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Wissenschaftsjournalist und Bestsellerautor Aeneas Rooch nimmt uns mit auf eine fulminante Reise in die wunderbare Welt der Babys. Witzig, fesselnd und wissenschaftlich fundiert erzählt er von erstaunlichen Erkenntnissen aus dem Alltag mit den Kleinsten.
Besitzen Babys einen Tauchreflex? Ist es gesund, wenn Eltern den Schnuller ablecken? Sind Nüsse für Kinder wirklich gefährlich? Und was ist dran an der Regel, dass man heruntergefallene Lebensmittel, die weniger als fünf Sekunden auf dem Boden lagen, bedenkenlos essen kann? Aeneas Rooch lüftet die Rätsel des Elternalltags. Die perfekte Lektüre für schlaflose Nächte!
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Seitenzahl: 287
Zum Buch
Besitzen Babys einen Tauchreflex? Ist es gesund, wenn Eltern den Schnuller ablecken? Und kann man heruntergefallene Lebensmittel, die weniger als fünf Sekunden auf dem Boden lagen, wirklich bedenkenlos essen?
Wissenschaftsjournalist und Bestsellerautor Aeneas Rooch lüftet die Rätsel des Elternalltags. Witzig, fesselnd und fundiert erzählt er von erstaunlichen Erkenntnissen aus dem Alltag mit den Kleinsten.
Über den Autor
Aeneas Rooch, geboren 1983, hat Mathematik und Physik studiert. Er ist als freier Wissenschaftsjournalist und seit Erwerb eines Kindes auch als Babyforscher tätig. Er spielt gerne Klavier und Badminton (aber selten gleichzeitig). Sein erstes Buch »Rubbel die Katz oder Wie man Wasser biegt« war ein SPIEGEL-Bestseller.
www.rooch.de
Aeneas Rooch
Verblüffende Phänomene aus demBabyversum wissenschaftlich erklärt
Mit Illustrationen von Lili Richter
WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN
Wissenschaftliche Fachberatung: Prof. Thomas Lücke,Direktor der Universitäts-Kinderklinik Bochum, St. Josef-Hospital
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Originalausgabe 04/2020
Copyright © 2020 by Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Angelika Lieke
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design,unter Verwendung von Illustrationen von Lili Richter
Satz: Schaber Datentechnik, Austria
ISBN: 978-3-641-24700-3V001
www.heyne.de
Für Ida
Vorwort
Wettlauf gegen die Zeit
Wie lange kann man bedenkenlos vom Boden essen?
Halt mal die Luft an
Besitzen Babys einen Tauchreflex?
Zart, ganz zart
Was ist das Geheimnis samtweicher Babyhaut?
Orange Revolution
Weshalb fängt man bei Beikost mit Karotte an?
Alles hängt mit allem zusammen
Warum bekommen Babys beim Zahnen einen roten Po?
Papa, ich hab Durst!
Können Männer stillen?
Süße Gefahr
Weshalb dürfen Babys keinen Honig essen?
Wauwau im Singsang
Wieso sprechen Eltern so seltsam?
Auf allen vieren
Was passiert, wenn Babys nicht krabbeln?
Die Regenbogen-Windel
Weshalb hat Babykacke so viele verschiedene Farben?
Nächste Ausfahrt rechts
Sind Nüsse für kleine Kinder wirklich gefährlich?
Weiß und fettig
Woraus besteht Käseschmiere?
Viel Luft um nichts?
Warum müssen Babys so oft aufstoßen?
Gesunde Spucke
Sollen Eltern Schnuller ablecken?
Danksagung
Quellen
Liebe Leserinnen und Leser,
Kinder bringen uns zum Lachen, lassen uns staunen, können uns aber auch in Panik versetzen, selbst mich als Kinderarzt.
Einen dramatischen Moment erlebten wir während eines Segeltörns. Unsere jüngste Tochter, die damals im Kleinkindalter war, lief plötzlich blau an. Sie hatte sich an einer Weingummischlange verschluckt und rang nach Luft. In meinem Kopf begann es zu rattern. Hier draußen gab es kein Krankenhaus, das Festland war meilenweit entfernt. Du musst einen Luftröhrenschnitt machen, schoss es mir durch den Kopf. Doch dann besann ich mich und griff unserer Tochter in den Rachen. Ich bekam das Weingummi zu fassen und zog es, mit Schweißperlen auf der Stirn, Stück für Stück heraus – es durfte auf keinen Fall abreißen! Endlich machte es »Plopp«, und das Kind wurde wieder rosig. Die Tränen kamen, und wir lagen uns glücklich in den Armen. Ich habe in diesen Minuten selbst erlebt, wie gefährlich es sein kann, wenn Kinder etwas verschlucken.
Immer wieder erleben wir mit Kindern komische Situationen und kuriose Dinge. Manches im Alltag lässt uns stutzen, und viele Fragen, die Eltern haben, kann ich als Vater von vier wunderbaren Kindern gut nachvollziehen. Denn nicht immer liegt die Erklärung auf der Hand, und hinter mancher simpel erscheinenden Frage verbirgt sich eine faszinierende Antwort. Wieso hat ein Baby so weiche Haut? Warum muss es so oft aufstoßen? Haben Säuglinge einen Tauchreflex? Und sind Nüsse für Kinder wirklich gefährlich? (Ja, und auch Weingummischlangen!)
Ich finde es spannend und wichtig, die kleinen Geheimnisse rund um unsere Kinder zu lüften – und genau das macht »Mein wasserdichtes Baby«. Als Aeneas Rooch mich gefragt hat, ob ich ihn bei seinem neuen Buch wissenschaftlich beraten könnte, habe ich also sofort Ja gesagt. Ich hatte schon sein erstes Buch »Rubbel die Katz« mit großer Freude gelesen und war fasziniert, wie er komplizierte naturwissenschaftliche Phänomene so verständlich erklären kann – und noch dazu absolut korrekt und mit viel Humor. Das ist in diesem neuen Buch nicht anders.
Genießen Sie nun also den unterhaltsamen Text von Aeneas Rooch, lernen Sie Kapitel für Kapitel Neues über Kinder, tauchen Sie ein in die Faszination Kindheit, und wenn Sie Eltern sind, dann werten Sie es als besonderes Geschenk, die Welt ein weiteres Mal mit Kinderaugen betrachten zu dürfen!
Mit herzlichen Grüßen
Ihr Thomas Lücke
Prof. Dr. med. Thomas Lücke
Direktor der Universitäts-Kinderklinik Bochum
St. Josef-Hospital
Wie lange kann man bedenkenlos vom Boden essen?
Inzwischen habe ich mich daran gewöhnt, dass es nach dem Essen unter unserem Küchentisch aussieht wie im Schweinestall (genau genommen sieht es mit Kindern überall in der Wohnung aus wie im Schweinestall, aber nach dem Essen unter dem Küchentisch ganz besonders): Es liegen angebissene Apfelspalten, Bananenstückchen und Weintrauben herum, daneben benagte Gurkenscheiben und Paprikasticks, zerkaute Käsewürfel, vollgespeichelte Wurstfetzen, Reste von Milchbrötchen und Brotkrümel. Für ein kleines Kind ist Essen eben ein permanenter Kampf gegen die Schwerkraft, andauernd rutscht ihm etwas aus der Hand oder fällt ihm etwas aus dem Mund, gern schmeißt es aber auch aus reinem Vergnügen etwas herunter oder spuckt es aus. So landet bei jeder Mahlzeit eine beachtliche Menge Essen auf dem Fußboden. Ich habe noch nie nachgewogen, wie viel genau sich da so ansammelt (vielleicht aus unterbewusster Angst vor dem Ergebnis?), aber es ist auf jeden Fall eine beeindruckende Portion. Manchmal sieht es fast so aus, als liege mehr Essen unter dem Tisch als darauf.
Wenn die heruntergefallenen Häppchen nicht allzu übel besabbert oder zerkaut sind, hebe ich sie meistens wieder auf und gebe sie meinem Kind zurück. Gästen würde ich sie vielleicht nicht mehr anbieten, aber das Kind achtet ganz offensichtlich noch nicht auf Etikette und Benehmen und hat auch noch einen eher weit gefassten Begriff von Appetitlichkeit und Hygiene. Warum also sollte ich Essen wegwerfen, das ihm noch bestens schmeckt? Nur weil es auf dem Boden gelegen hat?
Viele Menschen sehen das ähnlich pragmatisch, achten beim Aufheben aber penibel auf die Zeit. Sie halten sich an eine Maxime, die vor allem unter jungen Eltern weitverbreitet zu sein scheint – die sogenannte »Fünf-Sekunden-Regel« –, die besagt, dass man heruntergefallene Kekse, Apfelstückchen und andere Nahrungsmittel bedenkenlos essen kann, solange sie nur weniger als fünf Sekunden auf dem Boden gelegen haben. Manche Eltern kennen auch die etwas strengere Variante dieser Richtlinie, die »Drei-Sekunden-Regel«.
Die Begründung für die Regel (ob nun mit drei oder fünf Sekunden) ist, dass Bakterien und Krankheitserreger, die sich auf dem Boden tummeln, eine Weile brauchen, bis sie auf den heruntergefallenen Keks geklettert sind; und solange sie das noch nicht getan haben, kann man den Keks ohne Gefahr aufheben und weiter verfüttern. Das klingt plausibel. Aber stimmt es auch? Ist das mit den fünf Sekunden eine vernünftige Faustregel, oder ist es totaler Unsinn? Wie schnell können sich Bakterien überhaupt fortbewegen? Brauchen sie zum Erklimmen eines Kekses Sekunden, Stunden oder gar Tage? Dieses Thema wurde im Geburtsvorbereitungskurs leider nie behandelt. Junge Eltern brauchen also dringend eine handfeste, wissenschaftliche Antwort: Was ist dran an der ominösen Fünf-Sekunden-Regel?
Die Highschool-Schülerin Jillian Clarke ist im Jahr 2003 genau dieser Frage nachgegangen, während sie ein Praktikum bei einer Mikrobiologie-Forschungsgruppe an der University of Illinois absolvierte. Um herauszufinden, ob die Fünf-Sekunden-Regel stimmt, kaufte sie glatte und raue Fußbodenkacheln, sterilisierte sie, besiedelte sie mit typischen Darm-Bakterien und legte anschließend Gummibärchen und Kekse auf ihnen ab.
Meistens verwendet man bei solchen Experimenten Bakterien der Art Escherichia coli, und so war es auch hier. Escherichia-coli-Bakterien kommen im menschlichen Darm vor und spielen bei vielen Infektionskrankheiten eine Hauptrolle, so verursachen sie weltweit jährlich 160 Millionen Durchfallerkrankungen und eine Million Todesfälle. Weil die Bakterien einfach gezüchtet werden können und man an ihnen und mit ihnen eine Menge untersuchen kann, kommen sie in der biologischen und medizinischen Forschung alle naselang vor, und Fachleute nennen sie kurz und liebevoll nur E. coli.
Nachdem sie die Gummibärchen und Kekse auf die bakterienbelasteten Fußbodenkacheln gelegt hatte, wartete Clarke fünf Sekunden, hob die Süßigkeiten wieder hoch und untersuchte sie unter dem Elektronenmikroskop. Sie sah, dass die Bakterien in allen Fällen von den Bodenkacheln auf die Süßigkeiten übergegangen waren, ganz gleich, ob diese auf glatten oder rauen Fußbodenkacheln gelegen hatten. Die Schülerin schloss daraus, dass Lebensmittel, die auf den Fußboden fallen, bereits in fünf Sekunden oder weniger mit Bakterien kontaminiert werden können.
Ist die Fünf-Sekunden-Regel also völliger Unsinn? Das Experiment der Schülerin Jillian Clarke deutet darauf hin, liefert aber noch keine verlässliche Antwort. Denn der Versuch mit den Bodenkacheln ist zwar ein charmantes, unterhaltsames Schülerprojekt und hat der Autorin sogar den Ig-Nobelpreis eingebracht, er ist aber leider keine belastbare wissenschaftliche Arbeit.
Mit dem Ig-Nobelpreis wird kuriose wissenschaftliche Forschung ausgezeichnet. Es ist ein satirischer Preis für »Errungenschaften, die Menschen zuerst zum Lachen, dann zum Nachdenken bringen«. Prämiert wurden zum Beispiel Forschungsarbeiten darüber …
… dass sich Hunde, wenn sie pinkeln oder einen Haufen machen, gern entlang des Erdmagnetfelds ausrichten,
… wie man kleckert, wenn man geht, während man eine Tasse Kaffee in der Hand hält,
… dass Schimpansen ihre Artgenossen auch an Fotos ihres Hinterteils erkennen können,
… ob Spucke als Reinigungsmittel taugt und
… wie man ein gekochtes Ei teilweise wieder »entkochen« kann.
Den Ergebnissen, zu denen Jillian Clarke bei ihrem Bodenkachel-Versuch gelangt ist, kann man wie gesagt leider nicht vertrauen, denn der Versuch wurde weder von anderen Fachleuten überprüft, wie es bei wissenschaftlichen Arbeiten üblich ist, noch in einem Fachmagazin veröffentlicht – er wurde lediglich von der University of Illinois als Pressemitteilung herausgegeben. (Darin wird übrigens ausführlich beschrieben, dass die Schülerin versucht hat, ihre Studie auf einem echten Fußboden durchzuführen, aber auf dem ganzen Campus kein einziges Stückchen gefunden hat, das eine nennenswerte Menge an Bakterien trug, nicht einmal im Labor, in der Halle, im Wohnheim oder der Cafeteria. »Wir waren geschockt«, wird eine Doktorandin zitiert. Als Schlussfolgerung der Untersuchung wird in der Pressemeldung schließlich – neben den Resultaten über die Kontaminierung von Gummibärchen und Keksen – hervorgehoben: »Universitätsböden sind aus mikrobiologischer Perspektive bemerkenswert sauber.« Lag dem unbekannten Verfasser der Pressemitteilung nur der wissenschaftliche Erkenntnisgewinn am Herzen, oder verfolgte er beim Schreiben pragmatischere Motive? Allerdings ist es vielleicht gar nicht so erwähnenswert, dass sich auf den Uni-Fußböden kaum Bakterien finden ließen, denn Bakterien mögen es gern feucht und warm, da kann es durchaus sein, dass sie sich auf kalten, trockenen Uni-Böden einfach schlecht vermehren.)
Um die Frage mit Gewissheit beantworten zu können, ob Lebensmittel nach fünf Sekunden auf dem Fußboden mit Bakterien kontaminiert sind, fehlen in der Untersuchung von Jillian Clarke ohnehin Angaben darüber, wie viele Bakterien genau auf die Kekse und Gummibärchen übergegangen sind – Details, die entscheidend sein könnten. Dafür wird aber noch eine Umfrage mitgeliefert, die die Schülerin unter Studenten gemacht hat. Ihr zufolge kennen 70 Prozent der Frauen und 56 Prozent der Männer die Fünf-Sekunden-Regel, und die meisten wenden sie auch an, wenn ihnen Essen auf den Boden fällt. Frauen essen außerdem eher etwas Aufgehobenes als Männer, und generell heben Menschen lieber Süßigkeiten vom Boden auf als Blumenkohl und Brokkoli – was wohl niemanden überrascht.
Etwa zehn Jahre später, im Jahr 2014, haben sich Biologiestudenten aus Birmingham ebenfalls mit der Fünf-Sekunden-Regel beschäftigt. Mit Fragebögen haben sie überprüft, wie Menschen zum Thema »Essen vom Boden« stehen (von den rund 500 Befragten gaben 87 Prozent an, sie höben heruntergefallene Nahrungsmittel auf und äßen sie noch; die meisten Frauen darunter verrieten außerdem, sie befolgten dabei die Fünf-Sekunden-Regel). Vor allem haben die Studenten aber in einem Experiment untersucht, wie gut Bakterien vom Fußboden auf Nahrungsmittel übergehen, und sich dafür konkret zwei handelsübliche Bakterienarten vorgenommen: Escherichia coli (die unter Wissenschaftlern berühmten Darmbakterien, mit denen auch schon die amerikanische Schülerin experimentiert hat) und Staphylococcus aureus (Bakterien, die auf unserer Haut leben und auch sonst praktisch überall vorkommen; sie verursachen in der Regel keine Krankheitssymptome, können manchmal aber doch für Furunkel, Lungenentzündungen, Herzentzündungen oder Blutvergiftungen sorgen).
Die Studenten haben die Bakterien auf verschiedene Fußböden geschmiert – auf Teppich, Laminat und Kacheln – und gezählt, wie viele von ihnen es nach drei und nach 30 Sekunden geschafft hatten, auf Toast, Nudeln, Kekse und klebrige Süßigkeiten zu klettern, die zuvor auf dem Fußboden verteilt worden waren. Bei diesen Experimenten zeigte sich, dass es tatsächlich von der Zeit abhängt, wie viele Bakterien vom Fußboden auf Nahrungsmittel übergehen: Nach drei Sekunden waren weniger Bakterien auf dem Essen zu finden als nach 30 Sekunden. Die Studenten haben auch herausgefunden, dass es vor allem eine Frage der Fußbodenart ist, wie viele Bakterien aufs Essen springen: Auf glatten Oberflächen wie Laminat und Kacheln haben es Bakterien leicht, auf Teppich hingegen tun sie sich schwer.
Also stimmt die Fünf-Sekunden-Regel doch? Leider konnten auch die britischen Studenten mit ihrer Untersuchung keine verlässliche Antwort liefern, denn auch sie ist nicht in einem Fachjournal, sondern lediglich als Pressemitteilung der Aston University erschienen (allerdings fehlen in dieser Mitteilung Schilderungen über die Vorzüge des universitären Fußbodens).
Es war also höchste Zeit, dass die Frage, wie schnell Bakterien vom Fußboden aufs Essen springen, wissenschaftlich fundiert und ohne Zweifel geklärt wird. Das haben im Jahr 2016 die Mikrobiologen Robyn Miranda und Donald Schaffner von der Rutgers University in New Jersey getan, und dieses Mal ist die Studie nicht bloß von der hauseigenen Pressestelle präsentiert worden, sondern im Fachmagazin Applied and Environmental Microbiology erschienen, das von der Amerikanischen Gesellschaft für Mikrobiologie herausgegeben wird. Die Mikrobiologen kommen in ihrer Studie zu dem Schluss: Die Fünf-Sekunden-Regel ist falsch.
Miranda und Schaffner gingen nach dem bewährten Rezept vor: Sie beschmierten Fußböden mit Bakterien, ließen Essen herunterfallen und zählten nach bestimmten Wartezeiten nach, wie viele Bakterien sich inzwischen auf dem Essen tummelten. Die Mikrobiologen wählten für ihre Experimente die Bakterienart Klebsiella aerogenes, eine harmlose Verwandte der Salmonellen, und sie schmierten sie auf Stahl, Keramikfliesen, Holz und Teppichboden. Auf diese vier kontaminierten Fußböden ließen sie dann Wassermelonenstücke, Brot, Brot mit Butter und Weingummi fallen. Nun hoben die Wissenschaftler die heruntergeworfene Nahrung wieder auf – manchmal sofort, manchmal nach fünf Sekunden, in einigen Durchläufen nach 30 Sekunden und in anderen auch erst nach fünf Minuten – und untersuchten sie im Labor auf Bakterien. Jedes Experiment wiederholten sie mehrfach, sie waren also vermutlich eine ganze Weile damit beschäftigt, Essen aufzuheben – ganz wie junge Eltern.
Miranda und Schaffner fanden heraus, dass beim Bakterientransfer auf heruntergefallenes Essen alles eine Rolle spielen kann: die Art des Essens, die Liegedauer auf dem Fußboden und auch dessen Beschaffenheit. Eine einfache Regel, die alle Fälle abdeckt, gibt es nicht. Die Wissenschaftler schließen aus ihren Messungen zwar, dass die Bakterienwanderung vom Fußboden auf die Speisen umso größer ist, je länger die Speisen dort liegen, bei der Wassermelone ist es jedoch so, dass sie praktisch sofort mit der vollen Dosis Bakterien belegt ist, sobald sie auf dem Boden ankommt, da braucht es gar keine Wartezeit mehr. Das liegt daran, dass die Wassermelone eine feuchte Oberfläche hat, auf der erstens Bakterien besonders gut vorankommen und die sich zweitens eng an den Untergrund anschmiegt. Die Bakterien schwimmen praktisch bereits auf dem gesamten Melonenstück herum, kaum dass es den Boden berührt hat; kein Bakterium ist so höflich oder träge und wartet fünf Sekunden. Die Regel ist also Unsinn, wie dieser Fall zeigt.
Brot beklettern Bakterien übrigens etwas gemächlicher, egal ob mit Butter oder ohne, und Gummibärchen am langsamsten. Außerdem konnten Robyn Miranda und Donald Schaffner mit ihrer Untersuchung bestätigen, was schon die Studenten aus Birmingham erkannt hatten: Der beste Fußboden, um davon Essen aufzuheben, ist erstaunlicherweise Teppich. (Wenn Sie sich einen neuen Küchenfußboden aussuchen, sollten sie diese wissenschaftliche Erkenntnis vielleicht in die Entscheidung mit einfließen lassen.) Teppich klingt zwar besonders unhygienisch, geradezu wie eine Bakterienschleuder, aber Bakterien versickern regelrecht in seinen rauen, unebenen Fasern und bleiben in ihm hängen.
Eine Studie aus dem Jahr 2007 kommt zu einem ähnlichen Ergebnis: Fällt einem eine Scheibe Mortadella auf den Teppich, ist sie dadurch weniger bakterienbelastet, als wenn sie auf einem Holzboden landet. Guten Appetit!
Ist es nun unbedenklich für ein Baby, wenn man ihm einen Keks, der nur ein paar Sekunden auf dem Boden gelegen hat, wieder in den Mund steckt? Die Wissenschaft sagt: Nein! Erstens ist die Fünf-Sekunden-Regel ein Mythos, sie ist Unsinn, man darf ihr nicht vertrauen. Denn Bakterien schauen nicht auf die Uhr. Zweitens ist es eine ganz andere Frage, ob das Nahrungsmittel, das auf dem Boden gelandet ist, krank macht, denn es kommt natürlich auf den Boden beziehungsweise die Bakterien an, die sich dort herumdrücken. Mit manchen wird unser Körper ganz gut fertig, bei anderen reichen schon einige wenige für einen beeindruckenden Durchfall, für Fieber, eine fiese Entzündung oder gar eine Vergiftung. In der U-Bahn oder auf der Bahnhofstoilette würde ich zum Beispiel dringend davon abraten, ein heruntergefallenes Stück Mandarine aufzuheben und dem Kind zurückzugeben, egal wie lange es auf dem Boden gelegen hat.
Wenn Sie auf Teufel komm raus eine Regel brauchen, die kurz und praktisch ist und die immer gilt, kann ich Ihnen höchstens eine »Null-Sekunden-Regel« anbieten: Im Zweifelsfall sollten Sie nichts essen, was länger als null Sekunden auf dem Boden gelegen hat. Denn wie die Wassermelone zeigt, können auf den Boden gefallene Speisen schon in Bruchteilen einer Sekunde mit Bakterien übersät sein. Wenn Sie die Null-Sekunden-Regel doof finden, müssen Sie sich wohl oder übel auf Ihren Menschenverstand verlassen, der Ihnen vermutlich sagt: trockener Keks auf sauberem Boden im eigenen Wohnzimmer – wahrscheinlich okay; glitschiges Mangostück auf dem Boden des Toilettenwagens auf der Kirmes – lieber nicht.
Dreck ist allerdings nicht immer nur ungesund. Kinder, die auf einem Bauernhof aufwachsen und dort mit Matsch, Bakterien, Viren und Würmern in Kontakt kommen, erkranken seltener an Allergien. Woran das liegen kann und was das Ganze mit Schnullern zu tun hat, verrate ich Ihnen im Kapitel »Gesunde Spucke«.
Die Mikrobiologen aus New Jersey waren 2016 übrigens nicht die ersten Wissenschaftler, die der Frage nachgegangen sind, wie Bakterien von Oberflächen auf Nahrung übergehen. Das wäre auch bizarr, schließlich ist es eine Frage, die unsere Gesundheit und unser tägliches Leben betrifft, und so gibt es zahlreiche ältere Studien darüber, wie sich Bakterien auf Oberflächen tummeln und wie sie von dort abwandern. Ein Artikel aus dem Jahr 2013 trägt zum Beispiel den spannenden Titel »Bewertung der Transferraten von Salmonellen und Escherichia coli zwischen frisch geschnittenem Obst und Gemüse und üblichen Küchenoberflächen«, und einer von 2003 heißt »Transfer von Salmonellen und Campylobacter von rostfreiem Stahl auf Romana-Salat«. Das macht neugierig, oder?
Die Mikrobiologen aus New Jersey schreiben in ihrem Artikel, viele dieser Arbeiten kämen zu unterschiedlichen Ergebnissen. Das klingt für Nichtwissenschaftler erst mal komisch, aber in der Wissenschaft ist das Alltag: Oft kann man Studienergebnisse nur schwer miteinander vergleichen, weil die Studien unterschiedlich durchgeführt wurden und sich in irgendwelchen Details unterscheiden. Bei den Experimenten über die Wanderlust von Bakterien gab es zum Beispiel unterschiedliche Bodenmaterialien und unterschiedliche Nahrungsmittel, die fallen gelassen wurden, es gab verschieden lange Kontaktzeiten und verschiedene Arten, die Bakterien auf den Fußboden aufzubringen, manche Nahrungsmittel wurden auf dem Boden angedrückt, andere nicht, und es spielt natürlich auch eine Rolle, wie oft die Experimente wiederholt wurden, wie die Bakterienwanderung auf die Nahrungsmittel überhaupt gemessen wurde und wie die Daten statistisch ausgewertet wurden. Bei diesen vielen Unterschieden ist es wirklich schwer, Studien miteinander zu vergleichen. Das ist blöd (das finden auch Wissenschaftler), aber man kann es nicht ändern.
Die Untersuchung der Mikrobiologen aus New Jersey hatte ergeben, dass die Fünf-Sekunden-Regel nicht stimmt. Aber woher kommt die Regel dann? Irgendwer muss sie doch mal erfunden haben? Dem US-amerikanischen Lebensmittelwissenschaftler Paul Dawson zufolge wird die Regel manchmal dem mongolischen Herrscher Dschingis Khan zugeschrieben, der im 13. Jahrhundert weite Teile Zentralasiens eroberte. Er soll eine »Khan-Regel« für Festessen mit seinen Generälen eingeführt haben, die lautete: Wenn Essen auf den Boden fällt, kann es dort so lange liegen bleiben, wie Khan es erlaubt. Offenbar war er nicht zimperlich in Fragen der Hygiene.
Dschingis Khan hat sich übrigens nicht nur für Hygiene und Eroberungen interessiert, sondern auch für Kinder – zumindest für deren Zeugung. Auch seine zahlreichen Söhne und Enkel waren in der Hinsicht fleißig, sodass heutzutage nach Schätzungen etwa 16 Millionen männliche Nachfahren von Dschingis Khan leben. Die Schätzungen sind jedoch umstritten. Man weiß zwar, dass etwa 8 Prozent der Männer zwischen Nordost-China und Usbekistan – besagte 16 Millionen – ein bestimmtes genetisches Merkmal im Y-Chromosom tragen, das etwa auf die Zeit von Dschingis Khan zurückgeht, es ist also durchaus plausibel, diese Tatsache damit zu erklären, dass Khan und seine Söhne für die krasse Verbreitung des Merkmals in Asien gesorgt haben; um die Frage abschließend zu klären, ist aber noch weitere Forschung nötig.
Es mag auch sein, schildert Dawson in einem Artikel, dass die bekannte Fernsehköchin und Kochbuchautorin Julia Child etwas zur Entstehung der Fünf-Sekunden-Regel beigetragen hat. Angeblich soll ihr bei einer Fernsehsendung einmal ein Stück Lamm auf den Fußboden gefallen sein, und sie soll daraufhin zu den Zuschauern gesagt haben: »Wenn man allein in der Küche ist, wird es keiner der Gäste erfahren!« Die Anekdote gibt es wohl auch noch in einer Variante mit Huhn und einer weiteren mit Truthahn, in Wahrheit war es aber wohl so, dass Child nur ein Kartoffelpuffer auf die Herdplatte gefallen ist und sie ihn zurück in die Pfanne gelegt hat.
Besitzen Babys einen Tauchreflex?
Babyschwimmen gilt unter jungen Eltern als hip. Meine Frau und ich haben uns also gefragt, ob auch wir zum Babyschwimmen gehen sollten – also nicht nur wir beide, sondern wir mit unserer Tochter, die damals fünf Monate alt war. Um ein Bild von einer solchen Veranstaltung zu bekommen und eine Entscheidung treffen zu können, haben wir uns im Internet Werbevideos von entsprechenden Anbietern angesehen. In den Videos wurde behauptet: Babyschwimmen fördert die Motorik, stärkt die Eltern-Kind-Bindung, macht den kleinen Schwimmern Spaß und schenkt ihnen Selbstvertrauen. In einem Video fiel sogar das Wort »Wundertraining«. Das klang erst einmal nicht verkehrt.
In den Werbefilmen wurde auch gezeigt, wie so ein Babyschwimmen abläuft. Wir sahen Mütter und Babys im Schwimmbecken, hin und wieder war auch ein Quoten-Vater im Bild. Die Mütter schwenkten die Babys durchs Wasser, begossen sie aus kleinen Gießkannen, hielten sie in einer Art Schaufelgriff und stimmten dabei fröhliche Kinderlieder an. Die Babys reagierten unterschiedlich auf diese Bemühungen: Sie sahen zum Teil fidel, zum Teil aber auch reichlich desinteressiert aus. (Eine solch lahme Reaktion auf eine besondere Freizeitgestaltung erwarten die meisten frischgebackenen Eltern wohl erst in der Pubertät, aber auch Babys haben es hin und wieder schon ganz gut drauf, sich absolut unbeeindruckt zu zeigen.) So weit machte auch das einen guten Eindruck. Dann aber sahen wir, wie einige Mütter ihr Kind energisch unter Wasser tauchten und erst einen beängstigend langen Moment warteten, bevor sie es wieder heraushoben und Luft holen ließen. Eine Unterwasserkamera zeigte, wie die Babys dabei aussahen: Sie rissen überrascht, um nicht zu sagen geschockt, die Augen auf.
Die Bilder stimmten mich skeptisch, und ich fragte mich: Kann ich sicher sein, dass mein Baby eine solche Veranstaltung unbeschadet übersteht? Dass es tatsächlich die Luft anhält, wenn ich es untertauche? Dass es keinen traumatisierenden Schock erleidet? Ich erinnerte mich an Freibadbesuche während meiner Schulzeit, bei denen mich Rabauken unter Wasser drückten und ich die Luft anhielt, bis ich zu ersticken glaubte. Sollte ich so etwas meinem Kind wirklich antun? Und dafür auch noch eine Kursgebühr zahlen?
Andererseits hatte ich gehört, dass sich Babys sehr gern im Wasser aufhalten, schließlich sind sie ja neun Monate lang im Fruchtwasser geschwommen, kennen den Aufenthalt unter Wasser also aus dem Mutterleib. Da war was dran.
Wie alle Eltern möchte auch ich natürlich das Beste für mein Kind, und wenn ich dabei auch noch hip sein kann, umso besser! Ich dachte an Nirvana und ihr weltberühmtes Album »Nevermind«, dessen Cover ein tauchendes und dabei keineswegs unzufrieden aussehendes Baby zeigt. Dem Nirvana-Baby schien es unter Wasser zu gefallen. Trotzdem, ein Rest Angst blieb. Es lief alles auf die eine Frage heraus: Besitzen Babys wirklich einen Tauchreflex?
Wenn Wissenschaftler nicht wissen, wie sich etwas unter bestimmten Umständen verhält, machen sie typischerweise ein Experiment. Auch mir stand diese Möglichkeit offen, alle nötigen Experimentierutensilien wären beim Babyschwimmen ja vorhanden: Wasser und Baby. (Zur Not würde ich es einfach mit einem anderen Baby ausprobieren.) Aber war ich wirklich so sehr Punk? Zum Glück war ich nicht der Erste, der sich gefragt hat, ob man Babys wirklich gefahrlos unter Wasser tauchen kann. Diese Frage haben sich auch schon viele Wissenschaftler gestellt, und was sie herausgefunden haben, ist faszinierend. Wenn Babys unter Wasser getaucht werden, zeigen sie nicht nur bloß einen Tauchreflex, sondern gleich eine ganze Palette an Reaktionen: Der Atem setzt aus, der Herzschlag verlangsamt sich, Blutgefäße werden enger, die Milz zieht sich zusammen, und der Kehlkopf verschließt sich.
Wenn Experten vom Tauchreflex sprechen, meinen sie damit in erster Linie allerdings oft nur den Effekt, dass sich der Herzschlag verlangsamt. Das ist übrigens nicht nur bei Babys so: Um 1870 fand der französische Mediziner Paul Bert heraus, dass bei Enten, die den Kopf ins Wasser tauchen, der Puls sinkt. (Was man eben so entdeckt, wenn man sich für die Welt interessiert.)
Paul Bert fand auch heraus, warum es für Taucher gefährlich ist, wenn sie zu schnell wieder auftauchen: Beim Abtauchen wird mehr und mehr Stickstoff in ihrem Blut gelöst, der, wenn sie zu schnell an die Wasseroberfläche zurückkehren, in der Blutbahn Bläschen bilden kann; diese Bläschen können die Blutversorgung unterbrechen. Außerdem fand Bert heraus, dass das, was Ballonfahrern in großer Höhe zu schaffen macht, nicht etwa der geringe Luftdruck ist, sondern der wenige Sauerstoff in der Luft. Und er entdeckte auch, was es bedeutet, wenn das Gegenteil der Fall ist: Zu viel Sauerstoff in der Luft führt zu einer Sauerstoffvergiftung – mit Übelkeit, Ohrgeräuschen, Fieber, Erregungszuständen, Angst und Verwirrung. Diesen Effekt nennt man dem Forscher zu Ehren übrigens den Paul-Bert-Effekt. So ist das mit der Ehre in der Medizin.
Das Absinken des Pulses unter Wasser geschieht automatisch, es ist ein Reflex. Er tritt auch bei Säugetieren auf, insbesondere also bei Menschen und da ganz besonders bei sehr jungen Menschen, sprich: bei Babys. Schwedische Kinderärzte haben in einem Experiment ermittelt, dass der Herzschlag eines Babys unter Wasser innerhalb weniger Sekunden deutlich absinkt, von durchschnittlich etwa 140 Schlägen pro Minute auf etwa 105 Schläge. Anders ausgedrückt: Unter Wasser schlägt ein Babyherz plötzlich 25 Prozent langsamer. Die Studie zeigt auch, dass es vom Alter des Babys abhängt, wie stark der Herzschlag zurückgefahren wird: Je jünger die Babys waren, desto schneller und heftiger sank ihr Herzschlag ab.
Das Absinken des Herzschlags um 35 Schläge pro Minute, um besagte 25 Prozent, klingt zwar dramatisch, erst recht für die Eltern, ist aber nichts Rekordverdächtiges. Wenn man sich in der Tierwelt umsieht, stellt man fest, dass sich der Tauchreflex bei Lebewesen, die häufiger, tiefer und länger tauchen als das durchschnittliche Baby, noch viel krasser zeigt. Bei tauchenden Robben zum Beispiel verlangsamt sich der Herzschlag auf bis zu zehn Schläge pro Minute. Robben tauchen eben sehr oft und sehr lange, sie sind praktisch permanent im Training. Spannenderweise schaffen es auch Menschen, ihren Herzschlag überdurchschnittlich stark zu drosseln, allerdings nur durch intensive Übung: Erfahrene Apnoetaucher, die ohne Tauchgerät in die Tiefe gleiten und unter Wasser die Luft anhalten, können Werte von unter 20 Schläge pro Minute erreichen; das Herz schlägt dann also nur noch alle drei Sekunden. Ich würde mich bei so einem Puls vermutlich für tot halten.
Wenn wir unter Wasser tauchen, schlägt nicht nur unser Herz langsamer, der Körper zeigt, wie gesagt, auch noch ein paar andere automatische Reaktionen. Zum einen ändert sich die Blutverteilung: Die Gefäße verengen sich, das Blut weicht aus Fingern und Zehen zurück und konzentriert sich auf Kopf und Torso, sodass mehr Blut und damit mehr Sauerstoff für die wichtigen Teile zur Verfügung steht: für Herz, Lunge und Gehirn. (Ich finde, das ist durchaus vertretbar. Würden Sie im Zweifelsfall nicht auch lieber auf einen Finger verzichten als auf ein Gehirn?)
Dass sich beim Tauchen das Blut aus den Beinen zurückzieht und im Torso sammelt, hat zum Teil physikalische Gründe. An Land versackt eine ordentliche Portion Blut unten in den Beinen. Beim Tauchen jedoch wirkt der Wasserdruck diesem Absacken entgegen; man kann sagen, er presst die Venen zusammen und drückt das Blut, das sich in ihnen versteckt, heraus. So kommt ein stattlicher Schwall aus den Beinen hoch, manchmal bis zu einem Liter. Das hat interessante Folgen. In den Vorhöfen des Herzens, wo sich das zum Herzen fließende Blut sammelt, bevor es Schluck für Schluck in die Herzkammern übergeben und von da aus durch den ganzen Körper gepumpt wird, sitzen Sensoren, die den Flüssigkeitshaushalt des Körpers überwachen. Diese Sensoren schlagen jetzt Alarm, weil es in den Vorhöfen viel voller als sonst ist und sie glauben, der Körper hätte zu viel Flüssigkeit und müsste dringend etwas davon abgeben. Die Sensoren starten also eine dazu geeignete Maßnahme, und es setzt ein heftiger Harndrang ein. Fachleute sprechen von der Taucherdiurese; unter Tauchern selbst ist der Effekt als »Taucherheizung« bekannt, schließlich kann es tief unten im kalten Wasser durchaus angenehm sein, wenn es plötzlich schön warm am Oberschenkel wird. Fachleute können den Vorgang übrigens in einer Art beschreiben, dass er gar nicht so eklig, sondern richtig beeindruckend klingt, zum Beispiel so: Der Effekt der Taucherdiurese ist die Folge einer durch Vorhofdehnung bedingten Freisetzung des unmittelbar diuretisch wirkenden atrialen natriuretischen Peptids bei gleichzeitiger Hemmung der Freisetzung von Adiuretin, was zu einer Erhöhung der glomerulären Filtrationsrate mit erhöhter Natriurese und Wasserdiurese führt.
Darüber hinaus zieht sich auch die Milz zusammen und speist rote Blutkörperchen in den Kreislauf ein, wodurch das Blut mehr Sauerstoff transportieren kann, was überaus praktisch ist, denn unter Wasser ist Sauerstoff für uns, die wir nur mit der Lunge atmen können, Mangelware.
Was die Milz und das Herz ihres Babys tun, ist zwar spannend, aber wohl nicht die drängendste Frage, die junge Eltern am Beckenrand umtreibt, sie wollen viel eher wissen: Kann ich mich darauf verlassen, dass mein Kind unter Wasser die Luft anhält? Die beruhigende Antwort ist: Ja, das können sie. Babys hören automatisch auf zu atmen und sich zu bewegen, wenn ihr Gesicht nass wird. Auch diesen Reflex nennt man Tauchreflex; wer es präziser mag, spricht allerdings vom Atemschutzreflex.
Der Atemschutzreflex wird bei Babys übrigens nicht nur unter Wasser ausgelöst, sondern auch schon dadurch, dass man ihnen ins Gesicht pustet. Deshalb kann es helfen, einem schreienden Kind kräftig ins Gesicht zu pusten: Der Atemschutzreflex setzt ein, das Kind hält für einen Moment die Luft an, hört auf zu weinen – und wenn es gut läuft, fängt es danach nicht wieder an.
Leider verschwindet der Reflex nach einiger Zeit. Brasilianische Wissenschaftler haben 33 Kinder zwischen einem und zwölf Monaten untersucht und dabei festgestellt, dass der Atemschutzreflex ab dem sechsten Lebensmonat abnimmt. Bei den meisten Einjährigen ist er zwar noch zu beobachten, irgendwann aber verschwunden. (Es bringt also leider nichts, einem dreijährigen Kind bei einem Tobsuchtsanfall mit aufgeblasenen Backen ins Gesicht zu pusten.) Erwachsene besitzen den Atemschutzreflex gar nicht mehr. So ist in der gängigen Fachliteratur auch nichts darüber zu finden, was Erwachsene erleben, wenn man ihnen ins Gesicht pustet. (Wenn ich raten sollte, würde ich auf Ekel oder Ärger setzen. Man sollte vielleicht einmal Rocksänger oder Teilnehmer des Eurovision Song Contest fragen, die sich gern von Windmaschinen anblasen lassen, damit ihre Frisur verwegen flattert. Probleme mit der Atmung scheinen sie jedenfalls nicht zu haben.)
Aber zurück zu den untergetauchten Babys. Bei ihnen zeigt sich vermutlich noch ein weiterer Reflex (Fachleute sind sich da nicht ganz einig), der sogenannte Stimmritzenreflex. Er verschließt die Lücke zwischen den Stimmlippen im Kehlkopf, die sogenannte Stimmritze, und schützt die Babys so davor, Wasser einzuatmen. Der Reflex macht generell die Schotten dicht, wenn eine Flüssigkeit ankommt – ob Wasser, Speichel oder Blut –, denn der Kehlkopf ist dafür der falsche Eingang. Es kann bei Kindern auch zu einem Stimmritzenkrampf kommen, wenn sie im Krankenhaus narkotisiert werden. Es ist eine Nebenwirkung bestimmter Narkose-Medikamente. (Falls Sie sich pharmazeutisch interessieren: Die Rede ist vom Arzneistoff Ketamin. Falls Sie sich sehr pharmazeutisch interessieren: Sie kennen ihn vielleicht, er wird unter dem Namen »Special K« gern als Droge eingenommen und ist in Großbritannien in die zweitgefährlichste Rauschgift-Klasse eingestuft worden.)
Bei Babys läuft also ein beeindruckendes Notfall-Programm ab, wenn sie unter Wasser geraten. Sämtliche Reaktionen geschehen automatisch und werden durch Sensoren im Gesicht ausgelöst, die auf Kühle und Nässe ansprechen. Diese Sensoren sind Sinneszellen, die zu einem bestimmten Nerv gehören, der im Gehirn beginnt und sich im Gesicht in drei Äste aufteilt, weshalb er Trigeminus oder auch Drillingsnerv genannt wird.
Der erste Ast des Drillingsnervs läuft über den Augen zur Stirn, der zweite biegt darunter zum Oberkiefer ab, der dritte führt ganz nach unten zum Unterkiefer. Wir haben also praktisch überall im Gesicht Feuchtigkeitssensoren. Deshalb fallen die Tauchreflexe bei Menschen, die eine Tauchermaske tragen, auch schwächer aus: Die Maske verdeckt die Sensoren – wie bei einem Scheibenwischer am Auto, bei dem ein Blatt auf dem Regensensor klebt.
Es ist ziemlich unpraktisch, dass das Wort »Tauchreflex« so viele unterschiedliche Dinge bezeichnet, die passieren, wenn ein Baby unter Wasser gerät: die Verlangsamung des Herzschlags, die Verengung von Blutgefäßen, das Zusammenziehen der Milz, das Luftanhalten oder den Verschluss des Kehlkopfs. Wenn man sich über Details unterhalten möchte, muss man sich also immer erst einmal darüber verständigen, um welche Reaktion es gerade genau geht. Es gibt dabei zwei Möglichkeiten: Entweder sagt man einfach das, was es ist, oder man benutzt schicke Fachwörter, die einiges hermachen, weil sie dem Lateinischen und/oder Griechischen entlehnt sind, letztlich aber das Gleiche bedeuten: Bradykardie (langsamer Herzschlag), Vasokonstriktion (Verengen von Blutgefäßen), Milzkontraktion (Zusammenziehen der Milz – der ist einfach), Apnoe (Luftanhalten) und Laryngospasmus (Verschluss des Kehlkopfs).
Dass ein Baby diese Palette an automatischen Reaktionen abfährt, sobald es unter Wasser gerät, bedeutet allerdings nicht, dass es nicht ertrinken kann. Tauchreflexe sind kein Tauchschein! Was ein Baby unter Wasser macht, sieht zwar so aus wie Schwimmen, ist es aber nicht; es sind lediglich reflexartige Bewegungen. Babys können nicht schwimmen, ihnen fehlen dazu die Koordinationsfähigkeit und die Muskelkraft, sie können ja nicht mal sitzen. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Mehr Sicherheit für Kinder