Mein Weg im Himalaya - Pearl Hong Chen - E-Book

Mein Weg im Himalaya E-Book

Pearl Hong Chen

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Beschreibung

Trekking, das ist Verbundenheit mit der Natur, ein tiefes Atmen, eine Lebensform, das ist ein Gefühl der Freiheit und Ungebundenheit des Körpers und der Sinne. Jeder Mensch kann dies erleben, wenn er nur seinen natürlichen Instinkten folgt. Früher war die Autorin eine verweichlichte Stubenhockerin, eine verdorbene Genusssüchtige der Großstadt, abhängig von bequemen Verkehrsmitteln, sie mochte Komfort und Luxus. Tausend Kilometer wandern im Himalaya, eineinhalb Millionen Schritte, das entspricht 113-mal der Höhe des Mount Everest. Sie hätte es nie für möglich gehalten, auf ihren eigenen Beinen auf das Dach der Welt zu gelangen. Nicht wenige Leser fragen, woher hat sie die Kraft genommen, diese epische Himalaya-Wanderung zu unternehmen. Sie sagt: "Wenn ich darüber nachdenke, ich bin einfach den ersten Schritt gegangen, und dann den zweiten, und dann noch einen und noch einen, bis ich schließlich am Ziel angekommen bin." Für Outdoor-Enthusiasten ist Nepal, ist der Himalaya das ultimative Traumziel. Und sicher möchte jede(r) Nepal-Reisende tiefer eintauchen, mehr erfahren über diese einzigartige Ver-schmelzung von extremer Bergwelt und mystischer Kultur, möchte mehr erfahren, als im Reiseführer steht. In Ihrem Reisebericht beschreibt die chinesische Schriftstellerin Hong Chen ihre abenteuerlichen Wanderungen am Südhang des Himalayas, ausdrucksstark schildert sie die faszinierende Bergwelt, dass dem Leser und der Leserin die schneebedeckten Gipfel vor dem inneren Auge erscheinen. Dabei ist die Autorin nie eine Heldin, sondern schildert realistisch und mit viel Selbstironie ihre Erschöpfung und wiederholte Höhenkrankheit. Gleichzeitig baut sie sehr gründlich recherchierte Informationen ein, über Kultur und Geschichte, Geografie, Flora und Fauna. Spätestens am Ende des Buches, wenn das Fernweh zu stark wird, dann gibt es nur noch eins: den Rucksack packen und aufbrechen, aufbrechen aufs Dach der Welt. Lass den Himalaya, lass Nepal dich verändern.

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Für den ersten Schritt brauchst du keinen Mut

Wandern, das ist ein Zustand, eine Haltung, ein tiefes Atmen, eine Lebensform, das ist ein Gefühl der Freiheit und Ungebundenheit des Körpers und der Sinne. Jeder Mensch kann dies erleben, wenn er nur seinen natürlichen Instinkten folgt.

Früher war ich eine verweichlichte Stubenhockerin, eine verdorbene Genusssüchtige der Großstadt, abhängig von bequemen Verkehrsmitteln, ich mochte Komfort und Luxus. Tausend Kilometer wandern im Himalaya, eineinhalb Millionen Schritte, das entspricht 113-mal der Höhe des Mount Everest. Ich hätte es nie für möglich gehalten, selbst bis auf das Dach der Welt zu klettern. Nicht wenige Leser fragen mich, woher habe ich die Kraft genommen, diese epische Himalaya-Wanderung zu unternehmen. Wenn ich darüber nachdenke, ich bin einfach den ersten Schritt gegangen, und dann den zweiten, und dann noch einen und noch einen, bis ich schließlich am Ziel angekommen bin.

Über Berge und durch Täler zu wandern, die Welt zu sehen, das ist zeitlose Romantik. Trekking zu den Polen, zum Mount Everest, dabei geht es nicht mehr nur darum an ein bestimmtes Ziel zu kommen, es ist die Suche nach einer neuen, unbeschreiblich vielfältigen Lebensweise. Unsere Welt ist unendlich groß, kaum jemand schafft es zu allen seinen Traumzielen. Aber wenn Du aus der vertrauten Umgebung ausbrechen, ein anderes Leben leben, wenn Du die Leichtigkeit der Seele spüren willst, dann pack jetzt den Rucksack und zieh los!

Ja, so ist es, für den ersten Schritt braucht man keinen Mut. Um die Welt zu verändern, braucht es zehntausend Jahre. Dich selbst zu verändern, damit kann Du morgen schon loslegen.

Inhalt

Für den ersten Schritt brauchst du keinen Mut

Einmal im Leben, Trekking im Himalaya, auf dem Dach der Welt

Mit Blumen im Haar auf dem Weg nach Phokara

Ein weiblicher Wandervogel

Hauptstadt der Hippies

Paradies der Trekker

Göttin Annapurna

Im Schatten des Todes

Eine Vergiftung

Die Stille der Natur

Bergpfade

Vertikale Grenzen

Der Glanz des Fischschwanz-Berges

Vollmond

Die Bedeutung der Stille

Natürliche Schönheit

Unbegrenzte Freiheit

Einschub: Krank werden ist teuer

Pilgerreise nach Jomsom

Ich schwebe auf einer Lotusblume

Ein Leuchtturm in der Sonnenfinsternis

Vor mir liegt der Horizont

Auch Scherben brechen das Licht

Umherstreifen, das ist ein Lebensbedürfnis

Mit einem Schlagzeuger zum Mount Everest

Aufbruch, ein Gefühl jugendlicher Frische

In gemäßigten Höhen; blauer Himmel

In großen Höhen; seine Liebe gehört dir

Zurück nach Hause: Sei du selbst

Nachwort: Begegnungen

Über die Autorin

Einmal im Leben, Trekking im Himalaya, auf dem Dach der Welt

Jeder von uns braucht einmal einen Höhepunkt im Leben, muss einmal aus seiner Larve schlüpfen, muss dorthin gehen, wo die Schönheit nur noch in Superlativen zu beschreiben ist, muss auf eine Reise gehen, die Herz und Seele umkrempelt.

Bevor ich in den Himalaya reiste, wusste ich nicht, wo das tiefste Tal der Welt liegt, wo der schönste Berg zu finden ist, wohin die abenteuerlichsten Wanderwege der Welt führen. Ich wusste nur, wie der höchste Gipfel der Welt heißt und dass ihn einige verrückte Kletterer bezwungen hatten, aber ich hatte mir nicht vorstellen können eines Tages mit dieser Bergwelt eins zu werden.

Von den 14 Achttausendern auf der Welt liegen zehn im Himalaya. Vor 65 Millionen Jahren wurden Indien und Euroasien durch den gewaltigen blauen Ozean Neotethys getrennt. Indien im Süden und Euroasien im Norden prallten mit der Wucht eines Tsunamis aufeinander und verschmolzen miteinander, Himmel und Erde überschlugen sich, das Meer zog sich zurück, das jüngste und höchste Gebirgssystem der Welt faltete sich auf, der Himalaya.

Nepal liegt zwischen China und Indien, am Südrand des Himalayas (Landkarte: Hu Hong, Long Shengjie)

Die Größe des Himalayas entzieht sich jeglicher Vorstellungskraft, seine Länge entspricht dem Durchmesser Europas, von London bis nach Moskau. Der Hauptgebirgszug ist 2400 Kilometer lang und 200 bis 300 Kilometer breit, die meisten Bergriesen der Erde liegen hier, 40 Gipfel mehr als 7000 Meter hoch, auf der Welt gibt es nichts Vergleichbares. Der Himalaya versperrt den feuchten Luftmassen vom Indischen Ozean den Weg und bildet eine gigantische Klimascheide mit den feuchtwarmen Ländern Indien, Nepal und Bhutan im Süden und dem trocken-kalten tibetischen Plateau im Norden.

Seit Tausenden von Jahren hat der Himalaya das Leben der Völker geprägt, nirgendwo auf der Erde leben Menschen sonst in solch extremer Höhe. Die Pilger im antiken Indien nannten das Gebirge Hima (= Schnee) Alaya (= Heimat), daraus entstand in Sanskrit das Wort Himalaya. Den Mt. Everest nennen die Tibeter liebevoll Qomolangma, das bedeutet so viel wie Schneegöttin, auf Nepalesisch heißt er Sagarmatha, Göttin des Himmels. Diese Namen zeigen den Respekt, den die Menschen den Bergen zollen. Heute zieht der Himalaya Bergsteiger und Trekker aus der ganzen Welt an. Seit 1953 als Edmund Hillary und der Sherpa Tenzing Norgay als erste den Mt. Everest bestiegen, haben 40 Bergsteiger alle 14 Achttausender bezwungen und weit mehr als zehntausend Bergsteiger haben es zumindest auf einen Gipfel eines Achttausenders geschafft.

An der Südflanke des Himalayas liegt Nepal, das „großartige kleine Bergreich“. Die Fläche des Landes gleicht einem leicht verbogenen, langen Rechteck, 885 km in der Länge, nur 177 km breit. Auf der Landkarte sieht Nepal aus wie eine große Erbsenschote, dicht schmiegt es sich an den Himalaya an. Nepal hat den Namen „Land der Berge“ voll verdient, es hält eine Reihe Weltrekorde, 240 Berge über 6000 m konzentrieren sich hier, von den zehn höchsten Bergen der Welt liegen acht ganz oder teilweise in Nepal, darunter der höchste Berg der Welt, der Mt. Everest an der Grenze zwischen Nepal und China. Gerade wegen dieser geographischen Besonderheit, den hohen Bergen und tiefen Tälern, sind Bergsteigen und Trekking das Nonplusultra des Reisens in Nepal.

Stell dir vor, du wachst an einem sonnigen Morgen auf und vor dir ragen mehrere Achttausender in den Himmel. Du kannst auf dem Balkon einer Berghütte deinen ersten Kaffee schlürfen und abends das Mondlicht über einer glitzernden Schneelandschaft bewundern, was für ein Gefühl mag das sein? Gibt es auf der Welt etwas noch Schöneres? Nichts bewegt das Herz Abenteuerlustiger so sehr wie der Himalaya.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich in Europa der Alpinismus. Nachdem mit dem Mont Blanc (4810 m) der höchste Berg der Alpen bezwungen wurde, richtete sich der Blick auf den Himalaya als nächste Herausforderung. 1883 brach der Engländer W. W. Graham zu einer Expedition nach Nepal auf und bestieg den ersten Sechstausender. Nach dem zweiten Weltkrieg öffnete sich Nepal gegenüber dem Ausland, damit begann das goldene Zeitalter des Alpinismus im Himalaya. Von jeher erweckte der Ruf der Wildnis die Abenteuerlust der Menschen, beflügelte die Marco Polos von heute jeden Winkel der Erde zu erforschen, jeden Flecken Erde zu entdecken.

In den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts war ein gewaltiges Heer von Trägern und Sherpas erforderlich, um die Ausrüstung zu transportieren. Die Kolonnen zogen sich über Kilometer hin, manchmal kam das Ende des Zuges einen ganzen Tag später ans Ziel als die Spitze. Die englische Expedition zum Mt. Everest 1953 heuerte mehr als einhundert Träger an, allein um das Geld zu transportieren waren 12 Mann erforderlich. Hinter den wenigen, die es bis zum Gipfel schafften, stand ein großer Tross Helfer. Heute dagegen ist der Weg zum Basislager des Mt. Everest gut erschlossen und für jeden fitten Menschen zugänglich.

Nepal ist aber nicht nur das Traumland der Bergsteiger, es ist auch ein Paradies für normale Wanderer. Im Hochland Nepals gibt es keine Straßen, dieeinzige Möglichkeit vorwärtszukommen ist zu Fuß. Viele Wege und Pfade werden seit Jahrhunderten, gar seit Jahrtausenden benutzt. In den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde von Europäern in Nepal der Begriff „Trekking“ geprägt, seitdem hat sich diese Form des Bergwanderns als populäre Reiseform etabliert.

Trekking in Nepal, das bedeutet sich in die Prozessionszüge der Einheimischen einzureihen, entlang der Bergwege von einem Dorf zum nächsten zu wandern, einen stillen Berghang nach dem nächsten zu überwinden, immer weiter, bis hin zu den heiligen Gletschern und Schneegipfeln, bis zu den Basislagern der Bergriesen. Trekking bedeutet in die prächtigsten Sonnenauf- und -untergänge in der unvergleichbaren Berglandschaft einzutauchen, es bedeutet die bis ins Innerste gehende Stille des Himalayas zu genießen, es bedeutet eine einzigartige Herausforderung, eine einzigartige Erfahrung, ein Geschenk des Himmels.

Trekking, das ist keine Extremsportart wie Bergsteigen, sondern für die meisten gesunden Menschen geeignet. Über weite Strecken gehen Trekker und Bergsteiger auf den gleichen Bergpfaden, aber für die Trekker sind die einzigartige Landschaft und das besondere Kulturerlebnis eine ausreichende Motivation. Aber auch einige Trekker leisten Außergewöhnliches:

1983 wanderten die beiden englischen Brüder Klein in 100 Tagen 3200 Kilometer, überwanden 8400 Höhenmeter und 65 Pässe von Darjeeling bis nach Rawalpindi.

1996 trekkten die Franzosen Alexandre Poussin und Sylvain Tesson in 174 Tagen 5000 Kilometer, von Ost nach West einmal die ganze Länge des Himalayas entlang. Und das, nachdem sie vorher per Rad einmal um die Erde gefahren waren.

„Der Himalaya Bergzug ist die tollste Langstrecken-Wanderroute“. 2012 trekkte der bereits 51-jährige „Supersherpa“ Appa nachdem er bereits 21-mal erfolgreich den Mt. Everest bestiegen hatte, in 120 Tagen 1700 km durch den Himalaya.

Wanderer im Himalaya werden schnell feststellen, dass diese Gegend viel mehr zu bieten hat als nur extremes Bergsteigen: stille wunderschöne Dörfer, Unterkünfte im Stil der lokalen Ethnien, sanfte unberührte Hügel, Klöster, die zur Andacht einladen, wer eine reiche Phantasie hat, wird Yetis sehen ... Häufig trifft man auf Einheimische, die mit Maultierkarawanen oder als Träger Lastentransportieren. Alle zwei bis drei Stunden kommt man in kleine Dörfer, in denen es in Holzhütten Unterkunft und Verpflegung gibt, in Teehäusern oder auf Terrassen kann man Rast einzulegen.

Dein Sherpa Bergführer oder Gurung Träger wird dich loyal behüten, wird dein Gepäck bis zum Tempel am Fuß des Gletschers bringen. Selbst wenn du mehrere Wochen oder Monate unterwegs bist, brauchst du selbst kein Zelt, keinen Schlafsack oder Proviant mitzunehmen, es gibt wohl kein anderes Gebiet in der Welt, das so eine gute Infrastruktur für einen Wanderurlaub bietet – so ist es heute ohne weiteres möglich dem Weg der Erstbesteiger des Everest, Sir Hillary und Tanzeng, bis hin zum Basislager zu folgen.

In den Dörfern wirst du Bergbauern verschiedener Ethnien und ihre Familien treffen, ihre Bescheidenheit, Gastfreundschaft, Herzlichkeit und Humor, die vielen Festtage verschiedener Völker und Religionen werden dafür sorgen, dass deine Wanderung reichhaltig und vielseitig, entspannt und anregend wird. Auf dem Weg wirst du Trekker aus allen Ecken der Welt treffen, nie wirst du dich einsam fühlen. Du wirst merken, dass völlig fremde Menschen in dieser Umgebung wie Geschwister werden, mit gleichen Interessen und gemeinsamen Zielen, hier entwickelt sich eine Freundschaft und Hilfsbereitschaft, wie man sie sonst im Alltag nicht kennt. Je höher du steigst zu den Bergen und Hochwiesen, wenn die leuchtenden Felder abgelöst werden von dunklen Wäldern, reißenden Bergbächen und abgrundtiefen Tälern, wenn du in die Welt der Berge eintrittst, eine Welt, die sich ständig mit Zeit und Höhe verändert, wenn dein Mut, deine Kondition und Ausdauer, dein Wille und deine Weisheit immer mehr auf die Probe gestellt werden, dann wirst du feststellen, dass deine Seele reiner wird, aufsteigt, sich von allen Beschränkungen löst und zu schweben beginnt.

Im Himalaya können wir nahezu unbegrenzt in die Ferne blicken, am Horizont sehen wir unsere Vergangenheit und Zukunft, jeder Berg ist wie ein Buch, mit jeder neuen Seite verändert er sich, und wie die Pilger und Wandermönche brauchst du nur deine Beine, um diese großartige Poesie zu lesen.

Die Götter des Himalayas lächeln mir zu, jede Minute, jede Sekunde auf dem Weg erweckt in mir Lebensfreude und Energie. Beeindruckende Landschaften und vielfältige Farben gibt es auf der Welt ohne Ende, aber so ein tiefes Blau, das gibt es nur hier inmitten der Bergriesen, dieser Anblick ist einmalig.

Mein erster Gedanke

„Ich streife herum, endlos, der Lohn dafür ist die Freiheit, ein offenes Tor in die spirituelle Welt.“ Egal, was wir in der dunklen Sternennacht am Ufer des Lhasa-Flusses besitzen, was wir verlieren, was wir uns vorstellen, was wir vor uns hin summen; der Himalaya, nach dem ich mich sehne, der ist für mich nicht in Lhasa, nicht im Barkhor, nicht im Potala, nicht in Ngari.

Der ist auf dem Weg.

Mein zweiter Gedanke

Nepal war einmal das Traumland der Hippies. Ist das hier das Paradies? Das kann wohl niemand so genau sagen. Die Liebe zu diesem Land entsteht durch die Geräusche, die Glocken, durch ein Lachen, das aussieht, als wäre der Mund voller Blumen. Dieses Lachen wirkt auf die Stimmung, die seelische Verfassung eines Menschen, es verändert die Welt. Und ich lebe mittendrin.

Mein dritter Gedanke

Das Erlebnis einer Wanderung ist wie eine Liebe, sie kann das Leben eines Menschen von Grund auf ändern. Die Schönheit der Berge und Seen, die gewaltige Kraft der Natur, sie wühlt die Seele des Menschen auf, sie erzeugt Ehrfurcht im Innersten des Herzens, sie lässt mich voller Vertrauen alleine auf Wanderschaft gehen, sie lässt mich bescheiden und ohne Sorgen eins mit den Elementen der Natur werden, sie lässt mich das allerschönste Geheimnis des Lebens erfahren: wir haben zwar keine Flügel, aber wir können trotzdem fliegen.

1. Tag Ein weiblicher Wandervogel

Flugzeit 2 1/2 Stunden oder Landweg 7 Tage

Wenn es einen Ort in der Welt gibt, an den man immer wieder zurückkehren möchte, dann ist das Nepal, dann ist das der Himalaya.

„Hier ist Hong Chen, ich bin auf dem Weg nach Pokhara“.

Um zwei Uhr mittags habe ich in Lhasa mein Visum für Nepal abgeholt, die Sonne blendet gleißend vom tiefblauen Himmel, ich rufe per Handy meinen Freund Basanda in Pokhara an, auf der Südseite des Himalayas. Er ist dort Besitzer der Trekking-Agentur Annapurna.

Meine alte Heimat liegt ganz im Süden Chinas, dort fließt der Perlfluss, die ganze Region trägt seinen Namen, das Perlflussdelta. Ich bin eine Tochter des

Flusses. In seiner langsamen Strömung gedeihen unzählige Muscheln, wenn sich in ihnen kleinste Steinchen ablagern, werden sie von einer Perlmuttschicht umschlossen. Im Wasser reingewaschen, unter Sonnenlicht, werden daraus glänzend funkelnde Perlen.

Darum trage ich den Spitznamen „Pearl“, englisch für Perle. Buddha hat einmal unser Universum mit einem gigantischen Netz verglichen, an jedem Knoten sitzt eine Perle, die Oberfläche jeder Perle reflektiert das Licht rundherum in alle Richtungen, in jeder einzelnen Perle spiegeln sich alle anderen Perlen wider. Jetzt bei meiner Rückkehr nach Nepal komme ich mir vor wie eine kleine stromaufwärts schwimmende Perle. Oder besser gesagt, wie ein Aal, der unzählige Strömungen überwindet, um an seinen ursprünglichen Laichplatz zu gelangen.

Die reinen, heiligen Berge sind der Ursprung allen fließenden Wassers. Die Dichter des antiken Indiens dachten, Berggletscher wären durch das Lachen Shivas, des Gottes der Schöpfung und Vernichtung entstanden. Kristallklares Weiß symbolisiert Shivas Lachen, die schneebedeckten Gipfel hätten diese Farbe angenommen. Als ich meinen Blick gegen die Sonne richte, sehe ich in meinen inneren Auge Kathmandu, sehe ich Pokhara, sehe ich Nepal, sehe ich den Himalaya.

Die Seelenwanderung einer Reisenden

Ich weiß gar nicht mehr, wie oft ich schon in Lhasa Station gemacht habe, um mein Visum zu erledigen, um auf das Flugzeug nach Nepal zu warten. Lhasa ist das Ziel unzähliger Reisender, die Seelenheimat der Pilger, bei jedem Schritt werfen sie sich der Länge nach auf den Boden, bis sie das Allerheiligste erreicht haben. Aber in der Stadt herrscht ein heftiges Gedränge, Leben und Lärmen. Der menschliche Körper heißt auf Tibetisch „ei“, das heißt so viel wie „das Zurückbleibende“, so wie ein Gepäckstück. Zufällig klingt das genauso wie „I“ (ich) auf Englisch. Jedes Mal, wenn ich in Lhasa „ich“ sage, denke ich, ich bin hier nur eine Durchreisende, genauso wie meine Seele eine Durchreisende im Körper ist, in dem endlosen Zyklus der Wiedergeburten. Ich bin nur ein umherlaufender Wanderer, eine Traumfängerin, eine Reiterin auf einer fliegenden Trommel. Lhasa, das ist für mich nicht mehr als ein Umsteigeplatz meiner Seele, ein Zwischenhalt vor der Reinkarnation. Ich kann nur einen kurzen Moment der Ruhe finden, der Weg, den meine Seele gehen muss, ist noch sehr, sehr weit, ich will nicht weiter im Heute wandern, vor mir liegt die Ewigkeit.

Lhasa befindet sich auf dem 91. Längengrad, Kathmandu weiter westlich auf dem 85. Grad. Der Flug hebt um 10 Uhr in gleißender Vormittagssonne ab, auf in Richtung Himalaya. Vor mir liegen zehn Achttausender, wie auf einer Schnur aufgereiht. Das ist die Welt, in der ich Körper und Geist regenerieren will. Kurz nach dem Start taucht der Kangchendzönga auf, mit 8586 m der dritthöchste Berg der Welt. 10 Minuten später der Lhotse (8516 m), der vierthöchste Berg, Makalu (8463 m) und Cho Oyu (8201 m), die Nummern fünf und sechs. Sie erscheinen wie auf die Welt herabblickende Prinzen, welche die Schneegöttin Qomolangma (Everest, 8848 m) umringen.

Ich denke an die Bergsteiger auf dem Gipfel des Mt. Everest, sie befinden sich in gleicher Höhe wie unser Airbus. Es ist schwer fassbar, wie wagemutig Menschen sein können. Diese Gipfel wirken wie eherne Festungen auf dem Dach der Welt, man muss sie mit eigenen Augen gesehen haben, um zu erahnen, welcher Mut und Entschlossenheit erforderlich ist, um vom Fuß dieser Riesen bis zum Gipfel aufzusteigen. Egal ob die Arche Noah, wie in der Bibel gesagt, am Ararat gelandet ist oder an den geheimnisvollen Bergen des Himalayas, Berge – seit jeher wirken sie wie ein Magnet auf die Menschen.

Alle zwei, drei Stunden kommt man in das nächste Dorf, hier warten Verpflegung und Unterkunft auf die Trekker

Trage dein Herz nach Hause

In mehr als zweitausend Jahren hat sich die Philosophie der Himalaya-Völker entwickelt: der Wanderer bringt sein Herz nach Hause, kommt zur Ruhe, ihm gehört die Zeit, die Stille. Ich stelle mir vor, wie Buddha gelassen und der Welt entrückt unter einem Banyan Baum am Rande der Berge meditierte, in welche Richtung man auch schaute, überall erstreckte sich der klare azurblaue Himmel, alles war in umfassender Harmonie. Ich setze mich auf einen Felsen, mein Herz wird leicht, es schwebt, steigt auf, es fliegt, wird frei. Berg und Fluss, Himmel und Erde, Menschen und Paradies, meine schweifenden Gedanken geben mir, diesem Zugvogel, Flügel, sie lassen mein Herz weit wie der Himmel werden.

Am Abend vor dem Flug: Wanderer, Rucksackreisende, Faulpelze und Vagabunden, sie alle sammeln sich auf der Insel Tianzu im Lhasa-Fluss, bevor sie sich auf den Weg machen von den kahlen Nordhängen des Himalayas in Tibet zu den dichtbewaldeten Südhängen in Nepal. Viele „alte Tibet-Hasen“ und „Lhasa-Schönheiten“ kommen zusammen, hier auf der Insel, auf der die Unsterblichen der Sagenwelt Halt gemacht haben sollen.

Mitreisende sagen, dies wäre ein Nest für die Flitterwochen. Die Einheimischen sonnen sich genüsslich am Ufer des träge strömenden Flusses, hören Musik, trinken Bier und grillen. Wenn man in die Ferne blickt, bilden die Schatten der Wolken ein Muster auf den Bergen, Schaf- und Rinderherden ziehen langsam dahin. Die Reisenden auf ihrem Weg in die Ferne legen eine Rast ein, verschnaufen, flirten, sammeln sich in neuen Gruppen, bevor sie, wie damals die Hippies, in das „Paradies in den Bergen“ Nepal weiterziehen.

In der kleinen Bar Lamulacuo lümmelt sich eine Gruppe neureicher Jugendlicher auf Meditationsbetten und lauscht dem umherreisenden Sänger Nanliu, „wenn wir geboren werden, sind wir einsam, wenn wir aufwachen, sind wir allein.“ Erst als es hell wird, breche ich auf. Im feinen Dunst des Morgengrauens lasse ich die goldenen Steine im Lhasa-Fluss zurück, die kleinen Fische in den Buchten, ich empfinde die süßliche Melancholie des Aufbruchs.

Egal, was wir in der dunklen Sternennacht am Ufer des Lhasa-Flusses besitzen, was wir verlieren, was wir uns vorstellen, was wir vor uns hin summen; der Himalaya, nach dem ich mich sehne, der ist für mich nicht in Lhasa, nicht im Barkhor, nicht im Potala, nicht in Ngari1.

Der ist auf dem Weg.

1 Tibetisch: Ngari, chinesisch Ali – die ursprünglichste Region Tibets, nordwestlich von Nepal

2. Tag Hauptstadt der Hippies

Flugzeit: 1 3/4 Stunden oder Landweg 20 Stunden

Wenn ich eines Tages alt bin, möchte ich in dem Strom der Zeit schwimmen und wenn ich eines Tages still davongehe, möchte ich mit dem Himalaya verschmelzen.

In Nepal gibt es für Touristen zwei Alternativen, dekadent in der Sonne liegen oder trekken, auf Abenteuerreise gehen.

Bei etwa einer Million Menschen hat Kathmandu 2700 Tempel, einer pro 370 Einwohner, fast so viele wie Wohnhäuser. Auf jeden Hauptstädter kommt ein Heiligenbild. Der nepalesische Dichter Dekuta brachte es auf den Punkt:

„Kathmandu, Du bist der Tempel, den ich verehre“. Hinduismus, Buddhismus, Christentum, Islam und Schamanismus, alle Religionen vereinigen sich in einem großen Schmelztiegel. „Kathmandu“ bedeutet auf Sanskrit „Stadt des Lichtes“ oder auch „Stadt der Tempel“. Nepal, das ist das Paradies des Ostens mit Kathmandu im Zentrum. Die warme Luft des indischen Ozeans weht über die weite Ebene des Ganges, bläst sanft über die Anhöhen, bis die Bergriesen des Himalayas ihr den Weg versperrt. Im Tal von Kathmandu sorgt das milde Klima für strahlendes Licht und eine üppige Blumenpracht.

Hippies und Blumenkinder

In den 60er Jahren feierten die Hippies, die „Blumenkinder“ in San Franzisco den berühmten „Sommer der Liebe“. Ein Lächeln im Gesicht, mit Frieden im Herzen riefen sie „make love, not war“, sie trugen, was sie tragen mochten, taten, was sie tun mochten, um den Hals eine billige Perlenkette, Gewänder im Priesterlook. Sie bestickten Kaftane, zerschnitten die bereits kaputten Jeans, trugen flatternde lange Kleider, gingen barfuß; oft mit Räucherstäbchen in der Hand sangen sie den Hit aus den Tagen „If you're going to San Francisco, be sure to wear some flowers in your hair“. Wenn sie nicht Flieder im Haar trugen, dann malten sie sich eine Blume ins Gesicht als Zeichen der Gemeinsamkeit. An der Straße streckten sie den Daumen hoch, fuhren per Anhalter, überquerten den Atlantik, überwanden die Hindernisse im geteilten Europa, durch Istanbul, die Brücke zwischen Europa und Asien, weiter nach Kabul in Afghanistan, durch Pakistan, Goa und Mumbai in Indien. Auf dem Weg sangen sie laut „K-K-K Kathmandu“, wie vom Wind verweht suchten sie die sagenumwobene Arche Noah der reinen Liebe, bis zum Endpunkt ihrer Pilgerreise Kathmandu oder Pokhara am Fuße des Himalayas.

Im Schatten der sanft geschwungenen Bergketten sahen die Menschen ein Land der Reinheit, die Abgeschiedenheit bewahrte Nepal lange Zeit vor dem Zwist der Welt. Sänger aller Hautfarben, wandernde Künstler, Eremiten, Mönche, Pilger, sie alle waren von Herzen asketisch, genossen die Freuden der Einfachheit, suchten ein gutes Leben. Der englische Balladensänger Cat Stevens schrieb in einer verqualmten Teestube in der Asamstraße im Kathmaduer Stadtteil Thamel den Klassiker des Hippiezeitalters „Katmandu“2 – „Katmandu I'll soon be seeing you, and your strange bewildering time will hold me down“. Obwohl seine Frau mit einem anderen davongelaufen war, obwohl er selbst an Lungentuberkulose erkrankte und Alkohol und Drogen verfallen war, fand seine Seele zuletzt hier in Nepal zwischen Religion und Bergen Frieden.

Kathmandu ist ein Schmelztiegel aus Geschichte und Moderne

Blumen, Yaks, Pagoden, Yetis

Ein halbes Jahrhundert ist seitdem vergangen, aber für Reisende ist Kathmandu immer noch der „Garten Eden“, nicht nur für neuzeitliche Hippies aus Europa und Amerika, sondern auch für asiatische Jugendliche ist Nepal „Himmel und Erde“ --- das Land der Blumen, Yaks, Pagoden, Yetis und Sherpas. Gleich nach der Ankunft in Kathmandu bekommt man das Gefühl, hier überlagern sich verschiedene Zeitalter, Kulturen, Menschentypen und Glaubensrichtungen, hier ist man in einer anderen Welt. Die Luft ist gesättigt mit dem Atem der hinduistischen Göttin Kumari, mit der Kraft und Energie des Gottes der Liebe Shiva, mit dem Geist der Überbleibsel der Hippies aus den 60er Jahren, mit indischem Curry und nepalesischem Sandelholz. Oder man bestaunt die leuchtenden Umhänge der Pilger aus Kaschmir und ihre olivfarbenen melancholischen Augen...

Kathmandu, das ist ein Schmelztiegel aus Altertum und Neuzeit, jeden Tag offenbaren sich Geschichten aus Illusion und Realität. In den Augen der Touristen aus aller Welt, die sich nach Liebe, Freiheit und Genuss sehnen, ist Kathmandu zweierlei: einmal eine chaotische Großstadt voller heiliger Kühe, Affen, Asketen, heruntergekommenen Elendsvierteln und Autoabgasen. Sobald du in eine der traditionellen Gassen einbiegst, wird dein Sinn für Schönheit befriedigt, aber noch mehr dein Orientierungsvermögen gefordert. Um aus den engen winkligen Gassen, oft ohne irgendwelche Hinweisschilder, wieder herauszufinden, dafür brauchst du Einfallsreichtum und eine ans Übermenschliche grenzende Geduld.

Aber zum Zweiten: in Kathmandu gibt es an jeder Ecke Gewürze, Räucherstäbchen, schlagende Uhren, den Klang von Glocken, religiöse Gesänge, heilige Stätten voller orange-roter Kränze aus Chrysanthemen, Tempel aus roten Ziegeln und mit weißen Wänden, steil aufragende Klosterdächer und über allem der strahlendblaue Himmel, die gewaltigen schneebedeckten Berge in der Ferne. Immer und überall hat die Stadt eine therapeutische Kraft, sie heilt Begierden, Vergnügungssucht und eine verletzte Seele.

In Kathmandu kannst du wie ein barfüßiger Asket leben, du kannst ein sich selbst genügsamer Hippie sein, du kannst deine Fantasie vom ewig jugendlichen Beatle ausleben oder wie ein aggressiver, provozierender Rocker daherkommen. Oder du kannst interkulturell heiraten, an östliche Religionen glauben, dich für Umweltschutz starkmachen, du kannst Musiker, Kriegsgegner, professioneller Bergsteiger, unermüdlicher Trekker, kannst Abenteurer sein und mehr: Du kannst sein wie ein gleißender Lichtstrahl, wie eine reflektierende Münze, wie der Glanz in den Augen deines fremdländischen Liebhabers, wie ein Seufzen nach einem unerwarteten romantischen Abenteuer.

In den kleinen Gassen in der Nähe des Basantapur-Platzes kann man sich heute noch die Hippie-Zeit des letzten Jahrhunderts vorstellen, zur Begrüßung weht die Melodie „Katmandu“ herüber. Ursprünglich hieß die Straße Jochne Tole, ganz in der Nähe vom Durbar Platz und dem Pumarikloster, in diesem ganz normalen Viertel konzentrierten sich damals die Überlandreisenden, die rebellischen Hippies aus dem Westen. Die Einheimischen gaben der Straße denNamen „Freak Street“. Die non-konformistischen, gegen den Konservatismus gerichteten „Freaks“ brachen aus den etablierten Bahnen aus, sie bildeten den Gegenpol zum Establishment. Die „Blumenkinder“ fanden hier ihr Paradies auf Erden. Sie trugen langes Haar, sprachen verschiedenste Sprachen, aßen Reis mit Chili mit der Hand, sie bewegten sich elegant und würdevoll, trugen hinduistische weiße Gewänder oder gelbe buddhistische Priesterroben, gleichermaßen bewunderten sie die geheimnisvollen Religionen des Ostens und entwickelten selbst ihre eigene freiheitliche Lebenskunst. Aber nach einigen Jahren nahmen ungezügeltes, unangemessenes Benehmen und der Glauben an dubiose Sekten überhand, daraufhin schränkte die nepalesische Regierung die Visumsvergabe an Hippies drastisch ein.

Für die neue Generation der Sänger, Maler, Tänzer, Schriftsteller, Reisenden, Okkultisten und Weltenbummler wurde der Stadtteil Thamel im Norden Kathmandus zum neuen Basislager. Aber die alten Läden in der „Freak Street“ mit den photokopierten Bildern der Hippies, mit erotischer Literatur wie das „Kamasutra“, mit Bilderalben aus der Zeit, die unablässig hin- und herfahrenden Rikschas mit ihrem Hupen, das Geschrei der Verkäufer, die frisch gepresste Fruchtsäfte anpreisen, die versteckten heruntergekommenen billigen Herbergen, Bars und Teestuben, dies alles zieht immer noch Reisende aus aller Welt an. Die damaligen Hippies wählten die Freiheit von den Zwängen der Gesellschaft, und auch die Hippies von heute lehnen die profane materialistische Welt der Erwachsenen ab, deren Sinn nur darin besteht, ein Schneckenhaus zu besitzen, Sklave des Kredits für die Wohnung zu werden, eine außereheliche Liebhaberin zu haben. Die vulgäre Welt von Superreichen und Schönheiten, das ist in den Augen der neuen Hippiegeneration nichts Erstrebenswertes.

Wir sehnen uns nach einem Garten Eden, wir träumen von der Utopie, wir sind überzeugt von der Kraft unserer Hoffnung und dem unschuldigen Bann des Glaubens. Auch wenn das edle Ideal des Zeitalters von Martin Luther King, dass alle Menschen brüderlich vereint sind, nicht mehr in unsere Zeit zu passen scheint, sind Hippies doch zu Klassikern geworden, zu Idolen. Als Lebensstil ist Hippietum bis heute lebendig geblieben.

Nepal war einmal das Traumland der Hippies. Ist das hier das Paradies? Das kann wohl niemand so genau sagen. Die Liebe zu diesem Land erwächst aus den Geräuschen, den Glocken, aus einem Lachen, das aussieht, als wäre der Mund voller Blumen. Dieses Lachen wirkt auf die Stimmung, die seelische Verfassung eines Menschen, es verändert die Welt. Und ich lebe mittendrin.

2 Im Englischen wurde Kathmandu früher ohne „h“ geschrieben, der Titel von Cat Stevens Lied lautet daher Katmandu

3. Tag Paradies der Trekker

Fahrtstrecke: 206 km

7 Stunden

Der warme Septemberwind streift durch die wehenden Haare der Hippies, schwingende Musik begleitet mich den Weg am Fluss entlang, Dunst von Räucherstäbchen schwebt vor tiefblauen Himmel. Blumenkinder sitzen auf den Stufen uralter Tempel, Pilger verweilen im Pathi, dem innersten Heiligtum. Ich dagegen breche früh am Morgen meines zweiten Tages vom lärmenden Stadtteil Thamel aus auf, setze mich in einen grünbunten Bus, werde einen Tag lang heftig durchgeschüttelt und erreiche am Abend Pokhara, am Fuß des Himalayas.

Die holprige Straße des Königs

Kathmandu ist von allen Seiten von Bergen umgeben, nur zwei Straßen führen aus der Stadt, der Arniko Highway in nordöstlicher Richtung nach China sowie der Prithvi Highway, der den Windungen und Wendungen des Trisuli Flusses folgt, immer im Tal entlang bis nach Pokhara. Nur je eine gefährliche Fahrbahn in jede Richtung, voller Staus, ich muss an die Geschichte „grausames Tal“ des chinesischen Schriftstellers Jin Yong denken, in der die Anführerin einer Bande, die kleine Drachenfrau, sich die Flügel einer Biene tätowieren lässt und dann mit Hilfe dieser virtuellen Flügel aufsteigt und aus dem Tal entkommt ...

Früher brauchte man zehn Tage mit dem Pferd nach Pokhara, auf dem Weg mussten unzählige eiskalte Flüsse durchquert werden, eine lebensgefährliche Reise. Elefanten und Maultiere waren damals die Transportmittel. Als der nepalesische König das erste Auto kaufte, wurde es mit größten Anstrengungen über die Berge nach Kathmandu transportiert, nur dort gab es einige Straßen. Erst 1970 wurde der befestigte Prithvi Highway in die Hauptstadt fertiggestellt.

Die Straße ist nach dem früheren nepalesischen König Prithvi Narayan Shah benannt. Was ich auf diesen 200 km erlebe, hat zweifellos auch etwas von einer verrückten Hippiereise. Dies ist die belebteste Fernstraße Nepals, dem Namen nach eine Autobahn, aber mehr ein Schlaglochpiste. Auf der langen Strecke über die Berge quälen sich große und kleine Tata Laster, uralte Kleinbusse und Bolero Jeeps aus indischer Fertigung, chinesische Motorräder und Traktoren, unzählige heilige Kühe, heilige Schafe und heilige Hunde, umherlaufende Kinder und Hühner, alle drängen mit verschiedenem Tempo in verschiedene Richtungen. Jedes Mal, wenn der Bus nur etwas beschleunigt, wird er wie von Krämpfen geschüttelt, die Passagiere drinnen werden von einem Aufschrei begleitet in die Luft geworfen. Auf den Felsen am Straßenrand sind Parolen geschrieben, unterstrichen mit großen roten Ausrufezeichen „Langsam! Sicher! Glücklich!“, „Besser spät als tot!“. Die bunten Parolen sind von Wind und Wetter verbleicht, die Fahrer beachten sie nicht. Als hätten sie etwas Falsches eingenommen, zwängen sich Bus- und LKW-Fahrer wie wild durch Lücken zwischen Autos, Fußgängern und Felsen. Die Fahrt fühlt sich an, als würde sich mein ganzes Skelett in Einzelteile zerlegen, jetzt wird mir klar, warum in diesem kleinen Land zu Fuß gehen die verbreitetste Art der Fortbewegung ist, nur so kommt man sicher und entspannt voran. Es ist zwar eine Höllenfahrt, aber die Blicke richten sich gen Himmel. Die Straße führt durch eine unglaublich schöne Landschaft,entlang eines smaragdgrünen Flusses reiht sich eine tiefe Schlucht an die nächste. Vorbei geht es durch uralte Dörfer aus Steinhäusern, durch glitzernde Terrassenfelder. Bauern führen Rinder und Schafe über schwankende Hängebrücken und reißende Flüsse, sie selbst tragen schwere Lasten in Bambuskörben auf ihren Rücken. Sie gehen dabei sicher wie auf ebener Erde. An den Bergen beidseits der Straße befinden sich einige der wichtigsten religiösen Heiligtümer Nepals. Bei Mugling liegt das Manakamana Mandir Kloster, es gehört zu den ältesten Klöstern Nepals und ist ein wichtiges Ziel hinduistischer Pilger. Seine Atmosphäre zieht alle Durchreisenden in ihren Bann, an Festtagen ist das Kloster vor Pilgern, Tauben und Ziegen nicht zu sehen. Im Hinduismus gilt Parwati als die Frau Shiwas, sie hat die Zauberkraft, Wünsche Wirklichkeit werden zu lassen. Junge Paare kommen in Strömen hierher, um zu beten, dass sie einen Jungen bekommen. Langstrecken-Busse haben einen besonderen Platz, um Tauben und Ziegen unterzubringen; für sie ist es eine Reise ohne Wiederkehr, Pilger schlachten sie an einem blutüberströmten Altar neben dem Kloster und bringen sie als Opfergaben dar.

Den traditionellen Krummdolch “Khukuri” in der Hand bringen Ghurkha nach traditionellem Brauch Opfertiere ins Kloster

Die Fahrt geht weiter nach Westen, durch den Bezirk Gorkha, bis hin zur alten Hauptstadt der Könige der Shah-Dynastie, Bandipur. Zu Beginn der Dynastie war Gorkha nur ein winziges Königreich so groß wie eine Erbse, dem Städtebund von Kathmandu untergeordnet, aber der hier geborene Prithvi Narayan Shah wurde zum Herrscher des Kathmandu-Tals und zum Gründer des heutigen Staates. 1769 errichtete er das Königreich Nepal.

Die Gurkhas, der Name kommt vom Bezirk Gorkha, stellten in den zwei Weltkriegen die tapfersten und wagemutigsten britischen Truppen, mit ihrem breiten traditionellen nepalesischen Messer, dem Khukuri, können sie mit einem Hieb einem Menschen den Kopf vom Rumpf abschlagen. Also, wenn der Bus auf der staubigen Tagesreise in Bandipur eine Toiletten- oder Teepause einlegt, dann empfiehlt es sich lächelnd auf die Einheimischen zuzugehen und Freundschaft zu schließen und sich zum Beispiel nicht über die trübe Farbe des Tees zu beschweren und sich so Feinde zu machen.

Auf der Busfahrt sitzt eine Mutter mit ihrer Tochter neben mir, sie waren bei ihrem Vater in Kathmandu zu Besuch und sind jetzt auf Rückfahrt nach Pokhara. Junge Nepalesinnen haben eine schlanke Figur wie Prinzessinnen, aber nach der Geburt eines Kindes werden sie meist rund wie eine Tonne. Um Geld zu sparen, hat die Mutter für ihre Tochter keinen Sitzplatz gekauft, die ganzen sieben Stunden in brütender Hitze zwängen wir uns zu dritt auf zwei Sitzen. Vor mir ist die Rückenlehne locker, ein chinesischer Tourist drückt mit seinem ganzen Gewicht auf uns, ich kann immer nur auf das Kind weisen und ihn wieder und wieder ermahnen, sich nach vorne zu lehnen.

Das kleine neunjährige Mädchen heißt Shaluona, ich will sie ablenken und sage: „Wir benennen die ‚Straße des Königs’ in ‚Straße des Schreckens’ oder ‚Affenstraße’ um, o.k.?“ Sie nickt sanft mit dem Kopf und muss sich übergeben: Reisekrankheit. Nach einer Weile legt sie sich schwach an die Schulter ihrer Mutter und schläft tief ein, die langen Augenbrauen und die kleine Nase bewegen sich leicht auf und ab, mich überkommt ein Gefühl von Mutterliebe.

Als ich klein war, nahm mich meine Mutter auf genauso altersschwachen Bussen durch ganz China mit. Mutter war Tischtennismeisterin unseres Bezirks, außerdem war sie Kunst-Direktorin ihres Betriebes, sie nahm an Sportwettbewerben im ganzen Land teil und besuchte regelmäßig Kunstausstellungen. Wenn sie in einem Turnier spielte, setzte sie mich in eine Ecke der Sporthalle, und ich las allein ein Buch; wenn eine Ausstellungvorbereitet werden musste, ließ sie Angestellte auf mich aufpassen und mich versorgen. Meine Mutter hat sicher ihre Reiselust und ihren Abenteuergeist auf mich übertragen. Diese Busfahrt ist alles andere als angenehm, mein Bein ist vom ständigen Druck eingeschlafen, aber die Fahrt ruft in mir die Erinnerung an ein Buch aus meiner Kindheit „Zeichen am Weg“ wach. Träume meiner Kindheit, Reisen, Pfade, Lagerfeuer, Camping, Expeditionen, Nachtigallen, Geschichten und Abenteuer gehen mir durch den Kopf, dieses kleine Mädchen neben mir lässt mich noch einmal den sanften Traum erleben, ein Ritter in einem fernen Winkel der Welt zu sein.

Noch 30 Kilometer bis Pokhara, die „Affenstraße“ mündet in eine weite, vom Setifluss angeschwemmte Ebene. Der gewaltige Fischschwanz-Gipfel funkelt wie ein Leuchtturm in der Ferne am Himmel. Die meisten Nepalesen reisen am liebsten auf dem Dach des Busses. Zum einen kostet so die Fahrt nur die Hälfte, aber ich glaube diese Kinder der Berge lieben es auch, sich ganz in der Sonne ausstrecken zu können. Zwar zieht der Fahrtwind, aber wenn man auf dem Dach in die Ferne blickt, bekommt man das unwiderstehliche Gefühl, den Ruf der Berge zu hören. Der Anblick erinnert mich daran, wie wir mit unserem Dalmatiner Hund zusammen nach Tibet gefahren sind, die ganze Zeit steckte er den Kopf neugierig aus dem Fenster, sein Fell, seine Ohren wurden vom Wind durchgeweht. Es machte Spaß zuzusehen, egal ob Mensch oder Tier, in solch einer Situation ist jeder fröhlich und voller guter Laune.

Pokhara, Basislager der Trekker

1952 erreichte der Schweizer Abenteurer Toni Hagen als erster Europäer Pokhara, damals war es nur eine kleine Ortschaft mit einigen langsam dahinziehenden Ochsenkarren, bewohnt von den Ethnien der Niwali und Gurung; es gab noch keine einzige befestigte Straße. Nach dem Bau der Straße nach Kathmandu kamen die ersten Hippies, die wunderschöne Landschaft, der langsame Lebensrhythmus und das reiche Angebot an Haschisch machten Pokhara für die Blumenkinder zum idealen Zielpunkt ihrer Asienreise. Damals entstanden am Phewa See kommune-artige Zeltlager und einfachste Unterkünfte. Die Hippies verbrachten den Tag damit, Haschisch zu rauchen und psychedelische Musik zu hören. Sie wurden eins mit der Aura der weißen Berge und smaragdgrünen Seen, genossen die Natur, ließen der Seele freien Lauf, wandten sie sich vom Mainstream der Gesellschaft und dem vulgären Materialismus der Mittelschicht ab. Inmitten der ursprünglichen Kultur derBergvölker und dem schamanistischen Glauben indigener Stämme gelang ihnen die Flucht aus der Industriegesellschaft und der Kultur der Moderne.

Als „Mekka“ der Hippies hatte Pokhara seine eigene, glorreiche „Geschichte des Hippietums“. Die Reisenden von heute dagegen kommen nach Pokhara, um zu wandern, Berge zu besteigen, zum Radfahren, Wildwasserfahren, Paragliding, um Abenteuer zu erleben. Neben ihren Rucksäcken bringen sie Eispickel, Bergstiefel, Paddel, Gummiboote, Fallschirme und BMX-Fahrräder mit. Aber immer noch hören sie John Lennons „Imagine“: Imagine all the people, living for today; Imagine all the people, living life in peace.

Aber die modernen Touristen interpretieren die Rock ’n’ Rollmusik auf ihre eigene neue Weise, auf Wanderungen suchen sie Kraft, Selbstbewusstsein, Mut, eine Essenz des Lebens frei von Furcht, eine neue Art der Freiheit, Wildheit, Liebe, die alle einengenden Grenzen überschreiten.

Stell dir vor, von den 14 Achttausendern der Welt liegen drei bei Pokhara, der Annapurna mit 8091 m ist der erste Achttausender der Welt, auf den Bergsteiger ihren Fuß setzten. Der 8167 m hohe Dhaulagiri dagegen wurde erst als letzter Achttausender bezwungen, wegen der Schwierigkeit der Besteigung heißt er unter Kletterern „Teufelsberg“. Und als Dritter der „heilige Berg“, der 8163 m hohe Manaslu, einsam und majestätisch erhebt er sich am Horizont.

Stell Dir vor, schneebedeckte Berge spiegeln sich im stillen Wasser der beiden Seen Pokharas, des Phewasees und des Begnassees. Einer rechts, einer links, wie zwei blaue Augen leuchten sie im smaragdgrünen Tal. Das Ziel fast aller Nepal-Reisenden ist der Himalaya, hier in Pokhara bietet sich die beste Sicht auf sechs der höchsten und schönsten Berge: Hiunchuli (6441 m), Annapurna I (8091 m), Fischschwanz (6997 m), Annapurna III (7555 m), Annapurna IV (7525 m); Annapurna II (7937 m). Die hochaufragende Bergkette des Annapurna erstreckt sich von Ost nach West über die ganze Länge Pokharas, praktisch von jeder Stelle aus kann man vor tiefblauem Himmel mindestens einen oder zwei schneebedeckte Gipfel sehen. Und jeden Berg sieht man doppelt, einmal hoch über dem Horizont und dann als Spiegelbild im Wasser.

Stell dir vor, in Nepal triffst du auf den höchsten Berg und auch auf die tiefste Schlucht der Welt. Viele Menschen lieben Aktivitäten im Freien und Extremsport, Nepal ist wohl das beste Ziel dafür. Die Bergkette des Himalayas bietet optimale Bedingungen für Bergsteiger und Trekker, aber auch herausfordernde Strecken für Fahrradfahrer. Und genauso sind die unzähligen reißenden Bergbäche undFlüsse ideal für Wildwasserfahrer. Pokhara hat den Ruf, das beste Gebiet der Welt zum Floßfahren und Rudern zu sein. Wenn man nie einen der mehr als zehn reißenden Bergbäche per Floß heruntergefahren ist, dann weiß man nicht, was das Leben an Nervenkitzel und Aufregung zu bieten hat. Der Gedanke an einen Bungee-Sprung von 160m Höhe, sich todesmutig in eine Himalaya Schlucht zu stürzen, das lässt einem einen Schauer über den Rücken laufen. Oder etwas ruhiger: Paragliding am tiefblauen Himmel vor den schneebedeckten Gipfeln des Annapurna. Zu Recht gilt Pokhara als der weltbeste Platz für Paragliding. Und die Kosten, egal ob für Bergsteigen, Wandern, Wildwasserfahrten, Radfahrten, Pargliding oder Bungee- Springen sind nur etwa halb so hoch wie in den USA, Neuseeland, Kenia oder Argentinien.

Und am Ende stell dir vor, am Rande des grünen Sees liegt ein aus roten Ziegeln erbautes stilles Dorf. Pokhara wird zu Recht „die Schweiz des Ostens“ oder „Thamel am See“ genannt. In Gedanken vergleiche ich Pokhara mit einem anderen Paradies nicht allzu weit von hier, Srinagar im indischen Teil Kaschmirs. Beide gelten als „Venedig des Himalayas“, aber Srinagar war immer umstritten, mehrfach gab es dort Krieg, es ist eins der gefährlichsten Paradiese der Welt, dorthin fahren nur einige Fürsten, reiche Geschäftsleute und Supermodels in Urlaub. Aber hier in Pokhara liegt der Duft von nepalesischen Räucherkerzen in der Luft, der leichte Duft blühender Lotusblumen. In die friedliche Stille des Tals mischt sich das Treiben der kleinen Leute, in den Teehäusern, Bars, Musikläden, Internet-Cafés, Devotionaliengeschäften, Teppichläden und Sportgeschäften erklingen hinduistische Mantren, erschallt der buddhistische Gebetsruf „Om mani padme hum“.

Hier in Pokhara gibt es hunderte, vielleicht tausend Familienherbergen, kleine Gasthäuser und Sternehotels, überall sieht man Rucksackreisende und Trekker aller Hautfarben, sie alle strahlen über das ganze Gesicht und bereiten sich auf ihre Wanderungen hoch in die Berge und zu den Gletscherseen vor.

Pokhara, das ist schwer mit Worten zu beschreiben, Pokhara, das ist Ausgangs- und Endpunkt der großen Rundtour um den Annapurna sowie Startpunkt von mehr als zehn kleineren Touren, unter anderen zum Annapurna Basislager, nach Jomsom, zum Poon Hill und in das abgelegene Mustang. Der Annapurna ist zu einem der beliebtesten Trekkinggebiete der Welt geworden; auf Strecken jeden Schwierigkeitsgrades zwischen 2000 und 5000 m Höhe können Wanderer aus verschiedensten Perspektiven die gewaltige Schönheit des Himalayas bewundern. Die meisten Bergsteigertouren in der Umgebung vonPokhara sind relativ einfach. Service und Lebensbedingungen in Berghütten und Camps sind ausgezeichnet, daher hat sich Pokhara auch als Trainingslager für Bergsteigerteams etabliert, die Achttausender in Angriff nehmen wollen. Jedes Jahr kommen mehr als 100 000 Bergsteiger und Trekker nach Pokhara, ohne Zweifel das internationale Trekkerparadies.

In Phokara drehen sich alle Gespräche um „Trekking“, eine der ersten Fragen ist immer, „gehst du auch zum Trekken“? Das Erlebnis einer Wanderung ist wie eine Liebe, sie kann das Leben eines Menschen von Grund auf ändern. Die Schönheit der Berge und Seen, die gewaltige Kraft der Natur, sie wühlt die Seele des Menschen auf, sie erzeugt Ehrfurcht im Innersten des Herzens, sie lässt mich voller Vertrauen allein auf Wanderschaft gehen, sie lässt mich bescheiden und ohne Sorgen eins mit den Elementen der Natur werden, sie lässt mich das allerschönste Geheimnis des Lebens erfahren: wir haben zwar keine Flügel, aber wir können trotzdem fliegen.

Mein erster Gedanke

Auf die Frage „Warum gehst du Trekking?“ haben tausend Trekker tausend verschiedene Antworten. Wegen der wunderschönen Landschaft, um abzunehmen, aus Liebe, wegen der Herausforderung, aus Abenteuerlust, als Drogenentzug oder um der Dekadenz der modernen Gesellschaft zu entfliehen, zur Entspannung, um Sauerstoff zu tanken, aus Freiheitsliebe, für Frieden, um auf Pilgerschaft zu gehen, um die Seele zu reinigen, um die Fesseln von Leben und Tod zu überwinden…

Und ich, für mich trifft das alles zu.

Mein zweiter Gedanke

„Warum wollen Sie den Mount Everest besteigen?” — „Weil er da ist“.

An einem neuen Ort, mit der Zeit und fortgeschrittenem Alter ändern sich Aussehen, Haut, Gestalt, Kraft und Fitness eines Menschen, nur die Augenfarbe bleibt erhalten. Mir scheint es, da gibt es noch etwas: die Wanderlust. Sie ist für mich eine angeborene Charaktereigenschaft, wie die Augenfarbe ist sie eine unveränderliche Konstante.

Mein dritter Gedanke

Von der Schneeschmelze im Frühling bis zum Einbruch des Winters leben die Schäfer mit ihren Familien im Hochgebirge. Während ich zwei Bonbons hervorkrame, sieht mich das kleine Schäfermädchen mit ihren runden braunen Augen an und fragt „Liebe Frau, aus welchem Tal kommen Sie?“ Ihre naive Frage bringt mich ins Grübeln, über die Mystik und Schönheit von Bergen und Tälern, über Poesie und Wirklichkeit.

Der Wanderweg zum Annarpurna, 220 km lang, gilt als einer der Schönsten der Welt (Landkarte: Hu Hong, Long Shengjie)

1.Tag Im Schatten des Todes

Wanderstrecke: 16 km

Zeit: 07:30h – 17:15 Uhr, 10 Stunden

Gegen nachmittags um drei erreicht der Bus Pokhara. Ich ziehe meinen Rucksack aus dem Stauraum unten im Bus und merke, dass die Unterseite total nass ist. Keine Ahnung, woher das Wasser kommt. Genau wie ich wurde der Rucksack sieben Stunden lang kräftig durchgerüttelt, etwas Wasser und Staub sind wohl nicht zu vermeiden. Ist mir auch egal. Für 150 Rupien nehme ich ein winziges Suzuki Taxi und fahre ins Hotel Himalaya, dort habe ich ein Zimmer reserviert. Schnell wasche ich mich und meine verdreckte Kleidung, miete im Fahrradladen nebenan ein Damenrad mit Korb, ich will so schnell wie möglich Basanta, den Chef des Annapurna Trekking Reisebüros sehen.

Nach drei Jahren bin ich das erste Mal wieder in Pokhara, es ist alles so wie früher, die Straßenszenen, die Wege, Läden, Menschen, Wanderpriester, heiligen Kühe, Schaukeln, das Sonnenlicht, die Gerüche, alles ist so, als wäre es gestern. Ich frage mich, wie lange war ich weg? Bin ich wirklich wieder zurück? Basanta ist inzwischen mindestens 90kg schwer, er trägt T-Shirt und Jeans, er umarmt mich leidenschaftlich und hebt mich hoch in die Luft: „Didi, deine Figur hat sich gar nicht verändert!“

Das Rad der Zeit hält niemand auf, das Einzige, was unverändert bleibt ist die Einstellung zum Leben. Um mich auf diese Trekkingtour im Himalaya vorzubereiten, bin ich in Chongqing im heißen August jeden Tag eine Stunde die nahen Berge hoch. In Nepal spricht man gute Freunde wie Familienmitglieder an, „Didi“ heißt Schwester und „Bai“ Bruder. Ich habe Basanta eine Packung grünen Tee aus China mitgebracht, bin schon ganz aufgeregt: „Bai, hol die Landkarte raus, wo ist mein Guide (Bergführer)? Ich will morgen gleich aufbrechen.“

Der Guide heißt Sheba, 28 Jahre alt, aus der Ethnie der Gurung. Er ist nur wenig größer als ich, sieht nicht so toll aus. Ehrlich gesagt, der erste Eindruck ist etwas enttäuschend. Aber er ist kräftig und geschickt, spricht sehr gut Englisch und hat über 10 Jahre Erfahrung. Nachdem wir einen ungefähren Plan für die nächsten 10 Tage gemacht haben und uns auf einen Preis von 18 Dollar pro Tag geeinigt haben, fährt Sheba mit seinem Motorrad mit mir zurück ins Hotel. Er prüft meinen Rucksack und die Ausrüstung, dann vereinbaren wir, dass er mich morgen früh um halb sieben am Hotel abholt.

Am nächsten Morgen, es ist schon acht Uhr, immer noch keine Spur von Sheba. Sein Handy ist ausgeschaltet, ich drehe bald durch. Ich rufe Basanta an, aber er kann ihn auch nicht erreichen. Basanta fragt, ob er einen anderen Guide schicken soll, aber jetzt bin ich mit Sheba schon einigermaßen vertraut und will ihm eine Chance geben, etwas zu verdienen.

Beim Frühstück lese ich die englischsprachige Zeitung „Himalayan Trecking“. Beim Aufstieg auf den Manaslu, den achthöchsten Berg der Welt, wurde ein französisch-russisches Bergsteigerteam von einer Lawine verschüttet, neun Bergsteiger sind ums Leben gekommen, sechs werden noch vermisst, einschließlich nepalesischer Bergführer und Träger. Meine geplante Tour zum Annapurna führt nicht weit an diesem Berg vorbei. Manaslu heißt auf Sanskrit „Seele“. Die Anziehungskraft des Bergsteigens liegt in der scheinbaren Unerreichbarkeit des Ziels und in der Unberechenbarkeit der Umwelt. Aber diese Unwägbarkeiten bergen auch unvorstellbare Gefahren.

Ein Kranz aus Blumen und Blättern um den Hals, das ist Basantas landestypische Art Gäste zu empfangen

Nachmittags um vier schickt Basanta einen anderen Guide, er heißt Bikram. Basanta hat eine Nachricht erhalten, dass ein Angehöriger von Sheba unter den Vermissten ist, er ist sofort zurück in sein Dorf. Die Meldung von der plötzlichen Lawine ist wie ein Stich ins Herz, ich hätte mir nicht vorstellen können, dass der Tod uns so nahe ist. Beim Aufbruch sind wir in gedrückter Stimmung. Niemand weiß, was auf dem Weg alles passieren kann. Ich lasse Bikram noch einmal meine Kleidung und Ausrüstung checken. Wir werden gut 10 Tage unterwegs sein, ich will ihn nicht unnötig belasten und werfe alles aus dem Rucksack, was irgendwie verzichtbar ist. Kleidung kann ich wie Zwiebelschalen Schicht auf Schicht tragen, falls es warm wird trage ich nur ein T-Shirt. Ich lasse auch die meisten Medikamente in Pokhara, nehme nur was gegen Grippe und Höhenkrankheit mit. Ein ähnlicher Fehler sollte mich bei einer späteren Trekkingreise fast das Leben kosten.

Mein Rucksack wiegt nur 12 kg, Bikram packt seine kleine Tasche mit in meinen Rucksack. Wir spüren den Ruf der schneebedeckten Gipfel und der Wildnis. Die Szene erinnert mich an das bekannte Zitat des Aktivisten Martin Luther King „Du brauchst nicht die ganze Treppe zu sehen, du musst nur den ersten Schritt vorwärts machen“. Ich kann mich nicht mit Pastor King vergleichen, aber auch ich habe einen Traum, der mich vorwärtstreibt. Im Frühtau des nächsten Morgens brechen wir auf.

Warum gehen wir auf die Wanderschaft?

Phedi ist der Startpunkt der lang ersehnten ABC (Annapurna Base Camp) Wanderung, eigentlich nur eine Wegegabelung, mit Gebetsfahnen, ein paar reetgedeckten Hütten und Minibussen voller Trekker, es ist nicht einmal ein Dorf. Ich lasse Bikram den Rucksack unter einer Pappelfeige absetzen, zusammen machen wir ein Foto. Zu Beginn einer Trekkingtour sind alle aufgeregt, der Körper ist aufgedreht, die Seele auch. Der erste Schritt dem alten Leben zu entfliehen ist gleichzeitig der erste Schritt in ein neues, unbekanntes Leben. Auf die Frage „Warum gehst du Trekking?“ haben tausend Trekker tausend verschiedene Antworten. Wegen der wunderschönen Landschaft, um abzunehmen, aus Liebe, wegen der Herausforderung, aus Abenteuerlust, als Drogenentzug oder um der Dekadenz der modernen Gesellschaft zu entfliehen, zur Entspannung, um Sauerstoff zu tanken, aus Freiheitsliebe, für Frieden, um auf Pilgerschaft zu gehen, um die Seele zu reinigen, um die Fesseln von Leben und Tod zu überwinden. Und ich, für mich trifft das alles zu. Meine Mutter bekam kurz vor Beginn meiner Trekkingreise die Diagnose Lungenkrebs im Endstadium. Als eine Christin, als Freiwillige, hatte ich jeden Heiligabend mit schwer erkrankten Freunden im Krankenhaus verbracht. Aber ich hätte nie gedacht, dass diesen Heiligabend meine Mutter ins Krankenhaus muss. Mit 14 Jahren war ich von zuhause weg in ein Internat gegangen und habe seitdem nicht mehr zusammen mit meiner Mutter gelebt. Ich habe nicht einmal gewusst, dass sie so gewaltige Gemälde geschaffen hat, darunter einige Dutzend Meter lange Rollbilder, die sie auf dem Boden liegend gemalt hat.

Zum ersten Mal wachte ich vor ihrem Krankenbett, zum ersten Mal brachte ich ihr Gladiolen und Pflaumenblüten, die sie so sehr liebte, ins Krankenzimmer. Das erste Mal half ich ihr zu duschen, sich abzutrocknen und die Haare zu waschen.

Das erste Mal wusch ich von Hand ihre Unterwäsche. Das erste Mal ging ich mit ihr vor dem Krankenhaus spazieren und das erste Mal kochte ich für sie. Ich schnitt ihr die Haare nach der Chemotherapie, danach sah sie aus wie ein energischer Kerl. Das erste Mal zog ich ihr Schal und Mütze an. Das erste Mal half ich ihr, einen Katalog ihrer Kunstwerke zusammenzustellen, das erste Mal organisierte ich eine Ausstellung ihrer Kalligrafien und Malereien. Das erste Mal haben wir über den Tod gesprochen und das erste Mal lebten wir zusammen. Als eine Landstreicherin, die als Jugendliche schon von zu Hause weg war, hatte ich nie eine besonders emotionale Verbindung mit meiner Mutter. Aber jetzt, da sie Schmerzen empfand, empfand auch ich Schmerzen. Zu dem Zeitpunkt merkte ich erst, wie tief wir verbunden sind und wie tief unsere Liebe füreinander ist.

Mit 42 Jahren hatte meine Mutter eine Operation an der offenen Brust machen müssen, die sie fast zur Invalidin gemacht hatte. Mit 51 wurde sie geschieden. Mein Vater war ein Geschäftsmann, sie eine Malerin, ihre Anschauungen und Interessen waren zu unterschiedlich, sie hatten spirituell nie wirklich zueinander gefunden. Mit 56 hatte sie ihren einzigen Sohn verloren, mein Bruder wurde beim Kampf gegen zwei Autodiebe ermordet; mit 69 wurde sie plötzlich schwer krank. Manchmal frage ich Gott, warum musste meine Mutter so viel Schmerzen ertragen, so viel Leid durchmachen? Aber wenn ich ihre Bildrollen aufmache, die stillen Düfte von Papier und Farbe einatme und sich meine Seele beruhigt, dann wird mir klar, dass es Teil des Lebens ist, Schmerzen zu erleiden. Menschen müssen Leid durchmachen, um Reinheit zu erlangen.

Ohne Zögern unterbrach ich die Arbeit an meinem Buch „Quer durch Xinjiang“, ich bin das einzige Kind meiner Mutter, bin ihre einzige Stütze, acht Monate kämpfte ich Hand in Hand mit ihr, jeden Tag gingen wir auf und ab, im kalten Krankenhaus, an der Grenze zwischen Leben und Tod. Hilflos sah ich mit an, wie sie sechs äußerst schmerzhafte Chemotherapien über sich ergehen lassen musste. Meine Mutter hat mit ungewöhnlich starkem Willen eine Behandlung nach der anderen durchgehalten, nie hat sie aufgegeben. Röntgenaufnahmen von ihrem Rückenmark zeigten, dass die Krebsgeschwulste unter Kontrolle waren, es gab keine neuen Metastasen. Im Frühsommer, in der Zeit, in der alles Leben erwacht, wenn alles blüht und gedeiht, kehrten wir aus dem Krankenhaus nach Hause zurück. Meine Mutter konnte wieder anfangen, ihre bunten Vögel und buddhistischen Figuren zu malen, sie konnte jeden Tag wieder ein zwei Stunden arbeiten. Wir bereiteten chinesische Medikamente für sie zu, so viele Kräuter, wir brauchten große Körbe, um sie aufzubewahren.

Täglich gingen wir mit ihr zusammen zur Quelle hinter der Universität, schöpften eine Kanne frisches Brunnenwasser, dann brachten wir sie und unseren alten Dalmatiner Hund zurück nach Hause. Mein Gefährte begann mit dem Aufbau unseres “Internationalen Schriftstellercamps“, ich setzte mich wieder an mein Buch „Quer durch Xinjiang“, schon viermal hatte ich meine Arbeit unterbrechen müssen.

60 Tage dauert der Hochsommer in Chongqing, den ganzen Tag über war ich schweißnass, so dass ich Geschwüre am Gesäß bekam und am rechten Ellbogen Schwielen wegen der Reibung. Endlich hatte ich das Manuskript im Umfang von 300.000 chinesischen Zeichen fertiggestellt. Alle Kraft und Motivation in dieser Zeit hatte ich meiner Mutter zu verdanken. Ich widmete ihr das Manuskript, das nach so viel Windungen und Wendungen endlich fertig geworden war. Ich bin dankbar für ihren Mut und ihren Willen, ich bin dankbar, dass sie mich großgezogen hat.

Im September hatte ich das Manuskript und alle Graphiken beim Verlag eingereicht, der Gesundheitszustand meiner Mutter sah recht stabil aus. Ihre CT-Aufnahmen deuteten darauf hin, dass die Krebszellen unter Kontrolle waren und sich nicht weiter ausgebreitet hatten. Ich traf die mutige Entscheidung, erneut nach Nepal, in das Land Buddhas, zu reisen. Ich wollte die letzte Etappe meiner Wanderung im 1000 km langen Himalaya vollenden. Früher schon in den Jahren 2007 und 2008 war ich als Rucksackreisende, Journalistin und Freiwillige in das kleine Bergland gereist, hatte Städte und Dörfer, Felder, Klöster und historische Städten sowie einen Teil des Himalaya erkundet. Mein erstes Reisebuch Der Duft Nepals war in dieser Zeit entstanden. Jetzt möchte ich ein neues Buch über Nepal und den Himalaya schreiben, möchte es meiner Mutter widmen, die Tag für Tag Bilder von Shakyamuni und Bodhidharma malte. Ich wollte im Ursprungsland des Buddhismus für meine Mutter und alle Menschen, die wie sie an Krebs leiden, beten. Und ich wollte auch noch einmal die Herausforderungen des Unbekannten erleben. Ich fragte meine Mutter mit schlechtem Gewissen, ob sie sehr einsam und traurig wäre, wenn ich sie für zwei Monate verlasse.

Meine Mutter nähte mit Gummibändern den unteren Saum meiner Hosenbeine zusammen, damit Regen und Schnee nicht in meine Schuhe sickern. Dann verstärkte sie mit Nadel und Faden alle Gurte meines Rucksacks, so dass sie sich auf dem Weg nicht lösen und auseinanderfallen. Meine Mutter, mein Mann (ich nenne so immer meinen Gefährten), mein Hund ‚Fleckchen‘ und die Schwester meiner Mutter, sie alle haben mir ohne viele Worte geholfen und mirKraft gegeben. So schnallte ich meinen 25 kg Rucksack auf den Rücken und brach auf, ohne weiter zu zögern. Später wurde mir erst klar, wie schwer es meiner Mutter gefallen war, zwei Monate lang auf mich zu warten. Die Gummibänder in meiner Hose, der reparierte Rucksack, damit hat sie ihre Liebe ausgedrückt. Ihren Schmerz dagegen behielt sie für sich, hat ihn in ihre Kalligrafie „Diamantenes Sutra“ einfließen lassen. Sie war zu diesem Zeitpunkt schon sehr, sehr schwach, konnte nichts essen, hustete ohne Ende, erbrach sich und litt an unendlichen Schmerzen ... Aber sie gab mir 60 Tage, 1440 Stunden, 86 400 Minuten, um frei die Welt zu erkunden. Sie gab mir die letzte Kraft ihres Lebens, um mich aufsteigen und fliegen zu lassen.

Kontrollstelle in Dhampus, hier werden die Tickets geprüft

Senkrechter Aufstieg nach Dhampus

Vieles macht man in seinem Leben „das erste Mal“, so gewinnt man Erfahrung. Aber als mein Bergführer Bikram sagt, jetzt kommen mehrere tausend steile Steinstufen, da habe ich noch keine Vorstellung davon, was da an Qual für Körper und Geist auf mich zukommt.

Phedi liegt auf 1130 m Höhe, der Name bedeutet „Fuß eines Berges, Tiefebene“. Der Gegensatz dazu ist Deurali, „Gipfel des Berges“, das heißt für Wanderer eine Höhendifferenz von 1000 m. Wer gerne wandert weiß, nichts ist anstrengender als langes Treppensteigen. Wer in der Stadt lebt, kann einmal versuchen in einem Hochhaus einige zehn Geschosse zu Fuß hochzusteigen und sehen, was das für ein Gefühl ist. Für Novizen ist dieser Aufstieg bei Phedi die erste Prüfung, eine erste Warnung des Annapurna. Alle paar Dutzend Stufen muss ich „bassnu“ („ich kann nicht mehr“) rufen und etwas verschnaufen. Die Sehnen an Knien und Fersen fühlen sich an, als würden sie gleich reißen. Trekker nennen ihren Bergführer meist englisch und weniger förmlich „Guide“. Ich sage meinem Guide, er soll vorweg gehen und nicht auf mich warten, ich komme dann langsam nach. Aber sein Berufsethos hält ihn davon ab, er muss sich um mich kümmern und kann mich nicht mit meinem Jammern alleine lassen.

Es ist schon Mittag, als wir endlich in Dhampus auf 1650m Höhe ankommen. Mit meinem Schneckentempo habe ich mich vier Stunden gequält, während ein Einheimischer oder Guide nur eineinhalb Stunden braucht, weniger als die Hälfte meiner Zeit. Im Sonnenlicht trocknet der Schweiß auf meinen Haaren, meinem Gesicht und meinem Körper, aber in der Mittagshitze fange ich gleich wieder zu schwitzen an. Ich bestehe darauf, in Dhampus Mittag zu essen und lasse mich erschöpft auf einen Bambussitz fallen.

Kurzstrecken-Trekker übernachten meist in einem von Gras und Blumen überwucherten Holzhaus in Dhampus, genießen den Anblick des Sonnenaufgangs am Machhapuchhare (Fischschwanzberg) und wandern am Vormittag zurück nach Pokhara. Mit 6000 Einwohnern ist Dhampus ein recht großes Dorf, drei Ethnien leben hier zusammen: Bahun, Chhetri und Gurung. Das goldene Getreide auf den Terrassenfeldern verströmt einen angenehmen Duft. Langsam schreitet ein Wasserbüffel über die Felder, ein Bild ländlicher Idylle. Das Geplätscher des Bergbachs und das Zirpen der Grillen in den Reisfeldern lässt die Berge noch stiller erscheinen.

Von Pokhara aus sieht man nur eine Seite des Machhapuchhare, der Berg sieht aus wie eine Pyramide, ich fragte mich, warum Einheimische und Trekker ihn alle Fischschwanzberg nennen. Er müsste ja wohl die Gestalt von zwei Schwanzflossen haben, so wie ein Fisch eben aussieht. Jetzt hier, von Dhampus aus hat man einen idealen Blick auf den Doppelgipfel, die beiden Schwanzenden. Unter Bergsteigern nennt man einen noch nie bestiegenen Berg Jungfrauengipfel, die Erstbesteigung eines Berges ist ein lebenslanger Traum vieler Alpinisten. DerMachhapuchhare glänzt bei Sonnenaufgang, anziehend wie eine Meeresjungfrau, aber den Nepalesen gilt er als heiliger Berg, die nepalesische Regierung hat die Besteigung verboten, der Machhapuchhare ist bis heute ein edler und unbefleckter Jungfrauengipfel.

Dhampus hat eine kleine Bushaltestelle, eine Schotterstraße führt um den Berg herum bis nach Pokhara. Am Morgen fährt ein Bus von dort nach Dhampus und nachmittags um fünf wieder zurück. 2007 bin ich im eigenen Auto mit meinem Gefährten durch Tibet über die nördlichen Hänge des Himalajas gefahren, über den chinesisch-nepalesischen Grenzübergang bei Zhangmu, dann die südlichen Abhänge des Himalajas herunter nach Kathmandu und Pokhara bis schließlich zum Ziel in Dhampus. Hier ist das Ende der Straße, weiter kommen nur noch Tragpferde und Trekker. Diesmal bin ich auf meinen eigenen zwei Beinen nach Dhampus aufgestiegen, auch oder gerade wegen der schmerzenden Füße und Beine eine bleibende Erinnerung.

Mein Guide zeigt auf das Basislager des Machhapuchhare fern am Horizont im goldenen Sonnenlicht unterhalb des schneebedeckten Gipfels. Dort liegt das Ziel der nächsten fünf Tage Wanderung. Ich strecke meine Arme aus, als ob ich die Berge umarmen wollte. Mein Blick schweift durch Zeit und Raum, durch das Rauschen des Windes und die Strahlen der Sonne hindurch spüre ich das Ziel. Aber wenn ich mir vorstelle auf meinen zwei Beinen einen Schritt nach dem anderen bis dorthin zu trekken, dann fürchte ich, ich werde wohl ohnmächtig auf dem Weg liegenbleiben.

Ein Gruß an jeden Stein

Am Wegrand bei Dhampus steht ein auffallendes Schild und ein Holzhäuschen, nicht viel größer als die Fläche einer Hand, die Kontrollstelle von TIMS und ACAP 3