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Wenige Themen polarisieren die Öffentlichkeit derzeit so sehr wie die sogenannte Identitätspolitik und die damit verbundene »Cancel Culture«. Ist sie eine legitime Strategie, um bislang diskriminierten, übergangenen Gruppen und ihren Anliegen Geltung zu verschaffen? Oder verschärft sie am Ende die Spaltung der Gesellschaft?
Jan Feddersen und Philipp Gessler bestreiten in ihrem Buch nicht die Existenz von Rassismus und Traditionen der Benachteiligung, von einer Sprache, die Menschen diskriminiert und übergeht. Doch sie meinen: Wer Gruppenidentitäten überhöht, fördert Entsolidarisierung. Wenn sich nur noch diejenigen zu einem Thema äußern dürfen, die davon unmittelbar betroffen sind, lassen sich wichtige Debatten in der Demokratie kaum noch führen. Vor allem dann nicht, wenn mit Hinweis auf Ungerechtigkeiten ein offener Diskurs beschränkt wird. Deshalb plädieren die beiden für eine Rückbesinnung auf den Universalismus, der einmal ein linkes Projekt war. Dafür, dass wir uns als Individuen in unserem jeweiligen Verschiedensein respektieren. Und sie machen Vorschläge für eine fruchtbarere Debattenkultur.
Für das Buch sprachen die Autoren u.a. mit Cindy Adjei, René Aguigah, Till Randolf Amelung, Seyran Ate?, PaulaIrene Villa Braslavsky, Gianni Jovanovic, John Kantara, Daniel Kehlmann, Ijoma Mangold, Ahmad Mansour, Susan Neiman, Ronya Othmann, Susanne Schröter, Alice Schwarzer, Harald Welzer, Ulrike Winkelmann.
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Seitenzahl: 357
Jan Feddersen Philipp Gessler
KAMPF DER IDENTITÄTEN
Für eine Rückbesinnung auf linke Ideale
Ch.LinksVERLAG
Für Noa und Elia
(In der Hoffnung, dass sie »eines Tages in einer Nation leben werden, in der sie nicht wegen der Farbe ihrer Haut, sondern nach dem Wesen ihres Charakters beurteilt werden.«)
Für Rainer
(In Liebe dem unwahrscheinlichsten Mann in meinem Leben – und weil mit ihm die eigene Normalität zu leben möglich ist.)
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
Ch. Links Verlag ist eine Marke der Aufbau Verlage GmbH & Co. KG
© Aufbau Verlage GmbH & Co. KG, Berlin 2021
entspricht der 1. Druckauflage von 2021
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Prinzenstraße 85, 10969 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
Umschlaggestaltung: Kuzin & Kolling, Büro für Gestaltung, Hamburg,
Hannah Kolling
Satz: Marina Siegemund, Berlin
ISBN 978-3-96289-124-4
eISBN 978-3-86284-503-3
Vorwort
Selbstpositionierungen: Check Your Privilege!
Jan Feddersen
Philipp Gessler
Was eigentlich ist Identitätspolitik?
Orte der Identitätspolitik I: USA
Die Hochschulen
Die Kulturszene
Die Medien
Orte der Identitätspolitik II: Deutschland
Die Hochschulen
Die Kulturszene
Die Medien
Innere Widersprüche
Positionaler Fundamentalismus
Strategische Essenzialisierung
Das schiefe Konstrukt »Antimuslimischer Rassismus«
Die Sackgasse der Kulturellen Aneignung
Äußere Wirkungen
Opferkonkurrenz
»Cancel Culture« und Sprechverbote
Spaltung der Linken und der Gesellschaft
Die Abgründe der Trans*-Diskussion
Stilfragen
Reinheitswahn und Humorlosigkeit
Bußrituale und andere religiöse Züge
Blinde Flecken
Antisemitismus
Die Klassenfrage
Heimat als Albtraum
Schluss: Thesen
Glossar identitätspolitischer Begriffe
Die Autoren
Niemand weiß exakt, was das ist: »Identitätspolitik«. Aber alle wissen doch recht genau, um was es geht, spricht man über sie. Oder glaubt es zumindest. Dabei fängt die Unsicherheit schon mit dem Wortbestandteil »Identität« an – was ist das überhaupt? Bedeutet es schlicht, so ist es beim populären Online-Lexikon Wikipedia zu lesen, »die Gesamtheit der Eigentümlichkeiten« einer Person? Aber wie verhält es sich dann mit der Identität von Gruppen, um die es bei der Identitätspolitik doch in erster Linie zu gehen scheint, und warum werden diese anhand einer einzigen »Eigentümlichkeit« sortiert: Hautfarbe, sexuelle Vorlieben, Geschlechtssorte und körperliche Besonderheiten?
Abgesehen von dem Afghanistan-Desaster, der Corona-Pandemie und den Überschwemmungen in vielen Teilen von Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen scheint die deutsche Öffentlichkeit im Somer 2021 jedenfalls kaum etwas so zu beschäftigen wie identitätspolitische Fragen, beispielsweise das, was nicht nur in den Reihen der AfD »Gendergaga« genannt wird, wozu schon die Schreibung und Betonung von Worten wie Sprecher*innen zählen soll.
Drei aktuelle Fälle aus dem politisch grünen bis linken Spektrum illustrieren dies. Der erste: Der SPD-Politiker Wolfgang Thierse schlug sich auf die Seite seiner Parteifreundin Gesine Schwan, die dafür kritisiert wurde, wie sie einen Konflikt zu einem queeren Thema im SPD-Kulturforum moderiert hatte. Er selbst hatte zur gleichen Zeit in mehreren Medienbeiträgen der Identitätspolitik, wie auch er sie nannte, knapp gesagt, vorgeworfen, dass sie die Gesellschaft spalte. Er forderte stattdessen eine Hinwendung des Politischen zu Themen, die, so versteht er es, alle angehen, ökonomische Fragen etwa, solche der sozialen Gerechtigkeit und des Klimawandels. Obendrein betonte er, dass diese allgemeinen Fragen doch die »normalen Leute« hauptsächlich interessierten – woraufhin Thierse wiederum für seinen offenbar naiven Gebrauch des Terminus »Normalität« heftig angegangen wurde. Der ostdeutsche Politiker musste schließlich eine Duldung der (Social Media-) öffentlichen Erregung durch seine Parteiführung ertragen. Co-Chefin Saskia Esken fand jedenfalls keine sich mit ihm solidarisierenden Worte, woraufhin Thierse öffentlich fragte, ob er in der SPD überhaupt noch erwünscht sei.
Der zweite Fall: Beim Berliner Landesverband der Grünen bekannte auf dem Parteitag in Vorbereitung auf die Abgeordnetenhauswahlen deren Spitzenkandidatin Bettina Jarasch in einer durchaus launig gemeinten Rede, als Kind habe sie davon geträumt, ein »Indianerhäuptling« zu sein. Sie wurde zwar nicht als Spitzenkandidatin abberufen, doch wurde ihre Wortwahl scharf gerügt – das seien ganz unstatthafte Phantasien, die sie als junge Person gehabt habe (allein das unpassende Wort »Indianer«!), und sie müsse sich nun entschuldigen. Was die Politikerin auch tat. Die grüne Gesinnungswelt war wieder in Ordnung.
Der dritte Fall: Mitte 2021 wurde öffentlich, dass die Kanzlerinnenkandidatin der Grünen Annalena Baerbock bei einem Auftritt in einer Schule das sogenannte N-Wort verwendet hatte – selbstverständlich nicht als Bestandteil der eigenen Rede, sondern als Zitat aus einem historischen Lesestück. Auch dies ließ sich nicht ohne Entschuldigung aus der Welt schaffen, was Baerbock auch tat, um zugleich anzufügen, sie habe nicht achtsam genug erkannt, wie sehr das ausgesprochene N-Wort Verletzungen und Traumata bei nicht-weißen Menschen auslöse.
Identitätspolitik von links ist mehr als nur ein flüchtiges Aufregerthema in der Mediengesellschaft: Sie ist die mächtigste Quelle einer kulturellen Neusortierung zumindest der westlichen Welt. Längst dominiert sie den Sprech an Hochschulen und Universitäten, und zwar vor allem dort, wo geistes- und sozialwissenschaftliche Fächer gelehrt werden. Außerhalb der akademischen Welt hat die Identitätspolitik einen enormen Schub durch die »Black Lives Matter«-Bewegung bekommen, deren Auslöser die Ermordung des schwarzen US-Bürgers George Floyd durch einen Polizisten im Frühjahr 2020 war. Es entstand eine weltweite Solidaritätsbewegung zugunsten schwarzer Menschen, der sich beispielsweise in der Bundesrepublik Zehntausende vor allem junger Menschen anschlossen: »Black Lives Matters« hierzulande hieß freilich, sich für alle, die von nicht-weißer Hautfarbe sind, einzusetzen.
Dieses und ähnliche Zeichen von Identitätspolitik wollen wir mitnichten in Gänze verwerfen. Wer würde schon bestreiten, dass in den USA Rassismus gegen sogenannte »People of Color« (PoC) wirksam ist? Und wer, dass nicht-weiße Migrant*innen in der Bundesrepublik in Parteien wie Institutionen, im Bundestag wie Landesparlamenten heftig unterrepräsentiert sind – und anderswo nicht minder? Ist es nicht mehr als legitim, wenn bislang abfällig Benannte verlangen, mit Respekt behandelt zu werden und nicht als Untertanen einer »weißen« Lebensweise?
Andererseits: Ist es, alltagspraktisch gefragt, damit getan, wie in Berlin und Hamburg, das Wort für das Erwischtwerden bei unentgeltlicher Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln, nämlich »Schwarzfahren«, zu geißeln, weil in dem Akt der Erschleichung staatlicher Leistungen das Wort »schwarz« genannt wird und somit schwarze Menschen unbewusst diskreditiert würden? Ist die Neuverhandlung von Sprachgewohnheiten nicht ein gigantisches Fegefeuer mit hohem Züchtigungspotential? Und sind die westlichen Gesellschaften der Gegenwart wirklich die Hölle auf Erden, als die sie viele Aktivist*innen der hiesigen Identitätspolitik sie zeichnen?
Vieles mögen possierliche Spielchen um Ambivalenzen sein, in denen ein ernstes Interesse mitschwingt, Debatten um das, was Sahra Wagenknecht böse und fälschlich als Angelegenheiten »skurriler Minderheiten« charakterisiert. Aber die Frage, die die Linke seit der Wahl von US-Präsident Donald Trump 2016 weltweit umtreibt, ist die, die der New Yorker Ideenhistoriker Mark Lilla in einem wütenden Aufsatz in der New York Times formuliert hat: Haben sich Linke und Liberale in den USA zu sehr um identitätspolitische Fragen gekümmert – und dabei die doch ebenso wichtigen Fragen sozialer Ungleichheit und Ausbeutung der unteren Schichten der US-Gesellschaft (egal welcher Hautfarbe) vernachlässigt, ja diese sogar abschätzig behandelt, weshalb Trump dann ein leichtes Spiel hatte, genau diese abgehängten Gruppen für sich zu gewinnen?
Unser Buch geht unter anderem der Frage nach, wie berechtigt die Kritik von Lilla und anderen ist. Es widmet sich den Ritualen aus Sprechpannen und Sprachbelehrungen ebenso wie anderen Sprachkämpfen, sind sie doch die besondere Domäne der Identitätspolitik. Es wird um das Canceln gehen, also um den Akt, jemanden in eine Ecke zu stellen, häufig in den Sozialen Medien, eine Art öffentlicher Pranger in der heutigen Gesellschaft. Manche sprechen sogar von einer »Cancel Culture«.
Sehr wichtig im Gedankengebäude der Identitätspolitik ist das Konzept der Privilegien. Es ist die Idee, dass Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft und vor allem weiße (heterosexuelle) Männer (und Frauen) Vorzüge (Privilegien) genießen – im Alltag, aber auch in entscheidenden Lebenssituationen (wie zum Beispiel Job-und Wohnungssuche), ohne dass ihnen das überhaupt bewusst sein muss. Es ist vor allem das Privileg gemeint, keine Diskriminierung zu erleben und nicht sofort als Mitglied einer Minderheit erkennbar zu sein – anders als etwa nicht-weiße Menschen.
Dazu gehören Diskurse um Mikroaggressionen, ein zentraler Begriff in der Identitätspolitik, Worte, Blicke und auch Gesten, die fies sind oder als fies verstanden werden, wobei die Definitionsmacht, ob etwas als fies beabsichtigt war, immer in der Vorstellung des Opfers liegt, also nie in der einer weißen Person.
Wir behandeln in diesem Buch ebenso den fragwürdigen Vorwurf der Kulturellen Aneignung (»Cultural Appropriation«), den manche identitätspolitischen Aktivist*innen nutzen, also die Kritik an der unhinterfragten Aneignung, Übernahme oder Interpretation kultureller Eigenheiten von Minderheitengruppen durch Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft. Dazu kommt eine Fülle anderer Begriffe, die wir in einem Glossar am Ende des Buches erläutern. Viele Begriffe der Identitätspolitik sind ohne Erläuterungen kaum zu verstehen.
Die Welt der Identitätspolitik ist weit, und viele ihrer Themen werden wir hier ansprechen. Wir tun dies aus einer liberal-linken Perspektive. Unsere negative wie positive Kritik an Identitätspolitik kommt aus dieser Ecke. Denn rechte Kritik an der Identitätspolitik gibt es schon mehr als genug.
Unter anderem machen wir uns stark für das in unseren Augen höchste Gut von Linken und Linksliberalen, die Meinungsfreiheit. Formal bleibt sie in der identitätspolitischen Bewegung linker Art zwar anerkannt. Faktisch jedoch wird sie häufig suspendiert, wenn nicht durch identitätspolitische Erwägungen, dann mit dem strategischen Argument – das genau besehen totalitär ist –, man dürfe gewisse Dinge nicht sagen, weil man damit ja den Rechten in die Karten spiele. Also solle man zum Beispiel lieber nicht über Schwierigkeiten im politischen Management der Flüchtlingsfrage zu sprechen kommen, denn das nutze nur politischen Kräften wie der AfD.
Diese Redeunterlassungs- beziehungsweise Schweigeopportunitätsfigur kommt dem Komment der Kommunistischen Internationalen seit den Zwanzigerjahren nahe: Schriften und Texte von Dissidenten und Renegaten wie George Orwell, Arthur Koestler oder Manès Sperber konnten, ob ihre Beobachtungen zur Stalinisierung der UdSSR zutreffend waren oder nicht, in den Reihen der Linken nicht öffentlich erörtert werden. Der französische Philosoph Jean-Paul Sartre trat entschieden dafür ein, sich mit Kritik an den von Kommunist*innen oder Sozialist*innen (etwa in der früheren Sowjetunion) verübten Gräueltaten zurückzuhalten. Darüber zu reden sei schon deshalb unpassend und politisch schädlich, weil es dem Feind diene – weshalb noch Ende der Sechzigerjahre die Bücher Alexander Solschenizyns, etwa der Archipel Gulag, in der Linken als antikommunistisch abgetan wurden.
Solche Tricks zur Verhinderung von politischer Klarheit treffen heute unter anderem jene, die mit ihren Expertisen die Schönfärberei in Sachen Islamismus und Islam nicht mitmachen, etwa den Sozialwissenschaftler Ruud Koopmans, aber auch bürgerrechtlich orientierte deutsche Muslim*innen wie die Autorin Necla Kelek, den Coach und Psychologen Ahmad Mansour, den Autor Hamed Abdel-Samad oder die Anwältin und Imamin Seyran Ates. Wir denken: Rechtem Gedankengut ist vor allem zuträglich, wenn man über Probleme mit Einwander*innen, wenn man über Islamismus, Antisemitismus und Homophobie schweigt. Dass rechte beziehungsweise rechtspopulistische Politik, also identitär rechte Politik wie in Ungarn, Polen und Russland, gerade für queere Menschen und Migrant*innen gefährlich ist, das zu wissen halten wir für eine Binse. Nazistisches und Gewaltbereites rechter Provenienz verdient auch hierzulande scharfe Ahndung, am besten jedoch mit den Mitteln der Sicherheitsbehörden, und zwar erheblich wacher, drakonischer und durchgriffsfähiger als in Sachen NSU, den Morden an den Hanauer Bürger*innen, die vom Täter als undeutsch empfunden wurden, oder im Falle von Polizei- und Bundeswehrangehörigen, die mit rechtsextremen Gedankenwelten sympathisieren.
Aber das Rechte ist im politischen Alltag nach unserer Einschätzung auf absehbare Zeit keine ernst zu nehmende Gefahr im parlamentarisch mehrheitsfähigen Sinne: Niemand von den altetablierten Parteien könnte sich erlauben, offiziell mit der AfD zu koalieren. In keinem Bundes-, Landes- oder städtischen Parlament ist die AfD in der Lage, den Ton anzugeben. Was rechts ist, trifft nur gelegentlich auf Popularität. Die Forderung von einem Politiker wie Friedrich Merz nach einer deutschen »Leitkultur« war schon immer obskur, wenn sie mehr meint als eine gemeinsame Sprache und die Staatsangehörigkeit, die zu erwerben nicht mehr wie einst wesentlich an ein deutsches (Bluts-)Abstammungsrecht geknüpft ist. Fragen danach, ob der Islam zu Deutschland gehört, finden wir lächerlich, mindestens langweilig: Er ist da, so wie das Christen- oder Judentum, von anderen Glaubenshaltungen zu schweigen. Deutsche Leitkultur gibt es nicht, es sei denn als ein auf Dauer gestellter Hybridzustand: Die einen bevorzugen Schweinebraten, die anderen Şiş Kebab und manche sogar all diese Speisen und noch viel mehr oder gar nichts von allem, vielmehr vegan. Wo ist das Problem?
Wir haben für dieses Buch mit Expert*innen gesprochen. Menschen, die wir kennen, die wir kennenlernen wollten, die mit uns reden wollten, die uns mit ihren Perspektiven interessant scheinen und die eine bunte Vielfalt vor allem »linker« oder liberaler Herkunft repräsentieren, die uns hier wichtig war. Es waren die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, der deutsch-israelische Coach Ahmad Mansour, der taz-Redakteur und Migrationsexperte Christian Jakob, die Berliner Studentin Cindy Adjei und der Schriftsteller Daniel Kehlmann. Unsere Kollegin Doris Akrap, Literaturkritikerin und taz-Redakteurin, war uns eine wunderbare intellektuelle Sparringspartnerin. Zu den Interviewten und Zitierten gehören außerdem Ellen Ueberschär, Co-Chefin der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung, taz-Redakteur Felix Lee, die Jenaer Soziologin Silke van Dyk, der Sozialpsychologe Harald Welzer, die Historikerin Hedwig Richter, der Literaturkritiker der Zeit, Ijoma Mangold, der Autor und Filmer John Kantara, die Münchner Soziologin Paula-Irene Villa Braslavsky, der Deuischlandfunk Kuliur-Redakteur René Aguigah, die Schriftstellerin Ronya Othmann, die Bürgerrechtsanwältin Seyran Ates, die Direktorin des Potsdamer Einstein-Forums Susan Neiman, die Frankfurter Soziologin Susanne Schröter, der Trans*mann und Publizist Till Randolf Amelung, der queere Rom*nja & Sinti*zze-Aktivist Gianni Jovanovic sowie taz-Co-Chefredakteurin Ulrike Winkelmann. Dass etliche Kolleg*innen der taz zu Wort kommen, liegt nicht nur an unserer Nähe zu dieser Zeitung selbst, dies gewiss auch, sondern vor allem nehmen wir die taz ernst als seismographisch zuverlässigstes Medium für die Debatten in der kulturell nach wie vor tonangebenden Linken. Last but not least konnten wir auch der Geschlechterforscherin und »Polittunte« Patsy l’Amour laLove und der Feministin Alice Schwarzer unsere Fragen zum Thema stellen.
Die Zitate all dieser Menschen sind von ihnen autorisiert. Wir sind ihnen für ihre Kooperation mit uns dankbar. Am Anfang unseres Weges haben wir nicht ahnen können, wie sehr wir vor allem Lernende sein würden, Zuhörende und Nachfragende. Das hat Spaß und Freude gemacht – auch, weil es jede Menge Grübelei mit sich brachte. In unsere Dankbarkeit schließen wir ausdrücklich die beiden taz-Rechercheurinnen Brigitte Marquardt und Eva Berger ein – und besonders Christof Blome, den Lektor des Ch. Links Verlags, der viele Stellen unseres Buches mit größtem Gleichmut vom Kopf auf die Füße zu stellen geholfen hat.
Nun unterbreiten wir unsere Sicht auf die Gemengelage und stellen am Ende einige Thesen auf. Wir bitten um das eigentlich doch Selbstverständliche: an unseren Argumenten gemessen zu werden, nicht an dem, was man mit der Formel »weiß, alt, männlich« oft und gern erledigen zu können glaubt.
Am Anfang stehen zwei persönliche Texte, die brav dem oft gehörten Credo »Check Your Privilege« folgen. Unsere Karten liegen auf dem Tisch. Eine solche Offenheit erhoffen wir uns umgekehrt auch von allen, die nun leidenschaftlich Streit und Debatte mit uns wünschen – nicht zuletzt in der Hoffnung: »Check your akademisch-ausgebildete-Mittelschicht-privilege, Ladies & Gentlemen«.
Wir plädieren unter anderem für einen belüfteten, obwohl zuletzt mächtig unter Beschuss geratenen Begriff von »Normalität«. Einer, der darauf abzielt, dass wir uns alle für normal nehmen. Unkonventionalität, Zwischen-den-Stühlen-Sitzen-Behauptungs-Posen, Querdenkereien linker Provenienz, Exzentrizität oder sonst ein Identitäres, das glaubt, sich von den gewöhnlichen Bürger*innen abheben zu können, zählen nicht. Nehmen wir allenfalls im persönlichen Kontakt ernst. Wir leben ohnehin in einer Welt chronischen Dauersichtbarwerdenwollens. Alle sind wir normal, jede und jeder auf ihre und seine Weise, allein und mit anderen.
Es gibt in diesem Buch kein eigenes Kapitel über Sprachliches oder Neusprachliches. Soll alles Recht sein, auch wenn sein kann, dass jene Expert*innen nach den Maßstäben des Klassischen recht haben, solche, die auf das generische Maskulinum halten und darin auch das Weibliche sehen können. Ob mit oder ohne Sternchen, Unterstrich, Doppelpunkt zwischen männlicher und weiblicher Wortausformung, ob mit alter oder neuer Rechtschreibung, ob mit gesprochenen Anführungszeichen oder nicht. Oder gar wie in der früheren DDR, als eine Frau auf die Frage eines bundesdeutschen TV-Interviewers, was sie denn von Beruf sei, antwortete: »Kranführer«, ohne dass man den Eindruck hatte, sie leugne mit dieser Titulierung ihre Weiblichkeit.
Wir wissen es als Journalisten und erleben es jeden Tag: Sprache ist flüssig. War es, ist es und wird es sein. Und das Deutsche ist und war immer gefräßig, inkorporiert am Ende alles, und vergisst vieles auch wieder, gottseidank. Wie unser Gesprächspartner Gianni Jovanovic liebenswürdig sagte: »Ich liebe Gendersternchen so dermaßen, ich kann gar nicht mehr ohne.« Geht klar so! Und: Wenn selbst Claus Kleber, Heute Journal-Präsentator, weibliche Endungen mitspricht, im Wortklang wie bei der Speise »Spiegelei«, dann lohnt sich kein Kulturkampf mehr um eine offenbar für manche altmodisch gewordene Sprache. Es ist, wie es ist – und es jedem und jeder beliebt. Nur geben wir zu bedenken, dass die Einführung des * oder des : Erfindungen universitärer Art sind. Unterhalb ihrer Lebenspraxen, etwa auf der Baustelle oder im Supermarkt unter Verkäufer*innen, werden solche Sprachänderungswünsche meist als Order von ganz weit oben empfunden. Gut, dass es, anders als im Französischen etwa, kein echtes Sprachpäpst*innentum gibt im Deutschen.
Wir nehmen am Ende dieses Vorworts gern zur Kenntnis, was die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, angelehnt an den Buchtitel ihres Historikerkollegen Jürgen Osterhammel, als »Verwandlung der Welt« anerkennt und genießt: dass seit dem 18. Jahrhundert die Welt der festgefügten Hierarchien und Glaubenssysteme sich zu lockern beginnt, (fast) immer in Richtung Freiheit. Wir glauben an ein universalistisches Weltbild, an Aufklärung und Vernunft, nicht jedoch an Identität. Menschen, alle, möchten keineswegs auf eine Identität eingeschworen sein, sie bevorzugen meist in Ruhe gelassen zu werden. Was Gesellschaft (und Staat) zusammenhalten kann, ist eine Art Pragmatik im Alltag. Von einem Furor wider alle Verhältnisse halten wir nichts, aber dass eine Menge sich ändern könnte und möge – das versteht sich von allein. Wir bleiben zuversichtlich, das Leben hält alles zum Besseren parat. Nicht zum Besten – das ist der Unterschied. Und davon handelt unser Buch.
Wie war das eigentlich genau, früher, in der Kindeszeit? Ist die Welt von heute noch so schlimm wie einst? Oder sogar übler verfasst denn je? Ich kann das lediglich so beantworten, wie alle dies nur können: aus der eigenen Perspektive, dem eigenen Erleben. So erinnere ich meine Zeit: Noch in den Sechzigerjahren sah man Männer, denen ein Arm fehlte oder ein Glied vom Bein. Es war nach wie vor eine Nachkriegszeit, so gut wie alle Deutschen hatten einen »Nazihintergrund« – und genau das war so gut wie nie Thema. Beziehungsweise: durfte es nur selten sein. Familiengeheimnisse waren und sind mächtig. Wer sie zur Sprache bringt, riskiert im günstigsten Fall ein Beschweigen, beredt und stumm zugleich. Man sprach sowieso nicht über Allzu-Persönliches, öffentlich schon am allerwenigsten.
Check my privilege? Gern. Aufgewachsen in Hamburg, die ersten Jahre in einem der Hafenviertel in einem Behelfsschuppen auf der heute noch abgehängten Veddel, die Eltern Kriegskinder, mein Vater Hilfsarbeiter in einer Schrottklitsche, meine Mutter Krankenschwester im Nachtdienst, eine Idylle in der Erinnerung, Atmosphären der Jovialität; später, jugendlich werdend, in einem Quartier »im Grünen« am Stadtrand, ein Angestelltenrevier, der Vater inzwischen »Plünn’nhöker«, Lumpensammler, die Mutter meine Geschwister zur Welt bringend, Tabletten und Alkohol im Alltag präsent wie kaum anderes. Der Umzug dorthin war einschneidend, in vielerlei Hinsicht. Das Jahrzehnt der sogenannten Bildungsexpansion? Ich erhielt trotz guter Leistungen keine Gymnasialempfehlung, stattdessen eine Option, zur Sonderschule zu wechseln, »bei den Eltern«, wie es hieß, sei das doch naheliegend.
Kulturell war unser neues Quartier weiß durch und durch. Waren beispielsweise in den Hafenquartieren »Gastarbeiter« zu sehen und mit ihnen zu leben üblich und interessant, klangen in jenem Viertel, in dem auch der spätere Bundeskanzler Helmut Schmidt mit seiner Familie ein Reihenhaus fand, die Nachnamen ausnahmslos klassisch deutsch: Meier, Müller, Lehmann. Im öffentlichen Leben spielten selbst die südkoreanischen Krankenschwestern, die wegen deutschen Personalmangels angeworben worden waren, keine Rolle. Für die von ihnen gewünschten Lebensmittel gab es selbstverständlich keine Einkaufsläden, das wäre wohl als unziemliche Rücksichtnahme empfunden worden. Eine Imbissbude mit Pommes frites im Angebot wirkte hier fast schon weltläufig, Gemüse wie Auberginen oder Zucchini waren unbekannt, vor Olivenöl wurde gewarnt und Knoblauch mit dem Zusatz »-fresser« versehen, um etwa italienische, spanische oder türkische Gastarbeiter*innen hässlich zu titulieren.
Und doch: Nicht erst mit der sozialliberalen Koalition Willy Brandts 1969 begann das widerspenstige, antikonservative Brodeln im bundesdeutschen Gebälk laut zu werden. Die Essayistin Katharina Rutschky sah in der Achtundsechzigerbewegung ein Projekt fast ohne Widerstand: »Man hätte, so stellten wir es uns vor, gegen Wände laufen müssen, aber die Türen waren nicht verschlossen, wir mussten sie nur weiter öffnen.« Die Bundesrepublik erwies sich mehr und mehr als Ermöglichungsraum – Protest anzumelden namens der eigenen demokratischen Ansprüche lag im Spiel, das Eigene wollen zu können – selbst, wenn es lange braucht, herauszufinden, was das ist, dieses Eigene –, bekam als Idee Luft. Weitflächige Debatten um das Betriebsverfassungsgesetz, um Mitbestimmung in Konzernen, um die Ansprüche behinderter Menschen auf barrierefreie Zugänge mit einem Rollstuhl, aber auch beispielsweise um den Paragraphen 218 des Strafgesetzbuches, der Frauen einen Schwangerschaftsabbruch verbot.
Es ging nicht um Lifestyles oder um Identitäten, sondern um Rechte. Vom »Mehr Demokratie wagen!« sprach Willy Brandt, der erste sozialdemokratische Kanzler der Nachkriegszeit, im Jahr 1969 programmatisch. Moralisch gerieten alle bis dahin üblichen Konventionen unter Verdacht: dass der Mann der Frau vorgeordnet ist, dass Kinder geschlagen werden dürfen, in den Familien, doch auch in den Schulen, und dass unehelich geborene Kinder irgendwie Aussätzige sind. Nicht, dass gleich gesetzliche Verbote – etwa der Züchtigung von Kindern in der Familie – erfolgt wären, auf die verständigte sich erst fast 30 Jahre später die rot-grüne Regierung, aber moralisch standen Züchtigung und Gewalt gegen Menschen fortan unter starkem Begründungsvorbehalt. Immerhin!
Die Siebzigerjahren waren aber noch in anderer Hinsicht eine Ära des Aufbruchs: Mit Rosa von Praunheims Film Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt im Jahre 1971 endete das dröhnende Schweigen in puncto Homosexualität. Bis 1969 hatte in der Bundesrepublik der von den Nationalsozialisten entgrenzte Paragraph 175 gegolten, der selbst einvernehmliche Sexualität unter homosexuellen Erwachsenen verbot. Der Spiegel brachte in den frühen Siebzigern zwei Titelgeschichten zum Thema. In meiner Familie durfte ich allerdings nicht als besonders glühend interessierter Leser dieser Geschichten erwischt werden, denn nichts war in Familien so unerwünscht wie ein schwules Kind. Die Angst, anders als die anderen zu sein, kroch auch damals durch und in alle Poren.
Homosexuell – das war ein klinisches Wort, das wie sterilisiert klang und im Alltag eher nicht gesagt wurde. Es enthielt aber wenigstens kaum unwertschätzende Zuschreibungen. Üblich waren Worte wie »warmer Bruder«, »175er« (das die Strafandrohung gleich mittransportierte) oder »Hinterlader«. Die junge Schwulenbewegung machte sich sprachstrategisch geschickt das Wort »schwul« zu eigen, eine Art N-Wort auf sexuelle Krassestabweichung, und drehte es gewissermaßen um, sehr zum Missfallen vieler homosexueller Männer, die das Wort nicht über die Lippen bringen wollten. Aber es galt: Wir nennen uns genauso, wie man uns schmäht – und sagen, dass wir genau das sind, was die Mehrheit uns unterstellt, nämlich triebgesteuert und gefährlich für die heterosexuelle Ordnung.
Dennoch: Selbst im Showbusiness wäre damals niemand auf die Idee gekommen, sich zu outen. Kein Alfred Biolek, keine Schlagersänger wie Jürgen Marcus oder Tony Holiday, keine Schauspieler. Die Protagonisten des Wolfgang-Petersen-Films Die Konsequenz, 1977 im WDR ausgestrahlt, Jürgen Prochnow und Ernst Hannawald, betonten in Interviews fast dauernervös, ja nur Rollen gespielt zu haben, keineswegs so zu sein.
Ich war so. Und wusste es. Nein, ich würde mich nicht zum Schein auf heterosexuelle Verhältnisse einlassen, das Leben ist kurz, und man hat ja nur eines. Und: Das Leben ist doch keine Generalprobe!
Im Oktober 1978 kopierte der Stern seine ausgesprochen populäre Ausgabe »Wir haben abgetrieben« aus dem Jahr 1971. Diesmal lautete die Überschrift der Titelgeschichte: »Wir sind schwul«. Im Heftinneren outeten sich 682 Männer per Statement und Passbild – darunter ich selbst, ohne größere Furcht. Als 21-jähriger Mann, der keineswegs wie hunderttausend andere homosexuelle Männer in der Bundesrepublik ein Gros der eigenen Lebensenergie in ein Niemand-soll-mich-Erkennen investieren wollte, war ich irgendwie auch beglückt, an diesem Bruch mit den Diskretionsregeln jener Zeit mitzuwirken.
Im gleichen Jahr hatte die Bunte Liste/Wehrt Euch!, ein alternatives Wahlbündnis zur Hamburger Bürgerschaftswahl, das kurz darauf Teil der Grünen werden sollte, erstmals für eine Wahl zu einem Landesparlament einen eigenen schwul-lesbischen Programmteil formuliert. In der SPD gründeten sich schwullesbische Arbeitskreise, immer nach Impulsen von homosexuellen Parteimitgliedern selbst. Auch in der FDP und der CDU gab es Zirkel dieser Art – selbstverständlich eher in den jeweiligen Undergrounds. In der Gewerkschaft ÖTV (die später in ver.di aufging) etablierte sich, heute würde man sagen: eine queere Gruppe.
Und 1977 schon zeigte sich auf einem evangelischen Kirchentag (in Westberlin) die Gruppe Homosexuelle und Kirche. 1979 protestierte eine spontan mobilisierte Gruppe von schwulen Männern (und auch ihren heterosexuellen Freund*innen) im Hamburger Stadtteil Altona vor einer Kirche lautstark gegen die bis heute in vielen rechten kirchlichen Kreisen noch beliebte sogenannte Psychagogin Christa Meves, eine evangelische Christin, die damals Deutschlands populärste Homophobe war. Trauten wir uns was? Nein, wir taten, was so nahe lag: Protest anzumelden gegen moralische Unverschämtheiten.
Aber es waren ja nicht nur solche Zumutungen. Sehr handfeste Diskriminierungen gab es nicht minder. Die Kündigung in einer christlichen Einrichtung für behinderte Menschen, ein offen schwuler Mann war angeblich mit dem Job nicht vereinbar. Die für viele Homosexuelle begründete Angst, Opfer von Gewalttaten zu werden – dann, wenn sie als Schwule identifizierbar waren. Das Unbehagen, nie auf sicherem Boden zu gehen, Gefahren schienen überall zu lauern. Man hatte sich anzupassen, emotional abzudimmen, bloß nicht auffällig werden.
Die Forderungen jener, die zur Schwulenbewegung sich zählten, waren freilich keine identitären allein: Es ging ums Sein, genauer gesagt ums Schwulsein, um die Abschaffung vom diskriminierenden Paragraphen 175, aber auch um das moralische Recht, nicht verstecken zu müssen, was in puncto Liebe und Begehren das für unsereins Normale ist. Wobei politische Ansinnen nicht als solche galten, zumal in den linken Gruppen und Organisationen, in denen ich mich so herumtrieb. Dass Ansprüche benachteiligter Gruppen auf – mindestens – Anerkennung hinter übergeordneten politischen Zielen zurückzustehen hätten oder sich nach deren Erreichung von selbst erledigen würden, diese Haltung gab es auch schon vor mehr als 40 Jahren, damals formuliert gegen den Feminismus wie in Alice Schwarzers Bestseller Der kleine Unterschied, aber auch gegen uns, die Schwulen. Das sei doch – marxistisch gesprochen – ein Nebenwiderspruch, der Hauptwiderspruch müsse im Kampf der unterdrückten proletarischen Klasse erkannt werden – dem sei sich zu fügen. Als in den frühen Achtzigerjahren die Friedensbewegung den antikonservativen Protest verkörperte, legten Demo-Organisator*innen nahe, auf schwule Parolen zu verzichten – womöglich irritiere man die Friedensfreund*innen und lenke sie vom Kampf gegen Abrüstung und für Pflugscharen ab, die aus Schwertern geschmiedet werden.
Doch damals kam es auf mehr an. Dass die letzten Reste des Paragraphen 175 aus dem Strafrecht gestrichen wird – das wäre schon mal ein Anfang gewesen, aber das geschah erst 1994, und auch dies nur auf Drängen des DDR-Teils bei den Verhandlungen um den deutsch-deutschen Einigungsvertrag. Bürgerrechtliche Gleichstellungspolitiken und Antidiskriminierungsgesetze konnten erst in den frühen Nuller Jahren etabliert werden, und auch dies nur gegen den beinharten Widerstand von CDU/CSU sowie vor allem der katholischen Kirche.
Noch zäher waren die Mühen, dass etwa Politiker*innen sich als schwule Männer oder lesbische Frauen zu erkennen geben zu können – nicht als flamboyante, exzentrische Personen, sondern als Menschen unter anderen, bei denen nicht stillschweigend eine heterosexuelle Orientierung angenommen werden sollte. Als Klaus Wowereit 2001 ansetzte, Regierender Bürgermeister von Berlin zu werden, bekannte er, auch um medialen Nachstellungen ins Private zu entgehen, schwul zu sein, und das sei auch gut so. Die bürgerliche Presse attestierte ihm daraufhin, seine sexuellen Vorlieben ausgestellt zu haben – was ein Missverständnis war. Der Sozialdemokrat hatte nur übers Grundsätzliche geredet: Ja, es gibt auch schwule Politiker, und nein, sie möchten deshalb nicht schlüpfrig in den Medien vorgeführt werden. Deshalb die Offenheit, nicht, um sich in Szene zu setzen.
Wowereits rhetorische Volte war eine gegen die Gebote der Diskretion, die es in allen politischen Lagern gab. Über Schwules oder Lesbisches redete man nicht, und Heterosexuelle bildeten sich öfter ein, damit die Betreffenden zu schützen. In Wahrheit mokierten sie sich über die Politisierung des Homosexuellen überhaupt – auch, um ihr Ehe-Privileg zu bewahren. Bis in jüngste Tage ersparen sich heterosexuelle Kommentator*innen das Bewusstsein, dass es die rot-grüne Koalition von 1998 war, die gegen den Widerstand in den eigenen Reihen das Projekt der »Ehe für alle« auf den Weg bringen musste, und dass dies zu den prägenden Projekten der Kanzlerschaft Gerhard Schröders zählt.
Der Kampf für Rechte war stets auch einer gegen die Scham, zumal in den mittleren Achtzigerjahren, als die Aidsepidemie die schwule Community erschütterte – auch deshalb, weil Medien von »Schwulenseuche« sprachen und es nicht nur einzelne Stimmen gab, die in der damals noch meist rasch tödlichen Infektion mit dem HI-Virus eine Strafe Gottes für dekadentes, also schwules Verhalten erkennen wollten. Dass ein Politiker wie Jens Spahn als offen schwuler Mann in der CDU überhaupt Karriere machen konnte und Klaus Wowereit gegen das unappetitliche Raunen der bürgerlichen Hauptstadtpresse ausgesprochen populär war in seiner Stadt und ja noch ist; dass eine TV-Moderatorin wie Anne Will oder eine Talkmasterin wie Bettina Böttiger als lesbisch bekannt sind, all das sind Fortschritte gegen die Strategien des Schweigens über Homosexuelles.
Nie hatte ich während meiner erwachsenen Jahre das Gefühl, es könnte einen Backlash geben, ein politisches Zurück in die Zeit vor 1969, als schwule Männer tausendfach juristisch belangt wurden und es selbst ein prominenter Staatsanwalt wie Fritz Bauer nur um den Preis der sozialen Selbstzerstörung hätte wagen können, seine Homosexualität offen zu leben. Selbst während der Aidsepidemie herrschte spürbar die Auffassung vor, um es mit dem Homosexualitätenforscher Martin Dannecker zu sagen, dass schwule Männer zwar bitte nicht gleichgestellt werden mögen, man sie aber auch nicht kaltherzig sterben lassen sollte. »Time Is On Our Side«, um den Buchtitel des Historikers Detlef Siegfried leicht zu variieren.
Glückliche homosexuelle Biographien sind möglich, mehr denn je. Natürlich kann ein Leben auch immer noch misslich verlaufen, ohne dass dies an Lesbischem oder Schwulem schlechthin liegt. Nicht aus allem, was misslingend für jemanden läuft, lässt sich, um ein kaltes Wort zu nutzen, Opferkapital schlagen. Für kein Leben gibt es eine Glücksgarantie, gleich welchem Sein oder welcher Identität eine*r anhängt.
Ob für mich als Journalist alles möglich war, einschließlich aller (auch: schwulen) Perspektiven auf Themen und Texte? Sicher nicht. Die Gatekeeper in den Redaktionen sind nach wie vor überwiegend heterosexuell orientiert, wenn auch nicht mehr mit dieser Mächtigkeit. Redaktionen haben nach wie vor gern Geschichten über »Queeres«, in denen es vor Grellheit oder Opfertum nur so trieft. Bei der Zeit – das wäre heutzutage gewiss undenkbar – habe ich 1992 erlebt, wie ein Thema abserviert wurde, weil es den Fokus auf offen schwule und lesbische Protagonist*innen gelegt hätte. Mir wurde vorgeworfen, dass ich das Greenwich Village in New Yorks Manhattan nicht als Geburtsort der Singer-Song-Writer*innen wie Bob Dylan, Joni Mitchell oder Simon & Garfunkel schildern, sondern stattdessen über die Menschen schreiben wollte, die dort im Juni 1969 die militanten Unruhen vor der Bar Stonewall Inn gestiftet hatten. Kämpfe von Queers, unter ihnen auch Drags und Trans*leute, die die moderne LGBTI*-Bewegung begründeten, als sich selbst ermächtigende Bürger*innen gegen polizeiliche Willkür. Eine vorgesetzte Redaktionskollegin erwiderte nur: »Wissen Sie, das ist nichts für uns.« Und, gönnerinnenhaft anfügend: »Diese Themen sind doch durch!«
Aus homophoben Gründen entwertet zu werden, geht freilich immer noch. Auf einer Pressereise nach Georgien fragten georgische Literaturexpert*innen, wo denn der georgische Stoff liege, der für deutsche Leser*innen interessant sei, man müsse sonst wieder Mythen und Märchen schreiben. Niemand von den deutschen Kolleg*innen wusste auch nur einen Hinweis zu geben; ich als Literaturnichtkenner sagte nur, es habe doch vor wenigen Jahren in Tiflis übelste Ausschreitungen gegen eine kleine LGBTI*-Demonstration gegeben, so krass, dass von Hass und Gewalt selbst die georgische Presse sprach. Ein deutscher Kollege, der durchaus auf seinen gut- und klugmenschigen Habitus hält, kommentierte diesen Vorschlag hernach nur knapp mit den Worten: »Ach, so’n Schwulendings.«
Hat sich das Leben verbessert, fühlt es sich anders an, etwa im Vergleich zu meiner Zeit des Coming-Outs vor fast einem halben Jahrhundert? Um es vorsichtig zu sagen: in beinah jeder Hinsicht. Schwules muss sich nicht mehr begründen, jene, die es ablehnen, stehen in Rechtfertigung. Seltsamerweise, in linken und liberalen Kreisen, ist allerdings auch dies zu registrieren: Homosexuelles ist offenkundig nach wie vor ein Ding, das ins Private gehört – als politische Frage spielt es keine Rolle. »Ihr habt doch jetzt die Homoehe!«, heißt es. Dabei haben wir sie nicht, vielmehr ist das Eheprivileg für Heterosexuelle storniert worden, gleichgeschlechtliche Paare können seit 2017 auch zum Standesamt. Der Satz bedeutet auch: Nun gebt doch mal Ruhe! Das hätten manche gern, aber dafür ist es dann doch noch zu früh.
Check my privilege? Aus den Zirkeln der queeren Bewegungen sind schwule Männer, sofern sie weiß sind, faktisch aussortiert ins andere »Lager«, in das der »cis-weiß-männlichen« Menschen verklappt: genauso privilegiert wie ihre heterosexuell orientierten Geschlechtsverwandten, kein Teil der Lösung, sondern ein Problem. Cis, das meint: nicht trans*identitär, sondern eben männlich im klassischen Sinne.
Doch vom Umstand abgesehen, dass ich »weiß« geboren worden bin, ist das, was Privilegien genannt wird, bei mir nicht vorrätig gewesen. Im Gegenteil. Mehr noch: Es ist kein schlechtes Gefühl zu wissen, selbst an der Liberalisierung der Zustände mitgewirkt zu haben. Den moralischen Vorwurf an weiße schwule Männer, sie hätten für ihre Privilegien nur gestritten, verkennt, wie unwahrscheinlich es war, weitgehend unbehelligt sich fast überall bewegen zu können, ohne besonderes Versteckspiel – immer einrechnend, dass Gewalt gegen einen überall lauern könnte. Und das soll ein Privileg sein? Bitte!
Die Rolle des Opfers zu unterlaufen war das Beste, was ich mir selbst zugemutet habe. Das Leben geht weiter.
Zunächst: Ich bin »weiß«. Dies ist fast überall auf der Welt mit (unbewussten) Privilegien verbunden, solchen, die mir ein- und zugeschrieben waren, als ich zur Welt kam. Meine weiße Hautfarbe und mein irgendwie »deutscher« Name ersparen mir etwa Gefahren nachts in manchen Vierteln und Probleme bei der Wohnungs- oder Jobsuche. Das ist viel wert. Wer eine dunklere Hautfarbe oder einen »ausländisch« klingenden Namen hat, kann ganz andere Geschichten erzählen.
Ich könnte mich als einen Menschen mit Migrationshintergrund beschreiben – meine Mutter ist Belgierin, genauer: Flämin. Es wäre lächerlich, daraus eine große Sache zu machen. Aber ich weiß aufgrund vieler Aufenthalte in einem fremden Land, eben in Belgien, zumindest ein Stück weit, wie es ist, in einer Minderheit zu sein, die Sprache (in dem Fall Französisch und Flämisch) und viele Sitten nur halb zu verstehen. Bei Familienfesten in Belgien gab es ab und zu, wenig verwunderlich nach zwei Überfällen deutscher Armeen auf Belgien im 20. Jahrhundert, Bemerkungen oder Witze, die man als, vorsichtig gesagt, deutsch-kritisch verstehen könnte. Und natürlich galt das auch mir, denn ich verstand mich schon als Deutscher, es war und ist Teil meiner Identität. Deshalb glaube ich zu wissen oder zumindest zu ahnen, was es bedeutet, der »Andere« zu sein, eben nicht voll dazu zu gehören und dem auch kaum entfliehen zu können.
In Deutschland wuchs ich, wie so viele, als Deutscher unter Deutschen auf. Mein Migrationshintergrund, wenn man den Begriff hier verwenden will, spielte eigentlich nie eine Rolle, denn ich fiel nicht durch meine Hautfarbe auf. Eher war er etwas Besonderes und Interessantes. Es gab aber immer mindestens zwei Kulturen in meinem Leben, eine deutsche und eine belgische, die eine stärker, die andere schwächer. Ich habe das als Bereicherung empfunden. Die Sehnsucht nach kultureller Reinheit, dem Leben in nur einer Kultur, ja die mancherorts geforderte Verurteilung der Übernahme »fremder« Kulturelemente finde ich aufgrund meiner Erfahrungen seltsam, ja absurd.
Meine Identität wurde eher dadurch geprägt, dass ich Zwilling bin, lange schielte, über nur ein eingeschränktes räumliches Sehen verfüge, viele Jahre dicke Brillen trug und lispelte. Als Kind und Jugendlicher in den Siebziger- und Achtzigerjahren waren mit all dem unschöne Erfahrungen verbunden, die ich aber nicht als Diskriminierungen aufbauschen will. Dieses Wort ist passender für Erfahrungen von Kindern, die zum Beispiel in einer überwiegend weißen Umgebung mit einer schwarzen Haut ins Leben starten. Aber ich glaube, dass alle Menschen Kränkungen erfahren, größere und kleinere, weh tun sie immer, und sie fressen sich fest. Zugleich können sie uns sensibilisieren für die Benachteiligungen und Demütigungen, die andere erfahren. Sie sollten uns mahnen, jede Diskriminierung anderer zu vermeiden, ja gegen sie aufzustehen, wenn nötig.
Ich bin ein Mann und heterosexuell – an beiden Grundbedingungen meines Lebens habe ich selten oder nie gezweifelt. Ich weiß, dass auch diese beiden Faktoren in bestimmten Situationen mit Vorteilen verbunden sind, da man so weniger Diskriminierung erlebt – manche Männer bezweifeln gar, dass es sie anderen gegenüber gibt, die in der unausgesprochenen Hierarchie der gesellschaftlichen Wertschätzung weiter unten rangieren. Homosexuelle Freund*innen erzählen mir von solchen Diskriminierungen, die sie noch immer erleben. So etwas qua Geburt oder sexueller Orientierung nicht erfahren zu müssen, ist ein Privileg, natürlich.
Ich bin in Westdeutschland in eine recht bildungsbeflissene Mittelstandsfamilie hinein geboren worden – auch dies sind unverdiente Vorzüge, die einen Startvorteil bedeuten. Weniger als manche andere habe ich um Anerkennung und Bildung oder gegen Armut kämpfen müssen. Eine Herkunft aus einer armen, obendrein bildungsfernen Familie erhöht die Hürden im Wettlauf des Lebens, wie Paulus das nennt, auf eine nicht gleich sichtbare Weise in einem viel größeren Maße, als mir das früher bewusst war.
Meine Mutter ist katholisch, mein Vater war evangelisch. Ich selbst bin seit der Taufe katholischer Christ, und das ist gut so. Mein Glaube ist kein unwichtiger Teil meiner Identität, meiner Sprecherposition. Er machte und macht mich in manchen, mir weltanschaulich nahen linken Kreisen zu einer etwas belächelten Ausnahme. Umgekehrt habe ich mich auch im klassischen katholischen Milieu immer als Außenseiter empfunden, als linker Außenseiter nämlich. Denn mein Glaube ist geprägt von der marxistisch gefärbten Befreiungstheologie, die ich durch intensive Erfahrungen im wunderbar bunten Brasilien kennengelernt habe. Es wäre auch hier völlig übertrieben, von Benachteiligung oder Diskriminierung zu sprechen. Aber es bringt die Erfahrung mit sich, nicht wirklich dazu zu gehören, zu keiner Gruppe. Ich glaube, die wenigsten Menschen gehören, wenn man genauer hinschaut, irgendwo ganz dazu: Leben ist Differenz.
Trotz meiner jahrelangen journalistischen Beschäftigung mit dem Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche bin ich weiter katholisch. Denn da ist noch die für mich wesentliche und wunderbare Liebesbotschaft der jüdischen »Person of Color« (PoC) Jesus von Nazareth. Sie kennt keine Form des Rassismus, sie markiert das Gegenteil davon. Die katholische Weltkirche mit ihren rund 1,3 Milliarden Menschen weltweit und mit ihrem Schwerpunkt im globalen Süden umfasst, so konservativ sie auch sein mag, doch seit Jahrhunderten alle Hautfarben und Kulturen. Auch deshalb halte ich Rassismus für unchristlich, für unkatholisch und für eine, theologisch gesprochen, Sünde. Das bestimmt meine Sprecherposition ebenfalls.
Mein deutscher Großvater war in der NSDAP und der SA; nach 1945 hat er als Jurist und Beamter trotz (oder wegen?) seiner Vergangenheit im Bonner Justizministerium Karriere gemacht. Er kommt sogar in historischen Büchern namentlich vor, als Beispiel eines typischen Karrieristen; auch antisemitische Aussagen von ihm sind darin zu lesen. Macht mich all das zu einem Menschen mit Täterhintergrund? Auch dies ist jedenfalls Teil meiner Identität und bestimmt meine Sprecherposition. Ich bin überzeugt, es ist klug zu sagen, aus der Geschichte des Holocaust erwächst für die Generationen der Deutschen nach 1945 keine Schuld, aber Verantwortung: für die Erinnerung, die Gegenwart und die Zukunft. Schuld ist immer individuell und wird nie vererbt, übrigens auch nicht von »Weißen« im Westen. Darauf werden wir zurückkommen.
Vor zwanzig Jahren habe ich eine jüdische Frau geheiratet. Ich habe ein Buch über Antisemitismus geschrieben und jüdische Freundinnen und Freunde gewonnen – Hobbypsycholog*innen mögen spekulieren, ob ich hier unbewusst meiner Familiengeschichte entfliehen will. Ich glaube, das hat eher etwas mit Zufall oder Fügung zu tun, und ganz bestimmt mit Liebe und Zuneigung. Wenn ich früher am Polizeischutz vor der jüdischen Grundschule meiner Kinder vorbeilief und hoffen musste, dass die Beamt*innen einen guten Job machen, war das Gefühl von Diskriminierung, auch von Angst um meine Liebsten, sehr nah. Meine Kinder und manche Freund*innen bekommen gelegentlich antisemitische Sprüche zu hören. Aber sollte das die Identität meiner Kinder bestimmen?
Vielleicht ein letzter Gedanke in dieser Selbstbefragung: Ich bin in Hanau aufgewachsen und war recht froh, als ich mit Anfang zwanzig von dort wegkam, auch wenn ich die Stadt heute bei gelegentlichen Besuchen als bunter, schöner und liebenswerter erlebe als damals. Natürlich ist Hanau so etwas wie Heimat. Die rassistischen Morde dort im Februar 2020 haben mich deshalb umso mehr schockiert. Ich glaube schon, dass hier etwas Neues und Schreckliches passiert ist, ebenso wie beim antisemitischen Anschlag in Halle wenige Monate vorher. Rassismus und Antisemitismus müssen stärker und besser als früher bekämpft werden, sicher auch mit neuen Mitteln. Ob allerdings Identitätspolitik grundsätzlich der richtige Weg dafür ist, daran melden wir in unserem Buch Zweifel an.
Das sei zum Schluss dieser Confessiones noch einmal betont: Mir ist klar, dass nicht-weiße Menschen die Realität meist anders und härter erleben als ich, Diskriminierung ist für sie unentrinnbarer Alltag. Es kann sein, dass ich vieles davon nicht verstehe. Aber die ausschlaggebende Bedeutung, die der Position eigener Betroffenheit in vielen identitätspolitischen Diskursen zugedacht wird (und die dann auch nicht hinterfragt werden darf, will man nicht als rassistisch dastehen), halte ich für falsch.
Was genau Identitätspolitik bedeutet, ist umstritten. Nachdem der Begriff vor etwa 45 Jahren aufgekommen war, wurde er zunächst meist als passend akzeptiert und wohlwollend genutzt. In letzter Zeit gerät er jedoch zunehmend in die Kritik. Er sei zu ungenau, beschreibe zu viele unterschiedliche Phänomene und sei mittlerweile zu einem Kampfbegriff verkommen, der fast nur von Gegner*innen der Identitätspolitik in abwertender Absicht genutzt werde. Das aber stimmt unserem Eindruck nach nicht, wie etwa der oft gelobte Roman Identitti von Mithu Sanyal oder ein einschlägiges Sachbuch von Alice Hasters (Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen aber wissen sollten) zeigen, die beide die Grundgedanken der Identitätspolitik und auch den Begriff Identitätspolitik selbst mit grundsätzlichem Wohlwollen beschreiben und nutzen. Wir halten den Begriff »Identitätspolitik« ebenfalls weiter für sinnvoll und nützlich.
Das Besondere am Begriff und Konzept Identitätspolitik ist vor allem, dass in ihm von Anfang an ein Theoriegebäude mit einem Politikansatz verflochten war. Das macht eine allseits anerkannte Definition zusätzlich schwierig. Trotzdem ist bis heute keine bessere Bezeichnung gefunden worden, um Phänomene, die durchaus in (enger) Beziehung zueinanderstehen, sinnvoll gemeinsam zu erfassen. Deshalb sei hier eine Definition gewagt, die einen gewissen Konsens widerzuspiegeln scheint.
Demnach ist Identitätspolitik der Name für einen politischen Ansatz und ein Theoriegebäude, die in erster Linie diskriminierte Gruppen der Gesellschaft in den Blick nehmen und deren Lage verbessern, ihre Anerkennung (oder Sichtbarkeit) erhöhen wollen. Diese Gruppen werden – so die grundlegende Theorie – definiert oder definieren sich selbst vor allem durch ihre ethnische, sexuelle oder kulturelle Prägung oder durch äußere Merkmale wie etwa die Hautfarbe oder »Behinderungen«, die sie von der Mehrheitsgesellschaft oder den mächtigen Gruppen in der Gesellschaft unterscheiden. Das ist oft verbunden mit Diskriminierung durch die Mehrheitsgesellschaft. Die (besondere) Prägung dieser Gruppen wird dabei als so bestimmend gesehen (oft sowohl innerhalb wie außerhalb der Gruppe), dass sie als essentieller Teil auch ihrer einzelnen Angehörigen betrachtet wird, also als ein Merkmal, ohne das die jeweilige Person kaum verstanden werden kann (und sich vielleicht selbst kaum versteht).
Auch wenn jeder Mensch natürlich verschiedene Merkmale und Prägungen in sich vereint (also etwa: Frau, Managerin, Mutter, Ehefrau, Deutsche, Europäerin…), so wird im identitätspolitischen Konzept eine dieser Prägungen oder eines der Merkmale als bestimmend erachtet, sei es durch eigene Wahl oder durch gesellschaftliche Zuschreibung oder Markierung – eben als die