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Keine Straße des berühmt-berüchtigten Berliner Bezirks Neukölln ist so verrufen wie die Sonnenallee – doch die wahren Verhältnisse sprechen eine differenziertere Sprache. Bis zum Fall der Mauer in Berlin war Neukölln vor allem ein abgeschiedenes Quartier, eher ruhig als aufregend – ein Viertel von Losern und Abgehängten, unsaniert, die Luft gesättigt von den Schwaden der Kohleheizungen. Das Quartier um die inzwischen berüchtigte Sonnenallee war alles, aber nicht hip oder quirlig. Das hat sich nach 1989 zum durchaus freundlichen Erstaunen der Ureinwohner geändert: Die Sonnenallee ist zum Schauplatz von Aufbruch und Niedergang geworden. Hier ist kein großes Geld, hier wird nicht schick konsumiert, hier wird mit Mühsal gelebt. Berühmt, ja verrufen war die Sonnenallee besonders seit dem 7. Oktober 2023, dem Tag, an dem die Terrororganisation der Hamas Menschen in Israel massakrierte – und in Neukölln aus Freude darüber Baklava verteilt wurde. Pro-palästinensische Demonstrationen machten diese autoüberlastete Straße selbst in überregionalen Medien bekannt. Was aber macht die Sonnenallee wirklich aus, wer lebt dort, wer kommt mehr schlecht als recht über die Runden, wer will mehr vom Leben als Tagelöhnerei, wer sagt etwas zu den Umständen des Lebens, die mehr sind als alltägliche Bagatellen? Jan Feddersen lebt seit 27 Jahren an der Sonnenallee, er hat die Um- und Aufbrüche selbst erlebt und weiß, wie es rund um diese Straße tickt. »Meine Sonnenallee« ist ein Buch der Spaziergänge und Gespräche in einem Viertel rüder und zarter Verfasstheit – und eines, das zeigt, welche Fragen wir wirklich über unser Zusammenleben stellen sollten. Jan Feddersen, geb. 1957, ist in Hamburg, im Hafenviertel der Veddel aufgewachsen. Seit 1996 lebt er in Berlin, ebenso lange in Neukölln. Er ist Redakteur der taz, Kurator des taz lab und der taz Talks. Daneben veröffentlichte er zahlreiche Texte in Anthologien sowie Bücher zum Eurovision Song Contest und zur Identitätspolitik und ist Mitherausgeber des »Jahrbuch Sexualitäten«. Er möchte in keinem anderen Berliner Bezirk leben als in Neukölln.
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Seitenzahl: 338
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Jan Feddersen
Meine Sonnenallee
Notizen aus Neukölln
Wallstein Verlag
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© Wallstein Verlag, Göttingen 2024
www.wallstein-verlag.de
Vom Verlag gesetzt aus der FreightText Pro und der Montserrat
ISBN (Print) 978-3-8353-5710-5
ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-8712-6
ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-8713-3
Umschlag
Titel
Impresum
Inhalt
Meine Sonnenallee. Notizen aus Neukölln
Wann genau fing es eigentlich an, dass junge Menschen, hatten sie vor, nach Berlin zu ziehen, von Neukölln zu träumen begannen? Von diesem Viertel zu phantasieren, nicht mehr von Friedrichshain, Prenzlauer Berg, Kreuzberg oder gar Mitte. Gab es einen Nullpunkt des Interesses, von dem aus dieser Bezirk eine Art Dorado allen Anfangs werden sollte, für junge Menschen für einige Jahre Lebensfläche, Kulisse und Bühne auf überschaubarem Raum, eine Projektionsfläche der Neuerfindungen in eigener Sache? Oder war es kein Traum, der als Plan irgendwann entworfen wurde, sondern eine vage Idee, weil dort die Mieten so günstig waren, das Reservoir an Zimmern und Wohnungen außerdem so schön alt, ja traditionell und urig aussah? Aber was heißt: Bezirk? Gemeint ist mit Neukölln wohnlicherweise alles, was zwischen dem alten Tempelhofer Flugfeld und dem Kanal als Grenze zu Kreuzberg liegt und oberhalb des S-Bahn-Rings mit den Stationen »Sonnenallee«, »Neukölln« und »Hermannstraße«. Das Pflaster des nach Metropole riechenden, schmeckenden Quartiers, nie wie in einem Wald nach einem Regen. Gründerzeithäuser, aufgepimpte Brauereiareale, breite Bürgersteige, Menschenknäuel am Morgen und am Abend, eigentlich bis auf die Nacht immer voller Menschen. Nicht gemeint ist jedenfalls alles jenseits der Ringbahn, ist von Neukölln die Rede. Buckow, Rudow, Gropiusstadt – also bitte!
Kerne dieses Bezirks, der vor gut hundert Jahren noch eine eigene Stadt sein wollte und dann doch von Großberlin verschlungen wurde, das sind diese Teile Neuköllns – außerhalb eigentlich, im Grünen, wie man sagen könnte, durchschnitten von einer Autobahn zum Flughafen und einer U-Bahn-Linie, die irgendwann nach Schönefeld zum Flughafen verlängert werden soll. Alle, die in den frühen achtziger Jahren einen Billigflug etwa nach Athen und zurück gebucht hatten, kamen über Schönefeld, Flughafen Berlins, Hauptstadt der DDR. In Rudow endete die U-Bahn – und niemand dachte sich, dort ein- oder aussteigend: Verweilen wir, es ist so schön!
Eher schon im politischen Mittelpunkt des Bezirks, an der Karl-Marx-Straße? Dort steht das Zeugnis des auf eigenes Stadtbewusstsein bauenden Eigensinns, kaum zu übersehen, das Rathaus, hinterseitig begrenzt durch die Donaustraße, wuchtig in der Aura, auf Beleibtheit setzende Architektur der späten Gründerzeit und 68 Meter hoch. Wer in diesem Gebäude etwas zu tun hat, kommt mit der vielleicht gar nicht so erstaunlichen Erfahrung wieder heraus, gut behandelt worden zu sein. Ob an der Pförtnerei, bei Ausweisangelegenheiten oder bei Ratlosigkeiten aller Art: Es scheint, als hätten alle irgendwie eine Fortbildung in vorzüglicher Zugewandtheit absolviert – und das mit Prädikaten.
Ob das schon immer so war? Wer weiß das schon. Großstadtleben findet immer im Modus akut notwendiger Vergesslichkeit statt, es passiert einfach zu viel mit oft zu vielen. Keine Zeit, um sich dem Vergangenen zu widmen. Lag diese gewisse Berühmtheit dieser zu Berlin gehörenden Stadt am Bürgermeister Heinz Buschkowsky? Ein Sozialdemokrat robustester Ausstrahlung, ein Ansager und Antreiber, kein Dulder von Schlurigkeiten, also Müll auf den Straßen oder Unhöflichkeiten in der Ansprache. Ein Mann von Prominenz. Bürgerinnen und Bürger, nebenbei: auch jene, die zu den Zugewanderten gehören, dankten es ihm beim Abschied. War seine Regentschaft als Bürgermeister der Kick, der Neukölln zu Neukölln machte, so schaffte – nach einem Intermezzo mit der zunächst zur Bundesfamilienministerin hochgelobten Franziska Giffey – es erst sein Nachfolger Martin Hikel, Jahrgang 1986, zu werden, was dem Nachkriegskind Buschkowsky nie gelang: Landeschef der Berliner SPD. Ohne Neuköllner Stallgeruch wäre ihm das womöglich nicht gelungen.
Aber so sehr die Burg, denn so sieht das Rathaus in seiner Architektur ja auch aus, Prominenz beansprucht, das Zentrum des wahren Lebens markiert sie dennoch nicht. Aller Anfang Neuköllns ist der Hermannplatz, an dem auch das Kaufhaus von Karstadt steht, seit vielen Jahren von Schließung bedroht, die, würde sie wirklich geschehen, eine kommunale Tragödie wäre, weil dieses Haus, abgesehen von einer Lebensmittelabteilung im Untergeschoss, die so wohlsortiert ist wie keine andere in Berlin, immer auch ein Bürgerzentrum war. Oben die Gastronomie, dazwischen die Verkaufsetagen, bevölkert von allen, die drumherum leben, neuköllnische wie auch kreuzbergerische Menschen. An den Kassen: ein Querschnitt gewöhnlichen, normalsten und modernsten Berlins, Männer mit flamboyanten Brillen, Frauen mit Kopftuch – und eine sagte einmal, befragt zwischen zwei Abkassiervorgängen, ob sie ihren Job möge: »Nur in Neukölln. Hier kenn‘ ick ja alle.«
Am Hermannplatz beginnt die inzwischen berühmteste Straße des Bezirks, sie nimmt sich von dort wie ein metropoler Schlund aus, in den die Menschen rund um die Uhr hineinströmen. Sie wird mittlerweile auch Arabische Straße genannt und es bleibt doch – die Sonnenallee. Der schöne, aufregendste Verkehrsweg Berlins und viel mehr als ein Catwalk von Hamasverstehern. Sie zeigt: unsere Zukunft.
So richtig berühmt, manche würden sagen: berüchtigt, wurde die Sonnenallee am 7. Oktober 2023. Ein Tag, der in Neukölln vielleicht nicht viel, doch einiges veränderte. Im Nahen Osten hatten Hamas-Terroristen aus dem palästinensisch verwalteten Gazastreifen heraus auf israelischer Seite ein Tanzfestival und etliche Kibbuzim, Wohnsiedlungen gemeinschaftlicher Art, überfallen, deren Teilnehmer und Bewohner massakriert und abgeschlachtet und mehr als zweihundert Menschen als Geiseln genommen und nach Gaza verschleppt. An diesem ersten Samstag im Oktober des Jahres 2023 hatten die ersten, noch verworrenen, unklaren Meldungen von diesem Terrorüberfall noch nicht alle Wohnzimmer und Smartphones erreicht, doch einigen arabischstämmigen Neuköllnern war die Nachrichtenlage so überzeugend, dass sie sich aufmachten – zur Sonnenallee. Stolz, ja Frohsinn ob der Tatsache, dass in Israel ein Massenmord gerade stattgefunden hatte – und dafür vor unverhohlener Freude Baklava verteilten, zwischendurch ihre Arme reckten und Fäuste hoben. Und die Anwohnerschaft ließ es sich gefallen. Nicht dass da viele protestierten gegen die Feier der Tötungen von Menschen, fast gar keine. Schwiegen sie nur, weil nicht so ganz klar war, was da Freude bereitete?
Arabische Süßigkeiten zur Feier bei vielen Anlässen, auch zum 7. Oktober.
Seither ist die Arabische Straße in Berlin ein berühmter Ort, ein Hot Spot. Aber fing es wirklich an diesem Tag an, dass die Sonnenallee zur nervösen Ader nicht nur Neuköllns wurde? Wie konnte es geschehen, dass ein Viertel, in das seit 2014 besonders Menschen aus Syrien, dem Libanon, Irak und Afghanistan, Rumänien, Bulgarien und Mazedonien einwandern, andererseits doch das Hipsterdorado schlechthin wurde, gerade für israelische Frauen und Männer, die es in ihrem Land mit der Regierung Benjamin Netanjahus nicht mehr aushalten wollten? Deren Traumstadt Berlin war und Neukölln, ein Traum von postzionistischem Miteinander – und seit dem 7. Oktober doch zu lernen hatten, im öffentlichen Raum, wenn überhaupt, dann nicht allzu hörbar Hebräisch zu sprechen?
»Meine Sonnenallee« kommt einer Chronik gleich, ein Tagebuch, das am 7. Oktober beginnt, das Buch ist eine persönliche Empörung: Darüber, dass ich mir meine Heimat, meine »Hood«, wie es modern heißt, nicht nehmen lassen wollte. Selten stellte ich mir vor, woanders hinzugehen, Neukölln war, als ich 1996 nach Berlin umsiedelte, nicht besonders alternativ. Oder ökologisch gesinnt. Eher vergessen. Es sollte aber bitte kein Kreuzberg werden, schon gar nicht Charlottenburg, und nach Mitte, ruhig und Metropole simulierend, schon gar nicht. Meine Notizen aus Neukölln sind mein Versuch, mit kulturellen Verhältnissen klarzukommen, die nirgendwo sonst in der Hauptstadt so krass beieinander sind. Die Sonnenallee – das ist die Traumstraße des Landes, sie ist nur auf wenigen Metern schön, wenn überhaupt, sie ist meistens laut, sie zu beschreiten und zu verstehen braucht Übung, sie ist nicht anschmiegend, sie verlangt allen auch einen gewissen Anpassungswillen ab, ohne ins Dörfliche zu kippen.
Im Moment des Überlegens aber weht ein Zweifel mich an. Sind mir diese Sätze genug, um mir zu genügen? Für irgendeine aufrichtige Erklärung, weshalb mir dieses Neuköllnische so sehr ins Gemüt ging? Der erste Blick die Sonnenallee herunter, vom Hermannplatz aus, wie einer, der Interesse in mir weckt, wie ein Hungergefühl, unterkalorisch und gierig nach Nahrung. Ein Rätsel, das bis zum Ende dieser Zeilen hier bleiben kann.
Es würde doch ein normaler Samstag werden, dieser 7. Oktober, der Freitag war schon so, wie immer. Normal. Und wie immer auch interessant. Wer nicht nur nach innen guckt, sieht und erkennt einen Reigen an menschlichen Möglichkeiten. Frauen auf steilsten High Heels, Männer in Sneakers, Kinder im Rudel vor und nach ihren Eltern. Arme, bettelnde Männer, reiche Typen, die aus sehr kostspieligen Autos stiegen, Halteverbote unbeachtet lassend. Am Abend zuvor also essen gehen im Viertel, meist bei unserem Griechen. Ein Wochenende mit Fußballbundesliga für uns. Und für andere zwei bis anderthalb freie Tage mit anderen Dingen, auf die sie sich freuten, hoffentlich. Buchstäblich alles ging seinen gewohnten Gang, soweit man das vermuten musste. Männer vor arabischen Supermärkten wässerten die Gehwege vor ihren Läden, um sie sauber zu machen, Spuren der Nacht mussten getilgt werden. Die Barber Shops öffneten etwas später, am mittleren Morgen, die Shisha Bars hatten noch geschlossen. Gen Hermannplatz wurde die Menge an Menschen zu einem Knäuel, zu schmal der Abstand zwischen Häusern und geparkten Autos. Man hatte Slalom zu gehen, wie immer. Wer auf andere auflief, zeigte an, Metropoles nicht zu können. Menschen, geübt in der Disziplin, Wege in der Stadt nicht schnurgerade gehen zu können, wissen das. Touristen sind leicht zu erkennen: Sie müssen dauernd stehen bleiben, um sich neu zu orientieren. Durch die Sonnenallee fährt der M41, die Linie bis ans Ende der knapp fünf Kilometer langen Straße, fast 5000 Schritte in gut einer Stunde, ein gelber Menschentransporter mit erstaunlicher Zuverlässigkeit.
Auf dem Hermannplatz kein Markt am Samstag. Am U-Bahn-Ausgang Menschengewusel seit dem allerfrühesten Morgen. Bettler immer mit von der Partie, Taschendiebe, heißt es, auch, doch alle wissen, dass sie da sein könnten. Niemand, der achtlos vor dem Caffe-Latte-Kleinwagen mit dem immer viel zu kühlen Cappuccino achtlos sein Portemonnaie aus den Händen gäbe – andere würden vielleicht von der Seite professionell zugreifen. Der Verbindungsgang am U-Bahnsteig Hermannstraße zum Kaufhaus, in die Lebensmittelabteilung von Karstadt, riecht wie immer nach Urin, oft watet man durch Schnapslachen, Bierpfützen, vorbei an abgewrackten Menschen, die sich eine Spritze setzen, keine Zukunft vor sich.
Wann fing es an, dass mein Berliner Wohnort, eben dieses nördliche Neukölln, mir richtig vorkam? 50 Quadratmeter, knapp 500 DM zu ökovollsanierten Bedingungen: Was kann bei dieser Tariflage missgelaunt stimmen? Und das nach einigen Jahren halbwegs zufriedener Existenz dort, auch wenn es zum Ausgehen, abgesehen von Absturzkneipen wie »Simone’s« oder »Zum Tönnchen«, fast keine Bars gab. Alles war mindestens drei U-Bahn-Stationen entfernt, nichts fußläufig. War es Freundin S., Ende dreißig, neuer Job bei einer überregionalen Zeitung, dort avisiert, auch ihre erhofften Talente als Kriegsberichterstatterin einzubringen, etwa im Irak, im Gazastreifen, in Syrien? Sie kam eines Abends und begann mit den Worten: »Ich muss Dir was beichten.« Nun? »Ich ziehe hier weg, ich kann nicht mehr. Im Job habe ich nur über Elend und Not, Tote und Verletzte, Schlachten und Schützen zu berichten – und das meine ich nicht theoretisch. Ich schwör: Das sehe ich echt. Ich will das nicht nach Feierabend. Muss ich aber. Wohn‘ ja hier. Zuviel Schmutz. Dreck auf den Straßen, Leuten, denen das alles egal ist. Alles. Und keine Ruhe irgendwo.«
Soll ich verhehlen, dass meine eigene Toleranz den ja nicht nur eingebildeten Umständen rund um die Abende und an Wochenenden mir viele Wochen nur tapfer und klamm vorkam? Fast heroisch. Als ob ich irgendetwas auszuhalten hätte, wo nichts auszuhalten war. Billige Wohnung, prima Vermieter, freundlicher Hausmeister und eine Nachbarschaft, die vielleicht nicht auf Rosen gebettet lebt, aber von moralischer Integrität geprägt ist. Aus den Briefkästen, schon damals, kein Diebstahl, keine Brüche. Die Ungemütlichkeiten mögen nervös gestimmt haben, aber auf Erden ist nun mal kein Paradies. Und: Wer will, hat man schon Quartier in der Hauptstadt, ins Grüne?
Wie es doch besser wurde? War es nach dem Abend mit A., der aus Hamburg zu Besuch kam und auf die Frage, wie er es denn auf St. Georg am Hamburger Hauptbahnhof aushalte, antwortete: Wie Du in Neukölln. Weil die Menschen interessant sind, weil fast nie so getan wird, als sei irgend jemand besser als andere. Kein Leben als ob. Ist doch bei Dir alles da, sagte A., Kneipen, Restaurants, Lebensmittelmärkte, Bio und Discount. Und Spätis. Muss man nur alles mögen. Andere rieten damals, vor 20 Jahren, es doch mit einer Wohnung in Schmargendorf oder im Grunewald zu probieren, im Grüneren. Nein, Grünes ist für Parks und für die Ferien woanders.
Und dann trug es sich zu, es muss ein sehr kühler, eher nasser Herbsttag gewesen sein, dass an einem späten Abend vor vielen Jahren einer aus einem Imbiss kam und fragte: Hast Du mal ’ne Zigarette? – So ein Mann, Typ Strauchdieb, aber mit nicht unfreundlicher Stimme, nicht zu sehr auf Jammerei getunt, kein auf meine Ohren geeichtes Fordern. Doch an jenem Tag hatte ich einigen Schnorrern und Bettlern schon irgendwas zukommen lassen, nun reichte es. Müde, ausgelaugt vom Tag rief ich nur leise: Nein! Und ging weiter. Vielleicht zwölf Meter weiter, die Straße lärmte gerade nicht, der M41 fuhr auch nicht alles übertönend vorbei, hörte ich, wie er sagte: Ach, sei doch nicht so geizig! Das saß. Hatte er mich erkannt? Wusste er, dass er mit diesem Satz meine Achillesferse direkt malträtierte? Wer will sich das schon nachsagen lassen – Geiz? Nicht nur ein hartes Herz zu haben, das war die Botschaft, so kurz vor der Nacht, und dann noch ungroßzügig. Etwas haben und dann nichts davon abgeben wollen. Schlimmer könnte die eigene Gutherzigkeit nicht dementiert werden. Angeweicht ging ich zurück – sagte vor ihm, ein keineswegs obdachlos wirkender Mann in den Dreißigern, einer in offenbar zwei Tage getragenen Klamotten und mit Dreitagebart, also sagte ich doch tatsächlich zu ihm: Tschuldigung. Und fragte, ob er selbst drehen möchte. Das könne er nicht so gut … ob ich? Drei Zigaretten, mit Filter, gut gestopft … gab sie ihm, woraufhin er fast wie nebenbei sagte: Danke.
Das war einige Jahre vor dem sogenannten Flüchtlingsstrom, das war wenige Jahre, ehe Heinz Buschkowsky seine SPD-Kollegin und vorbestimmte Nachfolgerin Franziska Giffey nach Bulgarien losschickte auf Erkundungsreise, so geht die Legende, um sich zwei bulgarische Dörfer anzugucken, denn deren Bewohner seien von dort als umzugswillig nach Neukölln angekündigt, und das solle sie nicht verhindern, ganz unmöglich wäre das nach europäischem Recht, sondern managen, regeln, nicht das Geschehen geschehen lassen. In der Harzer Straße, etwas abseits vom Puls der Sonnenallee und weit vom Hermannplatz weg, standen Häuser einer bestimmten, ethisch dem Guten verpflichteten Wohnungsgesellschaft, in die diese Menschen ziehen könnten, und das geordnet, geplant. Slums müssen verhindert werden, so soll es The Big Buschkowsky gewollt haben, was nicht verhindert werden kann, brauche ordentliche Bahnen.
So ist das an diesem Samstag in Neukölln. Normal. Immer etwas zittrig im Gemüt, nervös, alle. Knapp an Zeit, gering die Aufmerksamkeit für vom üblichen Gang der Alltagsdinge abweichende Momente. Wer unentschlossen geht, hat wohl nichts zu tun. Hätten wir merken müssen, dass etwas anders zu werden begann, durch einen Moment des Innehaltens? Aber wer macht das schon. Martinshörner und Auto, die beim Abbiegen aus Kreuzberg in die Sonnenallee hinein mit den Reifen quietschen? Also bitte. Ist auch normal, lohnt ja keinen Blick aufwärts. In der Jackentasche das Mobiltelefon, es brummt vernehmlich, Meldungen von welchem Kanal auch immer. Kann noch warten. Später, Stunden weiter, lesen wir sie. Meldungen aus einer anderen Weltgegend, aus Israel, viele Buchstaben in hebräischer Schrift. »Hier passiert gerade Schreckliches«, »Was ist hier los?«, »Oh Gott, was geschieht hier?« erkennen wir als Schnipsel wieder, Freunde und Freundinnen. Aus Tel Aviv, Be’er Sheva, aus Akko, Haifa und Eilat. Immer mehr Meldungen. »Aus Gaza kommen Raketen«, »Ich erreiche meine Tochter nicht«, »Weiß jemand was?«, »Was können wir tun?«
Ist es dann am Nachmittag zum Abend, als das für Neukölln, für die Sonnenallee alles Ändernde geschieht? Schien die Sonne, war es warm, hatte es wärmere Kleidung nötig? Tage darauf berichten Menschen, die sehr nah dabei waren und nichts begreifen konnten, dass plötzlich arabisch aussehende Männer und Frauen auf der Sonnenallee auftauchten, in ihren Händen Schachteln, einige sollen Tabletts wie in türkischen Caféhäusern getragen haben, darauf Baklava, sie rufen »Endlich!«, »Wir sind da!« und »Wir lassen uns nichts mehr gefallen.« Sie bieten die Süßigkeiten nicht schüchtern an, wie Zeugen Jehovas gelegentlich ihre Zeitschriften zeigen. Im Gegenteil agieren sie, vielleicht fast hundert jüngere Männer und Frauen, überfreudig, als seien drei Zuckerfeste auf einmal zu feiern. Ihr Frohmut grenzt, so bezeugen es mir glaubwürdig scheinende Leute aus dem Viertel, an einen seelischen Zustand der Verzückung: »Endlich!« Da zeigt sich Lust, Hingabe und Befreiung. Sie buchstabiert sich wie Hass, nichts als Hass, Verweigerung und Gewalt, als würde ein Dampfkessel explodieren. Yalla, Alter, was los hier, »Palestine free from German guilt«, jetzt sind wir hier, wir mussten die Klappe halten, aber wir sind die Rächer unserer Vorfahren, ihr werdet sehen.
In den Medien, ob in der »Tagesschau«, in den Sendungen der privaten Kanäle, im Radio, sickern die Berichte ein: Aus Gaza heraus haben in den frühen Morgenstunden dieses Samstags, zu Schabbat, ausgerechnet am jüdischen Ruhetag, wenn das rührige Leben in Israel wie an einem Sonntag in christlichen Ländern stiller geht, vieltausend Männer der Terrororganisation – und faktisch: die dortige Regierungsorganisation – Hamas die Grenze zu Israel an der Negevwüste überschritten. Sie kamen, um zu töten. Sie überfielen mordend einen Rave, viele hundert junge Frauen und Männer. Und sie töteten Menschen in nahen Wohneinheiten von Kibbuzim voller Enthusiasmus. Soviel war bald klar – wie auch rasch vermeldet wurde, dass auf der Sonnenallee arabische Süßigkeiten ob dieses Ereignisses verteilt wurden.
Auf der Sonnenallee wird gefeiert? Aus Berkeley, an einer der besten Universitäten der USA, wird überliefert, dass noch am gleichen Tag erste Demonstrationen stattfinden – nicht aus Solidarität mit dem überfallenen Land, sondern schon warnend vor einem militärischen Schlag gegen die Menschen in Gaza, vorwegnehmend – hoffend? –, dass das überfallene Land sich wehren würde, zum Missfallen vieler in der Welt, besonders in der akademischen.
Wenige Tage darauf ein erster Versuch zu verstehen. Uns noch unbekannt war die Information, dass beim Überfall am 7. Oktober die Hamas-Kader deshalb so akkurat wussten, wo sie morden können, weil Bewohner aus Gaza, ausgerüstet mit Arbeitskarten vom israelischen Arbeitsministerium, die Kibbuzim und das Tanzfestival, das stattfinden würde, scouteten, auskundschafteten. So wussten die Guerilleros, wohin sie mit ihren Absichten zu gehen haben. Dass sie nicht auf Armeen treffen würden, sondern auf Zivilisten. Die grenzbewachenden Soldatinnen hatten die Terroristen in ihren ersten Aktionen töten können. Nach den Männern der Hamas, am Tag des Mordens selbst kamen Männer aus Gaza, keine direkten Angehörigen der Hamas, die sich am Morden und Schlachten, vor allem Plündern und Rauben beteiligten, diese für jede weitere Zukunft in und um Israel vergiftende Information sickerte nie so recht in die politische Wahrnehmungswelt ein. Immer wieder im Mittelpunkt des Interesses der deutschen Medien: die Sonnenallee, die Arabische Straße, Ausgehmeile vieler junger Touristen. Dass dort palästinensische Fahnen schon wehten, als die israelischen Militärs noch nicht selbst ihre Aktionen gegen die Hamas begonnen hatte. Mitgefühl mit den Opfern des 7. Oktober, Israelis und dort lebenden Menschen: gering, soweit man das sehen konnte. Israelische Fahnen in Neukölln? Besser nicht. Entsetzen, Schocks wie nach dem 11. September 2001 beim islamistischen Attentat auf die Twin Towers in New York, auf das Pentagon bei Washington D. C., Routinen schienen ausgesetzt, so wie nach dem islamistischen Attentat auf das Bataclan in Paris, auf das Magazin Charlie Hebdo in Paris, am Meeressaum in Nizza. Nicht so nach dem 7. Oktober.
Im Folgenden ein erster Kommentar von mir, um die Lage zu sortieren, für mich, als einer, der im Prinzip nichts gegen palästinensische Fahnen hat, auch nichts gegen Wassermelonen, aufgeschnitten wegen ihrer dann schwarz-rot-grünen Farbigkeit ein Symbol ihres Palästinas, nichts gegen arabische Menschen überhaupt – und als jemand, der gerade realisiert, dass sich meine privaten Lebensverhältnisse an der Arabischen Straße ändern würden: Wie konnte ich sie mögen bei all den Sympathien für ein Palästina, das ohne Israel auskommen wollte?
Mitten auf Neuköllns Prachtstraße verteilten arabischstämmige Männer und Frauen Süßigkeiten – weil Hamas-Terroristen in Israel besorgten, was die Welt derzeit erschüttert. Morde und Totschläge, Demütigungen, Geiselnahmen in Israels Süden. So abstoßend diese Gesten auch waren, so verstörend der Befund ausfällt, dass ein Kippa-Träger das Gebiet rund um die Sonnenallee (und anderswo, aber besonders dort) besser meidet: Diese Bekundungen sind durch die Meinungsfreiheit gedeckt, das ist schon der größte Unterschied hierzulande (und übrigens auch in Israel) zum Gazastreifen. Hier können selbst politisch widerlichste Dinge geäußert werden.
Die Statements von politisch-offizieller Seite, nun müsse der Rechtsstaat gegen solche Freudenbekundungen vorgehen, sind unrechtsstaatlich: als ob Meinungen nur dann erlaubt sind, wenn sie den eigenen Gefühlen nicht widersprechen. Auch wenn sie damit bis in den Graubereich des Straftatbestands Volksverhetzung kommen. Die Bilder der Neuköllner Demo (und ihrer Bewertung in den sozialen Medien) sind kein Wunder, sie haben Resonanz gewinnen können, weil viel zu viele deutsche, auch angeblich postkolonial gesinnte Antisemit*innen ebenso denken wie die Süßigkeitenverteilenden auf der Sonnenallee: Na, das hat Israel jetzt davon!, selbst schuld, so was kommt von so was!
Und das eben sind nicht allein Nazis, die so fantasieren, sondern, darauf kommt es hier an, viel zu viele, die sich als politisch links verorten. »Palestine will be free / From the River to the Sea«: So heißt es immer wieder auf (linken) Demotransparenten, in Neukölln und anderswo. Ein Anfang, so glauben sie mit erschreckender Kälte, ist Samstag gemacht worden.
Sie haben erreicht, was sie fantasierten. Wer die nahöstliche Welt in dieser Form sortiert sehen möchte, völkisch gesinnt durch und durch, gibt den Bonbonverteilenden ein Unterfutter der Solidarität, die sie nötig haben, um überhaupt gehört zu werden. Linke und Grüne haben muslimische, palästinensische Communitys lange bevormundet. Jetzt ist Zeit für harte, herzliche Worte. Selbstverständlich ist es rechtsstaatswidrig, Demonstrationen mit palästinabejahendem Inhalt zu verbieten. Sollen sie sich äußern, all die arabischen Einwanderer, Bürger und Bürgerinnen und Flüchtlinge, dass der deutsche Blick auf Israel ein unvollständiger ist, sofern die palästinensische Perspektive nicht beachtet wird. Klar, Hamas-Feiern müssen verboten bleiben, unser Demonstrationsrecht umfasst alle Anliegen, prinzipiell auch solche, die man selbst falsch findet, aber eben nicht die Feier von Terrorismus oder seine Stilisierung zum Freiheitskampf. Wenn also auf der Berliner Sonnenallee, Epizentrum arabischen Lebens in Deutschland seit 2014, Demos stattfinden, die anderen missbehagen, muss das ausgehalten werden: Demokratie ist schließlich keine Schneeflockenversammlung.
Ebenso rechtsstaatswidrig sind alle Allüren aus dem konservativen Spektrum, die Tauglichkeit für die deutsche Staatsangehörigkeit an ein Bekenntnis zu Israel und zum Kampf gegen Antisemitismus zu knüpfen. Davon abgesehen, dass diese Art von Gesinnungs-TÜV von allen Einbürgerungswilligen verlangt werden müsste, am besten auch gleich von allen traditionell Deutschen, wäre eine solche Prüfung antiliberal: Als ob die meisten der aus arabischen Ländern zu uns Geflüchteten nicht vor den gleichen Kräften flohen, wie Israel sie jetzt zu bekämpfen hat.
Aber: Dass das in der Tat ethisch mit gutem Herzenskompass versehene Publikum palästinensische Demos wünscht, die sich solidarisch mit Israel erklären, dass sie sich in den abgeschlachteten Opfern der Hamas-Metzger wiedererkennen, weil es sie als Nächstes treffen könnte, käme diese islamistische Seilschaft auch hierzulande stärker zu Macht und Einfluss, ist selbstverständlich. Doch so sind die Dinge eben nicht, die stille Mehrheit, hofft man, schweigt noch. Und das hat mit einer linken, multikulturell orientierten Politik zu tun, die die Probleme, die mit aus arabischen (vor allem palästinensischen) Gebieten Eingewanderten sich ergeben, notorisch ignoriert und bagatellisiert. Zum Problem einer ernsthaften Einwanderungs- und Integrationspolitik gehört, hier nur ein paar Facetten, dass Bürgerrechtlerinnen wie Necla Kelek und Seyran Ateş, dass eine in puncto Krieg-gegen-die-Ukraine zwar obszön herzlose, aber in Sachen Islamismus seit der Machtübernahme der Mullahs in Iran 1979 hellwache und klare Alice Schwarzer, dass ein aus einer arabisch-israelischen Familie stammender Ahmad Mansour oder dass ein Islamwissenschaftler wie Ralph Ghadban in unseren Kreisen als »rechts« abgetan wurden und werden. Dass sie, diese öffentlichen Stimmen, in der Tat im linken Spektrum, auch mit Hilfe der taz, Anlass zu Cancel-Culture-Impulsen geben, aber nicht zu Interesse und Neugier. Sie alle sind in der Vergangenheit faktisch dämonisiert worden: Was sie zu sagen haben, nütze nur den Rechten, so das chronische Abwiegelungsargument.
Sie alle, mehr oder weniger großen Unterschieden zum Trotz, eint, dass sie auf die muslimisch prägenden Lebensverhältnisse bei uns in Deutschland einen kühlen, in der Regel präzisen Blick werfen – und keine Scheu haben, da, wo »Kultur« draufsteht, Menschenrechtsverletzungen wahrzunehmen. Anlässe für Kuscheligkeit stiften sie nicht, gut so. Gewalt in den Familien, fehlende Orientierung auf Bildungsaufstiege und bürgerliche Lebensverhältnisse, Appeasement antisemitischen Artikulationen in Moscheen gegenüber – um nur die gröbsten Felder zu benennen. Linke, multikulturell orientierte Politik hat die Probleme notorisch ignoriert und bagatellisiert
Stattdessen, so die linke und grüne Dauerübung: Alles ist rassistisch, rechtspopulistisch und antiislamisch. Das kommt einem Zerrbild gleich, selbst wenn man die rechtsradikalen Morde des NSU-Komplexes, die mörderischen Brandschatzungen in Solingen, Mölln und anderswo in Rechnung stellt. ›Nie wieder ist jetzt‹ – und das bedeutet auch im Hinblick auf das Sprechen mit und zu den muslimischen (besonders: palästinaaffinen) Communitys: Es ist keine Zeit für Paternalisierungen. Sondern für Ansagen, Klarstellungen. Und die gehen so: Juden und Jüdinnen inklusive ihres aktuell verwundeten Safe Spaces namens Israel liegen uns am Herzen, euch auch. Palästina wie in eurer Phantasie ist nicht mehr. ›From the river to the sea …‹: vergesst es. Kennen lang eingeborene Deutsche alles längst, die glühenden Konflikte hierzu liegen drei Jahrzehnte zurück: Schlesien ist weg, und Ostpreußen auch. Ihr könnt Rückkehr nach Palästina wünschen, aber lasst es lieber. Was viele von euch wollen, wäre ohne einen Holocaust 2.0 nicht zu haben, es käme einem Massaker in ganz Israel im Stil der Hamas gleich. Mithin: Hier ist jetzt eure Heimat, das muss es ja sein, sonst wäret ihr ja nicht gekommen, also macht was draus. Deutschland ist auch der Platz des Islam, aber nicht des Islamismus. Euer Glaube ist einer unter vielen, ja, einer, der sich allen gesellschaftlichen Platz mit Gottlosen zu teilen hat, friedlich.
Werdet lieber politisch ernstzunehmen. Und das könnte heißen: Für eure Leute in Gebieten wie Neukölln eine entschieden besser ausgestattete Bildungspolitik zu fordern, mehr Wohnungsbau für bessere Lebensverhältnisse. Und zeigt euch von eurer besten Seite, nämlich, indem ihr euch entschieden fernhaltet von jeder Solidarität mit der Hamas. Und lasst euch nichts einreden von gewissen akademischen Kreisen, die euch in den postkolonial-pädagogischen Zwinggriff nehmen, solche wie die, die neulich vor dem Auswärtigen Amt ›Free Palestine … from German guilt‹ skandierten. Das nämlich atmete verdammt die gleiche Luft, wie sie Rechtsradikale in ihre Lungen pressen, die vom deutschen ›Schuldkult‹ oder einem ›Vogelschiss‹ namens Nationalsozialismus sprechen.
Darüber soll nicht geredet werden, weil es Rechten nütze? Nein. Das Schweigen über die echten Probleme unserer (meist arabischen, manchmal noch türkischen) Neubürgerinnen*, das Hinnehmen von Erregungszuständen, die faktisch und unverhüllt der Freude über den Hamas-Terror gleichkommen, nützt den Rechten, dies vor allem.“
Viel Zustimmung kam in den Tagen danach. Gut gesagt!, Mutig, das zu schreiben!, und: Das war ja gar nicht rassistisch … Kritik erntete der Text ebenso, jede Menge, vor allem das Argument, dass auch Deutsche, wie das sehr viele Palästinenser für ihren Teil in der Welt empfinden, Gebietsverluste hinzunehmen hatten: die heute zu Polen gehörenden Teile jenseits der Oder. Wir Palästinenser sind unschuldig, anders als ihr Deutschen damals! bis hin zu Wir wollen nur unsere Heimat zurück!
Das gab einigen, aber nicht übermächtigen Ärger. Ein in Westfalen aufgewachsener Schriftsteller, der sich auf seine iranischen Wurzeln viel zugute hält, der darauf stolz ist, den Macker mit Herz zu geben, klein und karg im Wesen, aber ja doch sympathisch, weil alle im Kulturbetrieb einander gewogen bleiben müssen, man weiß ja nicht, in welchen Netzen der nächste Auftraggeber verstrickt ist, dieser jedenfalls schrieb in den Sozialen Medien nach dem Kommentar eine Art privat-öffentliche Fatwa mit der Aufforderung an seine Follower, den Autor der Zeilen zu meiden. Schnappatmungshafte Zeiten, das war offenkundig, kommen mehr denn je auf uns zu. Konnte ich selbst kühl, ja analytisch bleiben? Ginge das überhaupt, als bekennender Sonnenalleeianer, denn wahr blieb doch auch in dieser Zeit gleich nach dem 7. Oktober, dass es sich lohnt, das Wahre, das Ungute, das Hässliche zu sehen, eben die Arabische Straße, Wiederaufbauwerk von Geflüchteten und Eingewanderten spätestens seit 2014. Und der Hipster, Erasmusstudierenden, viele von ihnen bis auf weiteres hängengeblieben. Neukölln war und ist ihnen – das Rohe, das Karge, das Roughe, ja, das Ursprüngliche, ein Teil der Hauptstadt ohne Goldlack.
Ein Versuch zu verstehen also, aus nächster Nähe. Den inneren Radar parat halten. Nichts übersehen. Begreifen, wie in meinem Viertel ein Underground an terrorversteherischer Atmosphäre gedeihen konnte. Oder gab es immer schon Missmut, Verdruss, Enttäuschung aus Prinzip, Erschöpfung? Früher, mit seinen ja nicht besonders zerstörten Gründerzeitbauten? Ein Viertel bis zur Maueröffnung als stehendes Gewässer, ein Lärmbiotop deshalb, weil niemand dort hin wollte, einfach, um sich die Attraktionen anzusehen? Wie soll ich hier wohnen bleiben, wenn die Hamas jenseits der Universitäten hier ihren leidenschaftlichsten Außenposten hat? Selbstermahnung, einsichtig bleiben: Die Berichterstattung zu den letzten Nächten in Neukölln und zur Berliner Sonnenallee folgt ja den Gesetzen der Medienaufmerksamkeit. Wo Unruhe droht oder schon am Lodern ist, sind Medien präsent. Keine Zeitung berichtet, wenn alles ruhig ist. Nachrichten sind immer aus Bemerkenswertem beschaffen, fast immer Schlechtem. Tatsächlich ist die Sonnenallee, diese Achse durch Neukölln, einst durchfahren von einer Straßenbahnlinie, seit dem Fall der Mauer nicht mehr Quartier zähen Lebens, sondern eine der autolastigsten Ecken der Hauptstadt. Seit zehn Jahren etwa ist aus der türkisch-chinesisch-koreanisch-albanischen Ramschkonsumkultur eine passabel hippe Straße geworden. Die arabischen Einwanderer können sagen: Das ist unser Boulevard, das ist Klein-Aleppo in Jetztzeit.
Einige der Restaurants gehören zu den besten der arabischen Küche jenseits der Levante. In internationalen Reiseführern werden die Sonnenallee und ihre Restaurants gepriesen: Das Azzam, wie es sich gehört überwiegend beleuchtet durch Neonrören ganz wie in arabischen Ländern: Beste arabische Küche jenseits von Damaskus. Das Leben hier ist eben auch in arabischer Hand, mittlerweile. Nach Einbruch der Dunkelheit sind die Frauen der Männer, die in den Shisha Bars sitzen und was auch immer zu bereden haben, wahrscheinlich die Dinge des Lebens überhaupt, kaum zu sehen. In den Cafés, vor den Spätis – abgesehen von hipsterigen Frauen mit Ponyfrisuren nur Männer. Jetzt, in diesen Tagen nach den Massakern der Hamas in Israel: keine Anteilnahme. Sondern unverhohlene Freude. Palästinaflaggen überall als Schmuck der Läden für Gewürze, der Barber Shops, der Elektronikreparaturgeschäfte.
Das haben die Medien auch alle fein abgebildet, und doch sind ihre Berichte auf gewisse Weise unvollständig, ja falsch. Das heißt nicht: handwerklich schlecht. Nicht, dass es ihnen an Fakten mangelte. Aber ohne Zusammenhang verfasst. Gewalt hat eben etwas Faszinierendes, journalistischem Personal muss man das nicht sagen, deshalb strömen sie hin. Doch weshalb erwägt niemand meiner Kollegen und Kolleginnen, dass die Demonstrierenden, die in den vergangenen Nächten für viel Krawallgefühl zwischen Hermannplatz und Hertzbergplatz sorgten, durchweg Verlierer sind, Lifestyle-Loser auf ihre Art?
Ist die Nervosität in den Straßen nur eingebildet? Doch warum patrouilliert die Polizei sichtbar im Viertel, manchmal robust sich einen Weg durch die autoverstopfte Sonnenallee bahnend, oft mit dem Lärm der Martinshörner? Worauf passen sie speziell auf, was wollen sie im Blick behalten – oder verhindern?
Millionen sind seit 2014 eingewandert nach Deutschland, viele nicht im Sinne des klassischen Asylrechts, demzufolge man Schutz genießt bei politischer Verfolgung, sondern weil sie ein besseres Leben wollen, Jobs und Geld, wie meine Gewährsleute, Nachbarn und Freunde im Viertel, beim Tee sagen, ohne dass ich sie zitieren dürfte: »Du verstehst, ich darf nicht wiedererkannt werden.« Viele hier verfolgen nur ausnahmsweise Berufsausbildungen, Schulbesuche gelten, vielleicht als schöngeredete Not, als uncool, sind schwierig zu bestehen, immer dieser Druck, die wahrscheinlich oft nicht guten Zeugnisse, Jobs in nichtprekären Berufen sind zu bekommen kaum möglich. Anders gesagt: Viele der Demonstrierenden sind Tage- und Stundenlöhner, die durch ihre kulturellen Verhältnisse nicht ermutigt werden, es mal auf die zähe Art in der neuen Heimat mit einem bürgerlichen Weg zu probieren.
Israel als Hassthema eint sie – leider! – so gut wie alle, und jene, die das nicht teilen – und einige wenige kenne ich –, bleiben lieber stumm, man ist den Gesetzen des Schweigens unterworfen, keinen Ärger, nicht zur Rede gestellt werden von lokalen Sittenwächtern. Israel ist aber noch in anderer Hinsicht ein »Elefant-im-Raum-bloß-nicht-zum-Thema-machen-Ding«: Anders als die arabischen Nachbarländer, aus denen die meisten in Neukölln lebenden Araber und Araberinnen fortgingen, weil sie dort keine Perspektiven hatten, ist Israel erfolgreich. Stark, wehrbereit, muskulös – Männer und Frauen. Und weil es viele der Demonstrierenden schafften, in den perspektivreicheren Teil Europas auszuwandern, leiden sie an dem, was hilfsweise »schlechtes Gewissen« genannt sein soll.
Sie haben ein okayes Leben, Bürgergeld und Schwarzarbeit und Jobs im Junkmodus, immerhin. Manche erkennt man auf der Straße, sie tragen Eimer mit Wischern, Fensterputzer, man kann sie ansprechen und anheuern, vielleicht können sie, was sie versprechen zu können. Klare Sicht durch Glas. Sie würden es schaffen, sind aber nicht mehr direkt unter den Knuten der Hisbollah, der Hamas oder der politisch lahmen und sediert gehaltenen Autonomiebehörde in Ramallah oder wo dort auch immer. Sie stiften Unruhe, weil sie glauben, es zu müssen. Sie können nicht sagen: Was immer Ihr in unserer alten Heimat mit Israel für ein Problem habt, müssen wir nicht mehr haben. Nein, sie identifizieren sich mit ihrer alten Heimat, müssen es auch, denn dort leben nach wie vor Verwandte, Menschen, mit denen sie wie in einem Wurzelwerk, häufig auch einem ökonomisch gewichtigen, verbunden sind, sie können von ihr, der Herkunft, nicht lassen, innerlich, und kommen so nie ganz in ihrer neuen Heimat an.
Außerdem ahnen sie, dass die Sprachformel vom allgemeinen »antimuslimischen Rassismus«, die Gewogenheitsformel linker Sozialwissenschaften, irgendwie eine Behütungsformel ist, denn es gibt ja Diskriminierungen gegen arabische Menschen, aber Phobien, also krankhafte Abneigungen? Völkische Phantasien, in Deutschland finde eine Umvolkung statt, eine Remigration könne nötig sein, um das, wie sie es nennen, deutsche Volk ethnisch zu sich finden zu lassen: Sie haben in diesem Teil Neuköllns kaum Resonanz. Man möchte diesen Rechten fast pädagogisch liebevoll zurufen: Kümmert euch um eure eigenen Sorgen, aber hier in Neukölln und anderswo klappt das mit dem, was es historisch gesehen immer gegeben hat, nämlich Vermischung, ziemlich gut. Nicht in allen Details, aber im Groben und Ganzen ziemlich prima. Vielmehr ist es doch so, wie Neuköllns einstiger Posterboy Heinz Buschkowsky mal so nebenbei sagte: In den Norden trauen sich die echten Rechten nicht – da kriegen sie, wenn sie zu laut werden, gleich auf die Mütze.
Wer im Neuköllner Norden, an der Sonnenallee und um sie herum lebt, in ihrer Gated Community, erlebt das ja sowieso nicht. Man ist in der Mehrheit, in der gefühlten Straßenwirklichkeit, und das seit einigen Jahren. Man kommt miteinander aus. Dort, wo die Ureinheimischen leben, ist kein Ankommen, das nicht, noch nicht. Rund um die Sonnenallee mag es Abneigungen oder Ressentiments geben, aber die Einwanderer sind hier – und sie wissen das. Sie leiden, wenn überhaupt, nicht unter Rassismus oder Islamophobie, sondern an fehlendem Geld und kargem Wissen an dem, was Berlin als große Stadt überhaupt ist. Sie sind keine Goodwill-Angel, keine Vorzeigbaren, die erläutern können, wie es in ihren früheren Heimaten zugeht, sie könnten berichten, dass Israel ungefähr das allerletzte Problem ihrer alten Lebensweise war, vielmehr ein durchkorrumpiertes, lächerliches, unsicheres, leidendes Land wie der Libanon, ein Staat wie der Syriens mit seiner Diktatur von Irans und Russlands Gnaden, und sie wissen das genau.
Dass sie von Linken unterstützt werden, freut sie, einerseits. Andererseits, die Tagelöhner, die Suchenden, die irgendwie sich über Wasser Haltenden, die wissen ja gewiss links von rechts zu unterscheiden, körperlich. Politisch? »Weiß nicht«, sagt einer vor der Halal-Metzgerei. Links – was soll das sein für sie? Phantome. Die Linken, die heute und dann immer wieder durch Viertel demonstrieren, stehen doch gerade nicht für das, wonach sie sich sehnen: fette Autos, prunkige Wohnungen, Geld ohne Ende … Aber, klar, die Menschen in meiner Nachbarschaft nehmen diese Schmuddelkinder des deutschen Politproletariats hin wie einen Rettungsring, der allerdings nicht beim Schwimmen im neuen deutschen Leben hilft, sondern sie kaltlässt, eigentlich weiter absaufen hilft.
Ein Freund bittet per Sprachnachricht, ich möge doch über all meine Kanäle darauf hinweisen, dass man Polizei und Feuerwehr nicht angreifen solle. Na, das ist doch selbst-ver-ständ-lich!, schreibe ich zurück. Mein Punkt in diesen Tagen nach dem 7. Oktober, nach den Süßigkeiten zur Freude über die »Befreiungsaktion«, war ein anderer: eine gewisse Trauer um all die neuen Deutschen, die partout alles daranzusetzen scheinen, die Kämpfe ihrer alten Heimat hier fortzuführen. Ich bin traurig, dass sie hier nie ein Leben in Ruhe führen können, wenn sie rumkrawallen. (Wobei ich eben auch noch dachte: Wer nach Mitternacht noch Guerilla spielt, muss offenbar am nächsten Morgen nicht zur Arbeit.)
Wäre ich Einwanderer irgendwo, wüsste also, das alte Leben ist nicht mehr, das neue soll, ja muss in Angriff genommen werden, tät’ ich alles dafür, genau das zu bewirken – in der neuen Welt angestrandet zu werden und zu bleiben, bleiben zu müssen, vielleicht notgedrungen. Bei jeder Reise ins Ausland, ob nach Polen, in den Mittleren Westen der USA, nach Südkorea oder nach Madeira, phantasiere ich, was zu tun wäre, wie zu überleben wäre, könnte ich nicht wieder nach Hause. Würde ich dann mich in der deutschen Community einfinden, um im bisschen Klang aus der Heimat zu baden? So wie es mir als innerdeutscher Einwanderer ging. Die ersten Jahrzehnte immer in Hamburg, war es mir in Berlin immer lieb, zurück in der Stadt meines Aufwachsens diesen gewissen hamburgischen Sound zu hören? Wie widerspenstig wäre ich, etwa in Japan, dessen Sprache zu lernen, weil es einfach nicht anders geht? Wie empfinden Menschen aus Syrien, Afghanistan oder Marokko, gerade hier angekommen, hören sie Deutsch? Sind sie froh, diesen fremden Tönen ausgesetzt zu werden? Oder frustriert es, nicht mal ein wenig zu verstehen, was gemeint sein könnte? Wäre, für die Hardcore-Schule des Lebens, besser, sich und die Angehörigen, so sie mitzufliehen schafften, in die Provinz zu gehen, um bloß nicht mit vielen der eigenen Landsleute zu tun zu haben, denn das macht es beim Lernen der Sprache ja bequem? Oder lieber sich rund um die Sonnenallee niederlassen, da ist es nicht sehr traditionsdeutsch, sondern, seit 2014, eben arabisch klanghaft? Wo wachsen die eigenen Kinder besser auf – im bekannten Kulturkreis oder dort, wo es keine Community gibt?
Viele, so mein Eindruck, tun jetzt in Neukölln so, als wäre hier der Gazastreifen oder die Westbank, sie performen also Konflikte, die zu nichts führen. Die sie hier nicht austragen müssen. Sie sind also Verlierer durch und durch, mit keinem sozialtherapeutischen Programme erreichbar. Dass Missliche ist nur, dass es viel zu viele Deutsche gibt, die die eingewanderten Araber vor allem palästinensischer Selbstverständnisses nun darin bestärken, ihre kämpferische Identität zu bewahren wie ein linkes Weltkulturerbe. Lohnt der Blick auf die eigene jüngste Vergangenheit? Auf die harten politischen Auseinandersetzungen darum, wie die Vertreibungen von Deutschen im östlichen Europa nach 1945 und der völkerrechtliche Status der ehemaligen Gebiete einzuschätzen sind? Hier war es gerade oft genug eine sozialdemokratische Linke in den siebziger Jahren während der Kanzlerschaft Willy Brandts, aus der sicher schmerzhafte, aber klare Worte kamen: Leute, ihr versteht euch als Vertriebene – aber: Ostpreußen als deutsches Land ist nicht mehr. Ist seit langem, auch jetzt, unwiederholbar, polnisch und russisch, es kommt nicht zurück, Schluss, aus und vorbei. Und ein Israel, das aufhört zu existieren, weil es ein Palästina werden soll: Das ist in Deutschland als Idee nicht populär zu machen. Israel ist eine Staatsgründung mit dem Segen der UN, der Vereinten Nationen – und das ist und bleibt die Tatsache, mit der man umzugehen hat.
Wenn es unverhohlene Freude über die Massaker der Hamas gibt, hier auf meiner Arabischen Straße, muss man womöglich über Bleiberechtstitel sprechen. Vor allem wäre es hilfreich, ihnen zu, ein großes, unklares Wort: »Palästina«, zu sagen: Nein, das ist nicht euer Land, das ist Israel, schminkt euch den Rest ab. Trostlos, aber wahr, geht mir eine Charakterisierung Jan Philipp Reemtsmas zur RAF und zum Terror linksextremistischer Szenen von den späten sechzigern zu den frühen neunziger Jahren durch den Kopf, jenem Milieu, das auch eine Art Volkswillen auf seiner Seite wusste: Jene, die Krawall stifteten, sind womöglich zu bürgerlichen Lebenswegen (morgens aufstehen, arbeiten, für Kinder Sorge tragen, sich um seine Nächsten kümmern, abends halbwegs pünktlich ins Bett gehen, all that bürgerlicher Lifestyle, nix aufregend, aber wichtig) nicht in der Lage. Sie haben – und das ist der Unterschied zu den allermeisten der arabischen Einwanderer – Gewalt als Lebensmodus gewählt. Schade!
Um es für mich persönlicher noch zu erklären: Die Reaktionen so vieler sogenannter Linker auf die Ermordungen eben jenseits des Gazastreifens deprimieren mich, aber wie soll ich sagen: Dann ohne diese »Linken«, wird die Welt auch ohne sie – hoffentlich besser.