Mein Vater ist nicht gestorben - Christian Kortmann - E-Book
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Mein Vater ist nicht gestorben E-Book

Christian Kortmann

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Beschreibung

In seinem neuen Buch gelingt Christian Kortmann ein vielstimmiges Selbstgespräch über erinnertes Leben und den Verlust eines geliebten Menschen. Die Nachricht vom bevorstehenden Sterben seines Vaters erreicht den Autor mitten im beruflichen Hochbetrieb. Er eilt zu ihm, erreicht ihn, verabschiedet sich – und sieht sich dennoch außerstande, loszulassen, nun, nachdem sein Vater gestorben ist. In einer intimen Betrachtung beginnt der Autor über Monate hinweg, umsichtig, geduldig und feinfühlig über die Beziehung zu seinem Vater zu schreiben und über die Verpflichtung, ohne einen Menschen weiterzuleben, ohne den das Weiterleben eigentlich nicht möglich ist. Doch auf dem Papier nimmt die sanfte Liebe zwischen Vater und Sohn wieder Gestalt an. Kortmann entdeckt die unerschütterliche Lebenskunst seines Vaters, der Optiker war, neu, und erfährt die Kraft einer optimistischen Weltsicht. Seine Erzählung lässt ahnen, wie bemerkenswert und einzigartig dieses Leben und jede menschliche Bindung ist.

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Seitenzahl: 197

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Christian Kortmann

Mein Vater ist nicht gestorben

Christian Kortmann

Mein Vater ist nicht gestorben

Erzählung

Für meine Mutter

Inhalt

Mein Vater ist nicht gestorben

Schicke mir ein Stück Käse,

damit ich einmal gut essen kann.

Epikur

Doppelt lebt,

wer auch das Vergangene genießt.

Marcus Valerius Martial

Mais le ciel de Paris

N’est pas longtemps cruel

Pour se faire pardonner

Il offre un arc-en-ciel

Jean Dréjac,

»Sous le Ciel de Paris«

Dort, wo er jetzt ist – I

Mein Vater ist nicht gestorben.

Er ist in einen Raumzeitwirbel geraten.

Dann wurde er am Rand einer Lichtung ganz hinten im menschenleeren Moor, dort, wo in der Stille des mächtigen Mischwalds und der nebelverhangenen Wiesen das Wild äst und die Wildschweine den Boden aufwühlen, wieder ausgeworfen. Wenn ich beim Laufen in der Dämmerung hier ankomme, am knorrig-expressiven toten Baum, den ich für mich Joshua Tree nenne, erkenne ich ihn schon von weitem. Wir winken uns zu, er hebt den Stock in der linken Hand, ich gehe ihm entgegen.

»Das ist ja eine Überraschung«, sage ich beim ersten Wiedersehen zu ihm, so, wie er es früher zu mir gesagt hat, wenn ich meine Eltern ohne Vorankündigung in Halver besuchte und einfach durch die Ladentür in sein Geschäft kam. Wir begrüßen uns französisch, mit Küssen auf die Wangen.

»Mein Junge!«, sagt er.

So etwas hätte er auch noch nicht erlebt, fährt er fort, plötzlich sei er dort hinten, am anderen Ende der Lichtung gewesen. Dann nickt er anerkennend, ich hätte es hier im Norden Hamburgs in dieser ursprünglichen Natur »gut angetroffen«. Er trägt seine runde dunkle Hornbrille, seine Haare sind leicht verschwitzt, das Gehen mit dem Stock im weichen Boden strengt ihn an. Seit dem Schlaganfall vor fünf Jahren ist seine rechte Körperhälfte teilgelähmt, er hinkt mit dem rechten Bein, den rechten Arm kann er kaum bewegen. Er trägt seinen Schal mit Burberry-Muster und eine warme Jacke, die über die Hüften reicht.

»Du machst ja Sachen«, sage ich, »komm, dann gehen wir jetzt nach Hause! Du hast uns allen einen ganz schönen Schreck eingejagt.«

Mein Vater schüttelt immer noch erstaunt den Kopf. Auf dem schmalen, matschigen Weg stütze ich ihn von rechts. Wir gehen langsam, die letzten Vögel singen zur einbrechenden Nacht. Wegen der Dunkelheit müsse er sich keine Sorgen machen, sage ich, denn ich habe eine Stirnlampe dabei.

Zu Hause angekommen, dusche zuerst ich, darauf besteht er, weil ich in der schweißnassen Sportkleidung ganz durchgefroren bin. Dann helfe ich meinem Vater, sich zu waschen, weil er nicht in die Badewanne steigen kann. Wir essen Nudeln zu Abend, ich koche eine schnelle Tomatensauce, die ihm wie immer hervorragend schmeckt. Beim Kochen trage ich die rote Schürze, eine der beiden Schürzen, die er mir geschenkt hat, nachdem er nicht mehr kochen konnte, die weiße vom Hotel Dresel (wo er zusammen mit unserer Freundin Brigitte einen Kochkurs gemacht hat) und eben die rote von Champagne Piper-Heidsieck, in der du dich sofort in einen Grand-Hotel-Barmann verwandelst. Er nickt anerkennend und zeigt mir den nach oben gereckten Daumen, als er mich in der Schürze sieht. Als Barkeeper zu arbeiten, das hatte er mir einmal geraten, als ich in meinen Zwanzigern knapp bei Kasse war.

Riesling habe ich da, einen wirklich schönen, und französischen Chardonnay auch. »Hmm«, sagt mein Vater, als er den Riesling probiert und ihn gefühlvoll im Mund hin und her bewegt, »à la bonne heure!« Meine Wohnung sei schön gemütlich mit den tiefen Fenstern, hat er bei seinem einzigen Besuch hier in Ohlstedt (meine Eltern waren auf dem Weg nach Wangerooge) zu mir gesagt. Damals verstand ich wohl nicht ganz, warum sie unbedingt meine Wohnung sehen wollten, heute bin ich froh, dass er, dass sie hier waren, dass diese Bilder in ihm lebendig waren, in ihm sind. Er ist müde, geht früh zu Bett. Ich klappe ihm im Westzimmer das Schrankbett aus und beziehe es frisch.

Auch ich schlafe schnell ein, sehr glücklich, meinen Vater wiederzuhaben, aber auch erschöpft von der Anstrengung des Tages. So eine Auferstehung von den Toten erlebt man schließlich nicht oft.

Als ich am nächsten Morgen ins Westzimmer gehe, um ihn zu wecken und mit ihm den Zug nach Halver zu meiner Mutter zu nehmen, ist das schwere Schrankbett hochgeklappt und mein Vater nicht mehr da.

Doch ich weiß ja jetzt, wo ich ihn finde.

Kerze im anderen Raum

An den vielen schönen Abenden, die ich in meiner Wohnungseinsamkeit verbringe, zünde ich immer auch eine Kerze in dem Raum an, in dem ich mich gerade nicht befinde. Solch eine Kerze war mein Vater für mich. Um sie anzuzünden, benutze ich Pfeifenstreichhölzer (die guten aus Schweden), obwohl ich keine Pfeife rauche – aber er.

Wachablösung

Viel zu tun und zwei neue brotberufliche Anfragen am Tag, an dem mein Vater wieder ins Krankenhaus eingeliefert wird. Die Gnade deines Vaters: dann zu sterben, wenn du ihn nicht mehr brauchst. Wacht jetzt die Welt über dich?

Freizeichen

Dass er jetzt im Krankenhaus liegt und nicht telefonieren möchte, weil es ihm »zu anstrengend« ist, wie meine Mutter sagt. Neben den gemeinsamen Tränen, die er uns erspart: die Großzügigkeit eines Vaters, der mich jetzt auch in meinem Schmerz nicht an sich klammern möchte.

Doppelt zerbrechlich

Wir sind Scherben, aber keine aus Glas, sondern solche aus Eis, die an einem sonnigen Tag achtlos auf der gefrorenen Wasserfläche liegen.

Gleiswechsel

»Es ist so weit«, sagt mein Vater am Telefon, als meine Mutter mich aus seinem Krankenhauszimmer anruft und ihm den Hörer reicht. Dann sagt er es noch einmal, weil er wohl ahnt, dass ich ihn nicht verstanden habe, ihn nicht verstehen will: »Es ist so weit.«

Wo ich sei? Im Zug, kurz vor Hannover, sage ich. Früher Freitagnachmittag, der 1. Klasse-Großraumwagen ist gut besetzt. Ich schaffe es unter Tränen, ihm zu sagen, dass ich ihn sehr liebe und bewundere für alles, was er erreicht hat und ist. Meine Stimme wird laut und verzerrt sich durch das Weinen zu einem Kreischen. Ich spüre, wie der ganze Großraumwagen still zusammenzuckt – und es ist mir egal.

Er sagt nicht, dass er mich auch liebt oder etwas anderes Pathetisches. Er bedankt sich für meine Worte.

»Ich hoffe, dass ich es rechtzeitig schaffe …«, sage ich.

»Ja, das schaffe ich schon«, sagt er: »Bis nachher!«

Beim Umsteigen in Hannover muss ich den Bahnsteig wechseln. Im Rekordtempo sprinte ich vom Zug die Treppen hinunter und die nächsten Treppen wieder hinauf. Fast renne ich jemanden um, in Angst, zu spät zur wichtigsten Verabredung meines Lebens zu kommen.

Diese Panik wird abgelöst von der Angst vor einem positiven Corona-Test, was bedeutet hätte, das Krankenhaus nicht betreten zu dürfen und meinen Vater nie mehr wiederzusehen. Dann hätte ich zum Betrüger werden und mir den Zugang erschleichen und erkämpfen müssen. Ich mache schon Pläne, wie ich als Hausmeister verkleidet durch die Waschküche ins Krankenhaus eindringe … Ich bin tatsächlich bereit, dafür ins Gefängnis zu gehen.

Aber gut, alles positiv, alles negativ.

Verlorene Lektionen

Du weißt nicht, was du vermissen wirst. Du weißt es erst, wenn die Unwiederbringlichkeit da ist und du es vermisst.

Die Unwiederbringlichkeit – I

Wie ich auf dem grünen Stoffsofa auf den Knien meines Vaters saß und er mit mir »Wir reiten nach Laramie« spielte.

Wie er auf diesem unglaublichen Foto Weihnachten 1975 beim Frühstück – Margarine, Schwartau-Marmelade, Eierbecher mit Hut – im Schlafanzug mit mir herumalbert.

Wie er sich jeden Morgen nass rasierte – der Geruch der Marbert-Man-Rasierseife in der braunen Porzellanschale mit Haltegriff – und wie immer Barthaare auf dem Bord über seinem Waschbecken lagen, weil er sich den Schnäuzer mit der Bartschere stutzte.

Wie er mit mir Dreijährigem zur Sprengung des Halveraner Wasserturms ging; wie wir den weißen Turm vom »Hölzchen« aus zusammenfallen sahen und dabei auch genau auf den Teil des Friedhofs blickten, auf dem mein Vater heute begraben liegt.

Wie er mich morgens mit dem blauen Porsche 911 Targa in die Schule brachte.

Wie er seine lederne Tennistasche packte, und wie in ihr die Tennisbälle aus der frisch geöffneten Blechdose rochen.

Wie er nachts vorm Hotel Alpfrieden auf der Bettmeralp den silberfarbenen Sektkühler klaute, weil uns der Service schlecht behandelt hatte.

Wie er seinen dreißigsten Geburtstag als kostümierte Karnevalsparty im Tennisclub feierte und ein schwarz-weißes, dickbäuchiges Oberkellnerkostüm aus Plastik trug.

Wie er zwei Monate vor seinem Tod zusammen mit meiner Mutter den 100. Geburtstag des Geschäfts feierte, für den er sich von mir nicht etwa eine schnöde Pressemitteilung, sondern »ein Narrativ« (er liebte es, aufgeblasene Modewörter ironisch zu benutzen) gewünscht hatte.

Wie wir vor ein paar Jahren zusammen in Lüdenscheid auf den Markt gingen (zum ersten Mal nach seinem Schlaganfall fuhr ich wieder mit ihm Auto – und zum letzten Mal) und Matjes aßen, im Stehen mit Gabel, im Café Extrablatt Kaffee tranken und auf dem Rückweg noch ein paar Sachen bei Frau Graumann kauften, unter anderem das Weingläser zeigende Spaß-Schild »At my age I need glasses.«, auf das ich ihn hinwies, weil es ein passender Optiker-Spruch sei, und er sagte: »Das können wir doch dekorieren.«

Mit schwarzer Tinte

Unser Gehirn wird von einer Komplexität angezogen, die seine Fähigkeiten übersteigt. Es leitet uns zu Dingen, die wir nicht bewältigen können. Wir begeistern uns für ein Spiel wie Schach, das so kompliziert ist, dass sogar der Weltmeister in fast jeder Partie Fehler macht – damit ist viel gesagt. Der Schriftsteller ist der, der mit Toten reden kann, obwohl er weiß, dass er es nicht kann. Die Fiktion ist die, die uns rettet.

Nach dem Lesesessel

Freitagabend, Wipperfürth, Krankenhaus, 3. Stock, Palliativstation. Ich betrete das Zimmer 3-112 und sehe meinen Vater, der im Bett liegt und mich sofort erkennt. Unsere leichten Wangenküsschen erscheinen mir als Begrüßung unpassend, also streichele ich sein Gesicht. Aus dem ICE habe ich ihm noch einmal seine geliebte SZ mitgebracht und lege sie ihm neben das Krankenhausbett, obwohl er in seinem Zustand nicht mehr lesen kann. Ich sage zu meiner Mutter und meinem Bruder, dass ich eine vertraute Atmosphäre herstellen möchte. Aber in Wahrheit will ich, dass alles ist, wie es immer war, und dass es so bleibt.

»Nicht weinen«, sagt mein Vater zu mir, »das ist ein natürlicher Prozess.«

Auf seiner linken Körperseite fließt blutige Flüssigkeit in einen Drainagebeutel. Rational wie auch früher immer, wie sein eigener Beobachter, erklärt er mir seine gegenwärtige Verfassung: »Tja, das ist der Verfall.«

»A demain!« sage ich und es ist ein ungewisses Morgen, als wir das Zimmer verlassen und ihm eine gute Nacht wünschen. Und mein Vater antwortet: »A demain!«

Nicht mehr über Bande

Die Vorstellung einer Welt, in der es meinen Vater nicht gibt, erscheint mir surreal. Die Dinge, die geschehen werden, werden anders geschehen; sie werden eine andere Bedeutung haben. Im Kleinsten wie in der Weltpolitik.

Dort, wo er jetzt ist – II

Zu dieser Jahreszeit kann ich direkt in die Mittagssonne blicken, wie sie flach und milchig dasteht und ihr südwestliches Himmelsspektakel orchestriert. Auf der Lichtung im Moor erzählt mein Vater mir, dass er dort, wo er jetzt ist, wieder ein Optikgeschäft eröffnet hat, hinten rechts, wo ein paar Bäume die Wiese in zwei ungleiche Hälften teilen. Die Fassade und das Schaufenster mit dem dunkelgrün-metallenen Rahmen und den abgerundeten Ecken und links die Eingangstür – sein neues Geschäft ähnelt dem alten in Halver sehr. Ich kenne es sehr gut, bin dort aufgewachsen und habe hinter den beweglichen hölzernen Brillenschränken mit meiner Sandkastenfreundin (der Tochter des Fernsehverkäufers aus dem Geschäft gegenüber), die also eine Ladenlokalfreundin war, Verstecken gespielt.

Er hat sofort gut zu tun. Heute bin ich um kurz nach ein Uhr dort, und er ist seit neun Uhr kein einziges Mal herausgekommen, hat immer noch Kundschaft. Jemand von früher aus dem Golfclub »hat noch eine Brille für 1000 Euro gekauft«. Und es gibt eben auch die Kunden, die wie früher nur zum Reden kommen. Alte Bekannte, die schon dort sind oder nach und nach eintreffen, finden in seinem Laden eine erste Anlaufstelle. Die Süddeutsche liegt auf dem Tisch, das Abo für die Revue de la Presse mit Auszügen aus französischen Zeitungen und Magazinen hat er an die neue Adresse umleiten lassen.

Abends geht er gerne ins Posthaus, das war seine Stammkneipe in Halver, als ich Kind war, dort trifft er die Männer aus der Clique, die schon da sind. Sie kennen sich schon seit der Grundschule, die damals Volksschule hieß, und kommen seitdem, obwohl sie im Leben getrennte Wege gehen, immer wieder zusammen. An ihrem Tisch ist genug Platz, weitere werden bald zu ihnen stoßen, das ist gewiss.

Heute ist es zum ersten Mal so warm, dass mein Vater nicht die hüftlange Jacke trägt, sondern nur Jackett und eine Weste darunter. Zum Abschied geben wir uns fünf. Ehrgeizig hebt er die rechte, teilgelähmte Hand und strahlt mich an, als es klappt. Auch das Gehen im weichen Boden fällt ihm immer leichter, bald will er den Stock weglassen.

Mitkommen zu mir und in seine alte Welt will er nicht, weil dort Leid und Schmerzen auf ihn warten. Das kann ich gut verstehen. Also bleibt er im Moor zurück und ich gehe allein nach Hause.

Ich laufe noch weiter hinaus nach Norden. Bis sich die Landschaft, so flach, dass jede Brücke über die mäandernden Bäche schon eine Panoramaplattform ist, für Blicke öffnet, die mit ihrer Leere und Weite zaubertafelgleich den Geist klären und bereit machen für neue Gedanken, Ideen, Einfälle, Taten.

Kabinettstück

Das Leben ist eine Treppe, die wir hinabschreiten; eine Treppe mit Murnauschen Stufen, die im Schatten liegen und Ebene vorgaukeln.

Tote Sprache

»Mors nihil ad nos, quoniam quum nos sumus, mors non adest; quum vero mors adest, nos non iam sumus.« Mein Vater sprach kein Latein. Aber dieses Zitat, im Original griechisch von Epikur, ihm aber von einem Seneca-Kenner, dem Dortmunder Antiquar Wengerzink, überliefert, kannte er auswendig. »Der Tod geht mich eigentlich nichts an. Denn wenn er ist, bin ich nicht mehr, und solange ich bin, ist er nicht.«

Jetzt ist der Tod da, und mein Vater ist nicht mehr.

Die Unwiederbringlichkeit – II

Wie mein Vater – zum ich weiß nicht wievielten Mal – die Geschichte erzählte, als er zu Tisch eine Zitrone auspresste und der Strahl eine ihm gegenübersitzende Frau direkt ins Auge traf.

Wie er mittags mit dem Hund hinausging und seinen Linkshänder-Golfschläger mitnahm, um auf der weiten Wiese Bälle zu schlagen, oder wie er schon morgens im weißen Bademantel im Garten stand und Probeschwünge machte.

Wie er früher im Auto Zigarillos rauchte, und ich den Zigarettenanzünder erst hineindrücken und ihm dann anreichen oder die Zigarren anstecken musste.

Wie er sich abends voller Freude nackt auszog und sich dann ins Bett unter die Decke halb rollte, halb warf.

Wie er erzählte, und es andeutungsweise nachspielte, wie schnell die (jungen) Leute das Handy aus der Hosentasche zogen, wenn er sie im Geschäft bat, einen Moment lang Platz zu nehmen.

Wie er am Samstagabend bei seinem letzten Besuch in Hamburg zusammen mit meiner Mutter und mir im Café Paris mehrere Vorspeisen bestellte, darunter Stockfischpüree und Blutwurststrudel. Wie er mit kosmopolitischer Selbstverständlichkeit zur Kellnerin sagte, dass wir aus dem Sauerland kommen. Wie er mit dem Rosenverkäufer scherzte, sein Portemonnaie zückte und sich von ihm Geldschein für Geldschein abnehmen ließ, lachend, während der Rosenverkäufer das Geschäft des Abends, wenn nicht seines Lebens machte. »Das muss man mal mitmachen«, sagte mein Vater ungerührt zu uns, ganz nach seinem Credo, dass jeder etwas vom Leben haben möchte – wo andere sich beschwert, den »Manager« oder gar die Polizei gerufen und auf jeden Fall einen Riesenaufstand gemacht hätten.

Wie wir in Bologna zusammen mit meiner und mit seiner Mutter durch das Fensterchen auf den Fluss guckten und wie wir die langen überdachten Treppen zur Wallfahrtskirche San Luca hochliefen.

Wie er mit mir über Edelkirchen und rund um die Neye-Talsperre gelaufen ist.

Wie er mich früher, in den Achtzigern, am Mittwochnachmittag, wenn das Geschäft geschlossen war, mit nach Köln nahm, wie wir bei Zentra, dem Uhrengroßhändler, parkten – mein Vater hatte einen Schlüssel für die Kette, mit der der Parkplatz im Hinterhof abgesperrt war, an der Hauswand befand sich das Zentra-Logo – und wie ich beim Aussteigen aus dem Auto die süß-saueren Ausdünstungen der Gaffel-Brauerei am Eigelstein roch. Wie ich mit ihm zusammen Uhren einkaufen ging, wie ich dann Streifzüge allein durch die Stadt unternahm, mich mit meiner Skiurlaubsbekanntschaft Herdis traf, wie er bei Bepi in der Breite Straße oder im La Päd oder im La Lavallier (die Bar mit den grünen Lederbezügen auf Stühlen und Hockern) an der Domplatte auf mich wartete, wie wir dann bei Hoss an der Oper einkauften, an den Rindfleischsalat und den Hummersalat erinnere ich mich, und mit unseren Feinkostschätzen nach Hause fuhren. Wie an einem Tag meine Mutter dabei war, und mein Vater und ich spontan zu einem UEFA-Pokal-Spiel im Müngersdorfer Stadion gingen und anschließend mit dem Zug nach Hause fuhren.

Wie ich ihn nach seinem Schlaganfall in der Rehaklinik in Hagen-Ambrock zum Abendessen brachte und er sich zu den anderen Patienten an den runden Tisch setzte, die ihn erfreut begrüßten.

Anspielstation

Obwohl oder weil er nie viele Freunde gehabt hatte und die persönliche Isolation zum Teil seines Wesens geworden war, wollte der Schriftsteller in seiner zweiten Lebenshälfte jemand werden, mit dem man gerne zusammenarbeitete, ein großer Kollaborateur. Die alerte junge Frau in der Agentur, der kreative Impresario auf dem Theater, das Nerd-Mädchen im Verlag, sein Fahrradhändler, der Mann im Bäckerwagen auf dem Markt, sein Fischhändler, seine Weinhändler, die Briefträgerin, sein Steuerberater, die Krankenschwester auf der Station, wo sein Vater lag, die diversen Paketboten und viele weitere mehr – sie alle sollten gerne mit ihm zu tun haben.

Schierlingsbecher

Mein Vater am Telefon, einen Tag nach der Diagnose Leberkarzinom: »Jetzt muss man abwarten und jeden Tag genießen.« Welch ein Glück, dass er Philosoph ist! Er sagt, dass er keine Schmerzen habe, das sei ja schon etwas. Und freut sich, dass er zu Hause ist übers Wochenende und nicht im Krankenhaus sein muss.

Wenn meine Mutter ein paar Tage später sagt, mein Vater sei »niedergeschlagen«, dann bedeutet das etwas. Ich kann mich nicht erinnern, ihn jemals niedergeschlagen erlebt zu haben. Ein Mal vielleicht, als einer unserer Hunde gestorben war, und mein Vater mittags allein im Wald spazieren ging und mit Tränen in den Augen zurückkam.

Doch geweint hat er nur unmittelbar nach der Diagnose und zu meiner Mutter gesagt: »Das ist mein Todesurteil.« Dann hat er den Schalter umgelegt und seinen anständigen Abschied geplant – zwischen Diagnose und Exitus lagen nur sechzehn Tage. Den Einstiegssatz für seine Traueranzeige hat er meiner Mutter in den Block diktiert: »Schreib das auf – schreib dir das auf: ›Ein Leben in Frieden und Freiheit ist zu Ende.‹« Sie wird den Text später sehr schön vollenden: »Du hast das Leben und die Menschen geliebt. Immer sind da Spuren deines Lebens, Bilder, Augenblicke und Gefühle, die uns an dich erinnern und die in uns weiterleben. Du fehlst!«

Du Großes Gewächs, Gedicht von einem Menschen, dein Leben war gelungen bis zum letzten Wort, bis zum Schluss, bis in den Tod hinein, falls einem auch dieser gelingen kann.

Du großer Europäer, unter anderen Umständen hättest du auch Spitzenpolitiker, Außenminister, werden können. Genau in deinen Worten stand es einen Monat später, als Putin in die Ukraine einmarschierte, an der Fassade des Hamburger Thalia Theaters: »Für Frieden und Freiheit«. Und Bundeskanzler Olaf Scholz sagte in seiner Fernsehansprache: »Die Zukunft Europas wird eine Zukunft in Frieden und Freiheit sein.«

Ein Sterbefestival

Freitag Elend, Samstag Leid und am letzten Tag kommt als Hauptact der Sensenmann.

Am Sonntag, dem 23. Januar, schreibe ich in mein Tagebuch: Seit 6 Uhr heute Morgen hast du deinen Frieden, liebster Papa.

In Halver und nicht nur dort werden heute viele Menschen sehr traurig sein.

Michael Kortmann *15.2.1950 †23.1.2022

Ich werde niemals eine Flasche Riesling öffnen, ohne an dich zu denken.

Diagnose

Du musst verrückt sein, um nicht verrückt zu werden.

Schneise

Wozu ist Verlust gut; gibt es einen Sinn im Verlust? Der gesunde Wald nach dem Sturm bietet kein Bild der Zerstörung, sondern eines der Erneuerung. Nun wachsen Dinge heran, die vorher keinen Platz zum Wachsen hatten.

Mein Vater hätte nicht gewollt, dass ich seinen Tod, diesen »natürlichen Vorgang«, lange betrauere, geschweige denn, dass mein Leben deshalb ins Stocken gerät. Denn es muss ja weitergehen, wie er gesagt hätte. Aber ich – ich bin eben ganz anders als er. Wäre ich ein wenig mehr wie er, wäre das schon ein Trost.

Ein mittelalter Baum, der im Sturm zwar nicht umfällt, aber vom Zerren und Rütteln des Windes seine Rinde verliert.

Doppelte Buchführung

Das Leben produziert laufend Fakten.

Spuren im Schnee – I

Immer wieder diese Szene, die sehr präsent ist, vor allem, wenn ich in Halver bin und auf den Wegen gehe, auf denen auch mein Vater ging, wenn ich die Landschaft sehe, die seine Augen sahen, wenn meine Füße auf demselben Asphalt stehen, den seine Füße berührten, als er mit mir sprach, mich ansah oder mich als kleines Kind auf dem Arm hielt.

Wir befinden uns an der Brücke am Herpiner Weg in Richtung Rieker Grund, am Beginn des schmalen tunnelartigen Schleichwegs durch den Wald neben den Eisenbahnschienen. Der Eingang zu diesem Waldtunnel scheint ein Portal zu sein, das mich in der Zeit zurück katapultiert. Hier ist auch heute alles unverändert, hier kann ich in die damalige Welt eintreten, wie sie gewesen ist, es ist alles da, ich muss nichts hinzuerfinden – außer meinen Vater.

Ich erinnere mich, wie er mich, tief in einem schneereichen Winter, auf dem Schlitten über die Straße zog, wie er die Richtung vorgab und etwas sagte wie: »Und zwar gehen wir hier entlang!« Und wie wir dann hier, direkt hinter der Brücke, rechts abbogen in den Wald und weiter unten, am verschneiten Bahndamm entlang, parallel zu den Schienen liefen.

Ich mache ein paar Schritte in den Wald und gehe dann in die Hocke, so bin ich wieder kleiner als mein Vater, so klein, wie ich damals war, und sehe von unten, wie er vor mir geht und mich auf dem Schlitten zieht, es ist ein roter Schneebob aus Kunststoff mit zwei schwarzen Bremsgriffen links und rechts.

»Ja, Papa, schnell, schneller, weiter, immer weiter!«, rufe ich.

Mein Vater trägt eine dunkelblaue Wollmütze mit Norwegermuster, ähnlich der Mütze, die ich gerade trage (hier in Halver vor einigen Jahren von meinen Eltern gekauft, als es noch ein Sportgeschäft gab, und mir zum Geburtstag geschenkt). Obwohl ich meinen Vater, hockend und in meinem Schlitten sitzend, von hinten sehe, sehe ich sein Gesicht von vorne. Sein jugendliches, lächelndes Gesicht mit dem Schnauzbart, den er immer hatte, solange ich mich zurück erinnern kann, nur auf seinen Jugendfotos hat er ihn noch nicht. Er trägt den dunkelblauen Skianorak mit den rot-weißen Streifen auf Brusthöhe. Und ich trage – im Damalsjetzt – einen »Schneeanzug«, Fäustlinge und eine dicke Wollmütze, die man über den ganzen Kopf zieht, über Kinn und Hals, sodass nur das Gesicht frei bleibt.

Es schneit damals und jetzt aus einem weißgrauen Himmel, das schneeerne Zelt über uns trägt dazu bei, unseren Weg wie einen Tunnel erscheinen zu lassen. Ich lenke den Bob mit den beiden Griffen und bremse, wenn es bergab geht, um meinem Vater nicht in die Hacken zu fahren, wobei auch der tiefe Schnee schon bremst. Wir laufen erst auf der linken Seite des Bahndamms, dann über die Schienen (die Schwellen waren damals wohl vollständig verschneit), dann bewegen wir uns rechts vom Bahndamm, dann wieder auf den Schienen, dann wieder links von ihnen. Ob wir am Eingang des Eisenbahntunnels am Winkhof waren oder vorher umdrehten, vermag ich nicht zu sagen. Durchs Herpinetal ging es zurück zur Howarde, dem Haus meiner Kindheit.