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Die DDR Ende der siebziger Jahre: Jörg Berger, jung und gutaussehend, gehört als erfolgreicher Fußballtrainer zu den Privilegierten des Systems. Es scheint nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis er die Nationalmannschaft seines Landes übernehmen wird. Allerdings wächst sein Ärger darüber, wie Staat und Partei sein Leben bestimmen. Im März 1979 nutzt er ein Länderspiel in Jugoslawien, um zu fliehen. Nur mit Glück gelangt er in die Bundesrepublik. Hier muss er ganz von vorn beginnen. Aber er kämpft sich durch und wird zu einer der prominentesten Figuren der Bundesliga, bis er 2002 mit seiner größten Herausforderung konfrontiert wird: der Diagnose Krebs. Jörg Berger schildert auf sehr persönliche Weise ein Leben in zwei Deutschlands. Von lockeren Sitten in der DDR berichtet er ebenso wie von den Tücken des bundesrepublikanischen Alltags. Und er beschreibt, was schlimmer war als berufliche Niederlagen: die beklemmende Erfahrung zu machen, dass der lange Arm der Stasi auch in den Westen reichte.
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Seitenzahl: 329
Jörg Berger
mit Regina Carstensen
Meine zwei Halbzeiten
Ein Leben in Ost und West
Erklärung des Autors
Erste Halbzeit – Die Flucht
1 Fahrkarte in der Socke
2 Mit falschem Pass im Haschisch-Express
3 Hochhaustorte und Pioniergrüße
4 Hätte man doch nur mich die Mauer bauen lassen
5 In der Kaderschmiede
6 Thüringer Klöße treffen zielsicher Honeckers «Bonbon»
7 Zum Lügen gezwungen
8 Weggeschlossen
9 Nadja, die schicksalhafte Schrankwand
10 Abschied auf dem Dachboden
Zweite Halbzeit – Gefährlicheres Leben im Westen
11 Der Russe steht vor der Tür
12 Verhinderte Heirat im Rotlichtbezirk
13 «Ich komme nicht aus dem Osten, ich bin Deutscher!»
14 Wir sind beim Sport und nicht im Puff
15 Vergiftung im Auftrag der Stasi
16 Statt einen Vater einen Hauptgewinn: drei Tage mit einem Bundesligatrainer
17 Türmen auf Türkisch
Verlängerung
18 Und immer wieder Krebs
Postskriptum, November 2008
Dank
Chronik des sportlichen Werdegangs
Der Autor erklärt, dass die Schilderungen im Buch auf seinen Erinnerungen beruhen. Daher erhebt er nicht für jeden Einzelfall den Anspruch, dass es sich tatsächlich so zugetragen hat. Die Dialoge spiegeln nicht wortwörtlich, sondern sinngemäß das damals Gesagte wider.
1
Flughafen Berlin-Schönefeld, 25.März 1979.Nach fast drei Jahren «West-Verbot» durfte ich meine Fußballmannschaft nach Jugoslawien begleiten – aus DDR-Sicht so etwas wie ein «kapitalistisches Ausland», für mich das Tor zu einem anderen Leben. Titos Vielvölkerstaat mischte sozialistische Wirtschaftsprinzipien mit marktwirtschaftlichen; zudem war das Land außenpolitisch neutral, seine Grenze nach Westeuropa nicht so abgeschottet. Deshalb bekamen nur diejenigen DDR-Bürger eine Ausreisegenehmigung dorthin, die besonders privilegiert, linientreu und möglichst verheiratet waren. Zumindest die letzte Voraussetzung konnte ich nicht erfüllen.
Seit meiner Scheidung hatten mich die Sportfunktionäre für ungeeignet gehalten, jungen Spielern ein sozialistisches Vorbild zu sein, gingen sie davon aus, ich würde Republik und Partei verraten, indem ich im Westen blieb, wenn sich eine Möglichkeit bot. Es grenzte fast an ein Wunder, dass ich an diesem Montag mit dabei sein durfte. Immerhin galt es, den «Klassenauftrag» zu erfüllen. Mit einem Sieg meiner U23, der Nationalmannschaft der unter Dreiundzwanzigjährigen, zu zeigen, dass der Sozialismus dem Kapitalismus überlegen war. Das war mir jedoch völlig gleichgültig. Mich interessierte genau das, was man jahrelang zu verhindern gesucht hatte: eine Flucht in die Bundesrepublik. Ich wusste nur nicht, wie ich es anstellen sollte.
Noch auf der Gangway ins Flugzeug dachte ich, gleich würde mich einer der Sportfunktionäre zurückpfeifen, es wäre nicht das erste Mal gewesen. «Ausdelegieren» war die offizielle Bezeichnung für dieses Vorgehen. Den Spielern musste ich in solchen Fällen Lügen auftischen, Lügen, mit denen ich nicht mehr leben wollte. Sie sollten dazu beitragen, dass die Mannschaft durch meine plötzliche Abwesenheit nicht verunsichert wurde, die bevorstehende Begegnung mit einem Feind-Verein verlor. Aber diesmal erschien niemand, um mich aus dem Flieger zu holen.
Die Maschine war klein, wir mussten eng beieinandersitzen. Begleitet wurden wir von einer Delegation, mit der ich noch nie unterwegs gewesen war. Wolfgang Riedel, der Leiter, galt als hundertfünfzigprozentig parteitreu und war ein perfekt geschulter Hardliner. Auf mich machte er keinen angenehmen Eindruck, eine Zusammenarbeit mit ihm schien nicht leicht zu sein. Ihm zur Seite stand Klaus Petersdorf, das absolute Gegenteil von Riedel. Schon äußerlich passten die beiden nicht zusammen. Petersdorf war groß gewachsen, gut aussehend und hatte einen freundlichen, sympathischen Gesichtsausdruck. Es zeigte sich dann auch, dass man mit ihm zurechtkommen konnte.
Als ich die Mitteilung erhielt, dass ich als Trainer bei dem Länderspiel gegen die jugoslawische Mannschaft dabei sein würde, stand für mich außer Frage: «Diese Möglichkeit lässt du dir nicht entgehen, um abzuhauen.» Doch kurz darauf erfuhr ich etwas, das mir für einige Nächte den Schlaf raubte. Lutz Eigendorf, zweiundzwanzigjähriger Spieler beim BFC Dynamo und eines der größten Talente der DDR, war fünf Tage zuvor, am 20.März, von einem Freundschaftsspiel beim 1.FC Kaiserslautern nicht zurückgekehrt. Es hieß, «sportfeindliche Kräfte» aus dem NSW, dem Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet, hätten ihn abgeworben. Als ich das hörte, dachte ich nur: Ist der verrückt, muss der gerade jetzt flüchten? Eigendorf war doch bei genügend internationalen Begegnungen dabei gewesen, um dies schon früher tun zu können.
Seit diesem Vorfall wurde von ihm als einem «Verbrecher», einem «Verräter», gesprochen, der die Republik und den Fußball im Stich gelassen hätte. Und es war klar: Wir hatten in Jugoslawien mit schärfster Überwachung zu rechnen – nicht die beste Ausgangssituation für mich.
Nach einem gut zweistündigen Flug landeten wir bei warmer Märzsonne in Belgrad. Die Passkontrolle verlief ohne Schwierigkeiten, anschließend stiegen wir in einen Bus, der uns nach Subotica bringen sollte, dem Austragungsort des Länderspiels. Unsere Delegation war inzwischen um drei Genossen vergrößert worden, bestimmt Sicherheitsleute – eine Auswirkung von Eigendorfs Republikflucht.
Subotica lag ungefähr zweihundert Kilometer nördlich von der jugoslawischen Hauptstadt entfernt; die Ortschaft befindet sich heute in Serbien, nahe der ungarischen Grenze. Endlose Felder mit dunkler Erde zogen an mir vorbei, bald würden sie langsam grün werden. Ich musste aufpassen, nicht zu nachdenklich zu wirken. Bloß nicht auffallen – noch ein einziges Mal musste ich mir das abverlangen. In der Vergangenheit hatte ich mich stets unkompliziert und fröhlich gegeben, das sollte mir doch auch auf dieser Sportreise gelingen.
Schließlich hielt der Bus gegen halb fünf Uhr nachmittags vor dem Hotel Patria. Ein typischer Kastenbau, nichts Besonderes. Nachdem alle ausgestiegen waren, drückte mir der Delegationsleiter eine Liste mit der Raumverteilung in die Hand. Normalerweise war die Zuordnung von Spielern und Hotelzimmern eine Entscheidung des Trainers. Sie mir abzunehmen, gehörte anscheinend zu den Vorsichtsmaßnahmen. Bei der Liste fiel auf, dass niemals zwei Spieler aus demselben Verein einen Raum teilten. Auf diese Weise, so hoffte man wohl, sollte eine gemeinsame Flucht, eine gegenseitige Deckung verhindert werden. Perfekt durchdacht, nahezu.
Ähnlich auffallend: Normalerweise wurden wir während eines Hotelaufenthalts auf mehrere Stockwerke verteilt, dieses Mal aber belegten wir sämtliche Zimmer auf einer einzigen Etage, nämlich der dritten. Geschlossene Anstalt.
Am Abend aßen wir mit der gesamten Truppe im Speisesaal des Hotels, anschließend erhielten wir die Erlaubnis, auf unsere Zimmer zu gehen. Ich hatte eines für mich allein, sonst musste ich es mir immer mit einem Funktionär oder Co-Trainer teilen. Angesichts der Situation geradezu ein Planungsfehler.
Der nächste Tag, der Dienstag, war straff durchorganisiert: vormittags Training, nachmittags Training, dazwischen Mittagessen und anderthalb Stunden zum Ausruhen. In dieser Zeit musste ich meinem Ziel näherkommen.
Bei unserer Anreise waren wir an dem Bahnhof von Subotica vorbeigefahren, er lag nicht weit vom Hotel entfernt. Seitdem jeder von uns ein Taschengeld in Höhe von 300Dinaren ausgehändigt bekommen hatte, wusste ich, was zu tun war. Zu Fuß machte ich mich auf, um zu diesem Bahnhof zu gelangen. Mein Orientierungssinn ließ mich nicht im Stich, und ich erreichte mein Ziel ohne größere Umwege.
Am Schalter löste ich von meinem jugoslawischen Geld eine Einfachfahrkarte Subotica– Belgrad. Da ich Russisch durch den Schulunterricht mindestens so gut sprechen und verstehen konnte wie der Bahnangestellte, war der Kauf in der «Brudersprache» schnell abgewickelt. Ich erfuhr, dass es einen Zug aus Budapest in Richtung der jugoslawischen Hauptstadt gab, der an jedem Werktag morgens um fünf Uhr in Subotica hielt. Die Fahrkarte selbst mit der Aufschrift «Beograd» war zwei Tage gültig.
Als ich sie in den Händen hielt, blickte ich mich um. Ich konnte nichts Auffälliges entdecken. Und der Mann in dem Park gegenüber dem Bahnhof? Drehte der nicht schon zum zweiten Mal eine Runde? Schaute der nicht verstohlen zu mir herüber? War er nicht einer der Sicherheitsleute? Egal, es wäre zu spät gewesen. Die Fahrkarte hinunterzuschlucken, hätte mir auch nichts mehr genützt. Schon der Aufenthalt auf dem «West»-Bahnhof war verboten.
Schweißgebadet steckte ich auf der Bahnhofstoilette die kleine braune Pappkarte in meine rechte Socke. Beim Umziehen zum nächsten Training musste ich allerdings aufpassen, dass ich die Socken nicht unbedacht auszog. Normalerweise benutzte ich lediglich Stutzen. Sollte mich jemand fragen, warum ich zusätzlich Socken trug, konnte ich immer noch sagen, dass mir vom vielen Rumstehen heute Morgen kalt geworden sei.
Das Nachmittagstraining verlief ohne Zwischenfälle, die Spieler waren sichtlich motiviert, einen Sieg über den Kapitalismus davonzutragen. Danach begann das Freizeitprogramm, ein Stadtspaziergang war angesagt. Es war inzwischen halb sechs. Sollte ich tatsächlich am nächsten Morgen fliehen, wären es knapp zwölf Stunden bis zur Abfahrt des Zuges nach Belgrad. Noch hatte ich aber nicht entschieden, ob ich vor oder nach dem Spiel das Wagnis auf mich nehmen wollte. Trotzdem fing ich an, die Stunden zu zählen.
Den üblichen Delegationsanzug hatte ich gegen einen anthrazitfarbenen Rollkragenpullover, eine schwarze Lederjacke, beigefarbene Hosen und halbhohe Stiefel eingetauscht. Die Fahrkarte befand sich weiterhin in den nun etwas schweißigen Socken. Auf dem Weg in die Innenstadt von Subotica blieb Klaus Petersdorf an meiner Seite. «Was machst du mit deinem jugoslawischen Geld?», fragte er. Ich überlegte fieberhaft: War das eine Fangfrage? Hatte man während des Trainings meine Sachen durchsucht? Festgestellt, dass ich so gut wie keine Dinare mehr besaß? Was sollte ich antworten, damit Petersdorf nicht argwöhnisch wurde, sich später nicht darüber wunderte, dass ich nichts einkaufen würde? Ich musste es darauf ankommen lassen.
«Ich werde mich nur umschauen», sagte ich. «Mein Geld möchte ich einem Bekannten geben, der bald längere Zeit in Belgrad tätig sein wird. Er ist Musikfan wie ich und soll in Ruhe einige Platten für mich ausfindig machen.»
Das war zum Teil nicht einmal gelogen. Jeder wusste, dass ich ein Musikfreak war, wenn vielleicht auch nicht gerade Petersdorf – aber er schien sich mit meiner Erklärung zufriedenzugeben. Jedenfalls hakte er nicht weiter nach. Später, befragt über meine Flucht, machte er nur eine einzige Aussage: Ihm sei aufgefallen, dass ich kein Geld ausgegeben hätte.
In den nächsten zwei Stunden wurde der Programmpunkt «Stadtspaziergang» abgehakt. Das hieß: mit der ganzen Truppe rein in ein Kaufhaus und mit der ganzen Truppe wieder raus aus dem Kaufhaus. Im Alleingang durch die Straßen zu gehen oder etwas zu besichtigen – das wäre in dieser politisch heißen Zeit nach dem «Verrat» eines Vorzeigespielers wie Lutz Eigendorf nicht denkbar gewesen.
Auf einmal hörte ich, wie Petersdorf sagte, die Spieler dürften noch ins Kino, und zwar in Begleitung unseres Mannschaftsmasseurs, die «Offiziellen» wiederum seien eingeladen zu einem Bankett der jugoslawischen Delegation. Ich zählte zu den «Offiziellen».
Ein Bankett in Jugoslawien war im Prinzip das gleiche wie die Festessen in sozialistischen Ländern; es handelte sich um ein Zusammensein von Funktionären. Nur schmeckten die Speisen besser, denn wir waren ja im «Westen». Was die Menge an ausgeschenktem Alkohol betraf, konnte ich jedoch keinen Unterschied ausmachen.
«Mensch, Jörg, morgen ist zwar das Länderspiel, aber du kannst ruhig mit uns anstoßen.» Immer wieder bekam ich so etwas zu hören, immer wieder wurde mir das Schnapsglas nachgefüllt. Da ich bei Alkohol damals selten nein sagte, fiel meine Zurückhaltung schon auf. Aber ich wollte unbedingt nüchtern bleiben. Ein- oder zweimal leerte ich das Wodkaglas, ansonsten schüttete ich den Inhalt einfach unter den Tisch. Es hatte sich schon eine ansehnliche Pfütze unter meinem Stuhl gebildet. Schließlich sagte ich resolut: «Beim besten Willen, ich kann nicht mehr. Mir geht es nicht so gut, ich hab Zahnschmerzen.» Ein besserer Vorwand war mir nicht eingefallen.
Gegen 23Uhr war das Bankett beendet, eine Stunde später sollte eine Zusammenkunft der «Genossen» stattfinden. In dieser freien Stunde probierte ich unzählige Male, meine Zimmertür geräuschlos auf- und wieder zuzumachen. Am Ende hatte ich den Dreh raus.
Mitternacht. Es wurde Zeit für die Sitzung. Riedel brachte uns noch einmal den Fall Eigendorf in Erinnerung: «Genossen, wir müssen wachsam sein, besonders nach dem Länderspiel. Aus diesem Grund wird es in der Nacht nach der Begegnung, also von Mittwoch auf Donnerstag, in den Gängen unseres Hotels Kontrollen geben. Wir werden alles dafür tun, dass unsere Delegation geschlossen und ohne Zwischenfälle in die DDR zurückreist.» Damit war die Entscheidung gefallen: Ich musste heute in den Zug steigen, morgen würde es zu gefährlich sein.
Als Erster verabschiedete ich mich aus der Funktionärsrunde, wiederholte, dass ich Zahnschmerzen hätte, völlig erledigt sei. Mir war klar, dass Riedel und Petersdorf nach meinem Abgang über mich reden würden, darüber, wie ich mich bei meinem ersten Einsatz in einem «westlichen» Ausland nach dem Reiseverbot verhalten hätte. Gründe für besondere Auffälligkeiten konnte ich ihnen meiner Meinung nach nicht geliefert haben – bis jetzt jedenfalls.
Wieder auf meinem Zimmer, sah ich unentwegt auf die Armbanduhr. Es wurde ein Uhr, es wurde zwei Uhr. Angst hatte ich seit dem Erwerb der Fahrkarte kaum verspürt. Viel zu sehr war ich damit beschäftigt gewesen, mich nicht durch irgendeine Geste, durch ein falsches Wort zu verraten. Nun war ich jedoch allein und hatte Zeit für alle möglichen Bedenken. Wieso willst du eigentlich in den Westen?, fragte ich mich, als hätte ich in den vergangenen Jahren nie darüber nachgedacht. Dir geht es gut in der DDR, du bist privilegiert. Du kannst im Sommer an die Ostsee reisen, im Winter im Erzgebirge Ski fahren. Nicht jeder Bürger hat dazu die Möglichkeit. Und nicht zu vergessen: Bei den Frauen kommst du an. Über mangelnde Aufmerksamkeit musst du dich nicht beklagen, das kann im Westen ganz anders aussehen. Hast du dir überhaupt Gedanken darüber gemacht, was dich in der Bundesrepublik erwartet? Du hast keine Kontakte geknüpft, kannst keine Adresse aufsuchen, dich bei keinem Verein melden. Keiner wartet darauf, dass du kommst, anders als bei Eigendorf. Bist du eigentlich ganz bei Sinnen?
Inzwischen war es fast drei. Und was passiert, wenn die Flucht misslingt? Ich erschrak – diese Möglichkeit hatte ich bei all meinen BRD-Phantasien verdrängt. Eine hilfreiche Methode, um allerlei Bauchschmerzen von sich fernzuhalten. Mit wie vielen Jahren im berüchtigten Gefängnis Bautzen musste ich eigentlich bei einer Verhaftung rechnen? Es würden wohl einige sein. Und meine Karriere als Fußballtrainer? Immerhin konnte ich es als DDR-Coach bis zur A-Nationalmannschaft schaffen. Doch damit wäre es ein für alle Mal vorbei.
Zerreiß die Fahrkarte!
Ich rauchte wie ein Schlot. Dabei war ich eigentlich kein Raucher, eher dafür bekannt, dass ich mir hin und wieder eine Zigarette schnorrte. In meinem Kopf arbeitete es weiter: Niemandem hatte ich von meinen Fluchtplänen erzählt. Weder meiner Ex-Frau noch meinem Sohn, auch meine Eltern und die Freunde hatten keine Ahnung, was mich in den letzten Jahren innerlich beschäftigt hatte. Nur meine Mutter wusste etwas. Noch konnte ich zurückkehren, und alles würde so weiterlaufen wie bisher. Zugleich tauchte immer wieder der Fünf-Uhr-Zug nach Belgrad als Verlockung auf. Wenn ich ihn nicht besteige, sagte ich mir, würde ich vielleicht meine letzte Chance verspielen, in den Westen zu gelangen. Es war keineswegs sicher, dass man mich nach dieser Jugoslawienreise wieder als Trainer für ein kapitalistisches Ausland einteilte. Und regulär hätte ich erst als Rentner in die Bundesrepublik reisen dürfen. Fest stand nur eins: Würde ich nach dem Spiel wieder mit nach Berlin fliegen, käme ich unweigerlich bei einem weiteren Fortkommen noch stärker in die Fänge des Systems. Das wollte ich keinesfalls.
Kurz vor halb fünf. Leise öffnete ich mit nun gekonntem Griff die Tür, schaute vorsichtig nach links, anschließend nach rechts. Niemand war auf dem langen Flur zu sehen, weder Spieler noch Hotelpersonal. Ich ging die Treppen hinunter, der Pförtner am Eingang des Hotels blickte müde hoch, als er mich sah.
«Ich muss mal an die Luft, ich hab solche Zahnschmerzen», sagte ich auf Deutsch. Für den Fall, dass er mich nicht verstand, setzte ich zudem einen gequälten Gesichtsausdruck auf und hielt mir mit der rechten Hand die Wange.
Der ältere Mann nickte nur und wandte sich wieder seiner Zeitung zu, die er, ihrem Aussehen nach zu urteilen, schon mehrmals Zeile für Zeile durchgelesen haben musste.
Die Idee mit den Zahnschmerzen stellte sich immer mehr als nützlich heraus. Sollte mich jetzt jemand beobachten und es seltsam finden, dass ich um diese Uhrzeit das Hotel verließ, so konnte ich behaupten, sie hätten mich dazu getrieben, einen Spaziergang zu machen. Im Prinzip glaubhaft. Außerdem hatte ich nichts Auffälliges dabei, keine Tasche mit Kleidung oder andere persönliche Gegenstände, einzig meinen Führerschein, den Personalausweis mit einem beigelegten Passfoto – wer weiß, wozu es nützlich sein konnte – sowie den Ausweis des Deutschen Sportbundes der DDR. Meine Fahrkarte in der Socke würde man nur finden, wenn man mich dazu zwang, mich vollkommen auszuziehen.
Fast hatte ich den Park, der auf den Bahnhof zuführte, durchquert, da zuckte ich plötzlich zusammen. Jemand lief hinter mir her. Keine Chance, sich noch in die Büsche zu schlagen. Ich versuchte ruhig weiterzuatmen, meinen gleichmäßigen Schritt beizubehalten. Im nächsten Moment würde man mich packen, abführen und verhören. Inzwischen waren vielleicht zwanzig Minuten vergangen, seitdem ich das Hotel verlassen hatte. Der Pförtner hatte bestimmt Meldung gemacht, weil ich nicht in mein Zimmer zurückgekehrt war.
Doch ich hatte Glück: Der Mann rannte an mir vorbei, Richtung Bahnhof. Er sah nach einem jugoslawischen Arbeiter aus, der seinen Frühzug nicht versäumen wollte. Ich atmete tief durch. Noch einmal davongekommen! Das sollte ich in den nächsten beiden Tagen noch häufiger denken.
Als ich den Bahnhofsvorplatz erreichte, setzte sich der Regionalzug, auf den der Läufer es noch geschafft hatte aufzuspringen, in Bewegung. Das ganze Gelände war wie leergefegt, kein Mensch zu sehen. Angespannt starrte ich auf die rostigen Gleise.
Kurz darauf rollte der Zug aus Budapest ein. Pünktlich. Ich fühlte mich augenblicklich erleichtert. Wäre er mit großer Verspätung in Subotica angekommen, mein weiteres Leben wäre möglicherweise anders verlaufen. Ein langes Warten hätte ich bestimmt nicht ausgehalten, ich wäre wieder ins Hotel zurückgegangen.
So aber suchte ich mir ein Abteil im mittleren Zugabschnitt, damit ich von der Waggontür aus die Eingangshalle übersehen konnte. Fahr los!, dachte ich nur noch. Panik machte sich auf einmal in mir breit, eine Panik, wie ich sie nie zuvor kennengelernt hatte.
Endlich das erlösende Signal zur Abfahrt. Jetzt gab es endgültig kein Zurück mehr!
2
Erst als der Zug bereits einige Minuten in Bewegung war, setzte ich mich erschöpft auf den nächstbesten freien Platz. Doch schon überfiel mich der nächste Schrecken: Mir wurde in aller Deutlichkeit bewusst, dass ich meine Flucht überhaupt nicht organisiert hatte. Ich, der vierunddreißig Jahre im Arbeiter-und-Bauern-Staat lebte, in dem «Planerfüllung» an oberster Stelle stand, hatte anscheinend nicht viel gelernt. Aus einem Bauchgefühl heraus hatte ich die Fahrkarte nach Belgrad gekauft, instinktiv hatte ich Zahnschmerzen vorgetäuscht – mehr aber auch nicht.
Wie sollte ich eigentlich von Belgrad aus in die Bundesrepublik kommen? Ich hatte nicht die geringste Idee, dabei war ich von meinem Ziel noch weit entfernt. Sehr weit. Mit diesem Moment war ich zwar wie Lutz Eigendorf ein Republikflüchtiger, ein «Verräter». Im Gegensatz zu ihm konnte ich aber noch gefasst werden. Ich musste mir dringend etwas einfallen lassen.
Als sich ungefähr gegen acht, halb neun der Zug dem Belgrader Bahnhof näherte, überlegte ich angestrengt. Ich kannte ihn nicht. Vielleicht war er ein Kopfbahnhof wie der in Leipzig, wo man leicht jemandem in die Arme laufen konnte. Es war nicht abwegig, sich vorzustellen, dass man mich dort erwartete. Die Spieler und die Delegationsteilnehmer waren beim Frühstück, dabei musste ihnen längst meine Abwesenheit aufgefallen sein. Ein einziger Anruf in der Belgrader DDR-Botschaft genügte, um entsprechende Maßnahmen einzuleiten.
Zu meinem Vorteil waren die damaligen Züge so konstruiert, dass man sie während der Fahrt öffnen konnte. Als der Containerbahnhof von Belgrad sichtbar wurde – er war dem Bahnhof für Personenzüge vorgelagert, das hatte mir ein Mitreisender erzählt–, verlangsamte der Lokführer die Geschwindigkeit, der Zug stand fast. Diesen Moment nutzte ich aus, um vom Trittbrett herabzuspringen.
Über viele Gleise gelangte ich in eine Nebenstraße des Bahnhofs mit kleinen Läden und Cafés. In einem von ihnen trank ich eine Cola, nicht eine Club-Cola, wie es sie in der DDR gab, sondern eine Coca-Cola.
Als ich das Glas mit dem braunen Getränk in der Hand hielt, wurde mir klar: Ich musste zur westdeutschen Botschaft. Ernsthafte Alternativen fielen mir nicht ein, sosehr ich auch verschiedene Möglichkeiten durchspielte, etwa eine nächtliche Grenzüberquerung. Alles, was in diese Richtung ging, verwarf ich sofort. Es schien mir zu gefährlich – einen Helden wollte ich nicht spielen. Doch wo lag die Botschaft? Da ich keine Ahnung hatte, blieb mir nichts anderes übrig, als jemanden zu fragen. Zuerst schaute ich mir einige Westautos an, die vor einer Ampel hielten. Ich konnte mich aber nicht überwinden, einen der Fahrer anzusprechen. Zu schnell schaltete die Ampel auf Grün, dies war eindeutig nicht die richtige Situation, um nach dem Weg zu fragen. Dann betrat ich ein Bahnhofshotel. In der Lobby saß eine Gruppe von Männern beisammen, die Deutsch sprachen. Waren das westdeutsche Touristen oder Handelsreisende? Oder etwa DDR-Bürger? Auch damit musste ich rechnen. Wenn dem so war, konnten es nur Privilegierte meines Staates sein – und die würden keineswegs behilflich sein wollen.
Mich verließ der Mut, verzagt trat ich aus dem Hotel heraus und wanderte ziellos durch die Straßen. Schließlich sprach ich einen Jugoslawen an, fragte ihn, ob er vielleicht wüsste, wo die westdeutsche Botschaft läge. Er schüttelte nur den Kopf, konnte es mir nicht sagen, vielleicht hatte er mich auch erst gar nicht verstanden.
Swissair! Über einem Schaufenster hing ein Schild mit dieser Aufschrift. Es handelte sich um eine Agentur der Schweizer Fluggesellschaft. Ich öffnete die Tür. Hinter einem Schalter stand eine Frau, die ich ansprach: «Können Sie mir sagen, wie ich das Büro der Lufthansa finde?» Die deutsche Fluglinie musste die Adresse der Botschaft kennen und die Fluggesellschaften untereinander die jeweiligen Niederlassungen. Richtig gedacht! Auf Schweizerdeutsch erklärte mir die Dame, wie ich zum Lufthansa-Center kommen würde, dazu verließ sie sogar ihren Schalterbereich und trat mit mir vor die Tür.
Ganz einfach war es nicht, das Lufthansa-Büro ausfindig zu machen, aber schließlich war ich da.
«Gibt es hier jemanden, der Deutsch spricht und aus der Bundesrepublik ist?», fragte ich einen Mann, der meiner Einschätzung nach ein Jugoslawe war.
«Worum geht es denn?» Der Angesprochene beherrschte ein sehr gutes Deutsch, doch, wie ich vermutet hatte, mit einem Akzent.
«Das kann ich Ihnen nicht sagen. Aber ich möchte gern mit einem Westdeutschen reden.»
Der Jugoslawe ging in den hinteren Teil der Räumlichkeiten, ohne dabei eine Miene zu verziehen. Nach einer Weile kam er in Begleitung eines jüngeren Mannes zurück.
«Kann ich Sie bitte unter vier Augen sprechen?», fragte ich diesen.
Wortlos wies er mit der Hand in Richtung Hinterzimmer. Dort erzählte ich ihm in einer Kurzversion von meiner Flucht. Am Ende meines Berichts sagte er: «Ich habe von dem Länderspiel gehört. Können Sie sich ausweisen?»
Es gab damals Gerüchte über geplante Anschläge der RAF auf Botschaften, deshalb war man besonders vorsichtig. Immerhin konnte ich ein Terrorist sein. Von diesen Zusammenhängen und den verstärkten Sicherheitsmaßnahmen wusste ich jedoch noch nichts.
Der Lufthansa-Mitarbeiter schaute sich meinen Ausweis an. «Sie sind jetzt hier in Belgrad, Herr Berger. Aber wie soll es weitergehen?»
«Ich möchte zur Botschaft der Bundesrepublik Deutschland. Vielleicht kann man mir dort helfen. Ich könnte politisches Asyl beantragen.»
«Das ist eine gute Idee. Aber Sie gehen dort nicht allein hin, ich werde Sie begleiten.»
Ich konnte kaum glauben, dass dieser Mann mir zur Seite stehen wollte. Hatte er schon öfter mit Flüchtlingen zu tun gehabt? Ich wagte nicht, ihn danach zu fragen. Bevor wir aufbrachen, schenkte er mir noch einen Kaffee ein und bot mir etwas von seinen mitgebrachten Broten an.
Die Strecke sei nicht weit, man könne zu Fuß dorthin, gab er mir zu verstehen, als wir uns auf den Weg gemacht hatten. Nach und nach wurde es leerer auf den Straßen, die Häuser lagen weit auseinander, wirkten vornehm.
«Da vorn ist die deutsche Botschaft», sagte mein freundlicher Begleiter auf einmal und zeigte auf ein großes, helles Gebäude. Es war leicht nach hinten versetzt und mutete für damalige Zeiten modern an. «Gehen Sie nicht so nah an der Straße. Man könnte sie von DDR-Seite aus schon erwarten.»
Angstschweiß brach aus mir heraus. An was alles hätte ich denken müssen, an was alles hatte ich nicht gedacht! Eigentlich war es eine naive Vorstellung, einfach die westdeutsche Botschaft aufsuchen zu wollen. Unabhängig von der SED-Propaganda war Jugoslawien doch ein sozialistisches Land mit engen Kontakten zur Deutschen Demokratischen Republik. Vielleicht würde ich mit meinem Pass erst gar keinen Zutritt zur BRD-Botschaft erhalten? Dann hätte ich ein gewaltiges Problem.
War es überhaupt schon mal vorgekommen, dass ein DDR-Bürger in Belgrad um Asyl gebeten hatte? Mir war nichts dergleichen bekannt. Aber man hätte dies auch nicht groß in den Zeitungen thematisiert. Keiner konnte ein Interesse daran haben, dass solche Fluchtmöglichkeiten publik wurden, weder die BRD noch die DDR.
Kurz darauf standen wir vor der Kneza Miloša 76.Wir gingen ein paar Treppenstufen hinauf bis zu einer Glaswand, hinter der ein Angestellter der Botschaft saß. Nach einer Aufforderung schoben mein Begleiter und ich unsere Pässe durch einen dafür vorgesehenen Schlitz. Als sich der Botschaftsmitarbeiter meinen Ausweis ansah, sagte ich: «Ich bin Bürger der DDR.» Der Mann schaute mich ein wenig merkwürdig an, dann antwortete er: «Sie sind Deutscher.»
Sie sind Deutscher! Als ich diese Worte hörte, liefen Schauer über meinen Rücken. Nie hatte ich Deutscher sein dürfen, stets hieß es, ich sei Bürger der DDR.
Konnte der Angestellte ahnen, was dieser Satz bei mir auslöste? Für mich bedeutete es: Ich war angekommen! Ich war noch nicht im Westen, aber ich war angekommen!
Nachdem der Mann aus dem Lufthansa-Büro erklärt hatte, dass ich mich als Trainer von meiner Fußballmannschaft abgesetzt hätte, verabschiedete er sich von mir. Nun konnte ich mich in Sicherheit wissen. Später wurden DDR-Bürger, die in westdeutsche Botschaften flüchteten, tatsächlich wieder zurück in ihre Heimat geschickt, wo sie Schikanen ausgesetzt waren. Das hörte meist erst dann auf, wenn sie vom Westen freigekauft wurden.
Man führte mich in den ersten Stock des Gebäudes, ein anderer Botschaftsangehöriger setzte die Unterredung fort. Es fiel mir nicht leicht, meine Geschichte zu erzählen. Immerhin war ich nicht gekommen, weil mir Reisegepäck und Ausweisunterlagen gestohlen worden wären. Nach und nach wurde mir klar, dass ich aus Sicht meines Gesprächspartners nicht auf «klassische» Weise geflüchtet war: Ich hatte kein bestimmtes Vorgehen verfolgt, keine Fluchthelfer und keine konkrete Zieladresse. Das sollte die Stasi freilich völlig anders sehen.
«Kennen Sie trotzdem jemanden in der Bundesrepublik, der Ihre Identität bestätigen kann?»
Ich schüttelte den Kopf. Man wollte verständlicherweise sichergehen, das ich auch der war, für den ich mich ausgab. Nur dann konnte man mir weiterhelfen.
«Denken Sie bitte noch einmal nach.»
Schließlich hatte ich einen Einfall. «Walter Eschweiler könnte mich kennen.» Eschweiler war ein bekannter DFB-Schiedsrichter und arbeitete praktischerweise im Auswärtigen Amt in Bonn unter Hans-Dietrich Genscher. Mein Name musste ihm etwas sagen, waren wir uns doch einmal während eines internationalen Jugendturniers in Taschkent begegnet.
«Gut, dann werden wir ihm ein Funkbild von Ihnen schicken.»
Anschließend wurde ich gebeten, meine gesamte Flucht in allen Einzelheiten aufzuschreiben. Während ich das tat, trat der Botschafter ins Zimmer. Er stellte sich als Jesco von Puttkamer vor. «Seit der Mittagszeit wird in ganz Jugoslawien nach Ihnen gefahndet», berichtete er.
Aus meinen Stasiakten habe ich erfahren: Nachdem meine Flucht festgestellt worden war, setzte sich Delegationsleiter Riedel sofort mit einem Bild von mir in den nächsten Zug nach Belgrad, um bei der Politischen Polizei Jugoslawiens eine Fahndung zu veranlassen. Wahrscheinlich hatte der stellvertretende Generalsekretär für Organisation und Kader, Hans Müller, von Ost-Berlin aus befohlen: «Du musst los und die Geschichte sofort regeln.» Den Auftrag dazu dürfte er von höchster Stelle erhalten haben.
Die Nachricht über die ausgeschriebene Fahndung ließ meine Knie weich werden. Von Puttkamer musste gesehen haben, wie blass ich wurde, denn er versicherte mir, dass man mich nicht ausliefern würde.
Die Fahndung bedeutete für die Botschaft Alarmstufe eins. Denn wahrscheinlich gingen die DDR-Behörden davon aus, dass ich mich hier aufhielt. Und die größte Angst der BRD-Botschaft war nun, dass sie als «Fluchthilfeorganisation» dargestellt werden konnte.
Ab einem bestimmten Zeitpunkt merkte ich, wie sich die Aktivitäten um mich herum verstärkten. Eschweiler musste grünes Licht gegeben, meine Angaben nach Prüfung des Fotos bestätigt haben.
«Haben Sie sich Gedanken gemacht, wie Sie unter diesen Umständen in den Westen gelangen wollen?»
Erschrocken schaute ich den Botschafter an. Eigentlich war ich doch gekommen, weil ich mir genau dabei Hilfe erhofft hatte. Nur hier konnte man wissen, welche Wege mir offenstanden.
«Vielleicht wäre es denkbar, von Belgrad nach Frankfurt zu fliegen», schlug ich vor.
«Das ist zu gefährlich. Wir werden Ihnen einen Behelfspass aushändigen mit einem falschen Namen. Am Flughafen kann das herauskommen, weil da die Kontrollen am schärfsten sind.»
«Gibt es denn andere Möglichkeiten?»
«Das Sicherste wäre, wenn jemand mit dem Auto aus der Bundesrepublik käme und Sie wieder mit zurücknähme.» Man sagte hier nicht «BRD», ich musste langsam umlernen, obwohl ich noch nicht einmal «drüben» war. «Es gibt ein, zwei Grenzübergänge, da sind Schwierigkeiten so gut wie ausgeschlossen.»
«Ich habe leider, wie ich schon sagte, keine Verwandten oder Freunde im Westen. Und auch kein Geld, um jemanden für ein solches Unternehmen zu engagieren.»
«Dann bleibt nur die Reise mit der Bahn. Für den Grenzübertritt müssen Sie sich Folgendes merken: Sollte man nach Ihrem Pass fragen, antworten Sie, dass Ihnen Ihre Tasche– Sie haben ja sowieso keine bei sich – und Ihre Ausweispapiere gestohlen wurden. Von der Botschaft hätten Sie daraufhin einen Ersatzpass erhalten. Kennen Sie für die neuen Dokumente einen realen Namen und eine Adresse in Westdeutschland, die Sie sich ohne Schwierigkeiten merken können?»
«Gerd Penzel, Weilheim, Wettersteinstraße 1.» Es kam wie aus der Pistole geschossen. Gerd Penzel war ein sehr guter Bekannter meiner Eltern, und bewusst hatte ich mir seine Anschrift gemerkt. Ein Passfoto brauchte man nicht zu machen, in weiser Voraussicht hatte ich ja eines dabei. Vollkommen unvorbereitet war ich nun auch wieder nicht abgehauen. Bereits wenig später hielt ich meinen Ersatzausweis in den Händen, gültig für drei Tage. Bis auf das Passfoto, den Geburtsort und das Geburtsdatum stimmte nichts. Dennoch war es ein unbeschreibliches Gefühl, kam ich mir doch schon vor wie ein Bundesbürger.
«Wollen Sie heute Nacht fahren oder lieber ein, zwei Tage warten, bis die Sache sich etwas beruhigt hat?», fragte von Puttkamer mich weiter. «Sie können in der Botschaft übernachten.»
Meine Antwort fiel eindeutig aus, ich wollte so schnell wie möglich von hier fortkommen. Ich kannte die Stasi-Maschinerie, ging davon aus, dass es am nächsten Tag erst richtig mit den «strategischen Maßnahmen» losgehen würde. Und ich sollte recht behalten. Noch kurz vor meiner Abreise reichte man mir die Abendausgabe des Politika Ekspres. Dessen Schlagzeile lautete übersetzt: «Trainer unter Zurücklassung seiner ganzen Sachen spurlos verschwunden!» Ich war nicht geflüchtet, sondern «spurlos verschwunden», so klang es danach, als hätte man mich entführt. Sollten jugoslawische Zeitungsleser durch diese Formulierung dazu aufgerufen werden, mich bei einer möglichen Entdeckung zu melden? Wen interessierte schon eine gewöhnliche Flucht?
Die spätere Meldung der westlichen Nachrichtenagentur AP beruhte auf dem jugoslawischen Zeitungsartikel und las sich so: «Der Trainer der Juniorenauswahl der DDR, Jörg Berger, ist nach Angaben der Belgrader Zeitung Politika Ekspres spurlos aus seinem Hotel in der nordjugoslawischen Stadt Subotica verschwunden. Das Blatt berichtete, Berger sei am Mittwochmorgen nicht in seinem Hotelzimmer gewesen und auch später nicht wiederaufgetaucht. Sein Gepäck habe er zurückgelassen.»
Da ich darauf bestand, sofort auszureisen, überreichte man mir einen Umschlag mit westdeutschem und jugoslawischem Geld, insgesamt rund 200Mark, deren Rückzahlung zwei Jahre später vom Auswärtigen Amt angemahnt wurde. Weiterhin schrieb man mir die Telefonnummer des Konsulats in Zagreb auf. Dort konnte ich anrufen, wenn es Probleme gab.
Um 18Uhr sollte mein Zug vom Belgrader Hauptbahnhof abfahren, es war der sogenannte Orient-Express. Die Strecke dieser Eisenbahnverbindung verlief zu einem großen Teil durch den Balkan: Istanbul– Belgrad– Zagreb– Laibach– Klagenfurt– München– Paris. Bevor mich ein Botschaftsmitarbeiter zum Bahnhof brachte, gab man mir noch zu verstehen: «Es gibt Jugoslawen, die auf der Seite der Kommunisten stehen, andere, die westlich eingestellt sind. Bedenken Sie das, wenn Sie an der Grenze kontrolliert werden. Sollten Sie von einem Grenzer trotz Ihres neuen Passes erkannt und verhaftet werden – damit müssen Sie rechnen–, erzählen Sie nicht, dass wir Ihnen geholfen haben. Und sind Sie in der Bundesrepublik, dann bringen Sie uns auch nicht ins Spiel. Die Staatssicherheit soll nichts von diesen Vorgängen erfahren.»
Deutlicher konnte man es mir nicht sagen: Meine Flucht war noch lange nicht ausgestanden. Die gefährlichste Etappe stand mir erst bevor.
Wir verließen die Villa über einen Hinterausgang und gingen zu Fuß zum Bahnhof, was ungefähr eine Viertelstunde dauerte. An den Weg kann ich mich kaum noch erinnern, weil mir tausend Dinge durch den Kopf schossen.
Nachdem wir das richtige Gleis gefunden hatten, überprüfte ich meine wichtigsten Eigentümer: ein Zugticket nach Frankfurt – man hatte mir geraten, mich beim Deutschen Fußball-Bund zu melden, der dort beheimatet ist, sowie beim Aufnahmelager für geflohene DDR-Bürger in Gießen–, das geliehene Geld und den Behelfspass. Meine Originalpapiere hatte ich in der Kneza Miloša 76 hinterlegt. Man wollte sie mir nachschicken, wenn ich in der Bundesrepublik angelangt war. Wenn!
«Gute Fahrt», wünschte mir mein Begleiter zum Abschied. «Und bleiben Sie ruhig, Herr Berger. Sie können sich als Deutscher ausweisen, als ein Bürger der Bundesrepublik.»
«Danke für alles», sagte ich. «Eine Frage noch: Wie lange dauert die Zugfahrt bis zur österreichischen Grenze?»
«Zwölf Stunden.»
Ich musste tief Luft holen. Zwölf Stunden! Damit hatte ich nicht gerechnet. Erst bei Sonnenaufgang würden wir in Klagenfurt sein. Aber was sollte ich darüber nachdenken, eine andere Wahl hatte ich nicht.
Der «Orient-Express» setzte sich in Bewegung, die zweite nervenaufreibende Zugreise an diesem Tag begann.
Ich machte mich auf die Suche nach dem Schaffner und musste durch mehrere Waggons laufen, bis ich ihn entdeckt hatte. «Haben Sie ein Schlafabteil für mich?», sprach ich ihn auf Deutsch an. Die Vorstellung, mit fünf anderen Personen zwölf Stunden lang auf dem für mich reservierten Platz zu sitzen, war mir unerträglich. Zu sehr hatte ich in den letzten Tagen unter Strom gestanden, eine derart lange Reise in einem Sechserabteil würde ich nicht durchhalten. Und sollte dabei mein ganzes Geld draufgehen – ich wollte nur noch allein sein, von niemandem angestarrt werden.
Der Mann antwortete: «Sämtliche Schlafwagen sind belegt. Aber ich kann Ihnen ein Liegewagenabteil für Sie allein anbieten.»
Auch gut. Er führte mich den schmalen Gang hinunter, bis er ein leeres Abteil aufschloss. Ich gab ihm den verlangten Aufpreis. Am Ende hatte ich vielleicht noch dreißig Mark übrig.
Als der Zugschaffner verschwunden war, verriegelte ich die Tür. Danach zog ich sämtliche Vorhänge zu und setzte mich ans Fenster. Vorsichtig schob ich einen Vorhang beiseite und blickte aus dem Zug. Draußen war es dunkel, einzelne Lichter blitzten auf, Straßenlaternen Belgrader Vororte. Die Eisenbahnbrücke über die Save mussten wir schon überquert haben. Ich überlegte, ob das Länderspiel wegen meiner Flucht abgesagt worden war. Wie ich später erfuhr, war das nicht der Fall. Meine Mannschaft verlor unter dem «Trainer» Klaus Petersdorf mit einem 0:2.
Einige Zeit später klopfte es an der Abteiltür. Ich zuckte heftig zusammen. Es war aber nur der Schaffner, der fragte, ob er mir etwas bringen könne.
«Drei Flaschen Bier und eine Dose Cola», sagte ich. Vielleicht konnte ich durch das Bier ein wenig ruhiger werden, das Erfrischungsgetränk brauchte ich für einen anderen Zweck. Der Mann beobachtete mich genau, er war mir nicht geheuer. In meiner Lage sah ich in jedem Menschen nur einen Mitarbeiter der Mielke-Behörde.
Als er wieder verschwunden war, lauschte ich den Geräuschen des Zuges. Weiter. Weiter. Weiter. Bitte nicht stehen bleiben. Nur weiter.
Nachdem der Schaffner alles gebracht hatte, leerte ich zuerst die Cola-Dose, danach kamen die Biere dran, eines nach dem anderen. Entspannter fühlte ich mich dadurch jedoch nicht, zu viel Adrenalin strömte wohl durch meinen Körper. Als ich den Druck auf der Blase nicht mehr aushalten konnte, erleichterte ich mich in die leere Getränkedose und warf sie anschließend aus dem Fenster. Nicht gerade die feine Art, aber in meiner Not sah ich keinen anderen Ausweg. Niemand sollte mich bei einem Gang auf die Toilette entdecken können, niemand mit dem Finger auf mich zeigen: «Da ist der Berger, der wird gesucht, das stand sogar heute Abend in der Zeitung.»
Krampfhaft versuchte ich, alle in mir auftauchenden Schreckensbilder zu verdrängen. In wenigen Stunden würde ich es wissen: West-Freiheit oder Ost-Knast.
Nach einer mir unendlich lang vorkommenden Fahrt, in der ich wieder nicht eine Sekunde geschlafen hatte, wurde es draußen hell. Ich zog die Vorhänge zurück. Draußen schlängelte sich ein Fluss durch die gebirgige Landschaft, und ich überlegte, ob dies schon ein Grenzfluss sein könnte. Meiner Uhr zufolge mussten wir bald Österreich erreichen.
Kurz darauf hielt der Zug tatsächlich, und einige Grenzer stiegen mit Schäferhunden ein. Es dauerte eine Weile, bis einer von ihnen meine Abteiltür aufriss. Als Erstes ließ er den Hund herein, der an mir herumschnüffelte.
«Wo haben Sie Ihr Gepäck?», fragte der Beamte.
«Gestohlen.» Mehr brachte ich nicht hervor.
Daraufhin verließen Mann und Hund das Abteil. Was hatte das zu bedeuten? Dass es sich bei dem Schäferhund um einen Drogenhund handelte und er bei mir nicht fündig geworden war – von diesen Dingen hatte ich damals noch nicht die geringste Ahnung. Später habe ich dann verstanden, warum der Orient-Express auch «Haschisch-Express» genannt wurde.
Es folgte der nächste Grenzer. Mittelgroß, schwarze Haare, dunkle, wache Augen, die mich eingehend musterten. Vor seinem Oberkörper trug er einen Bauchladen mit einem aufgeschlagenen Buch und einigen Stempeln, soweit ich das erkennen konnte.
«Kann ich Ihren Pass sehen?», fragte er. Sein Deutsch hatte einen schweren jugoslawischen Akzent.
Ich musste mich zusammenreißen, damit meine Hand nicht zitterte, als ich ihm meinen Behelfsausweis reichte. Im nächsten Moment würde sich mein Schicksal entscheiden. Es gab keine Ausweichmöglichkeit, in diesem Abteil saß ich fest.
«Wo kommen Sie her?»
«Aus Belgrad», antwortete ich. «Ich war mit einer Gruppe dort.» Das zu sagen hatte mir noch der Botschafter geraten.
Lange sah sich der Grenzbeamte meinen Pass an, sagte aber kein weiteres Wort. Stimmte irgendetwas nicht? Erkannte er die Fälschung?
Plötzlich sagte er: «Haben Sie etwas mit Sport zu tun? Kennen Sie Subotica?»
Das Spiel war aus. Wer solche Fragen stellte, der konnte nur Bescheid wissen.
«Nein», sagte ich. «Ich kenne Subotica nicht.»
«Sie arbeiten wirklich nicht im Sport?»
«Nein.»
Der Grenzer musterte mich erneut, danach verließ er das Abteil – und zwar mit meinem Pass. Was hatte das nun wieder zu bedeuten? Warum hatte er ihn mir nicht wiedergegeben? Mir wurde abwechselnd heiß und kalt. Meine Flucht war missglückt, aus dem Fenster konnte ich nicht fliehen. So hilflos hatte ich mich noch nie in meinem Leben gefühlt.
Nach ungefähr zehn Minuten kam der Beamte zurück – eine verdammte Ewigkeit. Vor lauter Angst war ich völlig durchgeschwitzt. Er gab mir meinen Ausweis zurück, schaute mir fest in die Augen, lächelte und sagte: «Und nun, Herr Berger, viel Glück im Westen!»
Natürlich durfte ich nicht laut schreien, doch wenn es möglich gewesen wäre, ich hätte es sofort getan, um den Druck, der sich in mir aufgestaut hatte, herauszulassen. Ich war erkannt, aber nicht verhaftet worden!
Das Problem war, wie ich im Nachhinein annehme, dass ich nicht mehr auf dem Platz saß, den mir die deutsche Botschaft gebucht hatte. Man hatte anscheinend dafür gesorgt, dass ein Grenzer für diesen speziellen Waggon eingeteilt wurde, der mit der deutschen Botschaft zusammenarbeitete. Das durfte man mir aber nicht erzählen. Hätte ich all dies geahnt, ich wäre in dem vollen Sechserabteil geblieben, wäre nicht ans andere Ende des Zuges umgezogen.
Ich hatte Glück, dass der Grenzbeamte, der in mein Abteil kam, allein war – und auf meiner Seite. Aller Wahrscheinlichkeit nach war er draußen auf dem Gang stehen geblieben und hatte so getan, als würde er mithilfe seines Buches meine Angaben überprüfen, so lange, bis seine ganzen Kollegen vorbeigezogen waren. Denn kurz nachdem ich meinen Ausweis wiederbekommen hatte, war die Kontrolle beendet.
Aber warum fuhren wir jetzt nicht los? Ich wurde wieder unsicher. Konnte doch noch etwas schiefgehen? Langsam, viel zu langsam, rollte der Zug an und passierte eine Eisenbahnbrücke über die Gurk, deren Namen ich einem Schild entnehmen konnte. Auf der anderen Seite entdeckte ich einen Grenzpfahl mit einem weiteren, rot-weißen Schild, auf dem «Republik Österreich» stand. Ich schob das Abteilfenster nach unten und brüllte den Pfahl an: «Ich habe es geschafft!»