Mein Sintimädchen - Helmut Fälber - E-Book

Mein Sintimädchen E-Book

Helmut Fälber

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Beschreibung

Jan Pieterson, ein Junge aus dem Alten Land, träumt davon, als Navigator auf einem Dreimast-Segler anzuheuern und später als Schiffskommandeur ferne Länder zu bereisen. Er hofft dabei seinen Vater zu finden, der ebenfalls Schiffskommandeur war und der seit über 10 Jahren als verschollen gilt. Bei seinem Vorhaben steht ihm sein Oheim und väterlicher Freund Kapitän Lüders zur Seite. Jan wächst zu einem gutaussehenden Burschen heran, dem die Mädchen schwärmerische Blicke zuwerfen. Als er sich unsterblich in das Sinti-Mädchen Julia verliebt, ist das Glück jedoch nicht von langer Dauer, denn Julias Familie gehört zu den Fahrensleuten und die beiden verlieren sich aus dem Blick. Nun sucht Jan nicht nur seinen Vater, sondern sehnt sich auch nach einem Wiedersehen mit seiner großen Liebe. Seine erste Seereise führt Jan auf auf einem Walfangschiff ins nördliche Polarmeer, wo er mehr als einmal um sein Leben bangen muss. Mit der geheimnisvollen Landkarte aus der Hinterlassenschaft seines Vaters im Gepäck, auf der u. a. ein Wikinger-Schatz eingezeichnet ist, macht er sich nach Grönland auf, wo er von den gigantischen Eisbergen, dem Polarlicht und den üppigen Blumenfeldern der sommerlichen Arktis fasziniert ist. Auf seinen Reisen erlebt er aber auch auf dramatische Weise, wie von den Europäern eingeschleppte Krankheiten der indigenen Bevölkerung den Tod bringen. Als Jan auf der Heimreise in die Hände von Piraten und skrupellosen Menschenhändlern fällt, findet er sich bald als Sklave an einem arabischen Fürstenhof wieder. Noch ahnt er nicht, dass er nicht nur zum Vertrauten des weltoffenen Fürsten Bey Hadschie werden soll, sondern dass sich am Ende seiner Knechtschaft auch ein lang gehegter Traum erfüllen wird.

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ÜBER DEN AUTOR

Helmut Fälber, Jahrgang 1938, wollte Navigationsoffizier werden, auf einem Ozeandampfer anheuern und die weite Welt bereisen. Doch als Brillenträger wurde ihm sein Berufswunsch verwehrt. Kurzerhand wanderte er nach Kanada aus, arbeitete in der Hotelbranche und jagte in den Rocky Mountains nach Elch und Bär. Nach Deutschland zurückgekehrt, legte er sein Dolmetscher- und Übersetzer-Examen ab, promovierte später an einer englischen Privat-Universität und war als leitender Angestellter bei einer internationalen Fluggesellschaft tätig. Im Alter von 45 Jahren verwirklichte er seinen Jugendtraum: Zusammen mit seiner Frau baute er in Südostasien einen Katamaran und segelte durch die tropische Inselwelt. Aber ein Tsunami setzte dem Abenteuer ein vorzeitiges Ende. Heute leben die beiden in ihrem Landhaus im Hessischen Bergland.

Inhaltsverzeichnis

1. Die goldene Taschenuhr

2. Liebesnächte unter blühenden Bäumen

3. Jans Erinnerungen

4. Brunhilds Werdegang

5. Der Vikar

6. Die Kröten-Nelly

7. Die Magd Anna

8. Ein neues Zuhause

9. Die Schatztruhe

10. Der Sommernachtstanz

11. Opa Carstens stellt Alex ein

12. In eine andere Welt

13. Die Moorleiche

14. Tödliche Eskalation

15. Das Piratenschiff

16. Das Hotel Zum Blauen Kakadu

17. Der Seebär

18. Hoch auf dem gelben Wagen

19. Die Braut vom Lüders-Hof

20. Höllenfahrt nach Amrum

21. Die Hallig

22. Die Rettung

23. Die Trauung

24. Die Poseidon

25. Die Jan-Mayen-Insel

26. Im Packeis

27. Die Grönlandreise der MS Seeadler

28. Die Geister der Schneefelder

29. Im Grönländer-Schneehaus

30. Blue Eyes – Curriculum Vitae

31. Die Kristall-Höhle

32. Arktische Zauberwelt

33. Der Tabubruch

34. Überfall der Barbaresken

35. Der Sklavenmarkt von Algier

36. Emir Bey Hadschie

37. Der Harem

38. Das perfide Spiel

39. Die Heilige Knechtschaft

40. Das Märchen aus 1001 Nacht

Epilog

1.

Die goldene Taschenuhr

Es geschah im Alten Land an einem sonnigen Frühlingstag, wie er nicht schöner hätte sein können. So weit das Auge reichte, wogte ein weißes Meer blühender Bäume und die Luft war erfüllt von ihrem süßen Duft. Lerchen trillerten in blauer Höhe und in den Zweigen jubilierten Amsel, Drossel, Fink und Star. Von fern ließ ein Kuckuck seinen freudigen Ruf erschallen.

Nur ein junger Bursche mit langem blonden Haar schien von all der Pracht und Lebensfreude nichts wahrzunehmen. Er saß gramgebeugt abseits des Fahrwegs unter einem blühenden Kirschbaum, hatte seinen Kopf in die Hände gestützt und seine hagere Gestalt wurde immer wieder von heftigem Schluchzen geschüttelt. Offensichtlich hätte für ihn die Welt nicht trostloser sein können.

Plötzlich drang eine helle Stimme mit spöttischem Unterton an sein Ohr: »Aber so ein großer hübscher Junge wie du, der darf doch nicht mehr weinen!«

Erschrocken hob er den Kopf und wischte sich die Tränen aus seinen blauen Augen und dem feuchten Gesicht. Nur wenige Schritte von ihm entfernt stand ein Mädchen. Es war bildschön. Ihr pechschwarzes Haar fiel in sanften Wellen weit über die Schultern hinab. Große dunkle Augen blickten aus einem leicht gebräunten Gesicht und ihr halb geöffneter Kirschmund zeigte eine Reihe perlweißer Zähne. Sie war barfuß und trug einen bis auf die Knöchel reichenden bunten Rock und darüber eine weiße geblümte Bluse. In der Hand hielt sie einen kleinen Weidenkorb, aus dem allerlei bunte Bänder und weiße Spitzen hervorragten, die sie wahrscheinlich zum Kauf anbot.

Gleichzeitig nahm der junge Bursche einen Landfahrerwagen wahr, der langsam auf der Straße vorbeizog und bald hinter den Bäumen verschwunden war. Er erwartete, dass das Mädchen sich nun verabschieden und dem Gefährt nacheilen würde. Aber stattdessen stellte sie ihren Korb neben sich ab und setzte sich vor ihm in das hohe Gras.

»Wie heißt du?«, fragte sie neugierig. »Ich bin die Julia«, fügte sie schnell hinzu.

»Ich heiße Jan Pieterson«, antwortete der Junge.

»Und warum sitzt du hier allein unter einem Baum und weinst?«, wollte sie wissen.

»Ich bin von zu Hause weggelaufen«, erklärte er ausweichend. »Ich konnte es nicht mehr länger aushalten!«

»Und wie soll es nun mit dir weitergehen?«, fragte sie.

»Ich will nach Hamburg, auf einem Schiff anheuern und zur See fahren, so wie mein Vater«, erklärte Jan entschlossen. Dann fragte er: »Gehörst du denn zu dem Wagen, der eben vorbeifuhr?« Sie nickte nur.

»Aber werden deine Leute dich nicht vermissen?«, gab Jan zu bedenken.

Sie zuckte nur mit den Schultern und meinte: »Mach dir darüber keine Sorgen.«

»Und wo kommt ihr denn her?«, wollte Jan wissen.

»Von dort«, sagte sie und deutete mit einer unbestimmten Geste in südliche Richtung. »Sie haben uns mal wieder verjagt und nun sind wir auch auf dem Weg nach Hamburg.«

»Verjagt?«, fragte Jan ungläubig. »Warum denn das?«

»Ach«, sagte das Mädchen mit einer wegwerfenden Handbewegung, »das Übliche. Wir sollen ein paar Hühner oder Geld gestohlen haben. Die Leute wollten die Gendarme holen, aber wir sind schnell weitergezogen, ehe sie eintrafen.« Während sie von ihren Problemen erzählte, wurde ihr Blick plötzlich von der goldenen Kette angezogen, die Jan über seiner Weste trug.

»Wie viel Uhr ist es eigentlich?«, fragte sie spontan. Ihre insgeheime Erwartung traf zu: Jan zog eine goldene Uhr aus seiner Westentasche und nannte ihr die Zeit.

»Die ist aber schön«, bemerkte sie bewundernd. »Darf ich sie mal in die Hand nehmen?«, fragte sie und rückte ein Stück näher an den Jungen heran.

»Aber gerne«, sagte Jan freimütig und reichte ihr das wertvolle Stück. »Die hat mir mein Großvater zur Konfirmation geschenkt. Sie ist aus purem Gold«, erklärte er stolz.

Während das Mädchen sich näher an Jan herangesetzt hatte, war ihr der Rock über die Knie gerutscht. Der junge Bursche sah ihre nackten Beine und sein Blick glitt über ihre lilienweißen Schenkel.

Plötzlich bemerkte sie, dass Jan wie gebannt unter ihren Rock starrte, und zog ihn mit einem Ruck wieder über ihre Knie zurück. Dabei runzelte sie die Stirn, drohte ihm mit erhobenem Finger und sah ihn scheinbar strafend an. »Du böser Junge, du!«, schalt sie ihn, doch um ihren Mund spielte ein schelmisches Lächeln.

Von der Straße her waren plötzlich Stimmen und Pferdegetrappel zu hören. Kurz danach erschienen an der Straßenbiegung zwei berittene Gendarme mit ihren hohen Mützen. Geschwind gab Julia ihm die Uhr zurück.

»Schnell, duck dich!«, flüsterte sie. »Die dürfen uns nicht sehen.« Und sie zog Jan zu sich herunter in das hohe Gras. Geschwind kam er ihrer Aufforderung nach. Auch Jan hatte schwerwiegende Gründe, nicht von den Gesetzeshütern gesehen zu werden. Schweigend beobachteten sie, wie die Männer zielstrebig an ihnen vorbeiritten.

Während die Geräusche langsam verebbten, blieb das Mädchen zu Jans Verwunderung still neben ihm liegen. Sie machte keine Anstalten, wieder aufzustehen. Stattdessen wandte sie sich ihm zu und sah ihm tief in die Augen.

Jan wusste nicht, wie ihm geschah, und blickte verwirrt umher. Dabei fiel sein Blick auf ihre offene Bluse und er gewahrte ihre kleinen Brüste, die ihn an zwei reife Äpfelchen erinnerten.

Plötzlich ergriff sie seinen blonden Schopf und zog ihn sanft zu sich heran. Er spürte ihre warmen, verlangenden Lippen und wurde jäh von einer heißen Lust erfasst.

›Es ist wie damals beim ersten Mal mit der rothaarigen Madleen auf dem Heuboden‹, ging es ihm durch den Sinn. Dann liebten sich das Sinti-Mädchen und Jan unter dem blühenden Kirschbaum.

Später sank er ermattet zur Seite und schloss die Augen. Er hörte den Liebesgesang der Vögel und roch den süßen Duft der abertausend Blüten. Er fühlte sich wie im Paradies und schwebte auf einer Wolke des Glücks dahin.

Er hatte gut eine Stunde geschlafen, als er plötzlich mit einem Schnarchton hochschreckte und verstört umherschaute. Der Platz neben ihm war leer. Die Sonne stand schon tief, es musste bereits später Nachmittag sein. Er wollte seine Uhr aus der Westentasche ziehen und einen Blick darauf werfen. Aber er fasste ins Leere. Hastig durchsuchte er seine Hosen- und Jackentaschen und stellte mit Schrecken fest, dass die goldene Uhr samt Kette und auch das Mädchen weg waren. Gleichzeitig ging ihm ein Licht auf: Sie hatte ihn mit dem Ziel verführt, seine goldene Uhr zu stehlen!

»Himmel, Arsch und Zwirn!«, schimpfte Jan. Er schlug sich wütend auf die Schenkel und fluchte wie ein Fuhrknecht. Wie konnte er nur so dumm sein und sich derart aufs Kreuz legen lassen! »Verdammtes Pack!«, tobte er. »Aber wartet, ihr werdet mich kennen lernen!«, rief er und sprang auf die Beine. Wutgeladen rannte er in die Richtung, in die der Wagen gefahren war. Bald erreichte er einen kleinen Ort. Vor der Dorfschenke standen zwei gesattelte Pferde. Sie gehörten wahrscheinlich den Gendarmen, die die Suche nach den Landfahrern zunächst unterbrochen hatten und hier eingekehrt waren.

Jan schlich sich in geduckter Haltung an die Pferde heran, band eines davon los und führte es vorsichtig um die Hausecke herum. Er lauschte zurück. Aus der Schenke erklang grölendes Lachen. Die Gendarme schienen sich köstlich zu amüsieren und hatten von dem Pferdediebstahl nichts bemerkt. Jan schwang sich auf den Gaul und ritt im Galopp aus dem Dorf hinaus und weiter auf der Straße entlang, wo er die Landfahrer einzuholen hoffte. Schon bald kam der Wagen in Sicht. Jan holte ihn ein. Auf dem Kutschbock saß ein alter Fahrensmann mit einem hängenden Schnauzbart und Schlapphut auf dem Kopf. Er blickte erschrocken zu Jan herüber, als dieser den Wagen überholte und plötzlich neben ihm auftauchte.

»Wo ist Julia und meine Uhr?«, rief Jan ihm wütend zu.

»Ich kenne keine Julia«, gab ihm der Mann mürrisch zur Antwort. Dabei schlug er auf die Pferde ein und trieb sie zur Eile an.

»Halt sofort an!«, befahl ihm Jan, aber der Alte reagierte nicht.

Jan ließ sein Pferd etwas zurückfallen, streifte die Zügel über eine Wagenrunge und sprang auf die Straße. Während er hinter dem Wagen herlief, erfasste er die Bremskurbel und drehte sie wütend fest, bis die Hinterräder stillstanden. Schlitternd kam der Wagen zum Stehen. Dann riss er die Hintertür auf und drang in das Innere ein. Zwischen einem unübersichtlichen Durcheinander saß eine Frau mit einer Schar Kinder und blickte ihn ängstlich an. Jan schaute in jedes der Gesichter, aber Julia war nicht dabei. Plötzlich sah er unter einer wie achtlos dahingeworfenen Decke einen nackten Fuß hervorragen, der ihm recht bekannt vorkam. Blitzschnell zog er das Tuch zur Seite und riss Julia auf die Beine. Sie starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen furchtsam an.

»Wo ist meine Uhr?«, herrschte er sie an.

»Ich, ich hab sie nicht«, stieß Julia stotternd hervor.

Plötzlich bemerkte Jan, dass jemand leise hinter ihn getreten war und gleichzeitig spürte er eine scharfe Klinge an seinem Hals.

»Lass sofort meine Tochter los, oder ich schneide dir die Kehle durch!«, befahl ihm der Alte mit gepresster Stimme.

Widerstrebend ließ Jan das Mädchen frei und der Druck des Messers verschwand. Er drehte sich zu dem Mann um und sah ihn furchtlos an.

»Es wird nicht lange dauern, bis die Gendarme uns eingeholt haben. Sie werden den Wagen auf den Kopf stellen und alles durchsuchen. Ich kann mir gut vorstellen, dass dabei einige interessante Sachen zum Vorschein kommen«, erklärte er ihm. Dass Jan wegen dem gestohlenen Pferd und anderer Dinge selbst in großen Schwierigkeiten war, erwähnte er wohlweislich nicht.

Der Alte blickte düster vor sich hin und schien zu überlegen. Dass er ein schlechtes Gewissen hatte, war ihm anzusehen.

Jan machte ihm einen Vorschlag: »Ich könnte die Angelegenheit natürlich auch schnell vergessen, wenn du mir schnellstens meine goldene Uhr zurückgibst.«

Der Fahrensmann überlegte nicht lange. Er griff in die Innentasche seiner Jacke, holte die Uhr samt Kette hervor und legte sie wortlos in Jans offene Hand.

»Na also«, stellte Jan zufrieden fest. »Du bist doch offensichtlich ein kluger Mann!«

Der Alte brummelte etwas Unverständliches vor sich hin, was Jan als Bestätigung seiner Ansicht verstand. Und er sprach weiter: »Aber damit ihr nun auch wirklich nicht von den Gendarmen belästigt werdet, rate ich euch, bevor es dunkel wird, tief in die Obstplantage hinein zu fahren und euch dort über Nacht zu verstecken.«

Der Alte dachte kurz nach. Dann schien er Jans Vorschlag als vernünftig zu betrachten, denn er nickte zustimmend und ging zu den Zugpferden, um den Wagen auf einem schmalen Fahrweg tief in die Anpflanzung aus Obstbäumen hineinzufahren.

2.

Liebesnächte unter blühenden Bäumen

»Und was wirst du nun tun?«, hörte Jan plötzlich Julias bange Frage. »Wo willst du hin? Es ist schon fast dunkel!«

Eigentlich hatte er vorgehabt, weiter in Richtung Hamburg zu reiten und sich ebenfalls ein geeignetes Versteck zu suchen, denn er war ja noch immer im Besitz des gestohlenen Pferdes. Aber dann sah er den traurigen und enttäuschten Blick des Mädchens und er erwiderte spontan: »Natürlich komme ich mit euch – wenn euch das recht ist?« Dabei sah er den Alten fragend an. Der hatte anscheinend nichts dagegen. Er zuckte nur mit den Schultern.

Julia indes sah Jan mit strahlenden Augen an und wäre ihm wahrscheinlich um den Hals gefallen, wenn ihr Vater nicht daneben gestanden hätte.

Hinter der Obstplantage stießen sie auf einen hohen Bewuchs aus dichten Hecken, wo sich eine passende und nicht einsehbare Stelle für die Nacht vor ihnen auftat. Bald danach, es war inzwischen dunkel geworden, hörten sie von der Straße her einen Trupp Reiter vorbeigaloppieren. Wahrscheinlich waren es die Gendarme, die sich inzwischen ein Ersatzpferd besorgt hatten und nach ihnen suchten. Die in die Obstplantage hineinführende Wagenspur hatten sie bei den schlechten Lichtverhältnissen offensichtlich übersehen.

Während die Familie später dabei war, ihr Nachtlager vorzubereiten, trat plötzlich Julias Mutter an Jan heran. »Die Nächte sind noch immer recht kalt«, sagte sie und reichte ihm eine warme Wolldecke. Es war dieselbe, unter der sich Julia zuvor am Tage versteckt hatte. Ein eigenartiger Geruch ging von ihr aus. Eine Sekunde lang war Jan geneigt, die Decke dankend zurückzuweisen. Mit Sicherheit war sie verlaust oder beherbergte etliche Wanzen. Aber dann nahm er sie doch mit einer leichten Verbeugung dankend entgegen. Sicherlich wäre die Frau tief beleidigt gewesen, wenn er die Decke nicht angenommen hätte. Aber schließlich wollte er es sich schon allein Julias wegen mit den Leuten nicht verderben. Dann sah er sich nach einem Nachtlager um.

Unweit des Lagers fand er unter einem Baum mit tief herabreichenden Ästen einen geeigneten Platz. Doch zuvor führte er das gestohlene Pferd, das in der ungewohnten Umgebung noch ziemlich nervös wirkte, mit besänftigenden Worten an eine Stelle mit frischem Gras und band es mit einer langen Leine, die ihm Julia besorgt hatte, an einen Baum.

Dann zwängte er sich mit der Decke im Arm unter das Blätterdach des Baums. Er räumte einige Äste und Steine zur Seite und bereitete sich ein bequemes Lager. Nach dem ereignisreichen Tag war er todmüde. Eilig zog er sich die Decke über den Kopf. Ihm stieg erneut der merkwürdige Geruch in die Nase. Aber ehe Jan noch weiter darüber nachdenken konnte, war er bereits eingeschlafen.

Er wusste nicht, wie lange er geschlummert hatte, als plötzlich jemand seine Schulter berührte. Erschreckt fuhr er hoch und glaubte im ersten Augenblick, dass ihn die Gendarmerie aufgespürt hätte. Aber dann hörte er Julias Stimme. »Mir ist so kalt«, flüsterte sie ihm zu, »darf ich unter deine Decke kommen?«

Als sie wenig später eng an ihn geschmiegt neben ihm lag, bat sie in kindlich-unschuldigem Ton: »Bitte erzähle meinen Eltern nichts von dem, was wir heute unter dem Kirschbaum gemacht haben.«

Jan war über ihre Bitte erstaunt und antwortete: »Und ich habe geglaubt, dass das zu deinem diebischen Spiel gehörte!«

»Nein, nein!«, widersprach sie ihm heftig. »Normalerweise tue ich so etwas nicht!«

»Also, normalerweise nicht«, wiederholte Jan ihre Worte mit spöttischem Ton, »aber was machst du denn normalerweise?«

»Es ist ganz anders, als du denkst«, erklärte sie ihm. »Als wir heute auf der Landstraße vorbeifuhren, sahen wir dich unter dem Baum sitzen. Mein Vater schickte mich los, damit ich dir etwas von meinen Sachen verkaufen sollte, und wenn nicht, dich vielleicht um ein wenig Geld zu bitten.«

»Oder mich zu bestehlen«, ergänzte Jan ihre Erklärung.

»Nein, nein!«, sagte sie erneut mit weinerlicher Stimme. »Es kam ja ganz anders. Als du den Kopf hobst und mich mit deinen blauen Augen ansahst, überkam mich ein Gefühl, wie ich es einem Jungen gegenüber noch nie erlebt hatte. Du gefielst mir vom ersten Augenblick an, und mir war, als ob ich dich schon immer gekannt hätte. Als wir uns dann vor den Gendarmen im hohen Gras versteckten und wir so nahe beieinander lagen, hatte ich plötzlich den Wunsch, dich zu küssen. Und alles Weitere passierte dann ganz unbewusst, als ob es selbstverständlich wäre.«

Jan wäre ein hartherziger Mensch gewesen, wenn ihn Julias Worte nicht berührt hätten. Aber so ganz konnte er dem Mädchen nicht glauben. Er stellte mit Bedauern fest: »Und trotz all dem hast du mir am Ende meine Uhr gestohlen!«

Julia antwortete mit tränenerstickter Stimme: »Bitte glaube mir, das ist mir sehr schwer gefallen. Aber ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte. Meine Leute warteten mit dem Wagen hinter der nächsten Wegbiegung und ich hatte mich schon viel zu lange bei dir aufgehalten. Mein Vater hätte mich grün und blau geschlagen, wenn ich dann auch noch mit leeren Händen angekommen wäre.« Jan versuchte ihr Verhalten zu verstehen. Er nahm sie fest in die Arme und streichelte beruhigend ihren Körper.

Julia schluchzte tief und bedeckte sein Gesicht mit leidenschaftlichen Küssen. »Ich liebe dich, ich liebe dich!«, flüsterte sie dabei immer wieder

Jan bemerkte ihr Verlangen und umfasste ihre zarten Brüste, die ihm bereits am Nachmittag ins Auge gefallen waren, und spürte ihre strammen Brustwarzen zwischen seinen Fingern. Dann zog er ihren bunten Rock sachte nach oben. Er wusste, dass sich darunter kein störender Schlüpfer befand, sondern nur die heiße Glückseligkeit. Und so liebten sich die beiden zum zweiten Male an diesem Tage. Als die ersten Singvögel ihr Lied anstimmten, küsste sie ihn zärtlich auf die Wangen und schlich heimlich in den Wagen zurück.

Später am Tage brach Jan zusammen mit den Fahrensleuten in Richtung Hamburg auf. Um am Ende den Gendarmen nicht doch noch in die Hände zu fallen, vermieden sie die Hauptstraßen und versuchten stattdessen, über weniger befahrene Seitenwege ihr Ziel zu erreichen, was aber mehrfach durch unüberwindbare Kanäle und Wasserläufe oder Sackgassen unmöglich war.

Nachdem Jan und Julia sich erneut nachts getroffen hatten, ließ sie ihn später, als sie einen Moment allein waren, wissen: »Ich glaube, mein Vater hat bemerkt, dass ich nachts, wenn ich den Wohnwagen heimlich verlasse, nicht nur meine Notdurft verrichte, sondern dich auch besuche. Ich bin sicher, dass er etwas dagegen hat und mir das auch bald sagen wird. Auch meine Mutter benimmt sich mir gegenüber irgendwie misstrauisch. Deshalb müssen wir uns künftig in Acht nehmen, damit wir keinen Ärger bekommen.«

Jan hatte sich schon gewundert, dass der Alte seine Anwesenheit überhaupt duldete. Aber vielleicht befürchtete er, dass er ihm andernfalls die Gendarmerie auf den Hals schicken könnte. Aber wenn sich die Gelegenheit dazu bot, fanden Jan und Julia dennoch immer wieder zusammen.

Nach mehreren Tagen der Irrfahrten geschah es an einem Sonntagmorgen, dass die Gruppe wieder in die Nähe des Dorfes gelangte, wo Jan den Gaul gestohlen hatte. Von der Kirche erklang das Glockengeläut und rief die Gläubigen zum Gottesdienst.

Jan, der insgeheim immer noch ein schlechtes Gewissen wegen des entwendeten Pferdes hatte, sagte sich, dass dieser Tag eine gute Gelegenheit bieten würde, das Tier wieder an die Stelle zurückzubringen, wo er es, wie er sich ausdrückte, ja nur »ausgeborgt« hatte. Er folgte dem Wink des Schicksals und ritt vorsichtig, damit ihn niemand bemerkte, durch die Gärten in das Dorf hinein. Ungesehen erreichte er die Hauptstraße und sah sich aufmerksam um. Das Dorf lag wie ausgestorben da. Offensichtlich befanden sich die meisten Leute um diese Zeit in der Kirche. Ganz langsam und gelassen bewegte er sich auf die Schenke zu. Dabei sprach er besänftigend auf das Pferd ein und klopfte ihm beruhigend auf den Hals. Jan befürchtete, dass der Gaul, jetzt wo er in eine vertraute Umgebung kam, laut loswiehern könnte und den ganzen Ort alarmieren würde. Aber das Pferd blieb brav und ließ sich geduldig an den Pfosten vor der Schenke binden. Geschwind war Jan wieder zwischen den Häusern verschwunden und ging mit erleichtertem Gewissen fröhlich auf die Stelle zu, wo er Julia und ihre Leute zurückgelassen hatte. In Gedanken stellte er sich die erstaunten Gesichter des Schankwirtes und später die der Gendarme vor, wenn sie bemerkten, dass das treue Pferd plötzlich wieder vor der Schenke stand. Frohgemut summte Jan die Melodie »Lustig ist das Landfahrerleben« vor sich hin.

Doch als er die Stelle erreichte, wo die Fahrensleute gerastet hatten, war der Platz leer. Zunächst war Jan nicht sonderlich beunruhigt, denn er nahm an, dass sie die Stelle aus irgendeinem Grund verlassen hatten und nun irgendwo in der Nähe auf ihn warteten. Er folgte der nach Süden führenden Wagenspur, aber das Gefährt und die Landfahrer kamen nicht in Sicht. Die Spuren erreichten eine befestigte Straße mit festem Untergrund, auf dem sich die Abdrücke der Räder und Pferdehufe mit anderen vermischten und allmählich verloren. Jan blieb ratlos stehen. Warum hatten sie nicht auf ihn gewartet?

Plötzlich kam ihm ein furchtbarer Verdacht: Sollte sich der Alte mit Frau und Kindern davongemacht haben, um Jan und Julia voneinander zu trennen? Aber so einfach würde er sich nicht austricksen lassen, schwor er dem Alten mit wachsendem Zorn. Er würde nicht eher ruhen, bis er sie wiedergefunden hatte!

Jan machte sich unverzüglich auf den Weg und durchstreifte in den folgenden Wochen das Land unermüdlich kreuz und quer, ohne Julia und ihre Leute zu finden. Er bedauerte, dass er den Gaul bereits zurückgebracht hatte. Das Pferd wäre ihm bei der Bewältigung der weiten Strecken sicherlich von großem Nutzen gewesen.

Je länger er von Julia getrennt war, umso mehr vermisste er sie und ihm wurde erst allmählich bewusst, dass er sie aus tiefem Herzen liebte. Immer wieder rief er sich ihre zärtlichen Worte und Liebesbekundungen in Erinnerung, die er nie so richtig ernst genommen hatte.

Im Laufe der Zeit betrat er ungezählte Schenken und Krämerläden in den Dörfern und fragte die Leute, ob sie ein Sinti-Mädchen gesehen hätten, auf das Julias Beschreibung passte. Aber er bekam nur verneinende Antworten. Ebenso erkundigte er sich auch nach durchreisenden Gruppen, die in der Regel außerhalb der Orte lagerten. Und obwohl er wusste, dass ihm von den Fahrensleuten viel Misstrauen und gar Feindseligkeit entgegenschlagen würde, machte er sich dennoch die Mühe und suchte mehrere Lager auf. Bei einigen Begegnungen hatte er den Eindruck, dass die Leute mehr wussten, als sie preisgeben wollten. Aber wie sollte er sie dazu bringen, ihm etwas über den Verbleib von Julias Familie zu verraten?

Aus den Wochen seiner Nachforschungen wurden Monate. Das wenige Geld, das er benötigte, verdiente er sich mit Gelegenheitsarbeiten oder er verdingte sich bei den Bauern als Tagelöhner, die ihm meist auch ein Dach über dem Kopf gewährten. Doch immer mit der Absicht, seine Suche bald wieder fortzusetzen.

Schließlich wurde ihm immer mehr bewusst, dass es in dem weiten Land ungezählte Orte gab, wo sich Julia aufhalten könnte, und dass er ein Leben lang nach ihr suchen müsste, um sie am Ende doch nicht zu finden. Er kam zu der Einsicht, dass ein Wunder geschehen müsste, wenn er sein Sinti-Mädchen jemals wiedersehen sollte. Darüber hinaus hatte er sich in letzter Zeit auch öfters gefragt, was wohl geschehen würde, wenn er sie wirklich wiederfinden sollte. Wäre sie von seiner Liebe überzeugt und würde sie letztlich ihre Sippe ihm zuliebe – einem jungen Habenichts – verlassen?

Schweren Herzens gab er schließlich die Suche nach seiner Geliebten auf und machte sich auf den Weg nach Hamburg, seinem eigentlichen Ziel. Dort wollte er auf einem Schiff anheuern und wie sein Vater zur See fahren. Aber würde er Julia, sein Sinti-Mädchen, je vergessen können?

3.

Jans Erinnerungen

Während Jan unentwegt mit weit ausholenden Schritten durch die blühende Landschaft auf sein Ziel, die Hansestadt Hamburg, zustrebte, schweiften seine Gedanken weit in die Vergangenheit, in seine Kindheit und sein bisheriges Leben zurück:

An seine Mutter konnte er sich nur noch schwach erinnern. Sie war viel zu früh, erst Mitte zwanzig, gestorben, als Jan noch keine drei Jahre alt gewesen war. Nur eines konnte er nie vergessen, es hatte sich unauslöschlich in seine Erinnerung eingeprägt: der vertraute Duft ihres Körpers, eine Mischung aus Kernseife und Lavendelblüten und blondem Haar, den er in sich aufnahm, wenn sie ihn liebevoll in die Arme nahm und mit sanfter Stimme ein Kinderlied singend in den Schlaf wiegte und er ein Gefühl von großer Geborgenheit empfand.

Nachdem Jans Mutter dahingegangen war, kam die Zeit, als sein Vater wieder seinen Dienst bei der Reederei in Hamburg antreten musste. Er stammte von der Nordseeinsel Föhr, war Kapitän auf einem Walfangschiff und gehörte zu den so genannten Grönlandfahrern, die im nördlichen Eismeer dem lukrativen Walfang nachgingen. Die Zeit außerhalb der Fangsaison hatte er vorwiegend bei seiner Familie auf dem Carstens-Hof im Alten Land verbracht.

Doch nun übernahm Großmutter Kathrin die Obhut ihres Enkels. In Jans Erinnerung war sie eine spröde alte Frau in schwarzen Kleidern mit einem blassen schmalen Gesicht, die ihm und auch schon ihrer Tochter, Jans Mutter, nur wenig Liebe entgegengebracht hatte und der selten ein freundliches Wort über die Lippen kam.

Ganz anders dagegen war Opa Carstens, der sich um Jan von Kindesbeinen an gekümmert und viel Freude und Sonnenschein in sein frühes Leben gebracht hatte. Jan konnte nie den Tag vergessen, an dem er ihm einen kleinen Hund gekauft hatte. Eine alte Fahrensfrau hatte plötzlich auf dem Hof gestanden und Jan einen quicklebendigen kleinen Welpen mit wedelndem Schwänzchen in die Arme gedrückt. Er war schwarz-weiß und gelb gefleckt und hatte zwei lustige Punkte über seinen braunen Augen. Freudig zappelnd hatte er dem kichernden Knaben über das ganze Gesicht geleckt.

»Wie heißt er denn?«, wollte Jan wissen.

»Der Hund heißt Bello, der Schöne«, belehrte ihn die Alte.

»Darf ich ihn behalten?«, fragte Jan erwartungsvoll.

»Nun ja«, erwiderte die Frau, »wenn du ihn bezahlen kannst.« Dabei richtete sie ihren Blick auf Opa Carstens.

»Was soll der Hund denn kosten?«, fragte dieser.

Die Alte nannte ihm einen unverschämt hohen Preis.

»Nein, nein«, lachte Opa Carstens, »für so viel Geld bekomme ich anderswo einen ganzen Stall voll Hunde. Schau dir unseren Hof an. Wir sind keine reichen Leute.«

Nach langem Feilschen und Schachern einigte man sich auf 50 Groschen, und Jan zog überglücklich mit dem Hund davon. Bello wurde Jans bester Freund und ständiger Begleiter. Er schlief neben ihm in der Koje. Und im Winter, wenn der eisige Nordwind über die Deichkrone fegte und die Kälte in ihre Kammer drang, dann lag der Hund am Fußende unter der Decke und wärmte ihm die Füße.

Nachdem Bello von einem tapsigen Welpen zu einem kräftigen Rüden herangewachsen war, verstand er seine Aufgabe nicht nur darin, den Hof zu bewachen, sondern auch Jan gegen jegliches Übel zu schützen. Das bekam besonders die missmutige Großmutter Kathrin zu spüren. Wenn sie Jan mal wieder aus einem nichtigen Grund ausschimpfte und dabei mit erhobenem Zeigefinger vor seiner Nase herumfuchtelte, dann kam es immer öfter vor, dass Bello sie böse anknurrte und ihr gar die Zähne zeigte.

Probleme gab es mit Bello erst in späteren Jahren, wenn Jan in die Kirche oder in die Schule ging und Bello absolut nicht verstehen konnte, dass er nicht mit durfte. Jämmerlich heulend protestierte er dann gegen sein Eingesperrtsein. Obwohl Opa Carstens dann alles tat, um ihn zu beruhigen, hatte es Bello doch einige Male geschafft, ihm zu entwischen. Er hatte Jans Spur aufgenommen und war freudig wedelnd in der Schule und einmal auch in der Kirche während des Gottesdienstes aufgetaucht. Dabei hatte er den Küster, der ihn davonjagen wollte, ins Bein gebissen. Aber bald begriff Bello als gelehriger Hund, nachdem Jan ihm versichert hatte, dass er wieder zurückkommen würde, dass er eben nicht überall hin mitkommen durfte, und legte sich geduldig wartend auf seinen Platz in Opa Carstens Werkstatt.

Auf Jans Weg nach Hamburg wurde er plötzlich aus seinen Gedanken gerissen: Ein schmucker Bauernhof mit weißen Zäunen und gepflegtem Rasen weckte plötzlich sein Interesse. Besonders fiel ihm die prächtige Pforte auf, die jetzt im Sonnenlicht erstrahlte. Das Anwesen, an dem er neugierig vorbeischritt, erinnerte ihn an seinen elterlichen Hof, den er vor ein paar Monaten fluchtartig verlassen musste. Eine ähnliche Prunkpforte hatte Opa Carstens vor einigen Jahren gezimmert und an der Einfahrt zu ihrem Hof errichtet.

Aber das prächtige, weiß gestrichene Brauttor, wie es auch in seinem Dorf genannt wurde, konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es um den Carstens-Hof nicht zum Besten stand. Das weit heruntergezogene Reetdach des weiträumigen Hauses, das sich gleich hinter dem Deich hinduckte, hätte dringend einer Erneuerung bedurft. Auch die aus Ziegelsteinen erbaute Giebelwand wartete darauf, neu verfugt zu werden. Ebenso hätte Fenster und Türen ein neuer Anstrich nicht geschadet. Und auf den ausgedehnten Weiden, die sich bis zu dem nahe gelegenen Dorf erstreckten, wo früher gut im Futter stehende Kühe und prächtige Pferde grasten, zupften heute ein paar magere Ziegen und Schafe an den spärlichen Halmen. Ja, der Carstens-Hof hatte wahrlich schon bessere Zeiten erlebt! Aber die Dinge hatten sich nun mal zu seinem Nachteil entwickelt.

Jan fragte sich, ob er dennoch sein Zuhause jemals wiedersehen würde. Ein Gefühl von Heimweh überkam ihn. Brunhild kam ihm in den Sinn. Sie musste nun allein mit dem Hof zurechtkommen. Er überlegte, als wen oder was er sie im Nachhinein betrachten sollte. Als seine Stiefmutter oder Bettgefährtin, oder als Anklägerin? Wahrscheinlich als Letztes, nach dem, was geschehen war.

4.

Brunhilds Werdegang

Brunhild hatte mit ihren 28 Jahren bereits ein bewegtes Leben hinter sich. Sie war die älteste von den vier Töchtern des so genannten Koog-Bauern, dem reichsten Mann mit dem größten Hof im Dorf. Ihr Vater hatte sich immer einen Sohn als Erben gewünscht. Aber jedes Mal, wenn seine Frau ein weiteres Kind zur Welt brachte, war es zu seiner großen Enttäuschung wieder ein Mädchen gewesen.

Obwohl er sich nur schwer an den Gedanken gewöhnen konnte, schien das Schicksal es nun mal so zu wollen, dass Brunhild später den Hof übernehmen sollte. Sie wuchs zu einem hübschen, klugen und auch fleißigen Mädchen heran und war sichtlich stolz darauf, als Erbin des reichen Koog-Hofs zu gelten. Aber entgegen aller großen Hoffnungen, die man in Brunhild gesetzt hatte, entwickelte sie sich nicht so, wie es sich für die Tochter des reichen Koog-Bauern gehörte. Sie war sich offensichtlich schon früh ihrer körperlichen Reize bewusst und kokettierte unverhohlen mit den jungen Männern, auch mit solchen, die bereits eine feste Bindung eingegangen oder gar verheiratet waren. Ein solches Verhalten löste natürlich nicht nur bei den Betroffenen Empörung aus. Was Brunhild aber eher als belustigend empfand.

Der Wettermacher Petrus hatte es in jenem Jahr gut gemeint und dafür gesorgt, dass die Bauern nicht nur eine reiche Ernte einfahren konnten. Viele Kühe hatten sogar zwei Kälber zur Welt gebracht. Und der Dorfschäfer freute sich über die vielen Lämmer seiner Schafherde. Auch die Torfbauern blickten auf ein gutes Jahr zurück. Noch in keiner Saison zuvor hatten sie so viele mit Torfsoden beladene Lastkähne in die Stadt befördert und damit gutes Geld verdient.

Somit waren jetzt im Herbst die Kammern, Scheunen und die Sparsäckel der Leute gut gefüllt. Das bewog den Koog-Bauer, den Dorfältesten vorzuschlagen, zum diesjährigen Erntedankfest zusätzlich zu den betagten Dorfmusikanten, den Jansen-Brüdern, eine Gruppe fahrender Gaukler und Musiker zu engagieren und diese in der Tenne des Dorfkrugs zum Tanz aufspielen zu lassen. Die Bezahlung für die Leute wollte er übernehmen, vorausgesetzt, dass die Dörfler für die Unterbringung und Verköstigung aufkommen würden. Darüber hinaus könnten die Gaukler für allerlei Belustigung der Leute sorgen, meinte er.

Der Vorschlag des Koog-Bauern fand allgemein freudige Zustimmung. Doch er konnte nicht ahnen, dass er damit indirekt zum Verlust der Jungfräulichkeit seiner Tochter beitragen sollte.

Nachdem die Musiker an diesem denkwürdigen Abend die provisorische Bühne in der Tenne des Dorfkrugs betreten hatten, bemerkte Brunhild, die mit ihren Freundinnen auf einer der vorderen Bänke saß, unter ihnen einen jungen Geiger. Sie starrte ihn wie gebannt an. Er hatte dunkles gelocktes Haar, das ihm bis auf die Schultern fiel und einen schmachtenden Blick, der jedes Mädchen dahinschmelzen ließ. Während die Musiker eine Melodie voller Sehnsucht und Leidenschaft spielten, dauerte es nicht lange, bis der Geiger Brunhild entdeckt hatte und sich ihre Blicke trafen. Brunhild hatte das Gefühl, von einem Strudel erfasst zu werden. Während des Spiels schaute der Geiger immer wieder zu ihr hin. Seine dunklen Augen und sein Violinengesang schienen sie gleichermaßen zu umschmeicheln. Sie hatte den Eindruck, als würden seine Melodien nur ihr allein gelten.

Brunhild war zu diesem Zeitpunkt gerade mal vierzehn Jahre alt. Aber durch ihre für ihr Alter groß gewachsene Gestalt und ihren vollen Busen hätte man sie durchaus um einige Jahre älter schätzen können. Ab und an tanzten ihre Freundinnen miteinander, denn es wäre unschicklich gewesen, sich als junges Mädchen schon mit einem Jungen oder Mann auf die Tanzfläche zu wagen. Während Brunhilds Freundinnen sich beim Tanz vergnügten, hatte sie nur noch Augen für den Geiger.

Nach gut einer Stunde Spielzeit machten die Gaukler eine Pause, um sich ein paar Schnäpse und Biere zu gönnen und mit den Gästen zu unterhalten. Nun hatten die Jansen-Brüder ihre Chance, das Publikum mit ihren flotten Weisen bei guter Laune zu halten.

Brunhild schaute enttäuscht vor sich hin. Insgeheim hatte sie gehofft, dass der Geiger sie jetzt vielleicht ansprechen würde. Aber er war irgendwo in der Menschenmenge verschwunden. Doch dann geschah ein Wunder: Gemäß einem alten Brauch gingen die Musiker nach der Pause unter die Gäste und forderten die Damen zum Tanz auf. Brunhild traute ihren Augen nicht, als sie den Geiger auf sich zukommen sah. Ihr wurde siedend heiß und sie bekam einen hochroten Kopf.

Mit einer eleganten Verbeugung bat er sie zum Tanz. Sie sah ihn lächelnd an. Doch dann blickte sie verschämt zu Boden und schüttelte den Kopf, während ihre Freundinnen sie aufgeregt ermunterten, seiner Einladung nachzukommen.

Aber so leicht ließ sich der Geiger nicht abweisen. Er fasste Brunhild selbstsicher bei der Hand und zog sie lachend auf die Tanzfläche.

Scheinbar widerstrebend ließ sie sich von ihm führen. Er hielt sie während des Reigens dicht an sich gepresst und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Dabei spürte sie seine Männlichkeit durch ihr Kleid.

Der Abend war schon fortgeschritten, als sich die beiden während einer Pause heimlich und unbemerkt in dem alten Schafstall hinter dem Dorfkrug trafen. Der Geiger entkleidete sie und überschüttete sie mit heißen Küssen. Sie bot ihm willig ihren Schoß. Und während die Musik aus dem Dorfkrug herüberklang, erfüllte sich in dem duftenden Heu ihr sehnsüchtig gehegter Wunsch.

Wer Brunhild näher kannte, dem fiel auf, dass sie sich nach dem Erntedankfest-Tanz zunehmend für das männliche Geschlecht zu interessieren schien. Sie verstand es immer besser, den Jungen den Kopf zu verdrehen. Dagegen ließen ihre zuvor sehr guten Schulleistungen merklich nach. Natürlich blieb ihren Eltern ihr Verhalten nicht verborgen. Aber all ihre Vorhaltungen und Ermahnungen blieben ohne Erfolg. Wahrscheinlich hatte Brunhild gehofft, ihre Schulnoten wieder zu verbessern, wenn sie auch dem jung verheirateten Lehrer schöne Augen machen würde. Aber der wusste ihr die Flausen schnell auszutreiben.

Die Jahre vergingen, ohne dass sich Brunhild trotz der Vorwürfe ihrer Eltern geändert und Vernunft angenommen hätte. In ihren Augen glühte eine gefährliche Leidenschaft. Es folgte eine Liebschaft nach der anderen. Und bald sagte man im Dorf, dass es keinen Jungen gäbe, mit dem sie nicht schon einmal hinter den Hecken verschwunden wäre. Natürlich gab es unter den jungen Männern auch einige, die sich damit brüsteten, etwas mit der Brunhild gehabt zu haben, ohne dass da wirklich etwas gewesen war.

Dagegen geschah es nicht selten, wenn im Dorfkrug in geselliger Runde das Gespräch auf Brunhild kam, dass einige Ehemänner plötzlich schweigsam wurden und sich unter einem Vorwand bald verabschiedeten. Hinter vorgehaltener Hand wurde sie als »Ackerschnalle« bezeichnet.

Als Brunhild in das Alter kam, in dem zu erwarten gewesen wäre, dass der eine oder andere Junggeselle, nicht zuletzt wegen des reichen Koog-Hofs, den sie erben sollte, um ihre Hand angehalten hätte, schien sich niemand von entsprechendem Herkommen als Bräutigam zu finden. Daran änderte sich auch in den folgenden Jahren nichts. Brunhild galt als schwarzes Schaf der Familie, die keiner zur Frau haben wollte. Derweil hatte den Koog-Bauer dafür gesorgt, dass ihre jüngeren Schwestern sich reich verheirateten und jede eine gute Partie machte.

Doch plötzlich war Brunhild zur Verwunderung der Dorfbewohner an den Sonntagen immer öfter in der Kirche zu sehen, was früher nur zu besonderen Anlässen der Fall gewesen war. War sie jetzt zur reuigen Büßerin geworden? Oder hatte das möglicherweise etwas mit dem jungen Geistlichen zu tun, der seit Kurzem die Pfarrstelle übernommen hatte?

5.

Der Vikar

Minna, der alte Drachen, wie sie manche Leute nannten, hatte seit über drei Jahrzehnten als Wirtschafterin im Pfarrhaus gedient und den Haushalt mit strenger Regie geführt. Während all dieser Jahre hatte sie die unterschiedlichsten Pastoren kommen und gehen sehen und sich letztlich immer mit ihnen arrangieren können.

Aber den neuen Vikar, Bruder Clausen, konnte sie vom ersten Augenblick an nicht ausstehen. Er war ledig, hatte brandrotes krauses Haar und war ein geborener Revoluzzer, der alles Herkömmliche infrage stellte. Gleich am ersten Tage erdreistete er sich und sagte, nachdem ihm die Minna die erste Mahlzeit serviert hatte, dass er auch schon besseres Essen auf den Tisch bekommen hätte. Minna hatte es vor Schreck die Sprache verschlagen und sie war zutiefst beleidigt. Aber sie schwor sich, dass der junge Schnösel sie noch kennen lernen sollte!

Sein Vorgänger, Pastor Schönblum, inzwischen im Ruhestand, war im Vergleich mit Bruder Clausen das krasse Gegenteil. Er war in seinem Wesen sanftmütig wie ein Lamm. Und die alte Minna hatte bald bemerkt, dass er sich aus Weibsleuten nichts machte. Dagegen ging er mit den Konfirmanden besonders liebevoll um und strich den Knaben gelegentlich scheinbar salbungsvoll über das Haar und auch mal über den verlängerten Rücken.

Als Minna ihn das erste Mal dabei ertappte, zuckte er sichtlich zusammen und zog erschreckt seine Hand zurück. Sie sagte ihm, dass sich das nicht gehöre, und fragte, was die Leute im Dorf, seine Gemeinde, wohl von ihm denken sollten?

Pastor Schönblum fühlte sich erkannt, hatte nur betreten den Blick gesenkt und kein Wort dazu gesagt. Aber er war fortan darauf bedacht, nichts zu tun, was seine Wirtschafterin verärgert oder ihren Argwohn hätte wecken können.

Und so kam es, dass Minna in den nachfolgenden Jahren die Herrschaft im Pfarrhaus übernahm und sogar über kirchliche Dinge entschied, die nicht in ihrer Kompetenz lagen. Und nun hatte man ihr diesen rüpelhaften Vikar vor die Nase gesetzt, der sie vom ersten Tag an in ihre Schranken wies. Eigentlich hätte sie ihre Stellung als Wirtschafterin kündigen und sich zur Ruhe setzen können. Aber das tat sie aus Trotz nicht. Sie hasste diesen rothaarigen Aufwiegler und wartete nur darauf, ihm seine Aufsässigkeit heimzuzahlen.

Somit erfüllte sie weiterhin ihre Pflichten und redete nur das Notwendigste mit ihrem Widersacher. Aber heimlich beobachtete sie wie eine Spinne im Netz all sein Tun. Sie war sich sicher, dass er sich irgendwann einen Fehltritt leisten würde, und dann wäre ihre Stunde gekommen!

Dieser Moment kam schneller, als sie erwartet hatte. Im Dorf gab es eine ganze Reihe von Leuten, die mit dem Vikar ebenfalls nicht einverstanden waren. Brunhild dagegen fand ihn ganz sympathisch und man sah öfter, wie sich die beiden, von Minna argwöhnisch beobachtet, nach dem Gottesdienst angeregt unterhielten. Aber Minna traute ihnen nicht und sie hatte seit geraumer Zeit das untrügliche Gefühl, dass der Vikar und Brunhild etwas miteinander hatten und sich da einiges hinter ihrem Rücken abspielte.

Es war allgemein bekannt, dass sich Minna nach dem Mittagessen auf ihr Zimmer zurückzog und sich eine ausgedehnte Mittagsruhe und ein Schläfchen gönnte. Aber an diesem Tag war sie von einer merkwürdigen Unruhe befallen. Der Vikar und Brunhild gingen ihr nicht aus dem Kopf. Von einer plötzlichen Ahnung befallen erhob sie sich, verließ ihre Kammer und ging zur Kirche hinüber. Auf Zehenspitzen näherte sie sich der Sakristei und blieb vor der Tür lauschend stehen. Von dort hörte sie seltsam stöhnende Stimmen. Vorsichtig öffnete sie einen Spalt breit die Tür. Und dann sah sie die beiden! Die Brunhild hatte sich auf dem Teppich der Sakristei nach vorne abgestützt, während der Vikar hinter ihr kniete.

Minna riss die Tür weit auf und blickte sarkastisch auf die zwei herab. Erschreckt hielten sie inne und sprangen hastig auf, um ihre Kleidung zu ordnen. Minna blieb ruhig stehen und weidete sich sekundenlang an dem Anblick des aufgescheuchten Paares. Danach verließ sie die Sakristei und warf die Tür mit einem höhnischen Lachen krachend hinter sich zu. Es war der Ausdruck ihres Protests und ihrer Verachtung. Innerlich jubelnd marschierte sie aus der Kirche. Das war der Tag ihres Triumphes! Welch ein Skandal! Das ganze Dorf sollte es erfahren!

Dann nahte der nächste Sonntag. Vikar Clausen hatte seine Predigt sehr sorgfältig vorbereitet. Er erwartete eine große Anzahl von Gläubigen, darunter vielleicht auch solche, die einfach nur neugierig darauf waren, wie sich der Geistliche nach dem Skandal verhielt. Aber nur wenige Menschen fanden den Weg zum Gottesdienst. Die Kirche blieb fast leer, bis auf eine Handvoll Frömmler, die es als Sünde betrachteten, wenn sie nicht zur Messe gingen, und die selbst dann gekommen wären, wenn der Teufel von der Kanzel gepredigt hätte.

Vikar Clausen sprach ausführlich von den verbotenen Früchten, der Schlange und Eva, die bereits Adam verführt hatte. Die Kirchgänger hörten der Predigt mit unbewegter Miene zu. Er redete weiter von dem Satan, der Hölle und der Missetat der Väter. Aber auch über Reue und Vergebung des Herrn. Am Ende hallten die Worte im Vaterunser, »vergib uns unsere Schuld«, besonders laut, aber auch reichlich verloren, durch das Kirchenschiff. Am Schluss des Gottesdienstes stand Vikar Clausen an der Kirchentür, um die Gläubigen wie üblich mit einem Händedruck und freundlichen Worten zu verabschieden. Aber von den wenigen Besuchern verwehrten ihm die meisten die Hand und gingen wortlos an ihm vorbei.

Am Montagmorgen war der Vikar nicht aufzufinden. Die Haushälterin Minna berichtete, dass sein Bett unberührt sei und dass er seine Habseligkeiten offensichtlich zurückgelassen habe. Nur das kostbare goldene Kreuz, so meldete der Küster, das normalerweise den Altar der Kirche schmückte, war verschwunden. Eine Nachfrage bei den Gendarmen, dem Bürgermeister und letztlich bei dem zuständigen Dekanat wegen dem verschwundenen Vikar blieb ohne Ergebnis.

Böse Zungen meinten, dass der Geistliche vermutlich nach Hamburg geflohen sei, dort das goldene Kreuz zu Geld gemacht und sich mit dem nächsten Dampfer nach Übersee abgesetzt habe.

»Oder er hat das Geld auf St. Pauli mit den Huren verprasst«, meinte jemand aus dem Dorf mit sarkastischem Lachen.

6.

Die Kröten-Nelly

Als Brunhilds Monatsblutungen wiederholt ausblieben, wurde ihr mit Schrecken bewusst, dass sie schwanger war. Um ihren Zustand vor den Leuten im Dorf und besonders vor ihrem zornigen Vater zu verbergen, schnürte sie ihren schwellenden Leib anfangs mit straffen Leinentüchern. Aber nach einigen Monaten wurde ihr das zur Qual.

Als sie es nicht mehr länger aushalten konnte, ging sie heimlich zu der Hebamme des Dorfes, in der Hoffnung, dass sie diese zu einer Abtreibung überreden könnte. An Geld sollte es nicht fehlen, bemerkte sie beiläufig.

Aber die alte Frau war über Brunhilds Ansinnen höchst empört und erklärte der Schwangeren in barschem Ton: »Meine Aufgabe ist es, dass die Kinder möglichst heil das Licht der Welt erblicken. Dafür hat mich Gott bestimmt. Aber nicht die Ungeborenen im Mutterleib zu töten!«

Sichtlich niedergeschlagen und ratlos verließ Brunhild die Hebamme. Doch bald konnte sie vor niemandem mehr verbergen, dass sie inzwischen hochschwanger war. Ihr Vater tobte vor Zorn und drohte ihr, sie zu enterben und vom Hof zu jagen.

Brunhilds Mutter dagegen, die sich als junge Braut an der Seite des reichen Koog-Bauern ein besseres Leben versprochen hatte und seit Jahren unter der Willkür ihres Mannes litt, schüttelte nur verständnislos den Kopf. Als fromme Frau betete sie inständig, dass sich noch alles zum Guten wenden möge. Aber noch vor Brunhilds Niederkunft fand man sie eines Morgens, ihre Bibel in den Händen haltend, tot in ihrem Bett. Niemand zweifelte daran, dass sie nicht auf natürliche Weise gestorben war.

Nach nur acht Monaten Schwangerschaft brachte Brunhild ein mickriges Mädchen zur Welt. Es wog nur 4 ½ Pfund, hatte aber bereits ungewöhnlich dichtes und krauses Haar von brandroter Farbe. Und trotz seines schwächlichen Körpers hatte der Säugling eine durchdringende Stimme, wie man sie von einem derart kleinen Wesen gar nicht erwarten würde. Kaum hatte das Kind den Mutterleib verlassen, als es schon zu schreien begann und es schien, als wollte es nie mehr damit aufhören.

Auch später, nachdem die Hebamme das Mädchen in trockenen Tüchern der Mutter in die Arme gelegt hatte, schrie es immer noch und verweigerte stundenlang Brunhilds Brust. Das andauernde Geschrei und Jammern der Kleinen setzte sich auch in den folgenden Wochen fort und raubte nicht nur dem Koog-Bauern den Schlaf. Nach einer unruhigen Nacht rief er am nächsten Morgen übelgelaunt:

»Der Balg hat den Teufel im Leib. Du solltest den Bankert im Moor ertränken!«

Es gab aber auch noch einen anderen Grund, warum der Koog-Bauer mit dem Kind nicht einverstanden war. Auch wenn er mit Brunhild in fortwährendem Streit lag, so hatte er, nachdem bekannt wurde, dass sie schwanger war, im Stillen gehofft, sie würde einen Knaben zur Welt bringen und er letztendlich doch noch einen männlichen Erben bekommen. Umso enttäuschter war er nun, als es wieder ein Mädchen war und es mit seinem brandroten Haar auch noch an seinen Vater, den verhassten Vikar, erinnerte. Dass der Koog-Bauer, was einen männlichen Erben anbetraf, dem Schicksal doch noch ein Schnippchen geschlagen hatte, sollte sich erst Jahre später nach seinem plötzlichen Tod bei der Testamentseröffnung zeigen.

Doch im Moment war Brunhild durch das ständige Schreien nervlich am Ende und sie wusste sich keinen Rat mehr. Dennoch war sie über sich selbst erschrocken, als sie sich bei dem Gedanken ertappte, dem Rat ihres Vaters zu folgen und das Kind im Moor verschwinden zu lassen. Aber im selben Augenblick wurde ihr bewusst, dass das hilflose Wesen doch ihr eigen Fleisch und Blut war und sie es nie über ihr Herz bringen könnte, ihm ein Leid anzutun.

Sie nannte das Mädchen »Nelly«, nach einer berühmten Sängerin, die sie früher einmal in Hamburg auf der Bühne erlebt hatte. Doch bei aller Liebe und Fürsorge, die Brunhild ihm in den folgenden Jahren entgegenbrachte, erwies es sich als ein schwer erziehbares Kind. Nelly war aufsässig, ungehorsam, eigensinnig und voller Unruhe. Weder gut gemeinte Worte noch Bestrafungen konnten daran viel ändern. Andererseits entwickelte sie mit zunehmendem Alter eine besondere Vorliebe für alles, was mit Wasser zu tun hatte, und fühlte sich auf seltsame Weise zu dem Moor mit all seinen Geheimnissen und Gefahren hingezogen. Wenn Brunhild sie suchte, dann fand sie die Kleine meistens allein in einem Tümpel oder Graben, wo sie Molche, Frösche, Fische und sonstiges Getier zu fangen suchte.

Zu ihrem Geburtstag hatte sich Nelly eine Schürze mit Blumen, bunten Stickereien und vor allem mit zwei großen Taschen gewünscht. Letzteres aus gutem Grund, denn nun konnte sie darin all ihre wichtigen Sachen aufbewahren und mit sich herumtragen. Nicht selten schleppte sie auch einige Kröten umher. Ihr ganzer Stolz waren kürzlich zwei in der Paarungszeit himmelblau gefärbte Moorfroschmännchen gewesen, die sie im Moor gefangen hatte und nun mit gewichtigem Gesichtsausdruck durch das Dorf trug und den Leuten zeigte. Seitdem wurde sie die »Kröten-Nelly« genannt.

Trotz ihrer Ungezogenheit, konnte sie auch sehr lieb und anhänglich sein. Bei manchen Gelegenheiten wusste Brunhild nicht, ob sie über ihre Tochter weinen oder lachen sollte. So war es zum Beispiel geschehen, dass Nelly an Brunhilds Geburtstag plötzlich mit quietschnassen Schuhen vor ihr stand und ihr einen dicken blühenden Strauß Wollgras überreichte, den sie, wie sie fröhlich berichtete, ganz allein im Moor gepflückt hatte.

Als Nelly später in die Schule kam, zeigte sich, dass sie im Vergleich mit ihren Altersgenossen zwar die Kleinste war, ihnen andererseits jedoch geistig weit überlegen schien. Dennoch hatte der Dorfschullehrer seine Last mit ihr. An dem Lehrstoff der meisten Unterrichtsfächer verlor sie bald das Interesse und schaute gelangweilt durch das Fenster in den Schulgarten hinaus. Wurde sie angesprochen, dann schien sie in Gedanken ganz woanders zu sein. Es konnte auch geschehen, dass sie plötzlich einen bunten Schmetterling, einen Vogel oder Eichhörnchen entdeckte und mit einem Freudenschrei von ihrer Schulbank aufsprang und aus dem Klassenzimmer stürmte. Dementsprechend schlecht waren ihre Schulnoten. Nur im Fach Naturkunde kam der Lehrer nicht umhin, ihr die Note 1 zu geben.

Manche Leute sagten Nelly sogar übersinnliche Fähigkeiten nach. So war es schon einige Male passiert, wenn in der warmen Jahreszeit am Sonntagmorgen eine feierliche Stille über dem Land lag und die meisten Leute noch ein Stündchen länger schliefen, dass Nelly bereits im Garten oder auf einer blühenden Wiese unterwegs war, um Käfer, Eidechsen oder sonstiges Getier zu fangen. Dann konnte man erleben, dass sie plötzlich wie erstarrt stehen blieb und nach etwas zu lauschen schien. Und wenn sie in diesem Moment jemand fragte: »Nelly, was ist denn?«, dann hob sie zum Schweigen die Hand und sagte aufgeregt: »Horcht! Die Glocken von Rungholt!«

Aber wer auch immer in Nellys Nähe war, konnte außer Vogelgezwitscher und dem Summen der Hummeln und Bienen nichts hören. Doch Nelly beharrte darauf, das Geläut deutlich zu vernehmen. Nicht selten wollte sie dann in die Richtung zum Moor laufen, aus der sie die Glocken zu hören glaubte. Und Brunhild konnte sie dann nur mit Mühe davon abhalten.

In der Tat erzählten die alten Leute, dass dort, wo sich heute das unheimliche Moor ausbreite, vor langer, langer Zeit eine schöne Stadt namens Rungholt gestanden habe. Ihre Bewohner hatten durch regen Handel unermessliche Reichtümer angehäuft. Doch dann begannen sie sich immer mehr einem sündhaften Leben hinzugeben und nur noch als betrunkene und lärmende Massen durch die Straßen zu ziehen. Trotz aller Ermahnungen wollten sie von ihrem lasterhaften Leben nicht ablassen. Darauf kam der göttliche Zorn mit einer vernichtenden Sturmflut über sie, die alles Leben verschlang. Die Fluten breiteten sich über das ganze Land aus. Und dort, wo sich einst die Stadt befand, bildete sich ein tiefer schwarzer See, der nach und nach, bis auf einige schwarze Löcher, die man als Mooraugen bezeichnete, von einer dichten Torfdecke aus Moos und Pflanzenresten überdeckt wurde, die teilweise auch begehbar war. Allein der Kirchturm ragte noch aus dem Wasser heraus, aber auch dieser versank mit der Zeit in der Tiefe. Nur seine Glocken sollte man noch an stillen Tagen hören, begleitet von dem Seufzer der ruhelosen Seelen der reuigen Sünder, die zu dieser Stunde zur Kirche zogen. Aber auch sonst war das Leben in der Tiefe des Moores noch nicht völlig erloschen. Drei fromme Jungfrauen hatten das Unglück überlebt. Ihnen wurde gestattet, zur nächtlichen Stunde aus der Tiefe emporzusteigen und als so genannte Moorjungfrauen, die als Irrlichter erkennbar waren, über dem Moor zu wandeln. Und manchmal war von der weit entfernten Mitte der Sumpflandschaft, die durch Baumgruppen und Röhricht nicht einsehbar war, ein gewaltiges Brausen und Tosen zu hören. Das schwarze schlammige Wasser begann zu brodeln und zu gären und geisterhafte Schwaden zogen über das Moor. Nicht wenige Leute im Dorf waren dann verängstigt und befürchteten, das Moor könnte ausbrechen und das ganze Land überschwemmen. Deshalb mieden sie die unheimliche Sumpflandschaft, wo immer es ging.

Nelly dagegen fühlte sich auf seltsame Weise zu der geheimnisvollen Moorlandschaft hingezogen und ihre Gedanken kreisten häufig um die Welt dort draußen. Vor einiger Zeit war sie an Brunhild mit der Frage herangetreten: »Mutti, ist der Koog-Bauer mein Vater?« Mit ihm verband sie nur wenig und wurde von ihm kaum beachtet.

»Nein, nein«, antwortete Brunhild, »der Koog-Bauer ist dein Opa!«

»Aber ich muss doch auch einen Vater haben. Alle Kinder haben einen Vater«, meinte Nelly.

»Ja, natürlich hast auch du einen Vater«, versuchte Brunhild sie zu beruhigen.

»Und wo ist er?«, wollte Nelly wissen.

»Ach, das weiß niemand so genau«, erklärte ihr Brunhild. »Er hat uns vor vielen Jahren verlassen und manche Leute vermuten, dass er in Hamburg wohnt oder gar nach Amerika ausgewandert ist.«

»Ich glaube, er wohnt draußen im Moor bei den Moorjungfrauen«, war Nelly überzeugt. »Ich gehe morgen dort hinaus und werde ihn suchen!«

»Ja, ja«, lachte Brunhild, »das sähe ihm ähnlich. Aber das kann ich andererseits nicht glauben.«

Doch Nelly ließ sich nicht von ihrer Meinung abbringen. Brunhild ließ sie gewähren, denn sie wusste, dass sie bei ihrer Spontaneität und Sprunghaftigkeit am morgigen Tag wahrscheinlich schon wieder etwas anderes im Sinn hatte. Aber dennoch gab ihr die stete Fixierung des Kindes auf das Moor zu denken.

Ungeachtet dessen, dass Nelly ja noch ein junges Mäd