im Unterricht selbst gesagt: ›Der Staat, das sind wir.‹« Er wird rot, schnappt nach Luft und seine übergroßen, runden Augen treten noch weiter hervor. Seine Drohgebärden werden stärker. Er fuchtelt mit seiner Hand vor meinem Gesicht, so, als wolle er mir einen Schlag versetzen will. Aber er brüllt mich nur an: »Bis kommenden Montag hast du dich entschieden, Punkt«.

Ja, ich spüre es, der Punkt ist erreicht. Mit weiteren Provokationen würde ich mir wirklich meine Zukunft verbauen und eigentlich habe ich mich schon entschieden. Nicht aus Überzeugung. Wovon soll ich denn überzeugt sein?

Aber er hat recht. Ich will lernen, das Abitur machen, studieren. Und er hat recht: ohne Anpassung und Gehorsam läuft nichts in der noch jungen DDR.

Der nächste Montag. Pünktlich um 8 Uhr stehe ich auf dem Schulhof und wieder das gleiche Gequatsche vom Direktor über die »Bonner Ultras«, die unseren friedliebenden Arbeiter- und Bauernstaat und unsere sozialistischen Bruderländer untergraben wollen mit …. Nachdem er seine Ansprache, dem Leitartikel aus der »Neuen Deutschland« vorgelesen hat, er kann nicht frei reden, sind die Meldungen dran und Ursel tritt wieder vor. Sie hat ein gelbes Sommerkleid an, auf dem das blaue Halstuch, falsch geknotet, leuchtet. Sie macht eine perfekte Meldung mit kräftiger Stimme und ohne zu stottern. Aber dieses Gelb mit falschem Pionierknoten, wo sie doch Vorbild sein soll … Wird es Folgen für sie haben? Nein, heute nicht. Runger ist mit mir beschäftigt. Er schaut mich von der Seite an. Ich ihn auch. Er wippt mit seinen Füßen hoch und runter und sein Gesicht zeigt Anspannung. Er liegt auf der Lauer.

Die Zeremonie des Fahne hissens ist dran. Alle Pioniere legen ihre rechte Hand an die Schläfe, so, als ob ein Soldat Meldung macht und alle schauen in Richtung Fahnenstange. Erst wird die Schwarzrotgoldene und dann die Russischrote hochgezogen. Erika trägt dazu ein Gedicht über Vaterland, Frieden und Sowjetsoldaten vor. Die Fahnen sind längst oben angekommen, aber Erika kann kein Ende finden. Sie leiert weiter, mit strahlendem Lächeln, das Gedicht herunter. In ihrem Kopf hat es sich so verfestigt: Quantität vor Qualität. So hat sie es begriffen und dafür gibt es gute Noten. In allen Fächern (außer Mathematik) lernt sie alles auswendig. Sie betet wortwörtlich das Buch nach und bekommt eine Eins. Ich würde sie anders bewerten. Wie will sie jemals selbständig denken lernen, ein Gespräch führen können? Bis heute kann sie es nicht. Sie ist pflegeleicht und darauf kommt es an. Ich mag sie trotzdem und ich habe ihr auch schon geholfen. Unsere Deutschlehrerin Lisa N. ließ unerwartet ein Diktat schreiben. Erika hatte eine Vier. Sie kam zu mir und weinte. Sie hatte Angst vor ihren Eltern. Mit ihrem Heft ging ich zu meiner Großmutter. Sie wohnte direkt neben der Schule und ihr Küchenfenster geht zum Schulhof. Sie beobachtet, ohne sich zu verstecken, oft das Geschehen während der Pausen. Das nervt die Lehrer. Jedenfalls, meine Großmutter fälscht Unterschriften für »unterdrückte« Kinder. Auch Erikas Vier erhielt eine perfekte Fälschung.

Mutter, so nenne ich meine Großmutter, schaute sich die »alten« Unterschriften an, probierte zwei bis dreimal und dann »sitzt« alles bestens.

Und immer wieder schimpfte sie über die Eltern: »die Großen verdienen die Schläge, nicht die Kinder« und rechtfertigt somit ihr Handeln.

Der Fahnenappell neigt sich dem Ende zu. Wir singen die erste Strophe der Nationalhymne … »Deutschland einig Vaterland.« Es wird laut. Lachen, Rempeln und das Laufen in die Klassenzimmer beginnt und Runger stürzt sich wie ein Habicht auf mich. Es gibt kein Entrinnen und seine Frage klingt drohend, listig: »Na, wie hast du dich entschieden?« Und mit einer Selbstverständlichkeit antworte ich: »Ja, ich trete ein.« Sein Gesicht mutiert zum fröhlichen Mond. Wie wandlungsfähig er doch ist. »Siehst du, es geht doch alles, wenn man nur will.« Dämliches Gequatsche. Wer redet hier von »wollen«? Hier funktionieren doch nur Zwänge. »Ich bringe dir nachher den Antrag vorbei und den füllen wir dann gemeinsam aus.« Wenn wir in der Kirche wären, käme jetzt das »Halleluja«. »Das kann ich auch alleine«. Ich glaube, er hat Angst, dass ich es mir anders überlege. Aber das wird bestimmt nicht sein. Wenn sie belogen werden wollen …. Er legt jetzt verlogen väterlich seinen Arm um meine Schultern. Es ist mir unangenehm und ich versuche, mich zu befreien. Es gelingt mir nicht. Und wieder das »Geschleime«: »Meine Tochter hat es weit gebracht. Sie hat auf ihren Vater gehört und einen Studienplatz für Medizin bekommen.« Was interessiert mich seine Tochter. Endlich lässt er mich los und stürmt mit Riesenschritten Richtung Direktorenzimmer, um sich sein Lob abzuholen für gute Überzeugungsarbeit, verbunden mit dem Satz: »Auch in dieser Klasse sind alle Schüler Mitglied der Pionierorganisation Ernst Thälmann.« Wie schön.

Aber irgendwie macht es auch Spaß, dieses Spiel, und es wird nicht mehr lange dauern und ein neuer Tanz beginnt. Niemand spricht es aus, aber jeder weiß es: Wer die kirchliche Konfirmation der sozialistischen Jugendweihe vorzieht, hat verspielt. Die Chance auf Abitur und Studium sinken rapide. Ich bin nicht kirchlich, ich bin nicht sozialistisch, aber für eins von beiden muss ich mich entscheiden. Ich bin dreizehn Jahre alt.

„Mutter“ Anger

MUTTER

(1981 geschrieben)

Sie war eine Mutter. Alle nennen sie Mutter. Ich auch, obwohl sie meine nicht war. Sie war meine Großmutter. Sie hatte 16 Kinder geboren. Acht sind im Krieg umgekommen. Und dann, 1949, wollte man ihr noch zwei Söhne (meinen Vater und meinen Onkel) nehmen, sie ins Gefängnis stecken. Warum? Sie hatten das getan, was alle taten, um nicht zu verhungern. Schwarzmarkthandel.

Ein halbes Dorf hatte etwas zu essen. Mit der Untersuchungshaft der beiden, war es damit vorbei. Der Streit unter Geschwistern, um eine Scheibe Brot, war wieder Alltag. Der »Hungertyphus« war nicht besiegt.

Und dann, 1949 stand Mutter im Gerichtssaal, um auszusagen. Ihr kleiner, drahtiger Körper war aufrecht und niemand brauchte ihr Gesicht sehen, um zu spüren, dass sie kämpfen wird. Ihr Kleid war schwarz, wie ihr geknotetes Haar. Trauer. Sie begann zu reden: »Ich habe nicht viel zu sagen, weil ich nicht viel weiß und pfui Teufel, was glauben Sie, wie eine Mutter handelt …? Aber ich habe eine Frage an Sie, Frau Staatsanwältin B: Womit füllen Sie Ihren Körper auf? Da, wo bei den meisten Menschen nur noch Haut und Knochen zu sehen sind, da sind Sie doch richtig rund. Wo kaufen Sie ein, Gnädigste?« Totenstille im Gerichtssaal, dann irgendein Satz vom Richter, und Mutter wurde von zwei Uniformierten vor die Tür gebracht. Den Söhnen wurde die Untersuchungshaft angerechnet und nur Stunden später waren sie bei Mutter zu Haus.

P.S.: Mutter war auch die Frau, die für Kinder Unterschriften fälschte. Ich bin immer noch stolz auf diese kleine, starke Frau.

Auf der Flucht an Berliner Mauer erschossen

BAUWERKE

(geschrieben 1981)

DIE MAUER – »DER ANTIFASCHISTISCHE SCHUTZWALL«

Es ist Sommer, August, und die Sonne scheint. Ich sehe meinen Vater von Weitem auf uns zu laufen. Ich habe ihn noch nie so laufen sehen. Meine Mutter und ich sitzen an unserer kleinen Badelaube und bereiten das Mittagessen vor. Warum läuft er so? Irgendetwas muss passiert sein!

Ist es Neugier oder Angst? Ich laufe ihm entgegen und ehe ich etwas fragen kann, spricht er mit erregter Stimme: »Sie machen Berlin dicht, den Westen!« »Wer macht Berlin dicht? Wie geht das denn?« »Na, unsere hier, Ulbricht, sie bauen eine Mauer um West-Berlin.« »Sie können eine Stadt doch nicht einmauern. Das geht doch nicht!« Doch! Mein Vater kann meine Fragen nicht beantworten. Meine Mutter schweigt wie immer und meine Hilflosigkeit lässt mich verstummen. Millionen Menschen geht es wie mir.

Dieser Tag war der 13. August 1961.

Alle Hoffnungen auf »Undurchführbarkeit« eines solchen Vorhabens haben sich ganz schnell zerschlagen. Die Mauer wächst unaufhörlich in Höhe und Länge.

166 Kilometer lang und dreieinhalb Meter hoch. Diese Mauer kostet dem DDR-Staat die Jahresproduktion der Wohnungsbauindustrie. Und diese Mauer funktioniert, funktioniert immer noch … nicht nur als schwer zu überwindendes Hindernis, nein, auch als Zeichen der emotionalen Entfernung der Menschen zwischen Ost und West.

Die Mauer: für die Berliner ist sie Alltag geworden, für die Touristen aus aller Welt eine Attraktion, mit oder ohne Gefühl. Die Mauer: ein Riegel des Ostens, um die Massenflucht zu stoppen. Die Mauer: für einige Verhängnis – »auf der Flucht erschossen.« Aufgereiht stehen Kreuze mit den Namen derer, die es nicht schafften, am Reichstagsgebäude und anderswo in Berlin-West.

Und heute, 1981, die Mauer aus westlicher Sicht: auch Kunstobjekt, Graffiti – Fläche … Sie ist immer noch hoch und streng bewacht. Dazu »zieren« Stacheldrahtrollen, Zaungabeln, Wachtürme und Panzersperren dieses einmalige Bauwerk. Hundegebell verrät Leben. So ist sie, die Mauer, in ihrer Boshaftigkeit.

Aber das, was nicht zu sehen ist, was wir aber zu spüren bekommen – sie wird langsam durchlässiger, von beiden Seiten.

VERENA (1)

(geschrieben 1981)

1964. Dritte Stunde. Staatsbürgerkundeunterricht und ich bin gespannt auf das, was da kommt und was »Graupe«, unser Staatsbürgerkundelehrer, zu sagen hat. Gestern ist Nikita Sergejewitsch Chruschtschow »abgesägt« worden, aber noch letzte Woche war er von »Graupe« in den Himmel gehoben worden: »als großes Vorbild der Menschheit, … seine phänomenale Wirtschaftspolitik – die Wurst am Stängel (Mais) und … und … und hat der erste Mann unseres sowjetischen Bruderstaates unermessliche Beiträge zum Aufbau des Sozialismus, Kommunismus bla bla bla geleistet.« Und das ist nur ein kleiner Ausschnitt von der Superlativbeschreibung eines Mannes, der gestern vom Thron gestoßen wurde.

Graupner betritt das Klassenzimmer. Wie immer, das »Neue Deutschland« unter dem Arm. Wie immer nur ein kurzer Gruß. Er setzt sich an den Lehrertisch und beginnt aus der Zeitung zu lesen. Fast teilnahmslos liest er uns den Leitartikel vor. Will er sich wirklich so aus der Affäre ziehen? Er kann einem fast leidtun. Aber es war seine Entscheidung, Lehrer für Staatsbürgerkunde zu werden. Ich melde mich und frage: »Wie finden Sie denn das?« Er antwortet nicht. Er schaut bedeutungsvoll durch die Reihen, ohne uns anzuschauen.

Er überlegt sich eine Antwort, ohne, dass es dazu kommt, sie uns mitzuteilen. Schade.

Ja und da ist noch Verena, eine durch und durch linientreue Mitschülerin. Sie ist die Vorsitzende der FDJ mit großen gesellschaftlichen Verpflichtungen.

Völlig unerwartet springt sie hoch. Sie ist aufgeregt. Ihre Stimme vibriert: »Ich verstehe überhaupt nichts mehr. Wie kann ein Mann, der so viel Gutes getan hat, plötzlich so schlecht behandelt werden?« Graupner weiß, sie will es wirklich wissen. Sie ist zu »sozialistisch« erzogen, um politisch provokant zu sein. Er geht zum Fenster, dreht uns den Rücken zu und fängt an, von Fehlern zu reden, von Chruschtschows Fehlern, jahrelang verdeckten Fehlern.

Graupe ist feige. Er kann uns nicht anschauen. Ich hoffe, er schämt sich.

Ist er nicht bescheiden dran, dieser Diener der Gesellschaft, der junge Menschen auf den richtigen, sozialistischen Weg bringen soll?

Verena ist eine ehrliche Seele. Leider politisch einseitig, im Sinne des DDR-Sozialismus erzogen. Ich wünsche mir für sie, dass sie die Chance bekommt, offener sein zu können. Sie wird Genossin werden, bestimmt. Soll sie, aber dann eine »offene« Genossin mit Mut zur Kritik, auch an der eigenen Sache. Davon gibt es bei uns wenige, zu wenige. Das ist meine Kritik.

ÜBERHOLEN OHNE EINZUHOLEN

(geschrieben 1981)

1964 auf der Oberschule. Nein, niemals Lehrer werden! Sie haben das gerade zu biegen, was die Politik an Mist verzapft. Und wieder Graupner, Direktor und gleichzeitig Stabilehrer, stand vor der Klasse. (Eigenartig, wie in der Grundschule: Direktor gleich Staatsbürgerkunde-Lehrer) Also, Graupe …. Er hatte wieder die »dankbare« Aufgabe, uns zu überzeugen. Nein, das war keine dankbare Aufgabe und erst recht keine einfache Sache, das war ein Kraftakt ohne Erfolg.

»ÜBERHOLEN OHNE EINZUHOLEN«, so stand es auf allen Transparenten in der DDRepublik und auch auf dem Lehrplan. Über Wochen war der Unterricht bei Graupner gefüllt mit Themen wie: »die DDR wird den Westen überflügeln«, »der Lebensstandard im Osten wird höher sein als der in der BRD« und so weiter. Schon morgens um sieben Uhr, auf dem Weg zum Bahnhof, ich fuhr täglich mit dem Zug zur Schule, wurde ich an das Traumvorhaben erinnert. Ein riesengroßes Schild, rot natürlich, mit großen, plumpen Buchstaben, sollte jeden überzeugen. Ganz besonders die Arbeiter, die zwischen fünf und sechs Uhr, noch halb verschlafen, in die Fabriken fuhren, sollte diese Zauberformel erreichen. War das als Ansporn gedacht? Unvorstellbar. Glaubten die da »oben« es wirklich?

Wir, die Schüler, hatten es zu keiner Sekunde getan. Wir konnten nur lächeln, ganz müde lächeln. Der Unterricht war ein Monolog des Lehrers. Sogar Verena zeigte vage ihre Bedenken. Hatte nicht jeder irgendwo eine Tante auf der westlichen Seite, die uns ab und zu mit ein wenig »Luxus«, wie weißer Schuhcreme, Haarspangen, Tapeten, Toilettenpapier! oder gekochtem Schinken versorgte? Aber unsere Politiker versprachen kein stundenlanges Anstehen und Warten mehr, keine Beziehungen mehr zu Verkäuferinnen knüpfen müssen, … Die Zeiten der »Bückwaren« vorbei? (Aber mit diesem Versprechen räumen sie doch bestehende Mängel ein. Das gab es bislang nicht). Immer noch betrug die Wartezeit auf ein Auto bis zu zwölf Jahre. An Dingen des täglichen Lebens maßen wir »Normalverbraucher« unseren Standard, nicht an Schrauben und Maschinen. Unser Lächeln war endlos. Graupner bemerkte es und er erriet hoffentlich auch unsere Gedanken.

Und dann, ein Jahr später – wir lächelten immer noch. Es war ein hämisches Lächeln und dabei wären wir froh gewesen, wenn uns das Lächeln vergangen wäre. Nichts hatte sich geändert und von besser werden … Aber kurz darauf – wieder solch ein Ding von »oben«. Folgender Aufruf wurde uns zur Unterschrift vorgelegt: »Als kollektiver Beitrag zum Aufbau des Sozialismus in der DDR und als Waffe gegen die Bonner Ultras, verpflichten wir uns, kein Westfernsehen zu sehen, kein Westradio zu hören und keine reaktionäre Literatur zu lesen.« (wozu auch Micky Maus gehörte) Dieses Schreiben ging durch alle oberen Klassen in der DDR.

Warum fangen sie nicht beim Grundübel an und machen bessere Programme, lassen internationale Musik spielen, …? Sie hätten es so viel leichter haben können, indem sie, die »Politmenschen«, mehr den Wünschen ihres Volkes entsprochen hätten. Ihre Konsequenz war unerbittlich falsch. Ihre Konsequenz: der Handel zwischen Ost und West florierte weiter wie immer: Wir bekamen kapitalistische Schrauben und Maschinen und dafür ging der sozialistische, gekochte Schinken und die Schlagsahne gen Westen. Wie uns die Schrauben mundeten. Zurück zum Aufruf. Er war einfach Blödsinn. Luftlinie 80 Kilometer war die Grenze zur Bundesrepublik. Der Westempfang via Fernsehen und Radio war wunderbar. Es wurde zwar eine extra Antenne benötigt. Mein Vater hatte sie auf unserem Dach angebracht. Die meisten versteckten sie darunter, aus Angst vor Repressalien. Also, 98 Prozent unterschrieben den Wisch. Ich nicht. »Warum nicht«, fragte Herr Direktor Graupner. »Weil ich mich nicht daran halten werde und ich weiß, die anderen tun es auch nicht.« Das brachte mir einen schriftlichen Verweis ein und der wird mich ein Leben lang begleiten. Dafür gab es die Kaderakte.

Nach einem halben Jahr war der Spuk vorbei. Jeder sprach wieder über das Westprogramm von gestern Abend, wenn auch noch mit vorgehaltener Hand.

HANNES, DER PREIS WAR ZU HOCH

(geschrieben 1981)

1965. Zwölfte Klasse. Mitten im Abitur. Jahrelang war ich ziemlich faul. Ich habe zu wenig getan. Sogar die letzten Wochen konnte ich mich nicht richtig aufraffen. Warum bin ich so? Ich wollte doch so viel lernen …. Aber ich bin nicht dumm. Und doch habe ich eine Menge in den letzten Jahren gelernt. Mit den Prüfungsfragen hat das leider nicht viel zu tun. Es gibt da noch etwas, so etwas wie Trost? Ich bin noch lange nicht die Schlechteste, nicht einmal in Mathematik. Da gibt es noch andere »Spitzen«. Durchweg, keiner ist dumm. »Stinkfaul« ist das richtige Wort, um sie treffend zu beschreiben. Und jetzt die »Spitze« der »Spitzen«– Hannes. Jedes Jahr hat er es immer gerade so geschafft, um in die nächste Klasse zu rutschen.

Und jetzt das Abitur, 252 festlich gekleidete 18-Jährige stehen auf dem Schulhof und warten auf Einlass in die Aula. Außer Hannes, er steht »unfestlich« gekleidet abseits am Baum gelehnt. So würde ich auch aussehen, wenn ich durchgefallen wäre. Wir gehen in den Festsaal und vom Band erklingt Haydn. Direktor Graupner, der sich so oft vor uns blamieren durfte, hält die Festrede.

Es ist kein Unterschied zum Staatsbürgerkundeunterricht. Die Worte sind identisch: »Sowjetische Freundschaft …, sozialistische Bruderländer …, Bonner Ultras und der Kampf gegen sie … « Alle Schüler werden aufgerufen, wobei die besten die ersten sind. Alle bekommen ihre Zeugnisse und den Lorbeerkranz aus Eichenlaub auf den Kopf gesetzt. Doch was war das? Hannes wird aufgerufen. Er geht nach vorn und bekommt wie all die anderen sein Zeugnis, nebst Kranz. Es ist ihm zu viel, er nimmt den Kranz vom Kopf, dreht sich um und verlässt laufend den Saal.

Wir, seine Mitschüler für vier Jahre, schauen uns zunächst ratlos an, aber dann überwiegt die Freude. »Beethoven« müssen wir noch abwarten, aber dann stürmen wir nach draußen. Henning steht wieder an »seinem« Baum. Wir umarmen ihn. »Hört auf. Lasst mich.« »Was ist los, komm erzähl«, bedrängen wir ihn. »Ich habe mich verpflichtet, zwölf Jahre, Berufssoldat.« Totenstille statt Freude. Nicht mehr ganz so fröhlich verlassen wir den Schulhof, gehen durch Magdeburgs Straßen, um unseren Erfolg zu feiern, aber es will es uns nicht so richtig gelingen.

Nicht nur meine Gedanken zu Hannes: Jede Schule hat jährlich ein Kontingent an Berufssoldaten zu stellen. Auch das gehört zur sozialistischen Planerfüllung. Nur wenige melden sich freiwillig, offensichtlich zu wenige, trotz der Anreize, zum Beispiel einem Studienplatz für Medizin, im Rahmen der Militärakademie.

Eine Chance für jeden – für jeden, der sich verpflichtet. Hannes hat einen hohen Preis für seine Faulheit bezahlt: Das Abitur für zwölf Jahre Soldatendasein. Was wird aus ihm werden? Ich würde die Einschränkungen, die sein zukünftiges Leben bestimmen, nicht auf mich nehmen wollen: ständiger Gehorsam, Befehlsempfänger, Gesprächsverbot mit Menschen aus dem westlichen Ausland, kontrollierter Schriftverkehr, kein falsches Wort in die falsche Richtung, …

Ist das nicht traurig, sich so beschnitten zu wissen? Wie soll ein 18-Jähriger sich unter diesen Bedingungen entwickeln, noch dazu ein so labiler wie Hannes. Hannes, der Preis war zu hoch!

SANDOR

1965. Abitur bestanden. Die Schulzeit gehört der Vergangenheit an. Ich bin 18, volljährig und habe drei Monate Ferien. Ich will eine Reise machen, ganz weit weg. Vier Wochen warte ich schon auf mein Visum. Werde ich es bekommen?

War ich nicht zu oft zu provokant, zu vorlaut? Es wird Recherchen über mich geben. Bin ich würdig, den Staat der DDR würdig im Ausland zu vertreten? Besteht kein Verdacht auf Republikflucht? »Mein« Staat »sorgt« sich um jeden.

Aber ich bekomme mein Visum und das heißt, ich bin würdig und es liegt kein Verdacht vor. Ich bin glücklich. Britta und Gerdi auch. Für uns drei ist es die erste Auslandsreise. Wir fahren mit dem Zug nach Ungarn, Budapest, Apfelblütenplatz 5. Sandor wohnt dort. Als ich Sandor kennenlernte, war ich 15 Jahre alt. Er war zu Besuch in meinem Dorf bei einem Freund namens Peter.