Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Mein Vater, ein Kind der Nachkriegsgeneration, hat einen unglaublichen Lebensweg hinter sich. Geboren in herausfordernden Zeiten, als Deutschland sich gerade erst vom Schrecken des Krieges erholte, bis hin zur aktuellen Corona-Zeit, durchlebte er ein Leben, das in jeder Hinsicht außerordentlich war. Ein Leben, geprägt von Höhen und Tiefen. Trotzdem blieb er stets optimistisch und war immer für seine Familie da. Er war ein Sohn, Mann, Vater und Großvater - und vor allem eins: ein inspirierendes Vorbild. In diesem Buch erzählte ich die bewegende Geschichte meines Vaters, die zeigt, wie man auch in schwierigen Zeiten seinen eigenen Weg finden und bestreiten kann.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 276
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Vorwort
Stammbaum (Auszug)
Kapitel 1: Der Krieg und die 40er Jahre
Das schwarze Kreuz
Die Schreckensnachricht
Kennenlernen
Die Kriegshochzeit
Das letzte Mal
Der Raubzug gegen die Großbauern
Nachkriegsjahre
Neubauern und Flüchtlinge
Kindheitsjahre vor der Schule
Kapitel 2: Die 50er Jahre
Richard Nilius
Helmuts Auge
Schicksalsjahr 1952
Einschulung
Die Familie wird größer
Zwangskollektivierung
Volksaufstand
Der Viehhändler
Fahrt ins Sauerland
Das Ende der Neubauern
Kapitel 3: Die 60er Jahre
Doch noch 10. Klasse
Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen
Werkzeugmacher ist doch auch gut
Die vielleicht schönste Zeit
Autos, Siegfrieds heimliche Liebe
Armeezeit
Halle nur im Notfall
Prager Frühling
Margit
Das Ende der 60er Jahre
Kapitel 4: Die 70er Jahre
Gemeinsam ist es leichter
Siegfried ist weg!
Weihnachtsbescherung
Hochzeit
Abendschule
Gunnar
Seelische Schwerstarbeit
Fieberkrämpfe
Ich gehe nicht nach Bitterfeld!
Umzug nach Wittenberg
Gerrit und erneuter Umzug
Die Russen kommen
Wartburg passt auf Golf
Das Ende der 70er
Kapitel 5: Die 80er Jahre
Siegfried braucht Platz
Plumpsklo und Karnickel
Alles per Hand
Automarkt in Halle
Oma Ilse bleibt sitzen
Immer der Erste
Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser
Die schönsten Zeiten mit meinem Vater
Elektroinstallation und wieder zurück
Achtzehn Slowaken in Zörnigall
Die Wende
Kapitel 6: Die 90er Jahre
Im Sauerland und auf der KÖ
Bei Onkel Walter in Verden
Rückhalt beim Professor
Wer beherrscht wen?
Silberhochzeit
Diabetes und berufliches Chaos
Opa Siegfried
Ende der 90er
Kapitel 7: Die 2000er Jahre
Kein Weltuntergang
Selbstständigkeit
„Ganz gut“
Zum 2. Mal Großvater
Die letzten Arbeitsjahre
Stechen auf der linken Seite
Mal eben 20.000 Euro
Zum dritten Mal Großvater und Rentenbeginn
Oma Ilse und Kyrill
Verschollen im Wald
2007 - 2009
Kapitel 8: Die 2010er Jahre
Reise zum Nordkap
125. Geburtstag
Seebestattung im Ems-Dollart
Seltene Tränen
4-fach Opa und Wein-Boot
Tod der Mutter
Radtour um die Goitzsche
Wie wünschst du dir zu sterben?
Herzinfarkt
Urosepsis - Erneute Lebensrettung und Corona-Wahn
Hochzeit und Dennewitz
Kapitel 9: 2021 und 2022
Goldene Hochzeit
100. Geburtstag
Weihnachten und Silvester 2021
Ein letztes Mal
Sonntag, der 10.04.2022
Montag, der 11.04.2022
Montagnachmittag, der 11. April 2022
Dienstag, der 12.04.2022
Mittwoch, der 13.04.2022
Donnerstag, der 14.04.2022
Dienstag, der 19.04.2022
Abschied für immer
Schlusswort
Weitere Bücher von Gunnar
Dieses Buch widme ich meinem geliebten Daddy.
Ich liebe dich über alles.
Dieses Buch ist eine Hymne auf dich und deine unerschütterliche Liebe sowie auf alle Männer und Frauen der Nachkriegsgeneration.
Was ist ein Held?
Ein Held ist jemand, der Außergewöhnliches leistet. Für sich, und vor allen Dingen für seine Mitmenschen.
In diesem Sinne ist mein Vater ein Held - nicht nur für mich als Familie. Er steht sinnbildlich für eine ganze Generation von Menschen - Männer wie auch Frauen - die nach dem Krieg oder in den letzten Kriegsmonaten geboren wurden.
Menschen, die mit nichts dastanden und im wahrsten Sinne ums Überleben gekämpft haben.
Menschen, von denen jede und jeder auf seine Weise seinen Weg gegangen ist.
Das macht sie für mich zu Helden. All diese Menschen sind für mich Helden, und einer ganz besonders: Mein lieber Vater.
Ihn möchte ich dir in diesem Buch vorstellen. Ich möchte dir seinen persönlichen Lebensweg schildern, mit allen Höhen und Tiefen. Ich möchte dich auf eine Reise mitnehmen, wie diese Menschen, die direkt nach dem Krieg geboren wurden, gelebt haben, was sie durchgemacht haben, was sie für Freuden und Leid ertragen haben und wie sie den Wohlstand in unserer Republik erschaffen haben. Wie sie dafür gesorgt haben, dass ihre Kinder - zu denen ich mich zähle, die Generation X - eine bessere Zukunft haben, als sie es selbst gehabt haben.
Viele von diesen Menschen haben ein Elternteil verloren oder sind sogar als Vollwaisen aufgewachsen. Sie sind ihren Weg gegangen und haben das, was sie noch hatten, geteilt: Mit ihren Partnern, Kindern und Enkeln.
Genau das ist es, was einen Helden für mich ausmacht: Diese Liebe, die über alle Schmerzen, über alles Leid hinwegsieht. Die Liebe ist es, die weitergegeben wird, von Generation zu Generation.
Diese Liebe habe ich von meinem Vater empfangen dürfen, wenngleich ich zugeben muss, dass ich vermutlich erst viel zu spät begriffen habe, was es heißt, wirklich von seinen Eltern geliebt zu werden. Damit meine ich nicht die alltägliche Zuwendung in der Erziehung, sondern diese Bewusstheit, zu spüren, wie sehr jemand für einen da ist.
Es wird als viel zu selbstverständlich vorausgesetzt, dass alles so funktioniert. Dass jemand da ist, dass deine Mutter da ist, dass dein Vater da ist - wenn sie plötzlich nicht mehr da sind, merkst du erstmal, was dir wirklich fehlt. Oft ist es leider so, dass du den Verlust eines Menschen erst bemerkst, wenn er nicht mehr da ist. Erst dann wird dir das ganze Ausmaß seiner Wichtigkeit, seines Tuns und seines Seins bewusst.
Viele Menschen stellen es erst am Grabe eines geliebten Menschen - egal ob es ein Verwandter oder ein Bekannter war - fest: „Wow, hier ist ein wundervoller Mensch von uns gegangen ..."
Es sind nicht diese lästigen ,Rentner’, die unserem System auf der Tasche liegen, weil sie angeblich dafür sorgen, dass die Staatskassen leer sind. Nein - das sind diese Menschen ganz gewiss nicht.
Es sind eher die Menschen, die ist es mehr als verdient haben, in den wohlverdienten Ruhestand zu gehen. Wenn ich mit ansehen muss, wie sie, die 30, 40 oder 50 Jahre lang schwer gearbeitet haben, jetzt mit einem Hungerlohn abgespeist werden, frage ich mich manchmal, ob wir noch richtig ticken in unserem Lande. Dass wir genau diese Menschen, die uns unser Leben, unseren Frieden, unseren Wohlstand und unser Sein in der heutigen Zeit ermöglicht haben, viel zu wenig wertschätzen.
Das sind für mich Helden, Helden der Nachkriegszeit.
Menschen, die aus ihrem Leben ein Meisterwerk gemacht haben. Bei ihnen lief mit Sicherheit nicht alles glatt, aber sie haben sich trotzdem durch ihre Sparsamkeit, Ehrlichkeit und Durchhaltevermögen ausgezeichnet. Sie sind für manche aus der heutigen Zeit ein Vorbild, was Sachen wie Werte und Tugenden angeht.
Mit Sicherheit sind diese Menschen Vorbilder für uns alle ‒ jeder auf seine Weise. Auch wenn die heutige Zeit fortschreitet und es andere Entwicklungen gibt, war es dennoch die Nachkriegsgeneration, die die Grundlage für uns und unser heutiges Leben gelegt hat.
Das Buch nimmt dich mit auf die Reise meines geliebten Daddys, der im letzten Jahr leider viel zu früh verstorben ist. Er hat eine Lücke gerissen, deren Narben noch nicht ganz verheilt sind.
Es gibt Tage, an denen ich fast normal lebe, und es gibt Tage, an denen ich weinen muss. Um ihn.
Ich möchte dir seinen Lebensweg verdeutlichen: Wie sich ein typisches Nachkriegsleben vollzogen hat. Welchen Ereignissen er ausgesetzt war. Wie er es geschafft hat, trotzdem wieder in die Zukunft zu schauen.
Das Buch wird dir bewegende Momente präsentieren. Es wird dir Höhen und Tiefen präsentieren, Momente, an denen du möglicherweise weinen musst, und Momente, an denen du herzhaft lachen wirst - denn so ist das Leben.
Hoch und Tief.
Lustiges und auch Nachdenkliches.
Und genau so war das Leben meines geliebten Daddys, der das komplette Repertoire eines Mannes für mich verkörpert hat: Durch seine Genauigkeit, seine Zuverlässigkeit, seine Ehrlichkeit und seinen unbeugsamen Willen. Immer. Der trotz alledem „Ja!“ zum Leben sagte.
Das imponiert mir unheimlich und ich bin froh, so viel von meinem Vater mitbekommen zu haben. So konnte ich meine eigenen Wege gehen und ein selbständiger Mann werden, der wiederum das Leben inzwischen an seine Kinder weitergegeben hat.
Wenn ich ehrlich bin, blicke ich voller Stolz und Liebe auf sie und muss sagen: Er hat alles richtig gemacht. Er hat mir die Tugenden und Werte eines menschlichen Lebens mitgegeben und ich habe diese Tugenden und Werte an meine Kinder weitergegeben, sodass es sich für mich gut anfühlt.
Ich wünschte, er kann von oben auf all das blicken, was noch kommt. Ich möchte ihm mit diesem Buch danken: Für sein Sein und für sein Wirken als Vater, als Großvater, als Ehemann und als Sohn – und ich möchte dich teil daran haben lassen.
Ich möchte dich auf eine Reise einladen, eine ganz persönliche Reise: Das Leben meines Vaters.
Wilhelm Siegfried Brehme.
Ein Held der Nachkriegszeit.
Nacht vom 22. auf den 23. November 1944.
Antonie wälzt sich im Bett. Sie träumt und plötzlich schleicht sich ein gewaltiges, schwarzes Kreuz von oben nach unten über ihr Schlafzimmerfenster. In der Mitte bleibt es stehen. Nur der Mondschein leuchtet, sodass sie sein Schattenbild erkennen kann.
Erschrocken steht sie auf und geht zum Fenster, doch das Kreuz sinkt langsam wieder abwärts.
Antonie wacht schweißgebadet auf. Dies ist nicht das erste Mal, dass sie einen schrecklichen Traum hat – und der letzte Traum ist in Erfüllung gegangen.
Sie, die einzige Tochter von Otto Thieme und von Friederike Thieme, wurde in eine reiche Familie geboren. Ihr Vater war Steinbruchbesitzer und hatte am schwarzen Freitag 1929 über Nacht alles verloren. Dieser 24. Oktober 1929 war der Tag, an dem er sich komplett veränderte: Von einem selbstbewussten Mann in einen durchgedrehten Kranken. Er konnte nicht fassen, dass seine Familie über Nacht von Reichen zu Bettlern wurde.
Antonies Mutter Friederike hatte jahrelang damit zu tun, ihrem Mann ansatzweise - nur ansatzweise - Trost zu spenden für diesen Verlust, den er erlitten hatte. Doch nichts half. Er wurde so krank und nervlich durchgedreht, bis er vier Jahre vor Antonies jetzigem Traum starb.
Schon damals hatte sie einen beängstigenden Traum, eine Nacht vor diesem schwarzen Freitag. Sie ahnte, dass sich etwas Schreckliches ereignen würde. Just am nächsten Tag konnte man es in den Zeitungen lesen: Der fatalste Börsencrash der Menschheitsgeschichte, ausgelöst am 23. Oktober 1929 in den USA. Er führte zu einer riesigen Inflation und Massenarbeitslosigkeit, von der sich die Welt nicht so schnell wieder erholen sollte. Genau am Vorabend dieses Crashs hatte Antonie einen Albtraum, der in Erfüllung ging.
Deshalb kann sie ihren Traum jetzt nicht deuten. Am Morgengrauen des 23. November 1944 wacht sie völlig fertig auf und weiß nicht, was sie tun soll. Nur eines weiß sie: In zwei Tagen, am 25. November 1944, wird ihre einzige Tochter Ottilie heiraten.
Ottilie ist ihr ganzer Stolz, zusammen mit ihrem Mann Alfred Leonhardt. Dieser lebt jedoch aufgrund von Meinungsschwierigkeiten mit ihren Eltern in Dößel, einem kleinen Ort hoch über Dobis hinaus. Dort hat er eine Mühle. Auch er hatte 1941, als Antonies Vater starb, ein schweres Schicksal erlitten und sein einziges Hab und Gut, seine Bockwindmühle, bei einem riesigen Sturm verloren. Plötzlich stand die Familie Leonhardt durch den schwarzen Freitag und den Sturm ohne Mühle und Mittel dar. Sie mussten mit wenig auskommen, beziehungsweise ganz von vorne anfangen.
Trotzdem will ihre Tochter Ottilie übermorgen, am 25. November, heiraten. Es ist für sie und ihren Liebsten Karl Wilhelm Brehme, der sich im Krieg befindet und an der Front für den Führer kämpft, die einzige Möglichkeit zu heiraten. In dieser freien Woche wollen sie die Kriegshochzeit abhalten!
Die Vorbereitungen will Antonie auf keinen Fall versäumen. Ungeachtet der Sorge steht sie auf, zieht sich schnell an und läuft den kleinen Anstieg hoch zu ihrem Nachbarn, zum Bäckermeister Zilliger, um dort die letzten Vorbereitungen für das Hochzeitsgebäck zu tun.
24. November 1944.
Antonie und Ottilie stehen beim Bäckermeister Zilliger im Laden. Seine Bäckerei ist zugleich ein kleiner Lebensmittelladen, eben ein Ort, an dem sich die Menschen aus Dobis nahezu täglich aufhalten. Die beiden Frauen kümmern sich um die letzten Vorbereitungen für Ottilies ganz besonderen Tag. Morgen ist es endlich so weit: Sie und ihr Karl Wilhelm, den sie liebevoll Willi nennt, werden endlich ein Paar. Morgen ist endlich die lang ersehnte Hochzeit, wo sie gemeinsam Pläne für ihr weiteres Leben schmieden - ein Leben nach dem Krieg, welcher hoffentlich bald endet.
Karl Wilhelm ist nun schon seit fünf Jahren im Krieg. Er wurde direkt im Jahr 1939 einberufen, im jungen Alter von 23 Jahren. Mit ihm wurden auch seine drei Brüder Fritz, Walter und Kurt an die Front gerufen, um dort für das deutsche Vaterland zu kämpfen. Wilhelm war zuerst bei den Panzern in Russland, im Kaukasus. Zuletzt schrieb er Ottilie aus Rumänien.
Ottilie freut sich immer, wenn er ihr schreibt und sie endlich einen Brief nach mehreren Wochen oder manchmal Monaten von ihm in der Hand halten kann – so weiß sie, dass es ihm gut geht.
Jetzt, in der aufregenden Woche vor ihrer Hochzeit, ist sie besonders froh, ihn bei sich zu wissen. Er verbringt die Zeit gemeinsam mit ihr in Dobis.
So fertigt Ottilie frohen Mutes gemeinsam mit dem Bäckermeister Brötchen und Kuchen für den morgigen Tag an.
Dann betritt ein Mann den kleinen Bäckerladen. Er grüßt herzlich und bestellt ein wenig Backwaren für sich.
Der Bäckermeister fragt: „Mensch, was gibt’s denn so Neues?“
Da sagt der Mann: „Stellen Sie sich vor, gestern in Rothenburg sind drei Männer ins Wehr gefallen. Zwei von ihnen konnten gerettet werden. Einen jedoch hat man bis heute noch nicht gefunden.“
„Okay, was haben sie denn am Wehr gemacht?“
„Sie haben Wartungsarbeiten durchgeführt. Aber durch den Regen am Vortag ist es glitschig geworden und die Männer sind abgerutscht. Zwei konnten sich noch retten. Der Dritte aber wurde von der Strömung weggetrieben und ist seitdem nicht mehr aufgefunden worden.“
„Wie hieß denn dieser Mann?“, fragt der Bäckermeister.
„Ich meine, er hieß Brömme.“
Ottilie horcht entsetzt auf. „Entschuldigen Sie, dass ich mich in das Gespräch einmische - Haben Sie etwas von Brömme erzählt?“
„Ja. Gestern am Wehr sind drei Männern ins Wasser gefallen. Einer von ihnen ist bis jetzt noch nicht wieder aufgetaucht. Er hieß Brömme.“
Entsetzt lässt Ottilie ihre Backutensilien fallen. „Brömme?“ Aber das ist doch nicht etwa ... Sie traut sich gar nicht weiter zu fragen. „Meinen Sie vielleicht Ottomar Brömme?“
„Ja, genau“, erwidert der Mann. „Ottomar Brömme, das ist der Mann, den sie immer noch suchen.“
Kreidebleich lässt Ottilie alles stehen und liegen und rennt nach hinten zu ihrer Mutter. Der Bäcker ruft ihr hinterher, was los sei, doch sie antwortet nicht.
„Mutter! Ottomar ist etwas zugestoßen!“
Ihre Mutter Antonie wird blass. Hatte sie nicht erst vorletzte Nacht diesen Traum gehabt? Mit dem schwarzen Kreuz? Immer, wenn sie so etwas Derartiges träumt, bewahrheiten sich ihre schlimmsten Prophezeiungen.
„Ottomar Brömme?“, fragt sie. „Das ist doch der Mann von Lieschen, Willis Schwester. Wo ist Willi?“
„Er ist zu Hause.“
Ottilie hetzt nach Hause, um dort ihren zukünftigen Ehemann zu treffen. Er ist gerade dabei, die Vorbereitung für eine Schlachtung vorzunehmen.
Karl Wilhelm ist gelernter Fleischer in Halle an der Saale. Der Fleischermeister wollte ihn sehr gerne als Lehrling haben und will ihn als Inhaber übernehmen, wenn der Krieg eines Tages vorbei ist. So einen fleißigen jungen Mann hat er selten gehabt.
Willi wischt sich kurz die Hände ab und fragt seine Liebste besorgt: „Was ist denn los, Ottilie?“
„Willi, du wirst es nicht glauben. Etwas Schreckliches ist geschehen!“
„Was ist denn? Mein Schatz, bitte setz dich!“
Ottilie ist ganz aufgelöst. „Ottomar! Ottomar Brömme, der Mann deiner Schwester, ist gestern ins Wehr gefallen und wurde seitdem nicht wieder gefunden!“
Willis Gesichtszüge entgleisen. „Ottomar? Das gibt es doch nicht, ich muss sofort meiner Schwester Bescheid sagen!“
Er schwingt sich auf sein Fahrrad, um ins nahegelegene Rothenburg zu radeln. Nach etwa einer halben Stunde trifft er dort ein. Seine Schwester Elise ist gerade zu Hause, um letzte Vorbereitungen für die morgige Hochzeit zu unternehmen.
„Lieschen! Lieschen!“ Karl Wilhelm betritt aufgeregt das Haus, mit Tränen in den Augen.
„Was ist los, Willi?“, fragt sie.
„Lieschen!“, ruft er. „Ottomar!“
„Was ist mit ihm? Er ist gestern nach der Arbeit nicht nach Hause gekommen.“
Ein tiefer Seufzer durchfährt Wilhelm. „Es ist etwas Schreckliches passiert! Dein Ottomar ist am Wehr in die Saale gefallen und wurde bis heute nicht gefunden.“
Lieschen fällt ohnmächtig auf den Stuhl.
„Ist alles in Ordnung?“, will Wilhelm besorgt wissen.
„Ja, ich brauche nur ein bisschen Luft.“
Wilhelm versucht sie zu trösten und zu beruhigen, aber Lieschen ist völlig außer sich. Sie ist verzweifelt, jammert und schluchzt. „Mein Ottomar! Mein Ottomar! So ein guter Mann!“
Ottomar Brömme war gerade 40 Jahre jung und Vater eines zwölfjährigen Sohnes, den er auch Ottomar nennt. Gemeinsam mit seiner wundervollen Frau Elise hat er in Rothenburg ein Haus gebaut, um dort während des Krieges ihr Familienleben zu starten. Jetzt, wo alles so schön begann...
Das kann nicht wahr sein! Ihr Mann, ein fleißiger Ingenieur und Maschinenbautechniker, die Zuverlässigkeit in Person hatte wie so oft bei Schäden die Initiative ergriffen. Er war immer zur Stelle, wenn man ihn brauchte. Auch gestern am Wehr war er natürlich einer der ersten vor Ort, um zu sehen, ob alles in Ordnung war.
Elise kann es nicht fassen. Das ist zu viel für sie. Ihr geliebter Ottomar! Nicht aufzufinden!
Beide rennen zu seiner Arbeitsstelle ans Wehr. Sie fragen die Kollegen, ob man ihn schon gefunden hat.
Doch die blicken traurig: „Nein. Den anderen beiden geht es gut, aber Ottomar haben wir bis heute nicht gefunden.“
Bestürzt treten sie die Heimreise an. Als Wilhelm wieder bei seiner geliebten Ottilie ist, schaut er ihr tief in die Augen und sagt: „Sie haben Ottomar bis heute noch nicht gefunden. Wollen wir die Hochzeit morgen absagen?“
Ottilie hat Tränen in den Augen. „Ich weiß nicht, wann ich dich das nächste Mal sehe. Ich möchte dich gerne zum Mann nehmen.“
Ihre Mutter Antonie hat inzwischen alles mitbekommen und sagt zu den beiden: „Lasst uns die Hochzeit trotzdem machen - oder gerade deswegen. Nutzt eure kostbare Zeit, die ihr zusammen habt, und heiratet trotzdem morgen in Rothenburg. Wir bereiten alles vor.“
Schweren Herzens, trotz gleich voller Freude auf den morgigen Tag, gehen Ottilie und Karl Wilhelm schlafen.
Ottilie liegt im Bett und erinnert sich. Es ist der Abend vor ihrer Hochzeit. Trotz der Schreckensnachricht ihres wahrscheinlich tödlich verunglückten Schwagers gehen ihr viele Gedanken durch den Kopf:
Damals, mit 14 Jahren im Jahr 1936, verließ sie als junges Mädchen gerade die Schule. Alle Bauern im Dorf wollten gerne, dass sie bei ihnen in Stellung ging, doch sie hatte keine Lust und zog es vor, nach Deutleben zu gehen. Ihr Wunsch wurde erhört und Ottilie ging ins benachbarte Deutleben zum Rittmeister Steiger. Sie verbrachte dort ein ganzes Jahr bei ihm in Stellung. Ihre Aufgaben waren vielseitig: Die Stube warm machen, Essen servieren, den Tisch decken, Essen auftragen, saubermachen, das Abendbrot austeilen - eben Tätigkeiten, die zum Haushalt gehörten. Sie übernachtete auch dort.
Ein Jahr später ging Ottilie zum Amtsgericht Schwarzbauer in Halle an der Saale. Es war eine Arbeit, die ihr Spaß machte und wo sie viel Neues dazulernte. Auch hier half sie bei ihren Arbeitgebern - beziehungsweise in Stellung gewesenen Adeligen – aus. Sie war in besonderer Weise sehr besorgt und kümmerte sich um das Wohl ihrer Pflegeeltern, wie man sie dort nannte.
Ein weiteres Jahr später ging Ottilie auf eigenen Wunsch nach Salzmünde in eine Arztpraxis von Arzt Doktor Ottomar (das ist der Familienname). Auch hier sorgte sie für Ordnung im Haushalt und in der Arztpraxis. Außerdem stempelte sie Rezepte und bereitete in der Praxis alles für den Arzt vor.
In Salzmünde lernte sie die Auszubildende Anna Brehme kennen. Sie freundeten sich schnell an und kamen eng ins Gespräch.
Einmal fragte Anna Ottilie: „Wie viele Geschwister hast du?“
Sie antwortete: „Ich bin leider ein Einzelkind. Wie viel hast du?“
Anna erzählte: „Ich habe ich jede Menge! Wir sind insgesamt sieben Geschwister: Vier Jungs und drei Mädchen.“
„Ach“, sagte Ottilie. „Wenn ich später mal heirate, dann werde ich auch viele Kinder haben. Ich möchte nicht nur ein Kind, ich möchte ganz, ganz viele Kinder!“
So ergab es sich, dass Anna eines Tages sagte: „Weißt du was, Ottilie? Du bist eine hübsche und sehr, sehr häusliche Frau. Du würdest sehr gut zu meinem Bruder Wilhelm passen. Er hat noch keine Frau, ist Fleischer und 23 Jahre alt. Er arbeitet aktuell in Halle und macht dort seine Fleischerausbildung. Weil er so gut ist, hat sein Chef ihm angeboten, dass er die Fleischerei eines Tages übernehmen kann. Er ist der Zweitjüngste unserer Familie. Er sucht noch ein anständiges Mädchen, so wie dich zum Beispiel. Sag mal, wollt ihr euch nicht einmal treffen?“
„Ja, sehr gern“, meinte Ottilie. „Warum denn nicht?“
Wenige Tage später fuhr Anna, hinten als Beifahrer auf dem Moped, mit ihrem Bruder Wilhelm noch Dobis. Beide wohnten in Brachwitz. Sie kannten Dobis, obwohl sie nicht oft da waren, und konnten es einordnen.
So kam es, dass Wilhelm und Ottilie sich trafen.
Siegfrieds Eltern: Ottilie (links) und Karl Wilhelm Brehme (1944)
In jenen Jahren in Dobis, in 1939, war Wilhelm gleich der Erste, der, wie auch seine Brüder danach, in den Krieg berufen wurde. Zunächst nach Hannover, dann in die Niederlande, um dort abzuwarten, in welche Fronten und Divisionen alle eingeteilt wurden. Seine Brüder sah er zeitweise auch in Russland. Im Osten traf er sie manchmal im Lazarett, wie seinen Bruder Fritz, der einen Streifschuss am Kopf hatte, seinen Bruder Walter, der vor Moskau kämpfte, und seinen Bruder Kurt, der erst 1940 eingezogen wurde.
Im Krieg sahen sich die drei Brüder gelegentlich und nutzten die freie Zeit, um Kurzurlaube zu machen und zu ihrer Familie nach Brachwitz zu fahren.
Ottilie war nicht verheiratet. Da Krieg herrschte, waren alle unverheirateten Frauen verpflichtet, zwölf Stunden zu arbeiten. Ottilie musste nach Rothenburg ins Munitionslager, um Munition auszulesen. Das bedeutete, dass sie verbrauchte Hülsen wieder mit neuen Köpfen und Ladungen versehen musste, um den Soldaten an der Front weiterhin Munition zur Verfügung stellen zu können.
Jedes Mal, wenn Karl Wilhelm von der Front kam, war seine liebe Ottilie nicht da, weil sie arbeiten musste. Er holte sie öfters ab und versteckte sich liebevoll im Gebüsch.
Er rief oft aus dem Halbdunkeln: „Na, meine Kleine?“
Ottilie erschreckte sich und bat ihn jedes Mal, sie nicht so aus dem Hinterhalt zu überraschen. Aber Karl Wilhelm fand es lustig und meinte es auf seine liebevolle Art und Weise.
Eines Tages legte er seinen Arm um ihre Schulter und meinte: „Weißt du was? Immer, wenn ich da bin, musst du arbeiten. Das ist nicht schön. So geht das jetzt schon mehrere Jahre. Damit ist jetzt Schluss. Jetzt wird geheiratet.“
Mit diesem freudigen Gedanken findet Ottilie noch ein wenig Schlaf, bevor ihr großer Tag anbricht: Der Tag ihrer Hochzeit.
25. November 1944.
Ottilie macht sich schick für den heutigen, wichtigsten Tag: Heute ist die Hochzeit mit ihrem Liebsten Willi.
Der Schock von gestern sitzt beiden noch tief in den Knochen. Was ist mit ihrem Schwager Ottomar? Würden sie ihn noch finden? Hat er noch eine Chance, im kalten Wasser der Saale lebend davonzukommen? Diese Gedanken beschäftigen die beiden den ganzen Tag und die ganze Nacht über, sodass sie nicht richtig schlafen können.
Trotzdem sehen sie sich immer wieder an und sind sich einig: „Lass uns jetzt heiraten.“
„Jetzt, wo ich die Möglichkeit habe, von der Front ein wenig Auszeit zu bekommen, lass uns trotzdem heiraten“, sagt Karl Wilhelm. Er hat von der Ostfront nur eine Woche Sonderurlaub bekommen, weil Hitler Familien belohnt. Danach muss er wieder in seiner Panzereinheit kämpfen.
Mit ihnen im Haus wohnt noch Frau Barrot. Sie ist ein ausgebombter Flüchtling aus Berlin. Zu jener Zeit ist es Pflicht, dass jeder, der Wohnraum zur Verfügung hat, diesen an Bedürftige zur Verfügung stellen muss - so auch an Frau Barrot. Sie bekommt ein bescheidenes Zimmer oben im Haus.
Frau Barrot ist gelernte Schneiderin. Sie näht für Ottilie aus einem alten Rock ein wunderschönes, schwarzes Brautkleid, welches unten in Weiß gefasst ist. Karl Wilhelm trägt die Uniform der Deutschen Wehrmacht.
Mit diesem Kleid gehen Ottilie und ihr künftiger Ehemann nach unten. Draußen wartet schon Bauer Mennicke mit seinen zwei Pferden. Er hat eine Kutsche zur Verfügung gestellt und fährt die beiden nach Neutz zur standesamtlichen Trauung. Als Trauzeugen stehen Ottilies Vater Alfred Leonhardt sowie Fritz Mennicke als Kutscher vor Ort zur Verfügung. Staatsbeamter Wienicke traut beide unter der Fahne des Führers zu Mann und Frau.
Ursprünglich war es angedacht, auch in Dobis zu heiraten, doch leider verstarb der Sohn des Pfarrers Herrmann vor einer Woche und es musste ein Ausweg gefunden werden. Für die kirchliche Trauung finden sie in Rothenburg eine Möglichkeit. Ein anderer Pfarrer aus Nelben bei Könnern erklärt sich bereit, das Paar kurzerhand kirchlich zu trauen. So steigen sie am späten Vormittag erneut in die Kutsche, um vom Neutzaltar nach Rothenburg zu fahren. Das Wetter ist für den November noch recht schön, sodass sie die Kutschfahrt halbwegs angenehm verbringen können.
In Rothenburg angekommen, werden sie vom Pfarrer herzlich begrüßt. Er hält eine Rede für gerade einmal vier Leute ‒ das Ehepaar und die Trauzeugen. Dennoch haben sie das Gefühl, als ob die gesamte Kirche voll ist, so herzlich ist diese Rede. Am Schluss gibt er ihnen ihren Trauspruch mit auf den Weg:
„Hart ist das Schicksal und steinig der Weg.“
Wie hart ihr Schicksal noch werden sollte und wie steinig der Weg noch werden würde, können sie an diesem Tage nicht erahnen.
Der Himmel färbt sich rabenschwarz. Plötzlich heulen Sirenen durch den Abend. Es beginnt zu regnen und zu stürmen, und doch ist es taghell von den Blitzen und Bombeneinschlägen. Es ist Fliegeralarm.
Der Pfarrer rät dem frischen Ehepaar zur Eile, um schnell nach Hause zu fahren. Die Alliierten, vorneweg die Amerikaner, fliegen massiv Bombenangriffe auf Bernburg.
Ottilie und Karl Wilhelm fahren schnell von Rothenburg mit der Kutsche zurück nach Dobis. Als sie aus Rothenburg raus galoppieren, winkt ihnen Lieschen noch von Weitem zu und gratuliert ihnen somit. Mehr ist für sie nicht möglich, denn der Schmerz sitzt noch zu tief, ihren geliebten Mann Ottomar wahrscheinlich nie wiederzusehen.
Das Hochzeitspaar ist froh, heil und gesund in Dobis anzukommen. Viel Zeit für eine festliche Zeremonie bleibt nicht und so findet nur eine kleine, bescheidene Feier im oberen Stockwerk des Hauses statt. Auch die Mutter von Willi, Emma Brehme, läuft extra von Brachwitz fast sechs Kilometer, um ihrem Sohnemann zur Hochzeit zu gratulieren. Ihr Mann Friedrich August verstarb bereits vor Ausbruch des Krieges. Immerhin ist sie froh, dass sie ihren Willi sehen kann, denn ihre anderen Söhne Walter, Fritz und Kurt befinden sich noch im Krieg. Und niemand weiß, wie der Krieg weitergehen wird.
Man hört Nachrichten, dass die Alliierten immer weiter einmarschieren, dass die Deutschen arg zurückgedrängt werden.
Doch die Nachrichten - kann man sich auf sie verlassen? Es ist nicht sehr zuverlässig, weder von der Westfront, noch von der Ostfront. So hoffen alle, dass der Krieg irgendwann endlich vorbei ist und die geliebten Söhne wieder nach Hause kommen, damit die Familie vollkommen ist.
Neben ihren vier Söhnen hat Emma Brehme auch noch drei Töchter: Emma, die sie nach sich benannt hat und welche schon daheim ausgezogen ist, Elise und Anna. Diese Töchter sind ihr ganzes Glück in der Abwesenheit ihrer Söhne.
Beim Hochzeitskaffee und Kuchen sprechen sie darüber, wie Anna ihren Bruder Karl Wilhelm und Ottilie zusammengebracht hat. Sie hatte bei einem Arzt in Rothenburg gearbeitet und dort Ottilie getroffen, wo sie beiläufig meinte: „Ottilie, mein Bruder Willi, das wäre genau der richtige Mann für dich!“
So stellte sie den Kontakt zwischen beiden her, der letztlich zur heutigen Hochzeit führte.
Es ist ein ganz besonderer Moment, sich nach so langer Zeit wieder in der Familie treffen zu dürfen und diese Hochzeit - mögen die Umstände auch nicht unter den besten Sternen stehen – in kleiner Runde in Dobis zu feiern. Das ist das Wichtigste für alle, denn sie haben einander, auch wenn nur für kurze Zeit. Diese Zeit nutzen sie in vollen Zügen. Denn nächste Woche muss Ottilie wieder ins Werk nach Rothenburg, um dort Munition für den Krieg zu füllen, und Willi muss wieder zu seinen Kameraden an die Front.
Doch das ist noch die Zukunft. Den Moment, diese Tage nach ihrer Trauung, genießen die beiden in vollen Zügen.
Weihnachten, 1944.
Knapp ein Monat ist seit der Hochzeit vergangen und Wilhelm bekommt über die Festtage frei, um seine Liebsten zu besuchen. Noch ahnt niemand, dass dieser Besuch einen Abschied darstellen wird.
Inzwischen sind die Russen im Krieg schon bis vor Warschau und Budapest vorgedrungen und auch von der Westseite haben die Amerikaner und Franzosen die ersten, wichtigen deutschen Bastionen eingenommen. Insofern ist es ungewiss, wie lange sich die deutsche Wehrmacht noch halten kann. Angst und Schrecken machen sich breit. Wie es wohl in den nächsten Monaten weitergeht? Alles ist hochexplosiv und hoch ungewiss.
In jenen freien Tagen stürzt die Großmutter von Ottilie auf dem Hof und verletzt sich. Karl Wilhelm macht sich Vorwürfe, dass er schuld sei und meint: „Weißt du was, liebe Ottilie, was ich als Erstes mache, wenn ich wieder aus dem Krieg zurückkomme? Ich pflastere euren Hof, damit so etwas nicht wieder passiert. Damit die Großmutter nicht nochmal stürzt und sich dabei verletzt.“
Karl Wilhelm und Ottilie verbringen insgesamt ein glückliches Weihnachtsfest in Dobis, bevor Wilhelm wieder zurück an die Front muss. Da die Ostfront der Deutschen schon bis Budapest zurückgedrängt wurde, wird er nach Ungarn befohlen. Dort soll er mit seiner Panzerdivision die Stellung halten. Wofür können viele nicht verstehen - wofür noch Stellung halten, wenn der Krieg vielleicht schon bald verloren wäre?
Aber unter dem Druck der Deutschen, vor allen Dingen von Adolf Hitler, wird gefordert, dass jeder sich bis zum letzten Opfer aufopfere und die Stellung um jeden Preis für das deutsche Vaterland halte.
Jeder Preis – insbesondere mit dem Leben.
Beim Abschied stehen Ottilie die Tränen in den Augen, als Karl Wilhelm sich am Jahreswechsel 1944/1945 auf den Weg zurück zu seinen Kameraden an die Ostfront der Deutschen macht. Noch weiß sie nicht, dass dies das letzte Mal ist, wo sie ihren Liebsten sieht und in die Arme nehmen kann.
Im Februar 1945 findet man endlich Ottomar, der im November 1944 bei den Wartungsarbeiten am Wehr abrutschte.
Jemand entdeckt seinen Leichnam im Februar in Alsleben an einer Fähre hängend. Lieschen, die immer noch Hoffnung hat, ist völlig am Boden zerstört. Das letzte Stückchen ihres Glaubens an ein Wiedersehen mit ihrem geliebten Ehemann wird an diesem Tag endgültig begraben.
Sein Leichnam wird in Rothenburg beerdigt. Lieschen lebt fortan allein mit ihrem Sohn Ottomar. Bis zu ihrem Tod kann sie dieses Schicksal nicht richtig verkraften.
Der Krieg geht in seine Endzeit. Die Deutschen werden in die Mangel genommen: Vom Osten von den Russen, vom Westen von den Amerikanern und den Franzosen.
Die Amerikaner sind es, die im Frühjahr 1945 über die Saale stoßen. Drei Wochen lang, Tag und Nacht, fahren Panzer durch Dobis. Die Amerikaner durchsuchen jedes Haus, jedes Loch, jeden Winkel mit ihren MPs, die furchteinflößend, aber dennoch freundlich sind.
Sie fragen: „Deutscher Mann?“ Immer wieder dieselbe Frage: „Deutscher Mann?“
Sie suchen alles ab, was nach potenziellen Verstecken deutscher Soldaten aussieht, aber es sind keine deutschen Soldaten mehr da. Sie sind entweder an der Front, gefallen, oder - wie man oft hört - in Kriegsgefangenschaft geraten.
So zittern Ottilie, ihre Mutter und ihre Großmutter. Sie sind drei Frauen, die nun auf sich allein gestellt sind. Sie zittern, als die Amerikaner auch ihren Hof betreten und sich im Haus, in den Garagen und Werkstätten umschauen, doch sie entdecken keinen Mann.
Plötzlich zückt ein Amerikaner ein Messer. Ottilie erschrickt - was er jetzt wohl tut? Aber er schnitzt sich lediglich einen kleinen Speer aus einem Stück Holz.
Die Amerikaner bleiben noch etliche Wochen in Dobis und lassen sich vom Bäckermeister Zilliger Brötchen und Kuchen backen. Dieser wiederum fordert die Soldaten auf, sie mögen doch bitte den ersten Rhabarber sammeln, damit er ihnen einen Kuchen backen kann, und das tun sie. Die Amerikaner sind irgendwie furchteinflößend, aber irgendwie auch nett und zuvorkommend. Sie tun weder den älteren Männern, noch Frauen oder Kindern etwas.
Ihre einzige Aufgabe besteht darin, die Dörfer, die Menschen und vor allen Dingen die Konzentrationslager zu befreien. Von deren Existenz haben die Menschen in Dobis zwar gehört, das komplette Ausmaß jedoch soll erst sehr viel später zum Vorschein kommen.
Ottilie und Willi schreiben sich regelmäßig Briefe. Einige kommen aus dem fernen Russland, einige aus Rumänien, einige vom Schwarzen Meer.
Im April 1945 trifft ein Brief aus Ungarn, genauer gesagt aus Sarkanyfalva, irgendwo zwischen Budapest und Pressburg, ein.
Der Brief ist im März datiert. Im März 1945, als Willi nochmal an seine geliebte Ottilie schrieb, dass sie immer mehr von den Russen zurückgedrängt werden, und er auf Böhmen zusteuere.
Das war der letzte Brief, den er schrieb. Verspätet durch die letzten Kriegstage, in denen alles drunter und drüber zu gehen scheint, erreicht er Ottilie erst im April. Diese hat natürlich Hoffnung. Sie glaubt daran, dass ihr geliebter Willi eines Tages zurückkommt.
Ein Brief vom März 1945 – er lebt noch! Er kommt zurück!